Darstellung urbaner Lebenswelt im Künstlerroman 1780

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Darstellung urbaner Lebenswelt im
Künstlerroman 1780-1860 (Max von
Hilgers)
aus ELibraryAustria, der freien Wissensdatenbank
Max von Hilgers
Werk erst in Bearbeitung - wir bitten um Verständnis !
SPIEGEL, SCHATTEN UND DÄMONEN.
Darstellungsformen urbaner Lebenswelt im
Künstlerroman zwischen 1780 und 1860
Zusammenfassung der Arbeit auf Französisch
SPIEGEL, SCHATTEN UND DÄMONEN
Darstellungsformen urbaner Lebenswelt im
Künstlerroman zwischen 1780 und 1860
Von der Fakultät I Geisteswissenschaften
der Technischen Universität Berlin
genehmigte Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades
Doktor der Philosophie
Vorgelegt von Max von Hilgers
Berichter: Prof. Dr. Norbert Miller (Technische Universiät Berlin)
Berichter: Prof. Dr. Stéphane Michaud (Université Paris III – Sorbonne Nouvelle)
Tag der Wissenschaftlichen Aussprache: 7. November 2002
Promotion als Cotutelle de thèse auch an der
Université Paris III – Sorbonne Nouvelle,
U.F.R. de Littérature générale et comparée in Frankreich
vorgelegt
D 83
Berlin 2004
Inhaltsverzeichnis [Verbergen]
1 Vorbemerkung
2 Zusammenfassung
3 Abstract
4 Siehe auch
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Vorbemerkung
Diese Arbeit wurde im Jahre 1998 als gleichzeitige Promotion an der Technischen Universität
Berlin (Deutschland) und an der Université Paris III – Sorbonne Nouvelle (Frankreich)
begonnen. Das Thema der Arbeit, durch und durch komparatistischer Natur, eignete sich wie
wenige andere für die Betreuung von zwei Doktorvätern aus unterschiedlichen Ländern und
unterschiedlichen Sprachräumen. Ich danke allen Beteiligten, allen voran Herrn Prof. Dr.
Norbert Miller und Herrn Prof. Dr. Stéphane Michaud, für ihren Einsatz und den
erfolgreichen Abschluss des binationalen Verfahres der Doppelpromotion - cotutelle de thèse.
Entsprechend des Vertrages über die cotutelle de thèse enthält die Arbeit eine
Zusammenfassung in französischer Sprache ab Seite 298. Für Kommentare und Anregungen
bin ich jederzeit Dankbar. Über die E-mailadresse [email protected] nimmt der Autor
gerne Kontakt mit Lesern dieser Arbeit auf. Berlin, im Januar 2004 3
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Zusammenfassung
Die literarische Darstellung der Stadt verändert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die
Untersuchung geht davon aus, dass die Künstlerfigur einen entscheidenden Einfluss auf die
Entwicklung des erzählten Bildes der Stadt nimmt. Gegenstand der Untersuchung sind
europäische Künstlerromane und -erzählungen, die in der Stadt spielen. In der Zeit, die
zwischen Sébastien Merciers Werk Tableau de Paris (1788) und dem Werk von Gérard de
Nerval Aurélia (1855) liegt, verwandelt sich der traditionelle Stadtbeobachter immer mehr
und lässt durch neue literarische Beschreibungsmethoden einen neuen Betrachtertyp
entstehen. E.T.A. Hoffmann und Nikolai Gogol führen den Künstler als Stadtbetrachter ein,
der sich seiner Vorstellungskraft bedienen darf, um Dinge zu schildern, die jenseits des
objektiv Sichtbaren liegen. Mit der Künstlerfigur wird der Bereich des Nicht-Sichtbaren
entdeckt. Die Figur des Künstlers erlaubt es, den Beschreibungsprozess offen zulegen, zu
reflektieren und die individuelle Vorstellung des Menschen in die Beschreibung
miteinzubeziehen. Das Bild der Stadt unterwirft sich damit nicht mehr einem geordneten
Gesamteindruck, sondern spaltet sich in unzusammenhängende Einzeleindrücke auf, die allein
von individueller und symbolischer Bedeutung sind. Innere und äußere Wahrnehmung
divergieren und zwingen zu einer dies berücksichtigenden Erzählhaltung. Dieser Arbeit liegt
die These zu Grunde, dass das moderne literarische Bild der Stadt (das in der Forschung
vornehmlich mit dem Symbolismus in Verbindung gebracht wird) aus dem Künstlerroman
hervorgeht. Die Stadt dient in den Werken von Honoré de Balzac (Illusions perdues),
Nathaniel Hawthorne (The Marble Faun) und Gottfried Keller (Der grüne Heinrich) als Ort
der Bewährung. Die künstlerischen Träume können in der Stadt nicht verwirklicht werden.
Die Stadt führt zur Enttäuschung und wird auf diese Weise zu einem Raum der Entdeckung
des eigenen Selbst. Aus der Perspektive der Enttäuschung und der Marginalität entwickeln
sich neue und moderne Ansätze der Stadtdarstellung, die das Maß an Verwirrung und
Entfremdung mitausdrücken können. Die empfundene Bedeutungslosigkeit und Isolierung
werden zu Begleitern des Stadtbildes. Der Stadt wird in vielen Künstlerromanen aus diesem
Grund die Natur als Gegenwelt und Fluchtwelt zur Seite gestellt, ein Aspekt der am Ende der
Arbeit untersucht wird. 4
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Abstract
The literary representation of the city changes during the course of the 19th century. The
present study assumes that the figure of the artist comes to have a decisive influence on the
development of the narrated image of the city. The study looks at European novels and stories
that display the life of an artist (Künstlerroman) and take place in the city. From Sébastien
Mercier’s Tableau de Paris (1788) to Gérard de Nerval’s Aurélia (1855) the traditional
observer becomes further and further removed from the narrative and allows a new observer
to emerge. E.T.A. Hoffmann and Nikolai Gogol introduce the artist as an observer of the city,
one who uses his imagination to give account of things that lie behind that, which is
objectively visible. The figure of the artist facilitates discovery of the realm of the non-visible.
The figure of the artist makes it possible to lay bare and reflect upon the narrative process and
to bring into it individual human imagination. Thus the image of the city no longer submits to
an overall orderly impression, but rather splits into so many different unconnected
impressions that are of personal and symbolic significance alone. Internal and external
perceptions diverge and propel the text into a narrative approach that takes account of this. In
the works of Honoré de Balzac (Illusions perdues), Nathaniel Hawthorne (The Marble Faun)
and Gottfried Keller (Der grüne Heinrich) the city serves as a place of testing. Artistic dreams
cannot be realized in the city. The city brings disappointment and thereby becomes a space of
discovery of one’s own self. From the perspective of disappointment and marginality new and
modern ways of representing the city develop that are also capable of expressing the extent of
confusion and alienation. The meaninglessness and isolation experienced in the city come to
accompany the image of the city. It is for this reason that in many novels that display the life
of an artist (Künstlerroman) nature is placed alongside the city as a ‘counter-world’, a world
of escape. 5 Resumée La représentation littéraire de la ville se transforme au cours du XIXe
siècle. La recherche part du point de vue que la figure de l’artiste a une influence décisive sur
le développement de l’image de la ville dans le récit. Elle prend pour objet des romans et
nouvelles d’artistes européens qui se déroulent dans la ville. Du Tableau de Paris (1788) de
Sébastien Mercier à l’Aurélia (1855) de Gérard de Nerval, l’observateur traditionnel s’éloigne
toujours plus de la description et adopte un nouveau regard. E.T.A. Hoffmann et Nicolas
Gogol introduisent l’artiste comme observateur de la ville. Ce dernier se sert de son
imagination pour décrire des choses qui se trouvent au-delà du visible objectif. Avec le
personnage de l’artiste se découvre le domaine du non-visible. Cette figure permet d’exposer
et de refléter le processus de description et d’inclure dans celle-ci la représentation
personnelle de l’individu. L’image de la ville ne se soumet plus à une impression générale
bien ordonnée; se décompose en impressions isolées décousues qui, seules, ont une portée
individuelle et symbolique. Perceptions intérieure et extérieure divergent et fondent une
position narrative différenciée. Dans les oeuvres d’Honoré de Balzac (Illusions perdues),
Nathaniel Hawthorne (Le Faune de marbre) et Gottfried Keller (Henri le Vert), la ville sert de
lieu d’épreuve. Les rêves artistiques ne peuvent s’y réaliser. Déceptive, la ville devient un
espace de découverte de soi. A partir de la perspective de la déception et de la marginalité se
développent des esquisses nouvelles et modernes de la représentation de la ville comme d’un
espace de trouble et d’étrangeté. L’insignifiance et l’isolement ressentis accompagnent
l’image de la ville. C’est pour cette raison que, dans de nombreux romans d’artiste, la nature
est placée à côté de la ville comme contre-univers et lieu de fuite. 6 „Plaisirs bruyans! vifs ét
delicieux plaisirs que l’urbanité donne aux Heureux du siècle, que laissez-vous, quand vous
êtes évaporés? L’ennui, l’affaissement, la langueur, l’inertie absolue, les vapeurs.“ Nicolas
Restif de la Bretonne, Les Nuits de Paris „Tout ce qui est dans la nature est dans l’art.“ Victor
Hugo, Préface de Cromwell. „Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn, aber wofür ? In
der Nacht war es mir mit der Deutlichkeit kindlichen Anschauungsunterrichtes klar, dass es
der Lohn für Teufelsdienst ist. Dieses Hinabsteigen zu den dunklen Mächten, diese
Entfesselung von Natur aus ungebundener Geister fragwürdiger Umarmungen und was alles
noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts weiß, wenn man im Sonnenlicht
Geschichten schreibt. Vielleicht gibt es auch anderes Schreiben, ich kenne nur dieses. Und
das Teuflische daran scheint mir sehr klar...“ Franz Kafka 7 EINLEITUNG 9 I – DER
KÜNSTLER UND DIE POETISCHE EROBERUNG DER STADT 30 1. Die Inszenierung
der Ankunft in der urbanen Welt 30 2. Die Anfänge der perspektivischen Stadteroberung. Die
Beschreibungsform des Tableau de Paris und die Rolle des ‚observateur’ 33 Ist der
‚observateur’ ein Künstler? 41 3. „...sich mit der Welt befreundend!“ Der Künstler und seine
Überwindung der Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt in E.T.A. Hoffmanns Erzählung
Des Vetters Eckfenster 49 Victor Hugo: Die poetische Eroberung der Stadt 54 4. Gogols
Künstler und die Annäherung an Petersburg 56 5. Balzacs Roman Illusions perdues: Luciens
gescheiterter Versuch der Eroberung von Paris 79 6. Die Annäherung des Künstlers an die
Stadt in Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich 82 7. Nervals Theater- und Kunstwelt.
