SPEECH/99/93 Dr. Franz FISCHLER Mitglied der Europäischen Kommission zuständing für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung Nachhaltige Landwirtschaft und ländliche Entwicklung Informeller Agrarrat Dresden, 30. Mai bis 1. Juni 1999 Anrede, Dieser informelle Rat hat bei uns allen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Nicht nur die verschiedenen Beispiele von nachhaltiger Entwicklung, die wir bei den Exkursionen erfahren konnten, sondern auch die sächsische Gastfreundschaft werden uns in Zukunft immer wieder daran erinnern, wie positiv Nachhaltigkeit zu sehen ist. Für mich ist die beste Definition des Begriffs Nachhaltigkeit die des BrundlandBerichts, wie sie auch in Punkt 1 des sehr gut aufbereiteten Präsidentschaftspapiers nachzulesen ist. Danach ist nachhaltig eine Entwicklung dann, wenn jede Generation ihre Bedürfnisse so befriedigt, daß dadurch die Möglichkeit künftiger Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, nicht eingeschränkt wird. Die EU hat mittlerweile die Nachhaltigkeit im Vertrag von Amsterdam zum erklärten Ziel der Gemeinschaft gemacht. Auf dieser Basis wird die Kommission dem Europäischen Rat in Köln einen Bericht über die Integration des Umweltschutzes in die verschiedenen Gemeinschaftspolitiken, darunter die Landwirtschaft, vorlegen. Wir kommen damit einer Aufforderung des EU-Rates von Wien nach. Im Januar hatte die Kommission eine spezifische Mitteilung über dieses Thema herausgegeben. Diese Mitteilung wurde unter dem Titel „Wegweiser zur nachhaltigen Landwirtschaft“ am 29.Januar dem Rat übermittelt. Ich bin gerne bereit, diese Mitteilung zu diskutieren und werde im folgenden auf einige wichtige Aussagen zum Thema Nachhaltigkeit und Agrarreform noch näher eingehen. Nachhaltigkeit darf jedoch nicht allein auf die Umweltdimension reduziert werden. Die Herausforderung einer nachhaltigen Entwicklung besteht darin, auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und den sozialen Ausgleich zu fördern und dabei zugleich die Qualität von Natur und Umwelt, sowie das kulturelle Erbe zu erhalten und zu stärken. Neben der ökologischen Dimension geht es also auch darum, die soziale Gerechtigkeit und die ökonomische Effizienz zu verbessern und dabei aber die kulturelle Identität zu bewahren. Ein solches Verständnis von Nachhaltigkeit läßt sich ohne weiteres auf die landwirtschaftliche Produktion, auf die landwirtschaftlichen Betriebe als ökologische, wirtschaftliche und soziale Einheiten und auf die ländliche Entwicklung insgesamt übertragen. Nachhaltige Landwirtschaft Eine nachhaltige Landwirtschaft stellt darauf ab, den Boden und die anderen Ressourcen so zu bewirtschaften, daß sie auch in Zukunft genutzt werden können. Es liegt im Eigeninteresse einer zukunftsorientierten Landwirtschaft, nachhaltig zu wirtschaften und die europäischen Bauern haben ja über Generationen gezeigt, daß sie dieses Prinzip im großen und ganzen verfolgt haben. 2 Seit Beginn der Industrialisierung allerdings unterliegt gerade auch die Landwirtschaft hier in der EU wie überall anderswo in der Welt einem ständigen Technisierungs-, Chemisierungs- und Intensivierungsprozeß. Die Konzentration in der Tierhaltung steigt ebenso wie die durchschnittliche Flächenausstattung der Betriebe. Wachstumsförderer, Tierarzneimittel und neue Zuchtmethoden bringen die tierischen Leistungen auf ein früher nicht gekanntes Niveau. Die moderne Düngung und der Pflanzenschutz haben auch die Erträge im Ackerbau vervielfacht. In den letzten Jahren beobachten wir zwar einen umweltpolitisch erfreulichen Rückgang an diesen Produktionsmitteln, wozu auch die Agrarreformen beigetragen haben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß der Gesamtaufwand heute ein Mehrfaches vom Aufwand in den 50er oder 60er Jahren beträgt. Leider hat die Technik vor allem unsere Fähigkeit erhöht, die Natur zu manipulieren - und zwar in sehr viel stärkerem Maße als unsere Fähigkeit, die Natur zu erhalten und zu schützen. Das führt dazu, daß unsere Fähigkeit, uns von der Erde zu nehmen, was wir brauchen, die Fähigkeit der Erde schwächt, uns ohne Einsatz von Technik das zu geben, was wir suchen. Der ungeahnte Erfolg gentechnisch veränderter Organismen (GMO's) ist nur das letzte und irrwitzigste Beispiel. Die Politik kümmert sich in unserer materialistischen Gesellschaft häufig nicht um die Dinge, die sich nicht kaufen und nicht verkaufen lassen: saubere Luft, klares Wasser, die Schönheit der Landschaft, die Artenvielfalt, der