Das Europa der Schleichwege Von Hanspeter Born – Die Anstandsfrist ist vorbei, die EU - Elite ruft nach der gescheiterten Verfassung das Ende der Denkpause aus. An ihre Bürger denkt sie dabei zuletzt. Nach dem französischen und niederländischen Nein zur EU - Verfassung verordnete sich die blamierte europäische Politikerkaste eine Auszeit, während deren man über die Zukunft des europäischen Projekts still nachdenken wollte. Am Wochenende tauschten die EU-Aussenminister ihre in der Reflexionspause gewonnenen Ideen aus. Danach verkündete die österreichische Gastgeberin Ursula Plassnik: «Die Schweigephase mit Redehemmung ist vorbei.» Einige Staatsmänner, denen ihre Erkenntnisse auf der Zunge brannten, hatten ihre Redehemmung, wenn sie denn eine hatten, bereits früher überwunden. Mit aristokratischer Verachtung für Demokratie und tumbes Volk verkündete der Vater der Verfassung, Valéry Giscard d'Estaing, dass vor einem Jahr nicht Frankreich nein gesagt habe, sondern 55 Prozent der Franzosen. «Soyons clairs», belehrte uns der greise Grandseigneur, «die Ablehnung der Verfassung war ein Fehler, der korrigiert werden muss.» Der gegenwärtige Ratsvorsitzende, der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, hatte ebenfalls diagnostiziert, dass die Verfassung nicht tot sei. Angela Merkel, etwas vorsichtiger, meinte bloss: «Ich möchte diesen Verfassungsvertrag.» Sie muss wissen, dass sie ihn nicht kriegen wird. Das langfädige Dokument ist tot und hat null Chance auf Auferstehung. So müssen sich denn die Politiker nach einer Ersatzlösung umsehen. Die Deutschen möchten den störrischen europäischen Völkern einen aufgewärmten Verfassungstext mundgerecht machen, indem sie ihn pfiffig «Grundgesetz» taufen. Nun lassen sich aber Völker mit echter demokratischer Tradition – im Gegensatz zu den obrigkeitshörigen Deutschen – schwerlich mit einer Mogelpackung täuschen. Was die Hanse lehrt Eurosaurier wie Giscard sind unbelehrbar. Aber die Generation von Politikern, die in den nächsten Jahren das EU-Schiff steuern werden – Merkel, Brown oder Cameron, Sarkozy? –, hat begriffen, dass der Nationalstaat eine historischeTatsache ist und nicht «überwunden» werden muss. Die echten Probleme Europas –Arbeitslosigkeit, Verlust der Wettbewerbsfähigkeit, Unvermögen, die Einwanderer zu integrieren, Finanzierung des Sozialstaates, militärische Schwäche, Geburtenrückgang – können Regierungen nur mit der Zustimmung der Bürger lösen. Für die europäischen Bürger ist und bleibt der Nationalstaat das Forum der Politik schlechthin. Einzig die Nation kann die erwähnten wichtigen Aufgaben übernehmen, weil es auf Jahrzehnte (wenn nicht gar Jahrhunderte) hinaus unmöglich sein wird, die kulturell, sprachlich und mentalitätsmässig unterschiedlichen europäischen Völker zu einem europäischen Demos zusammenzuschweissen. Unbestritten ist, dass viele komplizierte, grenzüberschreitende Fragen nur durch Zusammenarbeit unter den Staaten zu lösen sind. Darunter gibt es solche, die vernünftigerweise global angepackt werden, andere durch interessierte Staatengruppen, andere auf nichtstaatlicher Ebene. Die Geschichte lehrt, dass auch eine lose, unbürokratische Vereinigung, wie es etwa die Hanse war, erfolgreich funktionieren kann. Das Leitungsgremium dieses Städtebundes, der Hansetag, trat jeweils zusammen, wenn Streitfragen dies erforderten. Er behandelte Themen, die das Verhältnis der Kaufleute und Städte untereinander oder die Beziehungen zu den Handelspartnern im Ausland betrafen. Dabei suchte man Einigung durch Konsens. Der Hansetag, an dem die Städte nach Gutdünken teilnehmen oder fernbleiben konnten, hatte keine Zwangsgewalt. Wenn sich die Beschlüsse mit den eigenen Interessen der Städte deckten, hielten sie sich daran, sonst gingen sie ihre eigenen Wege. Pragmatisches Vorgehen war jahrhundertelang das Erfolgsrezept der natürlich gewachsenen Hanse. Wenn die EU, die sich je länger, je mehr als teure Fehlkonstruktion erweist, überleben will, tut sie gut daran, von der Hanse zu lernen. An freiwillige, nach reiflicher Prüfung eingegangene Verpflichtungen halten sich Staaten eher als an von einer fernen Bürokratie ausgetüftelte und auf Schleichwegen eingeführte Vorschriften. Es wird in Europa nie gelingen, Nationen, die mehr Freiheit, und solche, die mehr soziale Gerechtigkeit wollen — das britische und das französische Lager —, auf einen gemeinsamen Nenner zu brin-gen. Deshalb scheint es vernünftig, dass Gleich-gesinnte sich zwecks Lösung von Einzelproblemen zu «Pioniergruppen» zusammenschliessen. Wie im Falle des Euros oder von Schengen ist die Teilnahme freiwillig. Man kann sich vorstellen, dass Mitgliedstaaten, die Steuerharmonisierung wünschen, sich à la carte zusammenschliessen. Oder solche, die den Dienstleistungssektor ganz liberalisieren wollen, oder solche, die eine europäische Verteidigungsgemeinschaft schaffen möchten. Im Brüsseler Jargon nennt man dies das «Europa der Projekte». Die Zeit, wo wir fromm den utopischen Visionen und hochfliegenden Worten der Euroschwärmer lauschten, ist vorbei. «Wir müssen den Bürger in den Mittelpunkt stellen», sagt Angela Merkel. Man muss den Bürger aber auch zu Wort kommen lassen und auf ihn hören. Für die bürokratische, politische und akademische Elite, die ein halbes Jahrhundert lang in Europa den Ton angegeben hat, ist diese Erkenntnis ernüchternd. Weltwoche Nr. 22.06