Die Inszenierung des ersten Eindrucks 97 8. Hawthornes Roman The Marble Faun. Die
Erschließung der Stadt durch die Kunst 105 II – DIE VERZAUBERUNG DER STADT. DAS
KÜNSTLERFEST UND DIE KUNSTSTADT 110 1. Das Hoffest in der urbanen Welt 110 2.
Die Pariser Romantiker und ihr Kunstfest 112 Das Hotel Pimodan 1845 113 Das
Künstlerleben im Louvreviertel 1834-1836 116 Der Boheme-Komplex 118 3. Kellers grüner
Heinrich in den zwei München 125 III – DIE ENTFESSELUNG FREMDER MÄCHTE.
DER KÜNSTLER IM DUNKEL DER STADT 144 1. Die Verdunkelung der Stadt:
Puschkins Der eherne Reiter 146 2. Diabolische Symbole der Stadt: Das Porträt von Nikolai
Gogol 154 3. Mythos Großstadt: Dostojewskis Übernahme der Motive von Gogol 177 4. Der
Teufel als Erzähler von Paris 184 5. Die Begegnung mit dem Selbst: Das Zimmer und die
Schatten 195 6. Die Stadt bei Nacht: Das Unsichtbare sichtbar machen. Gérard de Nerval und
Nathaniel Hawthorne 203 Gérard de Nervals Die Oktobernächte und Aurélia 203 Nathaniel
Hawthornes The Marble Faun 209 8 EXKURS Die Aufgabe des modernen Künstlers. Von
den Wahrnehmungsformen zu den Darstellungsformen – John Ruskin und Charles Baudelaire
219 IV – DIE STADTFLUCHT 240 1. Die klassische Stadtflucht: Der Künstler auf der Suche
nach Melancholie und Einsamkeit 240 2. Das Eldorado. Die Fluchtwelten von Théophile
Gautier 248 3. George Sands Vorstellungen vom idealen Ort für den Künstler 256 4. Gérard
de Nervals Flucht aus Paris 260 5. Die Flucht nach Rom. Nikolai Gogols Entwurf einer
idealen Gegenstadt zu St. Petersburg 262 V – SCHLUSSWORT 275 Abbildungsverzeichnis
281 Bemerkungen 288 Bibliographie 289 RÉSUMÉ ET PRÉSENTATION DE LA THÈSE
EN FRANÇAIS 298 1. Comment la représentation de la ville se modifie-t-elle au XIXe
siècle ? 300 2. Qu’est-ce qui caractérise la position nouvelle de l’observateur dans l’image
moderne de la ville? 301 3. Quelle est la portée de la figure de l’artiste dans la modification de
l’image de la ville? 302 4. Comment la ville est-elle représentée dans le roman d’artiste ? 305
5. Comment devient-il possible de représenter une perception humaine de la ville ? 306 6.
Quel rôle jouent l’art et la théorie de l’art pour l’image de la ville ? 308 7. La conquête
poétique de la ville 308 8. Le changement du point de vue mis en scène par Gottfried Keller et
Gérard de Nerval 314 9. L’enchantement de la ville 321 10. La désillusion et ses suites 325
11. Des déserts dans et hors la ville 326 9 EINLEITUNG Diese Untersuchung setzt sich zum
Ziel, Darstellungsformen urbaner Lebensräume im Künstlerroman und in der
Künstlererzählung in der Zeit zwischen 1780 und 1860 zu vergleichen und zu analysieren.
Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der Zeit zwischen 1830 und 1860, in der
Ansätze einer modernen Entwicklung des Stadtbildes des späten 18. und des frühen 19.
Jahrhunderts zur literarischen und poetischen Reife gelangen. Es wird zu zeigen sein, dass die
Entwicklung des literarischen Stadtbildes in einem hohen Maße von einer poetischen
Eroberung des Stadtraumes abhängt: dies bedeutet, Darstellungsperspektiven, die Auswahl
der Stadtmotive, Wahrnehmungsverhalten, stilistische Mittel, Vermittlerrollen (Betrachter
und Erzähler) formen und entwickeln sich in der Weise, dass sich die Literatur eines
Gegenstandes bemächtigen kann, der in seiner vielschichtigen und komplexen
Zusammensetzung dem Menschen bis heute Schwierigkeiten eines umfassenden Begreifens
bereitet. Sind in der Zwischenzeit andere Disziplinen und Forschungsmethoden entstanden
(Geschichtswissenschaften, Soziologie, Stadtplanung, politische Wissenschaften), bleibt die
Literatur die ursprünglichste Form, urbane Lebenswelt zu umfassen und darzustellen. Diese
Untersuchung will den Künstler-Anteil im literarischen Stadtbild in den Vordergrund stellen
und aufzeigen, dass ein Erwachen künstlerischen Selbstbewusstseins in der Zeit des späten
18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts entscheidend dazu beiträgt, dass neue literarische
Darstellungsformen für die Abbildung der Stadt entstehen. Deswegen konzentriert sich die
Auswahl besprochener Texte auf den Künstlerroman und die Künstlererzählung, oder solche
epischen Texte, in denen eine dem Künstler nahe Figur eine tragende Rolle innerhalb der
Handlung und des Erzählprozesses spielt. Es wird zu zeigen sein, dass die neuen Stadtbilder
in einem engen Zusammenhang mit den veränderten Bedingungen stehen, unter denen der
Künstler im 19. Jahrhundert seiner Tätigkeit nachgeht. Der neue Blick auf die Stadt des 19.
Jahrhunderts hängt in entscheidendem Maße von der Vorstellungswelt des Betrachters ab, und
je empfindsamer und aufnahmefreudiger dieser ist, als desto prägnanter und typischer wird
die Darstellung des urbanen Umfeldes verstanden. Die Abbildung der Stadt beginnt sich
dergestalt unlösbar mit einem bestimmten Typ von Betrachter zu verbinden. Diese spezielle
10 Beziehung Betrachter-Stadt wird zum entscheidenden Aspekt der Darstellung. Deshalb
interessiert diese Untersuchung vor allem die gegenseitige Beeinflussung von Umwelt und
Künstler- Betrachter, die zum entscheidenden Ausgangspunkt des modernen Stadtbildes im
19. Jahrhundert wird. Weil der Künstlerroman in seiner Tradition mit dem Bildungsromans
eng verwandt ist, liegt es ihm nicht fern, Übergänge von einer Lebenswelt in eine andere in
epischer Ausführlichkeit darzustellen. Die Konfrontation des Individuums mit der neuen
Umwelt steht seit Heinses Ardinghello und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre im
Mittelpunkt der Handlung von Künstler-, wie Bildungsroman. Gibt es bei Heinse und Goethe
noch keine Auseinandersetzung mit der urbanen Welt1, wählen die Bildungsromane des 19.
