Die Gedichtinterpretation (S. 1 / 8) Vorbemerkung: Die folgenden Hinweise können nicht alle möglichen Erscheinungen bei Gedichten berücksichtigen, und nicht alle Hinweise passen zu einem bestimmten Gedicht. Es ist sinnvoll, sich diese Hinweise durch Üben einzuprägen und sie systematisch anzuwenden, um in Gedichten Entdeckungen zu machen. I. Erster Zugang und Vorbereiten der Interpretation 1. Lies das Gedicht, auch einzelne Verse und Sätze, mehrmals aufmerksam, höre dabei innerlich mit, bemühe dich beim Lesen durch Betonungen und Pausen den Aufbau der Sätze, den Zusammenhang von Versen und den Sinn herauszuarbeiten. 2. Notiere auf Konzeptblatt 1 und /oder auf dem Textblatt selbst sofort - alle Beobachtungen und Gedanken zur (vorläufigen) Interpretation, die dir beim Lesen kommen - die offensichtlichen Merkmale der Form: Metrum, Reim, ggf. Gedichtform, Enjambements, Mittel der sprachlichen Gestaltung, Aufbau, Auffälligkeiten - mögliche Schlüsselwörter, zentrale Metaphern, Symbole - Begriffsnetze herstellen 3. Formuliere eine vorläufige Interpretationshypothese in ganzen Sätzen. II. Erschließen des Inhalts 1. Vorsicht: Prüfe, ob das, worüber das Gedicht auf den ersten Blick zu sprechen scheint, tatsächlich das Thema ist, oder ob es sich um Metaphern oder Symbole handelt, die auf das eigentliche Thema (sehr oft der Mensch und das menschliche Leben) verweisen. Beispiele: in C.F.Meyers „Zwei Segel“ geht es nicht um Segelboote, sondern die Segel verweisen als Symbole auf eine harmonische menschliche Beziehung; Hesses Gedicht „Im Nebel“ thematisiert nicht die Wettererscheinung, vielmehr sind Nebel, Bäume usw. Bilder für das Erlebnis der Einsamkeit. Auch in einem Naturgedicht werden in der Darstellung der Natur sehr oft Aspekte des menschlichen Lebens widergespiegelt. 2. Kläre die Beziehung der Überschrift zum Inhalt. 3. Mögliche Themen: Menschliche Beziehungen (Liebe, Verhältnis von Mann und Frau, Freundschaft, Missverstehen, Einsamkeit), wichtige menschliche Erfahrungen (Geburt, Tod, Jugend, Alter), Tageszeiten, Jahreszeiten, Naturerscheinungen, Städte, Krieg, historische Ereignisse, Politik, Gott, Sprache, Gegenstände und Tiere (Vögel, Panther, Brunnen, Park) 4. Empfindungen: Freude, Glück, Trauer, Verzweiflung, Zorn, Hoffnung; ändern sich die Empfindungen im Verlauf des Gedichts? 5. Angesprochene Sinne: Hörsinn, Sehsinn, Geruchssinn, Tastsinn 6. Perspektive des Sprechers: Nähe, Distanz; persönliche oder allgemeine Perspektive. Wechselt die Perspektive, ist sie auf Rollen (z.B. Mann und Frau) verteilt? 7. Welche Erfahrungen teilt der Sprecher mit? 8. Haltung des Sprechers: Anteilnahme, emotionale Beteiligung, Aufregung, Ruhe, Abgeklärtheit, Distanz, Ironie, Spott. Ändert sich die Haltung? 9. Wertung des Sprechers: Zustimmung, Begeisterung, Ablehnung, Verurteilung, Neutralität. 