Geschmack der einfachen Dinge, das Wohlergehen der Tiere, usw. Die modernen Gesellschaften verhalten sich da recht zynisch. Wie Oskar Wilde einmal sagte: „Ein Zyniker kennt den Preis aller Dinge, ohne ihren Wert schätzen zu können“. Unser traditionelles Wirtschaftsdenken ging davon aus, daß die natürlichen Ressourcen kostenlos und in unbegrenzter Menge zur Verfügung stehen. Dabei wurde aber versäumt, die Kosten der externen Umwelteffekte zu messen, d.h., die Kosten der Auswirkungen der Produktivtätigkeit auf die Umwelt. Wir haben es versäumt, den Wert der Ressourcen mit zunehmendem Verbrauch neu zu bewerten. Würden wir die Umweltverschmutzung und die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen in unsere Rechnung einbeziehen, dann könnten sich viele unsere wirtschaftlichen Entscheidungen als unwirtschaftlich erweisen - oder werden dies vielleicht noch tun. Die Einstellung der Öffentlichkeit zu diesen Fragen hat sich dramatisch verändert. Aus den Rufen nach einer effektiven Verwaltung der Umwelt ist ein lauter Schrei geworden, und diese geänderte Einstellung wirkt sich auch immer stärker auf die politischen Entscheidungen aus. Das Ziel ist nicht mehr und nicht weniger als eine tiefgreifende Verhaltensänderung. Unser Verhalten kann einen entscheidenden Einfluß haben und hat ihn häufig auch. Nehmen Sie zum Beispiel den Boden: Die Natur trägt durch die Erosion von Felsformationen und den Abbau organischer Abfälle zur Bodenbildung bei, Naturkräfte wie Wind und Regen, Trockenheit und Überschwemmungen tragen wieder Boden ab - genau wie es der Mensch tut. Aber häufig entscheidet der Mensch, ob der Boden erhalten bleibt oder verloren geht. Und wenn man weiß, daß es tausend Jahre dauert, um eine Bodendecke von 25 cm zu bilden, dann weiß man auch, wie schwer es ist, diesen Verlust zu ersetzen. 3 Die Sicherung eines nachhaltigen Agrarsektors erfordert Reformen in der Marktpolitik und in der ländlichen Entwicklung wie sie im Rahmen der Agenda 2000 diskutiert und beschlossen wurden. Auf die Marktreformen will ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen, ich möchte aber noch einmal unterstreichen, daß sie wesentlich sind, um die wirtschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit, also die Lebensfähigkeit der EU Landwirtschaft, auch weiterhin zu gewährleisten. Nachhaltige ländliche Entwicklung Eine nachhaltige ländliche Entwicklungspolitik zielt darauf ab, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, den sozialen Ausgleich und die positiven Umweltleistungen im ländlichen Raum insgesamt zu fördern. Das traditionelle Verständnis vom ländlichen Raum als überwiegend durch landwirtschaftliche Aktivitäten geprägte, wirtschaftliche und soziale Einheit ist da kaum noch angemessen. Die ländlichen Räume sind ja gerade durch ihre große Vielfalt von natürlichen und kulturellen Ressourcen, durch ihre Vielfalt an Funktionen, Entwicklungsproblemen und Perspektiven geprägt. Für die ländliche Entwicklungspolitik brauchen wir deshalb einen differenzierten, aber zugleich interaktiven Ansatz. Strukturelle Anpassungen, eine Verbesserung der Umweltleistungen und die Erschließung neuer Einkommensquellen sind daher Aufgaben, die in allen ländlichen Gebieten der Gemeinschaft gelöst werden müssen. Ich halte es deshalb für einen großen Erfolg, daß wir in Zukunft in allen ländlichen Regionen Entwicklungsprogramme unterstützen können und daß unser Konzept eine thematische Konzentration der Förderprogramme anstelle der geographischen Konzentration für die Strukturfonds ermöglicht. Die neue Politik der ländlichen Entwicklung vergrößert den Freiraum für die Mitgliedstaaten und Regionen, um angepaßte Konzepte zu entwickeln. Sie fördert sowohl die Anpassung des Agrarsektors als auch die Diversifizierung seiner Aktivitäten und die Entwicklung seines wirtschaftlichen und sozialen Umfeldes. Die Präsidentschaft hat die Frage gestellt, wie dabei dem Prinzip der Nachhaltigkeit entsprochen wird. Diese Frage muß natürlich konkret anhand der Entwicklungsprogramme von den Mitgliedstaaten selbst beantwortet werden. Ich will daher an dieser Stelle nur die wichtigsten Rahmenbedingungen in Erinnerung rufen, die wir dafür geschaffen haben. Agrarumweltmaßnahmen Die Ausrichtung der GAP auf die Nachhaltigkeit wird schon allein darin deutlich, daß die Agrarumweltmaßnahmen als einzige verpflichtend in jedes ländliche Entwicklungsprogramm aufgenommen werden müssen. Wir setzen künftig voraus, daß überall die gute fachliche Praxis einschließlich der bestehenden Umweltgesetze beachtet wird, ohne daß daraus - über die Direktzahlungen hinaus Ausgleichsansprüche entstehen. 