Jahrhunderts häufig den Übergang vom Land in die Stadt als Grundlage der Konfrontation des
Helden mit einer neuen Umgebung. Die durch die Tradition des Bildungsromans geprägte
Künstlerfigur ist aus diesem Grunde von besonderem Interesse, da sie die urbane Welt nicht
nur als etwas Neues und Unbekanntes sinnlich aufnimmt, sondern ihr auch als eine Lebensund Schicksalsbestimmende Lebenswelt begegnet2. Die Künstlerfigur wird aus diesem Grund
in das urbane Geschehen nicht nur visuell, sondern auch aktiv in seinen Handlungen
verwickelt. Die individuelle Erfahrung der Stadt überträgt sich so auf die allgemeine
literarische Vorstellung der städtischen Welt und weitet sich im Laufe des Jahrhunderts zu
einem Begriff des Urbanen an sich aus. Die untersuchten Werke stammen aus Ländern und
Regionen französischer, deutscher, russischer und englischer Sprache. Die meisten Werke
sind nicht Teil einer Nationalliteratur, wenn sich mittels dieses Begriffes überhaupt Werke
zuordnen lassen. Gottfried Keller und Nikolai Gogol z. B. stammen nicht aus den Ländern, in
denen sie den größten Teil ihres Pub- 1 Hierauf verweist Hugo von Hofmannsthal: „Aber wer
sich eines seiner [Goethes] Werke aufs neue aneignen, wer ‘Hermann und Dorothea‘, den
‘Wilhelm Meister‘, die ‘Wahlverwandschaften‘ genießen will, muß sich mit schon gereinigten
Sinnen dem Buch nähern. Er muß von sich, von der Atmosphäre seines Lebens draußen
lassen. Er muß die Großstadt vergessen. Er muß zehn tausend Fächer seines augenblicklichen
Fühlens, Denkens und Wollens durchschneiden. Er muß sich auf seinen «verklärten Leib»
besinnen, ich meine: auf ein Ewiges, sein Rein-Menschliches, sein Unbedingtes.“ Hugo von
Hofmannsthal: Honoré de Balzac. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Frankfurt/M.:
Fischer 1959. S.333. [Aufsatz das erste mal 1908 veröffentlicht.] 2 Der Begriff Lebenswelt
stammt aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und wird in der Philosophie zunächst von
Richard Avenarius und Ernst Mach verwendet, bevor dieser Begriff in dem Spätwerk von
Edmund Husserl an Bedeutung gewinnt. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wird er von
Jürgen Habermas in einen soziologischen Zusammenhang gebraucht. In der Philosophie
bezeichnet Lebenswelt den Rückgang auf die reine, ursprüngliche Erfahrung der Welt vor der
wissenschaftlichen oder philosophischen Erörterung. Die Unterscheidung von psychischem
Innen (Ich, Seele) und physischem Außen (Welt, Natur) liegt dem Begriff Lebenswelt seit
Avenarius und Mach zu Grunde. In dieser Untersuchung bezeichnet der Begriff – leicht
abgewandelt in urbane Lebenswelt – die Erfahrung der Stadt, die zum Ausgangspunkt eines
literarischen Bildes gemacht wird. 11 likums gewinnen, Deutschland b.z.w. Rußland, sondern
aus der Schweiz und der Ukraine. Nathaniel Hawthorne stammt aus Massachusetts (U.S.A.),
verbringt allerdings 7 Jahre seines Lebens in England und Italien. Gérard de Nerval erlebt
entscheidende Momente seiner Entwicklung zum Autor im Ausland, in Deutschland und auf
einer Reise durch den Nahen Osten. Die Abbildung der Städte führt dieses uneinheitliche
Muster fort. Die Autoren bilden in den meisten der hier untersuchten Werke nicht ihre
Heimatstadt ab. Die Überwindung regionaler und nationaler Grenzen hat für die Beschreibung
der Stadt in den hier untersuchten Werken eine große Bedeutung. Dies führt dazu, dass Rom
in einer literarischen Darstellung von einem amerikanischen Autor – Nathaniel Hawthorne
mit seinem Roman The Marble Faun – wie von einem russischen Autor – Gogol mit seinem
Werk Rom – vorliegen. Ebenfalls schildert ein französischer Autor – Gérard de Nerval mit
seiner Reiseschilderung Lorely – deutsche Kleinstädte und ein Schweizer Autor – Gottfried
Keller mit seinem Roman Der grüne Heinrich – eine bedeutende deutsche Residenzstadt.
Einzig für E.T.A Hoffmann, Fjodor Dostojewski und Théophile Gautier stehen in dieser
Untersuchung die interkulturellen Aspekte nicht im Vordergrund, da sie sich in ihren
Heimatländern bewegen. Eine komparatistische Methode ist wegen der vielen
Grenzüberschreitungen unumgänglich. Eine vergleichende Herangehensweise ist auch
hilfreich, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Von Rom abgesehen, das 1846 von Jacob
Burckhardt als das „ewige, unparteiische, unmoderne, tendenzlose, großartig abgetane Rom“3
bezeichnet wird, unterliegen die in den Romanen abgebildeten Städte Paris, Berlin, München
und St. Petersburg (sowie mit Einschränkung London) in der untersuchten Zeit ähnlichen
historischen Veränderungen: Übergang von der Residenzstadt zur bürgerlichen Stadt, schnelle
Entwicklung des Handwerks und des Handels (Technisierung und Industrialisierung), das
Anwachsen der Stadt durch den Zuzug neuer Bevölkerungsteile vom Lande. Die aus diesen
Veränderungen hervorgehenden gesellschaftlichen Bewegungen sind von großer Bedeutung
für das literarische Stadtbild. Obwohl sich die Veränderung der Monarchie in der Zeit
zwischen 1780 und 1860 in den hier abgebildeten Städten auf sehr unterschiedliche Weise
vollzieht, gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten. Während Paris in dieser Zeit die Revolutionen
von 1789, 1830 und 1848 und die einschneidenden Herrscherwechsel um 1800, um 1815 und
1851 erlebt, gehen die Veränderungen der Regierungsformen, und die damit
zusammenhängenden gesellschaftlichen Entwicklungen, in Berlin, in München und
insbesondere in St. Petersburg sehr viel langsamer. Die unterschiedliche Geschwindigkeit und
Intensität der historischen Veränderungen verhindert allerdings nicht urba- 3 Jacob
Burckhardt: Briefe. Hrsg.: Max Burckhardt. Band 3. Basel: Schwabe 1955. Seite 56. 12 nes
Wachstum und städtische Erneuerung, die sich überall in Europa im Laufe des 19.
Jahrhunderts durchsetzt und im wesentlichen von der industriellen und gesellschaftlichen
Entwicklung vorangetrieben wird. Für diese Untersuchung ist das besondere Interesse des 19.