10. Ort und Zeit des Sprechens: Lässt sich feststellen, wo der Sprecher sich befindet und zu welchem Zeitpunkt er spricht? Die Gedichtinterpretation (S. 2 / 8) III. Die Aspekte des Themas (vgl. II.3.) Wenn du den Inhalt erschlossen hast, legst du fest, welche zentralen Aspekte des Themas das Gedicht berücksichtigt. Du suchst dabei nach geeigneten Oberbegriffen und ordnest diesen Oberbegriffen weitere Begriffe und entsprechende Textstellen zu. Es kommt dabei nicht auf die Vielzahl der Aspekte, sondern auf deren Wichtigkeit für das Gedicht an. Je nach Gedicht kann es genügen, drei Aspekte zu berücksichtigen. Diese wichtigen Aspekte müssen dann aber später ganz ausführlich dargestellt werden. Dieser Arbeitsschritt ist entscheidend für die Qualität deiner Interpretation, denn du orientierst den Aufbau an diesen Aspekten (>>> aspektorientierte Interpretation) und stellst sicher, dass du das wirklich Wichtige des Gedichts erfasst. Empfehlenswerte Darstellungsform: Mindmap Hauptäste: Aspekte des Themas; dabei immer ein Hauptast: „Form“ Nebenzweige: untergeordnete Begriffe Textstellen werden an geeigneter Stelle angeführt An dieser Stelle sollte auch die Reihenfolge der die Aspekte in der Interpretation festgelegt werden. >>> Konzeptblatt 2 Alternative Anlage des Konzeptblatts: Textaussagen Aspekt 1: … Aspekt 2: … … IV. Textstelle Gestaltungsmittel Aufbau Leitfrage: Wie sind die einzelnen Abschnitte und die einzelnen Elemente des Gedichts aufeinander bezogen? Hat man das erkannt, kann man auch die Aspekte (III.) gut aufeinander beziehen und hat so die allerbesten Voraussetzungen für eine gelingende Interpretation. Wichtige Frage: Welche Wirkung hat die jeweilige Komposition? Mögliche Kompositionen: - Gegensatz (Leben-Tod; Liebe-Entfremdung; Nähe-Ferne; VergangenheitGegenwart; Wunsch-Wirklichkeit; (Suggestion von) echtem Gefühl-Ironie (Bruch der Stimmung, ironische Brechung; Wärme - Kälte ) - Steigerung (Intensität der Empfindung, einer Anklage, einer Entwicklung, Schlussfolgerung, Zuspitzung eines Gedankens; finale Struktur, z.B. beim Sonett) - Reihung, Anhäufung gleichartiger Aussagen, Erscheinungen, Empfindungen - Wiederholung des Gleichen (Motive, Bilder, Wortlaut der Verse, Gedanken) - Wiederholung mit Abwandlungen (Variationen) des Gedankens, der Darstellung des Sachverhalts - Montage verschiedenartiger Elemente, möglicherweise ohne eindeutige Übergänge und Verbindungen - Ringkomposition: Anfang und Ende des Gedichts entsprechen sich - Rahmenteil und Binnenteil (z.B. einleitende Verse zum Hauptteil des Gedichts und ausleitende, evtl. kommentierende Verse zum Abschluss) - Beschreibung einer Erscheinung und Kommentar/Erläuterung/Bewertung dazu - Wiederkehrende Elemente: Refrain (Kehrreim) - Auslassungen, z.B. kann eine wiederkehrende Zeile oder ein Refrain überraschend ausgelassen werden - Mögliche Gedankenführung oder Darstellung: eher logisch an der Sache orientiert oder eher assoziierend oder sogar sprunghaft; auch das Suchen nach Begriffsnetzen kann die Gedankenführung deutlich machen. Die Gedichtinterpretation (S. 3 / 8) V. Erschließen der Wörter und Wortformen Hinweis: 1. Schwer verständliche und unbekannte Wörter klären. 2. Mehrdeutige Wörter eindeutig klären. 3. Mit der Veränderung der Wortbedeutung innerhalb des Gedichts rechnen: „fallen“ bedeutet zunächst „hinfallen“, schließlich „im Krieg zu Tode kommen“ . 4. Sinntragende Wörter und Formulierungen suchen; Hilfe: in jedem Vers ist ein besonders wichtiges Wort. Dieses Wort/ diese Formulierung eingehend erläutern! 