C Allerheiligen 1.11.2004 (In welcher Verfassung wir leben) 1.Am Freitag wurde auf dem Kapitolshügel in Rom die Verfassung für die Europäische Union unterzeichnet. Ein historischer Moment, der Anlass zur Dankbarkeit und Freude ist. Aber auch zur Nachdenklichkeit. Denn der Verfassung der Europäischen Union fehlt – ganz bewusst – jeder Bezug auf Gott. Die Staaten Europas geben sich selbst eine Verfassung und lassen dabei – ganz bewusst – außer Acht, dass ohne die jüdisch – christliche Prägung dieses Kontinents die Geschichte der Vereinigung Europas niemals so weit vorangeschritten wäre. Ohne Bezugnahme auf den einen Gott, der in den drei monotheistischen Religionen des Judentum, des Christentum und des Islam bekannt und angebetet wird, soll das europäische Haus gebaut werden. 2.Gewiss stellt diese Entscheidung einen Höhepunkt einer bereits länger anhaltenden Entwicklung dar Die christliche Religion wird in Europa in ihrer prägenden Rolle für das Wertesystem der Gesellschaften zurückgedrängt. Dies geschieht vor allem, weil mit der zunehmenden Erosion kirchlichen Lebens vor allem in Mitteleuropa, dem christlichen Glauben jede Vorrangstellung, jede grundsätzliche Bedeutung abgesprochen wird, als sei das Christentum weltweit mit über sechs Milliarden Menschen oder auch in Europa oder Deutschland eine xbeliebige Weltanschauung, die nicht aufs engste mit der Geschichte dieses Kontinents, seiner Kultur und Kunst, seiner Moral und Ethik, seiner Wissenschaften und seines Handels verwoben wäre. Auch dieser Staat wurde nicht in einem Vakuum konstruiert, sondern geformt aus dem politischen Bemühen von Frauen und Männern, die sich dem christlichen Menschenbild verpflichtet fühlten und als Christen entschieden in Politik und Gesellschaft Verantwortung ausüben wollten. 3.Freilich trägt auch die Kirche selbst eine Mitverantwortung am Verlust der christlichen Identität. Dass Glaube etwas mit Sendung, mit Apostolat zu tun hat, hinein in die Gesellschaft, in die Welt, dieses Bewusstsein, ist vielen Christen fremd. Religion wird zunehmend missverstanden als emotionale, gefühlsmäßige Größe, bedeutend für das innere Wohlbefinden ohne politische Dimension Wo finden sich noch in den Bereichen der Meinungsbildung, der Lehre und der Wissenschaften, der Politik oder der Wirtschaft Menschen, die aus ihrer christlichen Grundeinstellung keinen Hehl machen? Wer bezeugt denn an seinem Arbeitsplatz, im Freizeitverhalten, dass er Christ ist, am Sonntag dem Gottesdienstbesuch nichts anderes vorzieht und über bestimmte Wertevorstellungen nicht verhandelt? 4.Das Fest von Allen Heiligen heute richtet unseren Blick auf den Himmel. Es ist der Blick, den die Frauen und Männer einnahmen, die in der Geschichte des Christentums aus ihrem Glauben heraus lebten und handelten. Viele sind uns fremd, manche befremden uns, aber in ihrer Gesamtheit weisen sie uns darauf hin, dass es einen tiefen Sinn hat, als Christen das Heft nicht aus der Hand zu geben, wo es um das Leben der Menschen und dieser Welt geht. 5.„Denn wir Menschen essen Brot, doch wir leben vom Glanz.“ Das schreibt Hilde Domin in ihrem Gedicht von den Heiligen. Wir leben vom Glanz , nicht dem Glimmer und dem Geglitzer der goldenen Kälber, sondern vom Glanz , den Gott selbst in diese Welt gebracht hat, in Jesus Christus, dem Licht der Welt, seinem Sohn, zu dem wir uns bekennen. Seine Bergpredigt, seine Seligpreisung, sind die Verfassung, der wir uns anvertrauen können, weil sie das ganze Leben, seine Begrenztheit und Verletzlichkeit ernst nehmen und in eine Beziehung zu Gott stellen. Gott, der das Leben eines jeden Menschen will und erlöst und auf eine Vollendung jenseits aller innerweltlichen Utopien hinführen wird. 6.In den achtziger Jahren lautete eine provokante Streitfrage: Kann man mit der Bergpredigt Politik machen? Heute erleben wir, wie ohne die Bergpredigt Politik gemacht und ohne Gott Verfassungen unterzeichnet werden für das Zusammenleben von Menschen. Zurecht schreibt Heinz – Joachim Fischer in der FAZ (25.10.04): „Es gibt noch einen pragmatischen Grund, vor allem für die Eliten und Meinungsführer in der Gesellschaft, es mit der Geringachtung für die Religion nicht zu übertreiben und der religiösen Bindung der Jüngeren nicht gleichgültig gegenüberzustehen. Die Menschheitsgeschichte lehrt, dass die stärker religiösen Kulturen und die religiös motivierten Mächte den schwächeren und den Söldnern überlegen waren. Und sind. Denn die Daseinsbegründung ohne traditionelle Religion kostet Kraft. Energie, welche die Religiösen in die praktische Bewältigung ihres Lebens, in das gelassene Meistern ihrer Mission stellten. Es wäre besser, darüber ernsthaft nachzudenken und nicht länger das bewusste Zurückdrängen der Religion in Europa als Fortschritt zu feiern.“ 7.Allerheiligen lädt ein, zu erwägen, welche Verfassung wir unserem Leben geben wollen. Welchen Wert der christliche Glaube für mich hat. Meine Taufe. Davon hängt ab, in welcher Verfassung unsere Kinder und Kindeskinder leben werden, in Deutschland und in Europa. „Wir essen Brot, aber wir leben vom Glanz.“ Ob die nach uns das auch noch erfahren dürfen?