Jahrhunderts für die urbanen Veränderungen entscheidend. Es wird zu zeigen sein, dass das
Neue einen besonderen Stellenwert erlangt und in den ästhetischen Diskussionen an Gewicht
gewinnt. Die Aufmerksamkeit für neue Stile und Geschmacksrichtungen verschränkt sich mit
einer urbanen Lebensform, die immer auf der Jagd nach dem Unbekannten und
Außergewöhnlichen ist. Das ‘sich von der Gemeinschaft abheben wollen‘ wird zu einem
kollektiven Streben des Stadtbewohners. In den Metropolen ist der Versuch, sich durch
Auftreten und Kleidung abzusetzen, besonders häufig auszumachen. Dass dieser gemeinsame
Versuch durch die Kollektivität der Handlung ins Groteske umschlägt und zu einem absurden
urbanen Schauspiel wird, ist besonders deutlich in Gogols Erzählung Der Newskij-Prospekt
zu beobachten. In dieser Erzählung entschleiert er mit der selben ironischen Brechung wie in
seinem Essay Petersburger Skizzen das groteske Verhalten der urbanen Petersburger
Gesellschaft. Die gestiegene Aufmerksamkeit für die Mode führt auch in der Kunst zu einer
Vorliebe für neue Strömungen. So hält das Wort ‘modern‘ Einzug in den europäischen
Sprachgebrauch und bezeichnet im 19. Jahrhundert immer häufiger dasjenige Geschehen und
diejenigen Handlungen, die sich von den Gestrigen abheben. Der besondere Reiz des Neuen
wird in der Kunst von John Ruskin in seinem Werk Modern Painters entdeckt. Seine
Überzeugung, dass nur die Maler, die sich im Stil und der Arbeitsweise von der Tradition
lösen, modern sind, ist typisch für die Kunstgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Ruskin verdeutlicht in seiner Abhandlung die Sehnsucht einer Generation nach Veränderung,
die in das Wort ‘modern‘ gelegt wird. Einen weiteren wichtigen Bezugspunkt für die
Kunsttheorie liefert Baudelaire 1860 in seinem Essay Le peintre de la vie moderne. Hier wird
die Schnelligkeit und die Veränderlichkeit von urbaner Lebenswelt zu einer
Grundvorausetzung der aktuellen Kunst gemacht. Wie in dem Exkurs zu zeigen sein wird,
leitet Baudelaire von dem Gegenstand der Betrachtung die Methode der Beschreibung ab. Die
Flüchtigkeit der Erscheinungen in der Stadt, die Moden, die Vielzahl der Menschen und die
Geschwindigkeit des Verkehrs stellt den Künstler vor eine besondere Aufgabe, die dieser nur
durch die Berücksichtigung des menschlichen Wahrnehmungsverhaltens in die Kunst
übertragen kann. Baudelaire erhebt die Wahrnehmung zu einem grundsätzlichen Bestandteil
der Darstellung. Die Veränderlichkeit der Stadt wird so für Baudelaire zu einer Voraussetzung
für eine die urbane Lebenswelt widerspiegelnde Ästhetik. 13 In dieser Untersuchung soll im
Gegensatz zu anderen herausgestellt werden, dass die Genese einer poetischen Erfahrung der
Stadt, so wie sie im 19. Jahrhundert in der europäischen Literatur entsteht, im besonderen
Maße von der veränderten Auffassung des Künstlers abhängt. Der Künstler wird in dieser Zeit
auf eine besondere ästhetische und menschliche Stufe gestellt. Die Methode dieser
Untersuchung – den Künstler ins Zentrum des Interesses zu stellen und zu einem Dreh- und
Angelpunkt des Erzählvorgangs zu machen –soll das neue Verständnis vom Künstler mit der
Frage nach den neuen Wahrnehmungs- und Darstellungsprozessen in der Stadtliteratur
verbinden. Die perspektivische Eroberung der urbanen Lebenswelt umschließt die Bildung
eines Bewußtseins von seinem Betrachterstandort und die poetische Umsetzung dieser
Bewußtwerdung. Deswegen wird die Stadtbeschreibung dort untersucht, wo sie im fiktionalen
Zusammenhang steht und eine Künstlerentwicklung erzählt oder eine Handlung mit einer
Künstlerfigur erzählt. Obwohl der Stadttext in der nicht-fiktionalen Literatur ebenso
beheimatet ist, besteht hier das Interesse an der „erzählten Stadt“4. Von besonderem Interesse
für unsere Untersuchung sind jene Ausschnitte der Weltliteratur, die durch die Beschreibung
der Stadt zu einer Charakterisierung des Beobachters beitragen und sein Innenleben im
Außenleben offenlegen helfen. Die Stadtbeschreibung, dies kein Paradox, ist durch das
‘Ausleihen‘ der Perspektive in der Lage, den Beobachter zu identifizieren und seine Gefühle
und Gedanken literarisch zugänglich zu machen. Das bedeutet, dass die Beschreibung der
Stadt in vorliegender Arbeit dann untersucht wird, wenn sie in den Erzähzusammenhang
eingegliedert und nicht von diesem losgelöst als objektive Erfahrung eines unbeteiligten und
auf sich beruhenden Erzählers geäußert wird. Viele der ästhetischen Theorien des 19.
Jahrhunderts zeichnen sich dadurch aus, der Perspektive eine besondere Bedeutung zu
verleihen und das Verstehen und das Interpretieren von äußerer Wirklichkeit grundsätzlich
von den allgemeinen Vorstellung zu lösen. Das einzelne Individuum wird für die Perzeption
und die Entstehung des Kunstwerkes verstärkt berücksichtigt. Der individuelle Blick gehört
zu den grundsätzlichen Errungenschaften der Moderne. Das Wissen um die Möglichkeit, jede
Betrachtung von Wirklichkeit in eine Vielzahl unterschiedlichen Verstehens aufspalten zu
können, setzt eine ästhetische Bewegung in Gang, die eine besondere Auswirkung auf alle
Bereiche der modernen Kunst hat. Von Ruskin und Baudelaire angefangen, beschäftigen sich
viele ästhetische Analysen nicht mit Erfahrungen ei- 4 Begriff von Volker Klotz: Die erzählte
Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin. München: Hanser
Verlag 1969. Klotz sieht die Bedeutung der Stadt für die Handlung in vielen Stadtromanen als
so beherrschend an, dass er hier von der Stadt als einer handelnden Figur spricht. 14 ner
Mehrheit, sondern mit Wahrnehmungen des Einzelnen. Der Exkurs zu den beiden
theoretischen Werken Modern Painters und Le peintre de la vie moderne soll stellvertretend
für das allgemeine Interesse an der Darstellung von individuellen Wahrnehmungsverhalten im
19. Jahrhundert stehen. Da sich an vielen Stellen die Aufgaben des Künstlers, die Ruskin und
Baudelaire formulieren, in den hier untersuchten Werken auf die Protagonisten übertragen
lassen, ist der Exkurs für die Argumentation vorliegender Arbeit von großer Bedeutung.
Mehrere der Helden befinden sich in einem visuellen Spannungsverhältnis zwischen urbaner
Außenwelt und innerer empfundener Realiät, das zur Einschränkung des Betrachterwinkels
führt. E.T.A. Hoffmann z. B. macht in seinem Werk Des Vetters Eckfenster die Sehfähigkeit
des Dichters in der Betrachtung des Gendarmenmarktes von Berlin zur alleinigen Quelle des
Stadtbildes. Die ästhetischen Grenzen zwischen Wahrnehmungswelt und Vorstellungswelt
verschwimmen für das individuelle Blickfeld des Dichters, der zurückgezogen und einsam in
seiner Dachstube wohnt. Die eigene imaginierte Welt legt sich über das äußere Bild der Stadt
und verschränkt objektive und subjektive Stadtbetrachtung miteinander. Auf diese Weise lässt
sich das Interesse an einem bestimmten Beobachtertyp ausmachen, das Hoffmann und andere
Schriftsteller in ihrem Werk äußern. Das Interesse an der Beobachterrolle entsteht bereits mit
Mercier und seinem ‘observateur‘ am Ende des 18. Jahrhunderts. Es lässt sich ein Verfahren
ausmachen, das darin besteht, in der Betrachtung der Stadt von einem gewissen
Beobachterstandpunkt auszugehen, der definiert wird und in seinem Gesichtskreis nur einen
bestimmten Teilaspekt der Stadt erkennbar werden läßt. So wird durch die Schaffung einer
Perspektive der Versuch unternommen, das komplexe und verwirrende Gebilde Stadt in der
erzählerischen Konstruktion des literarischen Textes abbildbar zu machen. Für den die Stadt
beschreibenden Text bedeutet dies, dass in diesen eingebundene Überlegungen einsetzen, die
versuchen, sich über die Bedingungen der schriftlichen Wiedergabe der Stadt klar zu werden.
Diese künstlerischen Überlegungen führen schnell zu einer Erweiterung der Möglichkeiten
poetischer Abbildung. Es sollen in vorliegender Untersuchung Stadtbeschreibungen in
Erzählungen und Romanen analysiert werden, die sich dieser Fragestellung öffnen und neue
poetische Abbildmethoden entwickeln. Unsere Untersuchungsmethode zielt insbesondere auf
das Stadtbild, das in den Erzählzusammenhang verwoben wird und die Distanz zwischen dem
erzählenden Betrachter und den handelnden Betrachtern aufhebt. Für einen klassischen
Erzählzusammenhang ist typisch, dass die Umgebung vor Auftritt der handelnden Figuren
von einem unbeteiligten Erzähler räumlich und topographisch dargelegt wird. 15 Die Ich-
Perspektive ermöglicht die Aufhebung einer Unterscheidung in objektiven und subjektiven
Erzählzusammenhang. Sie ist für die Ausweitung der Abbildverfahren des Stadtbildes im 19.