5. Hinweise auf die besondere Wichtigkeit eines Wortes oder einer Formulierung sind auch: - Wiederholung des Wortes - Stellung am Versanfang durch Inversion (d.h. Umkehrung der üblichen Satzstellung, z.B. : „Aufsteigt der Strahl …“) - Reimwörter - Das Wort steht alleine im Vers; eine Strophe besteht nur aus einem Wort. 6. Adjektive und Adverbien sorgfältig registrieren und auswerten: Wie werden Menschen, Sachen, Vorgänge beschrieben? 7. Werden Vorgänge im Aktiv oder Passiv dargestellt? Welche Wirkung hat das? 8. Welche Wortart überwiegt auffällig? Welche fehlt ganz (z.B. ein Gedicht ohne Verben)? Welche Wirkung entsteht? 9. Auffällige Wortformen: Partizip I (fließend) und Partizip II ohne Personenform (geflossen): Welche Wirkung erzeugen sie? 10. Wortformen oder Modalverben geben den Realitätsstatus der Aussagen aus der Sicht des Sprechers an. Hält er das, was er sagt für wirklich, für unerfüllbar, formuliert er einen Wunsch?: Konjunktiv, insbesondere Konjunktiv II als Irrealis der Gegenwart und der Vergangenheit („Ich wollte, es käme ein Südenwind…“); Modalverb: „ein Wind soll kommen …“ 11. Besondere Wörter: Fremdwörter, altertümliche Wörter (bezogen auf die Entstehungszeit des Gedichts), neu gebildete Wörter (Neologismen), seltene Wörter: Welche Wirkung entsteht? Was wird damit signalisiert? VI. Sprachliche Gestaltung, rhetorische Figuren/Stilmittel Wichtig: Die Leitfrage lautet: Inwiefern wird durch die sprachliche Gestaltung das, was auf der Inhaltsebene mitgeteilt wird, gestützt und hervorgehoben? Jede Feststellung eines bestimmten Gestaltungsmittels muss interpretierend auf den Inhalt bezogen werden (inhaltsbezogene/funktionale Formanalyse). Dabei genügt es nicht, zu erklären, die Aussage werde durch das Gestaltungsmittel „betont“. Erforderlich ist vielmehr eine differenzierte Beschreibung der Wirkung. Erforderlich ist auch dass man die Textstelle auf geeignete Weise zitiert, um einen eindeutigen Textbeleg zu bieten. Bestimmten Gestaltungsmitteln kann man mit einer gewissen Verallgemeinerung bestimmte Wirkungen zuordnen, stets aber ist der Einzelfall zu prüfen. Beispiele: Ein Asyndeton kann den Rhythmus beschleunigen, die Aussage gedrängter, dramatischer machen, ein Polysyndeton dagegen hebt eher das einzelne Glied der Aufzählung hervor. Ein Chiasmus verbindet zwei oft gegensätzliche Gedanken besonders eng und lässt dadurch die Gegensätzlichkeit besonders deutlich werden. Das bloße Nennen und Aufzählen von Gestaltungsmitteln ist wertlos. Diese Analyse darf daher nicht getrennt von der Interpretation des Inhalts durchgeführt werden. Es ist nicht sinnvoll und erforderlich, alle Gestaltungsmittel zu berücksichtigen. Man muss sich auf die wichtigen Gestaltungsmitte an den wichtigen Textstellen Die Gedichtinterpretation (S. 4 / 8) beschränken, diese aber im Hinblick auf ihre Funktion eingehend erklären. Wichtig ist es diese Gestaltungsmittel z.B. durch Zitat und Versangabe deutlich zu kennzeichnen. Stets muss man zuerst von der Interpretation des Inhalts ausgehen und anschließend erläutern, in welchem Zusammenhang die sprachliche Gestaltung damit zu sehen ist. Niemals umgekehrt! Zur Formulierung: Schreibe nicht: „Der Parallelismus verstärkt die Gleichezitigkeit der Vorgänge.