4 Die Agrar-Umweltmaßnahmen sehen daher Vergütungen für Landwirte vor, die auf freiwilliger, vertraglicher Basis zusätzliche Leistungen zum Schutz der Umwelt und zur Pflege der Kulturlandschaft erbringen, die über die gute landwirtschaftliche Praxis hinausgehen. Diese Vergütungen stehen übrigens auch für den Anbau von nachwachsenden Rohstoffen zur Verfügung, soweit auch hier zusätzliche Umweltleistungen erbracht werden. Ausgleichszulage für benachteiligte Gebiete Die zweite Maßnahme der ländlichen Entwicklung, die wir im Zusammenhang mit dem Thema Nachhaltigkeit beachten sollten, ist die Ausgleichszulage im benachteiligten Gebieten. Diese Ausgleichszulage soll auch weiterhin primär dazu dienen, natürliche und strukturelle Nachteile der Landbewirtschaftung auszugleichen und dadurch die nachhaltige Nutzung in den Berggebieten und in den anderen benachteiligten Gebieten aufrechtzuerhalten. Sie ist meiner Ansicht nach unser wichtigstes Instrument, um das Brachfallen von Agrarflächen, das im Papier der Präsidentschaft ebenfalls angesprochen ist, vorbeugend zu verhindern. In vielen Gebieten ist gerade die Fortsetzung einer angepaßten Landbewirtschaftung Voraussetzung für den Erhalt von Regionen und Landschaften mit hohem Naturschutzwert. Ausgleichszulagen können in Zukunft auch in Gebieten gewährt werden, die mit besonderen Umweltauflagen konfrontiert sind. Die Mitgliedstaaten können da auch die Umsetzung von Natura 2000 mit einbeziehen; andere Umweltgesetze sind zudem nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Forstwirtschaftliche Maßnahmen Lassen Sie mich auch auf die erweiterten forstlichen Fördermöglichkeiten hinweisen. Schon bisher bestand ja die Möglichkeit, die Aufforstung landwirtschaftlicher Flächen zu fördern. Bis Ende Oktober letzten Jahres wurden Beihilfen für insgesamt 860000 ha Aufforstungsflächen in Anspruch genommen. Mehr als 124000 Betriebe in der EU haben sich an dieser Maßnahme beteiligt. Nunmehr stehen eine Reihe von Maßnahmen zur Verfügung, um eine nachhaltige Forstwirtschaft zu fördern. Hier muß vor allem die neue Beihilfe für die Erhaltung und Verbesserung der ökologischen Stabilität hervorgehoben werden. Sie soll für Wälder gewährt werden, deren Schutz- und Umweltfunktionen im öffentlichen Interesse liegen und bei denen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so schlecht sind, daß diese Funktionen nicht dauerhaft gewährleistet werden können. Weitere Umweltelemente der Agenda 2000 Reformen Damit komme ich zur letzten offenen Frage im Präsidentschaftspapier: Wie läßt sich eine größtmögliche Kohärenz zwischen den Maßnahmen aller Politikbereiche erreichen? 5 Ich meine, daß wir mit der Einigung über den Artikel 37 der neuen Verordnung für die ländliche Entwicklung einen vernünftigen Kompromiß erreicht haben, um mehr Kohärenz sicherzustellen. Es gibt aber noch eine weitere wichtige Schnittstelle zwischen der Marktpolitik und der ländlichen Entwicklung, nämlich die horizontale Verordnung. Sollten Landwirte nämlich die Mindeststandards für eine umweltgerechte Landwirtschaft nicht einhalten, können Sie als Mitgliedstaaten die Direktzahlungen kürzen und das eingesparte Geld zusätzlich für bestimmte Maßnahmen der ländlichen Entwicklung ausgeben. Auch die Mittel, die durch eine nationale Differenzierung der Direktzahlungen (Modulation) freigesetzt werden, sollen für zusätzliche Maßnahmen zugunsten der ländlichen Entwicklung verwendet werden. Ich bin gespannt, von Ihnen zu hören, ob und wie Sie diese Möglichkeiten auf nationaler Ebene nutzen wollen. Ich bedaure andererseits sehr, daß die Interpretation der Berliner Schlußfolgerungen mehr und mehr auf eine strikte Trennung zwischen den beiden Budgetlinien in Rubrik 1 hinausläuft. Die angestrebte Flexibilität zwischen beiden Pfeilern der Gemeinsamen Agrarpolitik wird dadurch sehr eingeschränkt. Dennoch, die Voraussetzungen sind geschaffen und mögliche Beschränkungen können auch wieder gelockert werden, sollte der politische Wille dafür da sein. Eines steht dabei fest: Um langfristig Überschüsse zu vermeiden und gleichzeitig eine nachhaltige Nutzung der Ressourcen zu ermöglichen, brauchen wir auch in Zukunft ein angemessenes Budget. Eine Agrarpolitik, die konsequent auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist, wird ihre öffentliche Akzeptanz deutlich erhöhen. Vielen Dank. 6