Jahrhundert von entscheidender Bedeutung. Erst so kann eine Rückwirkung der Bilder auf die
Handlung und die Charaktere entstehen, da sich deren Blickwinkel mit denen des allgemeinen
Stadtbildes verschränkt. Besonders deutlich wird die Zusammenführung der unterschiedlichen
Perspektiven in den Anfangskapiteln von Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich. Keller
führt vor, wie das Stadtbild aus der klassischen Erzählsituation im Laufe des Romans in das
Stadtbild aus der Ich-Perspektive hinübergleitet. Dadurch bildet sich eine neue Instanz, die
von derjenigen der übergeordneten, allwissenden Erzählinstanz unabhängig ist und München
als einen ‘nach innen gespiegelten Raum‘ sichtbar werden lässt. Im 19. Jahrhundert entstehen
mit diesen Abbildmethoden Romane und Erzählungen, die ohne die Stadtbilder einen Teil
ihrer Handlung verlieren würden. Ohne die Darlegung des Stadtraumes in engem Bezug auf
eine der Hauptfiguren, würde ein wesentlicher Teil der Charakterisierung der Protagonisten
fehlen, wie das Werk von Gogol besonders deutlich macht. In vielen Werken würden die
Figuren in ihrem Wesen und in ihren individuellen Zügen undeutlich oder in ihren
Handlungen unverständlich bleiben, böte sich nicht die Gelegenheit über die Beschreibung
ihrer Umgebung, ihrer Mitmenschen und des Eindrucks, den die Umwelt auf sie hat, einen
tieferen Einblick in ihr Inneres zu erhalten. Die genaue Beschreibung der Verwurzelung der
Protagonisten mit ihrer Umgebung, die Herleitung ihres Verhaltens aus den
Verhaltensmustern ihrer Mitmenschen, dieses anthropologische Interesse in der Literatur, das
bereits früh im 19. Jahrhundert entsteht und im Naturalismus seinen Höhepunkt findet, gibt
der Beschreibung der Umwelt ein besonderes Gewicht. Die Darstellungsformen der Stadt
entwickeln sich entlang dieser engen Beziehung zu den handelnden Figuren der Werke. Die
Verbindung ist in der Erzählform, in der Auswahl der Bilder, in der Darstellungsart eine
entscheidende Stütze für die Entstehung urbaner Landschaften. So ist die Erweiterung des
Stadtbildes im fiktionalen Text nur dann verständlich, wenn eine Figur als Vermittlerperson
und als Bezugspunkt der Wahrnehmung auftritt. Die Charaktere nehmen in den untersuchten
Werken Teil an der Wiedergabe ihrer Umgebung und gestalten die Vermittlung der urbanen
Welt. Stadtbilder werden im 19. Jahrhundert häufig von einer Diskussion begleitet, die die
Verständlichkeit und die Übertragbarkeit von Gesehenem in ein unabänderliches Medium in
Frage stellt. Die poetischen Bilder der Stadt werden am deutlichsten von diesen Fragen
begleitet. Die Repräsentation der Stadt wird in der Literatur immer wieder auf ihre eigene
Wirklichkeit hin überprüft. Das Streben nach einer neuen Form des Realismus, das sich Mitte
der 40er Jah16 re des 19. Jahrhunderts in Frankreich in einer theoretischen Diskussion
entwickelt und schnell auf Europa übergreift, stellt die ästhetischen Bedingungen der
Stadtabbildung in Zweifel. Nerval, Champfleury u.a. suchen nach Wegen, den Verlust der
Wirklichkeit im Kunstwerk durch die Schaffung einer ‘Überwirklichkeit‘ zu kompensieren.
Das von dem Künstler Gesehene ist Realität genug, um es durch eigene Wiedergabe im
Kunstwerk zu einer neuen Wirklichkeit werden zu lassen. Das Werk von Nerval ist durch
diese Stärkung des eigenen künstlerischen Blickes und Selbstbewusstseins geprägt. Nerval
gibt auf seinen Wanderungen durch Paris vor, der Realität durch sein eigenes Sehen und
Erzählen näher zu kommen, als ein Beobachter, der sich einem allgemeinen und objektiven
Blick unterordnet. Für den Beobachter der Oktobernächte setzt sich Paris zu einem Bild der
eigenen Wahrnehmung zusammen, das durch das Offenlegen seiner Subjektivität an Präzision
gewinnt. Denn Schriftsteller wie Gogol, Nerval und Champfleury sind davon überzeugt, dass
die Repräsentation der Wirklichkeit ohne die Bezugnahme auf einen bestimmten Menschen
unmöglich ist. Die Wiedergabe der Stadtwirklichkeit hängt deswegen in ihrem Werk in
hohem Maße von der Integration der individuellen Perspektive in das Stadtbild ab. Die
Darstellung urbaner Lebenswelt fordert ein poetisches Verfahren, das im Text nicht nur auf
die Einschränkung auf die Perspektive eines Einzelnen hinweist, sondern auch als Stil, als
Erzählverfahren und als Bewusstsein erkennbar wird. Ziel vorliegender Untersuchung ist das
Herausstellen solcher Verbindungen der Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, die das
Individuum mit seiner Perzeption der Umwelt mit in die Stadtbilder der Literatur einbinden.
Der Künstlerroman ist für die Analyse der Verbindung von Wahrnehmungs- und
Darstellungsformen am besten geeignet. Er gibt den Darstellungsformen der Stadt besonders
breiten Raum, weil er die Figur des Malers, aber auch des Dichters oder des Musikers, an die
Schnittstelle zwischen Perzeption und Gestaltung von Bildern oder artistischen
Entsprechungen setzt. Die hier untersuchten Künstlerromane und Erzählungen enthalten
ästhetische Überlegungen zu den Fragen der Repräsentation der Stadt, da sie den künstlerisch
tätigen Menschen in seinem Schaffen verfolgen und die Wirkung der Umwelt auf das
Individuum als wesentliches Thema haben. Der Bildungsroman hat Ende des 18. Jahrhunderts
ein literarisches Modell geschaffen, das die Darstellung der „Erziehung des Individuums an
der vorhandenen Wirklichkeit“5 zur Hauptaufgabe des literarischen Werkes macht.
Vorliegende Untersuchung 5 Georg Lukàcs: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten.
Neuwied/Berlin: Luchterhand 1964. S. 397. „Hegel faßt das Wesen des Romans ebenfalls als
die Geschichte einer Erziehung: ‘Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts
weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit,
und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehr17 macht am Ende des
dritten Kapitels den Exkurs, um den Anspruch an den Künstler dieser Zeit darzulegen, und
um eine Charakterisierung seiner Fähigkeiten und Funktionen zu erhalten. Das sich bildende
Verständnis vom Maler drückt sich verstärkt in der zum ersten mal auftretenden Erkenntnis
aus, dass seine Aufgaben und Fähigkeiten einem geschichtlichen Wandel unterliegen. Das im
Zusammenhang mit der Kunst häufig gebrauchte Wort „modern“ drückt diese
Sensibilisierung für die Entwicklung eines Menschentypes aus, der mit dem gegenwärtigen
gesellschaftlichen Verhältnissen verbunden ist. In John Ruskins und Charles Baudelaires
Abhandlungen werden die für diese Zeit typischen Ansprüche an den Maler formuliert, und
sind damit ein wichtiger Ausgangspunkt für die Untersuchung der literarische Darstellung der
Stadt. Beide Autoren verbinden die Fragen der Auseinandersetzung des Künstlers mit seiner
Umwelt und das Entstehen eines modernen Blickwinkels. Das Erleben der Stadt ist eine neue
poetische Qualität für die literarische Stadtbeschreibung. Die Erzählperspektive entwickelt
sich mehr und mehr zu einem auf ein Individuum eingeschränkten Blickfeld, das die
Auseinandersetzung mit der Stadt in der Erfahrung einer einzelnen Person zu bündeln
versteht. Die Konstruktion der Perspektive ist nicht selten ein kompliziertes Unterfangen, das
den Text in verschiedenen Ebenen lesbar macht und das Abbild der Stadt über dargestellte
Objekte hinaus zu einem ausgeweiteten, manchmal verschlüsselten Referenzsystem macht, in
dem ein oder mehrere Charaktere einbezogen werden. Was Riha die „poetische Integration
des Großstadtstoffes“6 nennt, bedeutet nichts anderes, als die Einbindung der
Stadtbeschreibung in traditioneller Form in ein künstliches Geflecht der Beziehungen, das die
Stadt in einer poetischen Umwandlung zu einem Ort macht, der nicht von der selben
Beständigkeit und Gegenwärtigkeit ist, wie es das traditionelle Stadtbild in der Form des
tableau oder der physiologie noch vorgibt. Im 19. Jahrhundert findet ein entscheidender
Wandel statt, der die Stadt nicht nur zu einem Raum des Betrachtens, sondern auch zu einem
Raum des Erlebens macht. Die vom Individuum abhängige Betrachtung der Stadt wird umso
wichtiger, je mehr der Raum der Stadt sich einer einheitlichen Erklärung und Interpretation
verschließt. Das schnelle Anwachsen der Städte in Europa im 19. Jahrhundert bringt ein
Gefühl der Entfremdung mit sich, das besonders durch die architektonische Veränderung
hervorgerufen wird. Das Gefühl, die Geschichte der Stadt zu verlieren, indem die Bezugsjahre
besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen in
die bestehende Wirklichkeit und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung
der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt.‘“ 6 Vgl. Karl Riha:
Die Beschreibung der „Großen Stadt“. Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der deutschen
Literatur (ca. 1750-1850). Bad Homburg: Gehlen 1970. S. 30. 18 punkte für die persönliche
Erinnerung verschwinden, ist typisch für den Text, der sich von einer traditionellen
Stadtbeschreibung unterscheidet. Das Ich eines Briefes, einer Tagebucheintragung, dessen
Form auch den Reiseführer bestimmt, ist nicht fiktiv, sondern gehört immer zu einer Instanz
der Authentizität, die sich gegen die Manipulation und die Verknüpfung des fiktiven
Erzählzusammenhangs wehrt. Mit der Figur des Künstlers tritt eine neue Instanz auf, die sich
den wandelbaren und flüchtigen Erfahrungen der Welt aussetzt und in der Konfrontation mit
der Stadt seine persönliche Identität verliert. Die Vermittlung urbaner Gegenwart gilt seit
jeher als große Herausforderung für die Literatur. Der Vielfalt an Ansichten einer Stadt und
dem Reichtum des in ihr versammelten Lebens steht heute eine ebenso große Auswahl an
Ausdrucksformen und poetischen Übermittlungsmöglichkeiten gegenüber. Der Versuch, eine
einheitliche Form in der Menge der Stadtdarstellung zu finden, oder gar der einen
Darstellungsvariante einen begründeten Vorzug vor einer anderen zu geben, bleibt auch heute
noch zum Scheitern verurteilt. Eine einheitliche urbane Sprache hat sich, trotz der
Bemühungen, Regeln aufzustellen, in den letzten Jahrhunderten weder in der Literatur, noch
in anderen Medien entwickeln können. Die Darstellung der Stadt hängt nach wie vor von der
Disparität der Eindrücke ab, die sie jedem Menschen vermittelt. Das Abbild der Stadt zwingt
deshalb jeden Gestalter von neuem zu grundlegenden Entscheidungen über die Auswahl und
die Anordnung seiner Motive, zu der Wahl der Darstellungsmittel seines Werkes und zu der
Festlegung des ästhetischen Betrachterwinkels. Die Verkleinerung des Menschen vor dem
anwachsenden und gewaltigen Treiben der Städte ist ein häufig anzutreffender
Ausgangspunkt für die Stadtbeschreibung im 19. Jahrhundert. Der Stadtbetrachter – in den
traditionellen Stadtbeschreibungen ist er gleichzeitig auch der Erzähler – spielt die Rolle eines
eingeschüchterten, bedrohten und verwunderten Passanten, der aus der unerfahrenen
Perspektive die Geschehnisse der Stadt in einer direkten und ungefilterten Weise wahrnimmt.