“ Sondern schreibe: „Der Parallelismus bringt die Gleichzeitigkeit der Vorgänge verstärkt zum Ausdruck / Der P. verdeutlicht die Gleichzeitigkeit der Vorgänge.“ Empfehlenswert ist es, folgende Tabelle anzulegen und dort einige Gestaltungsmittel der inhaltlich wichtigsten Textstellen zu berücksichtigen: Text ( abgekürztes Zitat + Versangabe) / Gestaltungsmittel / Funktion, Wirkung. >>> Konzeptblatt 3 So stellt man sicher, dass man bei den wichtigsten Teststellen auch die Form berücksichtigt. Häufige sprachliche Gestaltungsmittel, die man kennen und im Gedicht erkennen muss: 1. Ebene der Wort- und Satzbedeutung: Am wichtigsten sind Vergleiche, Metaphern, Personifikationen (die P. ist ein Unterfall der Metapher), Symbole, Chiffren. Hier ist eine ausführliche Erläuterung erforderlich. Bei der Metapher ist zu überlegen, welcher eigentliche Ausdruck durch die Metapher ersetzt wird und welchen neuen Aspekt der gemeinte Sachverhalt, die gemeinte Sache durch die Metapher gewinnt. Oft verbinden sich bildhafte Ausdrücke zu einem Gefüge oder Bildkomplex, der das Gedicht dominieren kann: Baum/Blatt/Knospe/Grün; Feuer, Glut, Flamme, Rauch; Schnee, Eis, Kälte. Solche Bildbereiche können auch parallel zueinander oder kontrastierend gegeneinander gesetzt sein. Ferner: Klimax, Antithese, Paradoxon, Ironie, rhetorische Frage. 2. Ebene der Wortstellung und des Satzbaus: Parallelismus, Chiasmus, Inversion; Asyndeton, Polysyndeton; Ellipse; Parataxe, Hypotaxe; Enjambement (Verhältnis von Vers und Satzbau) Oft findet sich eine Kombination verschiedener Gestaltungsmittel in derselben Textstelle, z.B. Anapher, Parallelismus, Asyndeton. 3. Ebene der Klanglichen Wirkung: Assonanz, Alliteration, Anapher, Lautmalerei (Onomatopöie); helle oder dunkle Vokale/Doppellaute; Stimmungswert der Laute; entscheidend sind dabei vor allem die Laute in betonten Silben und in sinntragenden Wörtern. Entscheidend ist der klangliche Gesamteindruck, so kann z.B. eine Alliteration auch dann festgestellt werden, wenn die Wörter nicht unmittelbar aufeinander folgen. Andererseits ist es nicht sinnvoll, auch jedem Vokal eine interpretatorische Schlussfolgerung ziehen zu wollen. 4. Ebene der Satzarten: Aussagesatz, Ausrufesatz, Fragesatz; rhetorische Frage 5. Stilebenen: Bildungssprache, Standardsprache, Alltagssprache, Umgangssprache, derbe Sprache. Kombinationen sind möglich. Welche Wirkung entsteht? Die Gedichtinterpretation (S. 5 / 8) 6. Stil: Auch hier ist stets zu fragen, wie Stil und Inhalt zusammenwirken. sachlich, nüchtern, ruhig; Verzicht auf Bilder, reiche Bildersprache; emotional, begeistert, pathetisch/feierlich; polemisch, suggestiv; nach rhetorischen Mustern. VII. Formelemente des Gedichts Die Form des Gedichts ist ein nicht abtrennbarer Teil seiner Aussage. Die Deutung des Inhalts und der Form ergänzen sich zu einer vollständigen Interpretation. Zwar kann man die wichtigsten Formmerkmale eines Gedichts z.B. vor der Interpretation knapp beschreibend benennen (Strophen- und Verszahl, Metrum, Reimschema). Im Verlauf der Interpretation und mit ihr verbunden muss dann aber nach der Funktion und Wirkung dieser Formmerkmale gefragt werden, (vgl. VI. Sprachliche Gestaltung). Grundsätzlich gilt: Alles, was von der regelmäßigen Form abweicht, verdient besondere Aufmerksamkeit und eingehende Interpretation. Beispiele, worauf man sein Augenmerk richten kann: - Inwiefern entspricht die Gliederung in Strophen dem Aufbau der Gedankenführung? - Stellen verkürzte Strophen (z.B. einzeilig) Schwerpunkte oder Wendepunkte heraus? - Was wird durch ein Abweichen vom regelmäßigen Metrum hervorgehoben? - Was wird durch ein unregelmäßig durchgestaltetes Metrum vermittelt? - Manchen Metren wird eine bestimmter Charakter, eine bestimmte Wirkung zugeschrieben – aber auch hier ist der Einzelfall genau zu prüfen, auch in Bezug auf den Inhalt: Der Trochäus vermittelt Ernst, Schwere, Trauer, Herzschlag; der Daktylus wirkt eher bewegt, dynamisch, tänzerisch. Aber auch hier: Sinnvoll sind solche Feststellungen nur, wenn sie sich mit der inhaltlichen Interpretation verbinden! - Was bedeutet die Verkürzung oder Verlängerung eines Verses? - Inwiefern lässt sich das Reimschema sowie eine Änderung oder Durchbrechung des Reimschemas auf den Inhalt beziehen? - Welche Bedeutung haben Waisen, unreine Reime, Binnenreime für die Aussage? - Warum wird für eine bestimmte Aussageabsicht eine bestimmte Gedichtform gewählt? – Z.B.: Sonett, Volksliedstrophe, Hymne, freie Rhythmen. - Wie passt das Enjambement zum Inhalt? – Oft unterstützt es die Darstellung einer inneren oder äußeren Bewegung, der Dynamik eines Vorgangs, der Unaufhaltsamkeit, der Kontinuität. VIII. Gesichtspunkte, die über den Text selbst hinausgehen: Ob man hierzu etwas schreiben kann, hängt vom Gedicht und den eigenen Vorkenntnissen ab, man sollte also nur etwas schreiben, wenn man sichere Anhaltspunkte im Text findet und über sicheres Wissen verfügt. Oft wird einem ein Gedicht vorgelegt, dessen Autor man nicht kennt und bei dem eine eindeutige Epochenzuordnung nicht ohne Weiteres möglich ist. Auch geschichtliche oder sozialgeschichtliche Bezüge lassen oft nur mit umfassenderen Kenntnissen herstellen. - Einordnen des Gedicht in den Zusammenhang des Lebens, des Werks, einer Schaffensperiode des Dichters. Dieser Zusammenhang darf nicht nur behauptet werden, er muss außertextlich und mit dem Text belegt werden. - Epochenspezifische Merkmale: inhaltlich, sprachlich, formal. Lebensgefühl, Weltbild einer Epoche. Hier ist der Nachweis im Text unbedingt erforderlich! - Bezüge zu geschichtlichen, politischen Ereignissen. Diese Aspekte können je nach Gedicht als eigenständige Apekte behandelt oder in die anderen Aspekte integriert werden. Die Gedichtinterpretation (S. 6 / 8) IX. Wichtige Grundregeln: 1. Die Interpretation ist immer aspektorientiert. Diese gewährleistet auch eine Konzentration auf das Wesentliche. Eine vollständige Interpretation aller möglichen Dinge ist nicht zu leisten und nicht sinnvoll. Man muss die Fähigkeit zeigen, Schwerpunkte zu setzen. 2. Inhalt und Form müssen immer gemeinsam interpretiert werden. Die Forminterpretation darf nicht isoliert angehängt und nachgereicht werden. 3. Die Interpretation des Inhalts kommt vor der Interpretation der Form. Leitfrage: Inwiefern stützt die formale Gestaltung den vor mir interpretierten Inhalt? 4. Alle Aussagen über Form und Inhalt müssen belegt werden. 5. Ganz konkrete Übertragungen in irgendwelche Lebensbereiche vermeiden („Mit dem Winter ist ein alter Mensch gemeint, der…“); ebenso keine praktischen Nutzanwendungen oder Lehren / Moral für das alltägliche Leben ableiten (“Das Gedicht über den Brunnen macht darauf aufmerksam, dass wir sorgfältiger mit dem Wasser umgehen sollten.“). Meist läuft man damit in die Irre, weil einen die eigenen Gedanken vom Text ablenken und man den Text nicht mehr beachtet. Man darf dem Autor keine Gedanken und Kenntnisse zuschreiben, die er zu seiner Lebenszeit nicht haben konnte („Mit dem Substantiv ‚rennebahn’ kritisiert Gryphius, dass heutzutage viel zu schnell gefahren wird.“) 6. Die vielen Einzelwahrnehmungen, zu denen diese Anleitung führen soll, müssen am Ende zu einer stimmigen Interpretation verbunden werden. Hierbei hilft es, sich immer wieder an der Interpretationshypothese zu orientieren – oder diese gegebenenfalls zu modifizieren. Wenn die Interpretation eines Teils nicht zum plausibel erschlossenen Gesamtsinn des Gedichts passt, dann ist möglicherweise diese Einzelinterpretation falsch. Aber natürlich kann die Abweichung umgekehrt auch ein Hinweis darauf sein, dass das ursprüngliche Verständnis des Gedichts unzutreffend war. Hilfreich kann in diesen Situationen sein, das Gedicht nochmals neu zu lesen, Begriffsnetze herzustellen, die Oberbegriffe der Aspekte zu prüfen, das Verständnis der Metaphern zu prüfen. Man sollte auch prüfen, ob man immer am Text geblieben ist, oder ob man sich von eigenen Gedanken hat forttragen lassen, die keinen sicheren Textbezug mehr haben. X. Die Gliederung (vgl. auch XI. Gedichtvergleich) 1. Einleitung - Autor, Titel, Entstehungsjahr, Gedichtform (soweit sie eindeutig erkennbar ist, z.B. Sonett, Hymne, Ballade); falls erkennbar die Epoche oder das Gesamtwerk (z.B. Zyklus), zu dem das Gedicht gehört. - Angabe des Themas und Formulierung einer Interpretationshypothese (Diese sollte man auf dem Konzeptblatt ausformulieren. Die Interpretation orientiert sich an dieser Hypothese, sie stellt das Ziel der interpretatorischen Arbeit dar. Wenn sich allerdings bei der Interpretation neue Einsichten ergeben, muss auch die Interpretationshypothese überarbeitet werden. Man sollte daher die Interpretationshypothese erst ganz zum Schluss in die Reinschrift einfügen.) Überleitung zum Hauptteil: Man benennt die Aspekte, unter denen man das Gedicht untersucht und interpretiert. 2. Hauptteil Der Hauptteil folgt den unter III. genannten Aspekten. Dabei ist eine sinnvolle Reihenfolge der Aspekte anzustreben. Die Gedichtinterpretation (S. 7 / 8) Zu jedem Aspekt muss eine These formuliert werden (z.B.: „Wenn man das Verhältnis des Sprechers zur Du betrachtet (= Aspekt), erkennt man, dass es von einer Entfremdung geprägt ist“ (= These)). Es folgen Begründung, Erläuterung, Textbeleg, formale Merkmale, die den inhaltlichen Befund stützen. Die einzelnen Aspekte sind durch Überleitungen zu verbinden. Zu vermeiden sind lineare Interpretationen: Sie verhindern klare Schwerpunktsetzungen und können Zusammenhänge verdecken. Sie verleiten zu zeilenweiser Paraphrase oder Kommentierung. Überleitung zum Schluss 3. Schluss Der Schluss stellt einen Bezug zur Interpretationshypothese her, indem er mit ganz knapper Zusammenfassung zeigt, dass die gefundenen Ergebnisse die Hypothese bestätigen. Neue Aspekte sind nicht mehr möglich. Möglich ist eine kurze, aber immer begründete Stellungnahme zur erschlossenen Aussage, zur Wirkung auf einen selbst, zur Bedeutung für einen selbst, zur spezifischen literarischen Qualität. XI. Der Gedichtvergleich Grundsätzlich gelten die Hinweise I.