Unvorbereitet auf die gewaltigen, zahllosen und unbekannten Ereignisse, verewigen sich die
Berichte dieser Betrachter als bedrohende und einprägsame Bilder der Großstädte. Das
Großstädtische kann aber nicht mit dem Begriff ‘modern‘ gleichgesetzt werden. Diese
Untersuchung soll zeigen, dass das Thema Großstadt sich nur langsam im 19. Jahrhundert
entwickelt und erst in der zweiten Hälfte die Formen annimmt, die es später in der
Literaturwissenschaft zu der Einordnung in einer eigenen Gattung Großstadtroman geführt
hat. Die Behauptung von Scherpe, „Großstadt und Moderne […] werden in eins gesetzt“7,
führt im 7 Klaus R. Scherpe: Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen
Moderne und Postmo19 Zusammenhang vorliegender Untersuchung zu Missverständnissen
und ist wenig hilfreich. Mit der Analyse des Stadtbildes im Künstlerroman soll gezeigt
werden, dass nicht nur der historische Prozess der Vergrößerung der Stadt – der nach
allgemeiner historischer Auffassung die räumliche Ausdehnung, die Industrialisierung breiter
Stadtteile und dem Einzug der Technik in der urbanen Welt umfaßt – wesentlichen Anteil an
der Entwicklung neuer Darstellungsformen in der Literatur hat, sondern auch die Kleinstadt,
die keine Züge des Großstädtischen trägt. Wie das Beispiel Nerval zeigt, sind auch die
Kleinstadt oder Teile von Paris – wie z. B. die Außenbezirke, die keine Entwicklung zu einer
modernen Großstadt zeigen, – von großem Interesse für die Entwicklung des ‘modernen‘
Stadtbildes. Die Entwicklung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
insbesondere der Naturalismus, hat dazu beigetragen, ein Bild der modernen Stadt zu
zeichnen, das von anderen Aspekten der Stadtwirklichkeit ablenkt. In den hier untersuchten
Werken kommt das Interesse an dem jenseitigen Leben in den Städten zum Ausdruck, das
sich vollkommen unabhängig von der Größe oder der technischen Entwicklungsstufe zeigt.
Die Stadt Rom stellt sich nicht durch ihre schnelle Entwicklung heraus, hält aber für die
Literatur wertvolle Aspekte bereit. Deswegen stellt diese Untersuchung heraus, dass sich das
‘Moderne‘ in der Literatur vielmehr mit dem Unerklärlichen und den dunklen Aspekten der
Stadt zusammenhängt, die sich in der Literatur einen Weg des sichtbar-Werdens suchen. Die
Stadt erweckt vor ihrem eigentlichen Aufstieg zur Großstadt bereits genügend Interesse, so
dass die Kunst in der Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand wachsen und sich neu
formen kann8. Der Vergleich der Abbildung unterschiedlicher Städte soll zeigen, dass die
historische Veränderung der Stadt Einfluss auf die Darstellung des jeweiligen Stadtbildes
nimmt. Auch hierfür ist eine breit angelegte und in ihrer Art komparatistische
Untersuchungsmethode sehr sinnvoll. Denn die der Stadt wesenhafte Veränderung und
Bewegung – im täglichen Geschehen, wie auch aus historischer Sicht – ist einer der
Hauptberührungspunkte zwischen der Literatur und der Stadt in der hier behandelten Zeit.
Wie in dieser Untersuchung gezeigt werden soll, gilt Baudelaires in seinem Gedicht Le Cygne
geäußerte Wehmut über den Veränderungsprozess von Paris – „Le vieux Paris n’est plus (la
forme d’une ville / Change plus vite, hélas! que le coeur d’un mortel)“9 – bereits lange vor
ihm10. Die Stadt fordert die Literatur dazu herderne. Hamburg: Rowohlt 1988. S. 8. 8 Siehe
hierzu auch die These von Max Milner: „L’ambition de faire voir l’invisible […] contribue
[…] à cette exploration des limites de l’humain en quoi consiste une bonne part de l’art
moderne.“ Max Milner: La Fantasmagorie. Essai sur l'optique fantastique. Paris: PUF 1982.
S. 162. 9 Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal. In: OEuvres complètes. Band 1. Paris:
Gallimard 1975. S. 85. 20 aus, dem Zerfall der äußeren Welt in ihrer poetischen
Darstellungsform zu entsprechen. Was Lukács für den Roman im allgemeinen feststellt, gilt
für den Roman, der die Stadt abbildet, im Besonderen: „die Problematik der Romanform ist
hier das Spiegelbild einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.“11 Die Stadtwelt entspricht im
Kleinen einer größeren, noch schwerer zu fassenden Welt. Die Auseinandersetzung mit der
auseinanderfallenden Welt stellt eine Faszination für den Künstler dar. Hierzu müssen sie
nicht immer in die größten Metropolen Europas reisen. Bereits in der Kleinstadt begegnen sie
einer auseinanderfallenden Welt, der sie erstaunt gegenübertreten. Das frühe Entstehen einer
Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Veränderung macht sich bereits in der Kleinstadt
bemerkbar, weit abseits der Metropolen. Dieser Meinung ist auch Marianne Thalmann: „Noch
vor Baudelaire und Quincy entwerfen die deutschen Romantiker den Märchenteppich der
Stadt, die von der unmittelbaren Gegenwärtigkeit dieser Menschen, die in den redlichen
Stuben ihrer Väter nicht mehr zu Hause sind, gespeist wird.“12 Die Sehnsucht nach Ferne und
Entdeckung wird nicht von Beginn an in der weiten Welt gestillt, sondern kann auch in der
Nachbarstadt befriedigt werden, die sich in Größe und Entwicklung nicht abheben muss. Die
Entfremdung wird zum Leitmotiv einer ganzen Generation. Die Suche nach der
angemessenen Darstellungsform für die Monströsität der Welt lässt insbesondere einen
Blickwinkel wichtig werden, der die Vereinzelung, die Marginalisierung und die
Entfremdung der Betrachterfigur zeigt. Die Gegenüberstellung von Welt und Mensch wird
erst darstellbar, indem sich Gegenstand und Text einander entsprechen. So geht die Literatur
auf die Suche nach einer Erzählerstimme, die ihren Antagonismus und ihren Widerstand
gegenüber der urbanen Welt zum Ausdruck bringen kann. Denn erst in der Entfernung und
Entfremdung von der Stadt, besteht die Möglichkeit einer poetischen Annäherung. Diese
Erkenntnis fasst Benjamin einer knappen Formel zusammen: „Diese Dichtung ist keine
Heimatkunst, vielmehr ist der Blick des Allegorikers, der die Stadt trifft, der Blick des
Entfremdeten.“13 Für ihn ist die Kunst Baudelaires, die angemessene Form, der Entfremdung
des Stadtbewohners einen poetischen Ausdruck zu verleihen. Der Aufbau vorliegender
Untersuchung berücksichtigt die verschiedenen Aspekte, die für 10 Siehe hierzu auch die
allgemeine Herangehensweise an das Thema der Stadtdarstellung von Marianne Thalmann:
Romantiker entdecken die Stadt. München: Nymphenburg 1965. 11 Georg Lukács: Die
Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen
Epik. o.O: 1920 [Nachdruck Hamburg: Luchterhand 1963.] S. 12. 12 Marianne Thalmann:
Romantiker entdecken die Stadt. S. 25. 13 Walter Benjamin: „Paris, die Hauptstadt des
19.Jahrhunderts.“ In: Gesmmelte Schriften. Hrsg: R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser. Band
5. Frakfurt a. M.: Suhrkamp 1991. S. 54. 21 die Analyse der Darstellungsformen urbaner
Lebenswelt im Künstlerroman und –erzählung von Bedeutung sind. Das erste Kapitel dieser
Untersuchung setzt sich mit der Marginalisierung des Blicks auseinander, die besonders in der
Erzählsituation der Ankunft in einer dem Betrachtenden unbekannten Stadt erkennbar wird.