-X. Gedichten, die man vergleichen kann, muss ein gemeinsamen Thema/Motiv zugrunde liegen, das jeweils unterschiedlich gestaltet wird. Entscheidend ist, dass man zentrale Aspekte findet, anhand derer man den Vergleich durchführt. Wenn aber ein wesentlicher Aspekt des einen Gedichts beim anderen Gedicht keine Entsprechung hat, so berücksichtigt man diesen bei einen und weist darauf hin, dass er beim anderen nicht ausgeprägt ist. Solche Asymmetrien geben aber zugleich Hinweise auf die Schwerpunkte, die die einzelnen Gedichte haben. Man sollte immer prüfen, ob die Aufgabenstellung Gesichtspunkte eines Vergleichs vorgibt. Diese sind dann vorrangig zu berücksichtigen. Wichtig: Gemeinsamkeiten und Unterschiede müssen ausdrücklich benannt und erklärt werden. Gesichtspunkte eines Vergleichs ergeben sich aus II.-VII. Man erstellt dabei zwei Mindmaps gemäß III. Die Gliederung: 1. Einleitung Die Einleitung entspricht X., berücksichtigt dabei aber beide Gedichte. Überleitung zum Hauptteil: Sie nennt die Hauptaspekte des Vergleichs und rechtfertigt so den Vergleich. 2. Hauptteil Es gibt zwei sinnvolle Möglichkeiten. Gleich, welche man wählt, der Aufbau ist immer aspektorientiert. Die Gedichtinterpretation (S. 8 / 8) Variante 1 (bevorzugte Varainte): Bei jedem Aspekt werden die Gedichte unmittelbar miteinander verglichen. Auch die Formanalyse und evtl. der Epochenbezug werden eingearbeitet. Dies setzt einen guten Überblick und eine konsequente Strukturierung voraus. Variante 2: Gedicht 1 wird aspektorientert vollständig interpretiert. Nach einer Überleitung schließt sich die Interpretation von Gedicht 2 an. Die Aspekte sind weitgehend die gleichen, die Reihenfolge kann, falls es sinnvoll erscheint, auch abweichen. Aspekte ohne Entsprechungen in Gedicht 1 werden gleichfalls erarbeitet. Bei jedem Aspekt wird dabei der Vergleich zu Gedicht 1 hergestellt. Zu beachten ist, dass auch bei Gedicht 2 das Wichtige vollständig berücksichtigt wird. Die dritte Variante, nämlich Gedicht 1, dann Gedicht 2 und erst dann der Vergleich, ist zeitlich sehr aufwendig und führt zu Wiederholungen. Sie ist nicht zu empfehlen. Keinesfalls darf man bei einem linearen Aufbau beim Vergleich von Details kleinschrittig zwischen den Gedichten hin und her springen. Überleitung zum Schluss 3. Schluss: Der Schluss entspricht X., berücksichtigt dabei aber beide Gedichte. Schematische Darstellungen: Variante 1: Aspekt 1 Aspekt 2 Aspekt 3 Gedicht 1 Gedicht 2, dabei ausdrücklicher Vergleich! Gedicht 1 Gedicht 2, dabei ausdrücklicher Vergleich! Gedicht 1 Gedicht 2, dabei ausdrücklicher Vergleich! Variante 2: Gedicht 1 Aspekt 1 Aspekt 2 Überleitung Gedicht 2 Aspekt 1, mit ausdrücklichem Vergleich zu Gedicht 1, Aspekt 1 Aspekt 2, mit ausdrücklichem Vergleich zu Gedicht 1, Aspekt 2 …