Das zweite Kapitel untersucht die Darstellung der Lebensverhältnisse des Künstlers und die
verschiedenen Formen der urbanen Künstlerpräsenz in Paris und München. Das dritte Kapitel
betrachtet die unter dem Aspekt der Entfremdung und der Marginalisierung hervorgerufene
Verdunkelung der Stadt, und im vierten Kapitel wird die durch die Entfremdung
hervorgerufene Stadtflucht analysiert. Als Analogie zur Flucht aus der Stadt ist die
Idealisierung der Stadt von Interesse, die sich insbesondere in der Abbildung Roms als
Gegenmodel zur modernen urbanen Welt untersuchen lässt. Dass die Darstellungsformen mit
der Art und Weise der Wahrnehmung eng in der vorliegenden Auswahl der untersuchten
Werke verbunden sind, begründet den Wechsel zwischen der Analyse des Lebens des
Künstlers im urbanen Umfeld und der Untersuchung der Darstellungs- und Erzählformen.
Denn die Stadt macht wie kein anderes Sujet deutlich, dass bei ihrer Darstellung eine
zweifache Brechung notwendig wird: Der Text zeigt den Reflex einer Wahrnehmung, die
bereits der Widerschein einer Erinnerung oder eines Eindrucks ist. Diese doppelte Spiegelung
ist für die Stadtdarstellung typisch und wird in den untersuchten Werken als menschliche
Verhaltensmuster sichtbar und ins literarische Verfahren übersetzt und herausgestellt. Bereits
im 18. Jahrhundert entsteht die Vorstellung, dass die erzählte Abbildung der Stadt in der
Literatur in einer besonderen Weise das Verhältnis des Betrachters zu seinem Gegenstand der
Betrachtung berücksichtigen muss. So entstehen gegen Ende des Jahrhunderts Darstellungen
von Paris, die mit der Berücksichtigung auf die Situation der Wahrnehmung das Bild der
Stadt beschreiben. Dabei bekommt das Bild der Stadt immer deutlicher den Charakter einer
Abbildung einer menschlichen Wahrnehmung zugeschrieben. Typisches Beispiel ist die
Anfangsbeschreibung von Paris in den Confessions von Rousseau. Das Werk, das zwischen
Authentizität und Fiktion, zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit wechselt und die
eigene Person und ihre Erlebnisse im Rahmen des literarischen Berichtes inszeniert,
ermöglicht auch die ausführliche Darlegung der Situation, in der die Stadt von dem IchErzähler betrachtet wird. Dabei steht für den Erzähler nicht die unmittelbare Darstellung der
Stadt im Vordergrund, sondern die Wiedergabe eines Bildes, das im Betrachter seinen
Eindruck hinterlassen hat. Dieser Eindruck auf den Helden der Autobiographie entfaltet seine
Wirkung insbesondere dadurch, dass er zum erstenmal durch das Stadttor von Paris tritt. Der
„erste 22 Eindruck“, der das Stadttor in der Literatur immer wieder zu einem besonderen
literarischen Ort der Begegnung von Betrachter und Stadt macht, hat eine besondere Stellung
für das Begreifen des Prozesses der poetischen Eroberung des Stadtraumes. Rousseau weist
auf die Besonderheit hin: der erste Eindruck lässt sich von den vielen nachfolgenden
Eindrücken der Stadt Paris nicht mehr auslöschen. Rousseaus Zeitgenosse Sébastien Mercier
macht in seinem Werk Tableau de Paris ebenfalls auf die Besonderheit der Betrachtungs- und
der Beschreibungssituation für die Literatur aufmerksam. Das doppelte Spiegelverfahren und
der Versuch der Literatur, sich den Stadtraum auf poetischen Wegen zu erobern, sind
Grundüberlegungen seines ‘observateur‘. Die literarische Wiedergabe des ‘tableau‘ (Bildes)
von Paris, wird auch von Merciers Betrachter als die Wiedergabe eines persönlichen
Eindrucks verstanden. Die Überzeugung des ‘observateur‘ ist allerdings sehr groß, dass hier,
außerhalb des fiktionalen Zusammenhanges der bloßen Beschreibung von Außenwelt ohne
die Integration von handelnden Figuren, ihm die Möglichkeit einer objektiven Wiedergabe
viel eher gegeben ist. Seine reflektierenden Passagen über die Methode der Beschreibung der
Stadt verrät allerdings seine eigene wesentliche persönliche Implikation in den Betrachtungs-
und Beschreibungsvorgang. Der ‘observateur‘ von Mercier muss in einzelnen Szenen
gestehen, trotz aller Vorgaben objektiver Stadtbetrachter zu sein – woraus die Anonymität der
Betrachtersituation, die Unpersönlichkeit des Betrachtungsvorganges, das fehlende
Involviertsein des Betrachters, die Distanz zwischen Betrachter und Gegenstand der
Betrachtung folgen – von dem umfangreichen und lebhaften Geschehen der urbanen Umwelt
affiziert zu werden. In diesen Momenten brechen die Zugeständnisse des ‘observateurs‘
hervor, die deutlich machen, dass es sich bei ihm um den Versuch handelt, subjektive
Eindrücke durch die nüchterne und rationale Erzählsitution zu objektivieren. Dass die Stadt
sich der objektiven Darstellung widersetzt, wird bei Mercier bereits deutlich, und so treten bei
ihm erste Schritte auf, den künstlerischen Prozess einer bewussten oder unbewussten
Verarbeitung der Eindrücke zu poetischen, bildnerischen, musikalischen Werken, erkennbar
werden zu lassen. Hinweis für den poetisch veränderten Gehalt der Parisdarstellung sind der
Vergleich der eigenen Rolle mit dem Maler und die Darlegung der Arbeitssituation der
Schriftsteller, die nicht ohne die Entfernung vom Gegenstand der Betrachtung die gesehene
Welt beschreiben können, laut Mercier. Zwar will Mercier den Weg von der Straße zu der
Schreibstube so kurz wie möglich halten, um für die Vorstellungswelt keinen breiten Raum
entstehen zu lassen, der Beschreibungsvorgang ist allerdings auch in Merciers Augen
wesentlich von der Erinnerung an das Gesehene abhängig. Die Macht der Schriftsteller, die
durch Unterscheidung von Darge23 stelltem und Vorbild und die künstlerische Autonomie
der Darstellung entsteht, wird nach Merciers Ansicht allerdings noch am besten dazu genutzt,
um moralische Fragen zu stellen und Mißstände in der Gesellschaft aufzuzeigen. Die
literarische Darstellung der Stadt hat sich den grundlegenden Fragen künstlerischer
Schöpfung seit dem Werk Tableau de Paris von Sébastien Mercier geöffnet und begonnen, die
Suche nach den gestalterischen Antworten im Text reflektierend zu diskutieren. Seit Mercier
hat die erzählende Stimme sich die Möglichkeit geschaffen, selbst als Betrachter der Stadt
aufzutreten und sein Seh-, sein Urteils- und sein Darstellungsvermögen selbstkritisch zu
beleuchten. Mit Mercier hat die Darstellung urbaner Wirklichkeit den Betrachter und den
Vermittler der Bilder in den Mittelpunkt gerückt und ihm eine deutlich vernehmbare Stimme
verliehen. Dadurch hat die Personifizierung der Stadtdarstellung ihren Anfang gefunden und
die Wahrnehmungssituation an Bedeutung gewonnen. Der Zeitpunkt und der Vorgang der
Wahrnehmung urbaner Umwelt wird zu einem entscheidenden Aspekt der literarischen
Darstellung der Stadt. Das literarische Stadtbild ist ohne die ausführliche Beleuchtung und
Präsentation der Vermittlerinstanz seit Merciers Werk nicht mehr vollständig. Baudelaires
Abhandlung Le peintre de la vie moderne stellt wie bisher kein anderer Text den für das 19.
Jahrhundert gültigen ästhetischen Zusammenhang zwischen dem Künstler und der Stadt her.
Baudelaire beantwortet die Frage nach dem Zusammenhang von Künstler,
Darstellungsformen und Darstellungsobjekt Stadt mit dem einfachen Hinweis, dass der
Künstler der Stadt so gegenüber treten müsse, dass er die Suche nach der Darstellungsform in
die urbane Wiedergabe mitaufnimmt. Baudelaire fasst auf diese Weise einen ästhetischen
Sachverhalt zusammen, der sich schon in vielen Werken der Literatur seit längerem andeutet
aber noch nicht offen beschrieben worden ist: Die Darstellung der Stadt erfordert nicht nur die
Beleuchtung ihres Gegenstandes, sondern auch die Hervorhebung des Vorgangs der
Wahrnehmung und die Übersetzung der Wahrnehmung in die Kunst. Die Suche nach der
eigenen Darstellungsform ist seitdem zu einem festen Bestandteil jeder Stadtdarstellung
geworden. In der Zeit zwischen Baudelaires Essay Le peintre de la vie moderne und Merciers
Tableau de Paris liegen die in dieser Untersuchung betrachteten Werke. Es ist das Ziel dieser
Untersuchung, die Rolle des Künstlers als ein wesentliches Moment moderner
Stadtdarstellung schon in der Zeit vor Baudelaires Überlegungen aufzuzeigen. Den
Anfangspunkt dieser vergleichenden Untersuchung bildet E.T.A. Hoffmann, der in seiner
Erzählung Des Vetters Eckfenster die Widersprüchlichkeit der urbanen Erscheinungswelt zum
Ausgangspunkt der Entstehung neuer Wirklichkeitswiedergabe macht. 24 Gogol beginnt seine
Erzählung Der Newskij-Prospekt mit einer ausführlichen Beschreibung des Petersburger
Prachtboulevards zur Tageszeit. Er lässt die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des
städtischen Mikrokosmos über den Boulevard ziehen und teilt jeder eine bestimmte Uhrzeit
für ihr Auftreten zu. Das hier die Physiologien, so wie Balzac sie konzipiert hat, nur
nachgeahmt werden, wird in dem ironischen Unterton des Erzählers und der sich
anschließenden Handlung deutlich. Denn die sich so offensichtlich präsentierende
Wirklichkeit und die vermeintliche gemeinschaftliche Benutzung des Boulevards gehört nicht
zu dem ästhetischen Gesamtprogramm der Petersburger Erzählungen, die von der
Desintegration der Figuren lebt. Die Isolation des Stadtbewohners wird in der
Anfangsbeschreibung zwar durch das allgemeine Streben Aufzufallen angedeutet, aber erst
die beiden Binnenhandlungen und die abschließende Rahmenhandlung machen den gesamten
Isolationsprozeß innerhalb der städtischen Gesellschaft deutlich erkennbar. Gogols
Errungenschaft ist es, diesen Isolationsprozeß in ästhetische Kategorien zu übersetzten, das
heißt in erster Linie durch die Erzählperspektive erkennbar werden zu lassen. Das
Herauslösen des Individuums aus der Gemeinschaft der Stadtbewohner wird im 19.
Jahrhundert wiederholt zur Bedingung für die Erzählbarkeit der Stadt, da sich aus der
Perspektive des Einzelnen, die Stadt zu einem literarischen Raum formen kann. Die erzählte
Stadt ist nicht nur Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft, sondern auch einer
umfassenden Forschung mit historischem Interesse. Die Arbeit von Alain Corbin Le miasme
et la jonquille. L’odorat et l’imaginaire social. XVIIIe – XIXe siècles14 untersucht die
Entwicklung der Stadt in ihren hygienischen Aspekten. Allein von der Bedeutung und der
Entwicklung des Geruchs für die Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert, der insbesondere in
den Städten immer ausführlicher wahrgenommen wird, lassen sich wichtige Aspekte für die
Wahrnehmung des urbanen Raumes für unsere Fragestellung ableiten. Corbin macht mit
seiner Untersuchung auf wichtige Aspekte des urbanen Lebens aufmerksam, die er auch – in
geringem Umfang – in ihren ästhetischen Auswirkungen untersucht. Als Quellen zieht er
literarische Texte heran: Neben Sébastien Mercier werden Charles Baudelaire, Émile Zola
und Joris- Karl Huysmans (und andere) zitiert. Den Kulturwissenschaftlichen Ansatz von
Corbin verfolgen ebenfalls Wolfgang Schivelbusch, der sich besonders der Auswirkung der
technischen 14 Alain Corbin: Le miasme et la jonquille. L’odorat et l’imaginaire social.
XVIIIe – XIXe siècles. Paris: Aubier 1982. 25 Entwicklung im 19. Jahrhundert widmet, und
Karl Schlögel15, der einen Versuch der Annäherung über die Geschichte und die Entwicklung
einer Stadt in seinem Buch Moskau lesen unternimmt. Für Schivelbusch in seinem Werk
Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert sowie für Joachim
Schlör16, steht die Stadt bei Nacht im Zentrum der Untersuchung. Alle hier aufgeführten
Autoren greifen in ihren Untersuchung nicht nur auf historische Quellen, sondern auch auf
literarische Texte zurück, um ihre Ausführungen zu belegen. Dass ihre Quellen der Fiktion
angehören, wird selten problematisiert. Unsere Untersuchung will aber durch die Festlegung
auf die Künstlerfigur, gerade auf die Künstlichkeit des Stadtbildes aufmerksam machen und
sich von einer Betrachtung der nichtfiktionalen Stadt unterscheiden. Die Einbindung der Stadt
in den epischen Zusammenhang, in Erfindung und Inszenierung ermöglichen unserer
Meinung nach durch manche Zuspitzung gerade auch die charakteristischen Merkmale der
historischen Stadt zu zeigen. Dieses für unsere Untersuchung entscheidende Vorgehen prägt
auch die Arbeit von Philippe Hamon, Imageries. Littérature et image au XIXe siècle17. Diese
geht allein von dem Abbild der Stadt des 19. Jahrhunderts aus, um zu einer Aussage über den
zeitgenössischen urbanen Raum zu kommen. Der Umgang des Menschen mit den Medien, die
er neben der Literatur einsetzt, um über eine Fixierung zu einem Verständnis der Stadt zu
gelangen, verdeutlichen das umfassende Streben nach dem Begreifen und Festhalten der
Gestalt der Stadt im 19. Jahrhundert. Die Untersuchungen zum nicht-fiktionalen Bild der
Stadt, wie z. B. von Kai Kauffmann, „Es ist nur ein Wien!“ Stadtbeschreibungen von Wien,
macht deutlich, dass die Forscher auch jenseits der Epik vor der Aufgabe stehen, über das
Verhältnis von Wahrnehmungsformen und Darstellungsformen nachzudenken18. Die
dokumentarische Darstellung der Stadt verhindert nicht, wesentliche Aspekte der fiktionalen
Stadtbeschreibung zu beachten. Volker Klotz, der mit seiner Arbeit Die erzählte Stadt. Ein
Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin als erster die Beschreibung der
Stadt im epischen Werk umfassend untersucht, verwendet die Begriffe Sujet und Vorwurf
anstatt Motiv. Seine Arbeit geht davon aus, dass „eine Affinität bestehe zwischen Stadt und
Roman, zwischen einem außerpoetischen Gegenstand und einer poeti- 15 Schivelbusch,
Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19.
Jahrhundert. München: Hanser 1977. Ibid.: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen
Helligkeit im 19. Jahrhundert. München/Wien: Hanser 1983. Karl Schlögel: Moskau lesen.
Berlin: Siedler 1984. Ibid.: Promenade in Jalta und andere Städtebilder. München: Hanser
2001 16 Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930.
München/ Zürich: Artemis&Winkler 1991. 17 Philippe Hamon: Imageries. Littérature et
image au XIXe siècle. Paris: José Corti 2001. 18 Kauffmann, Kai: „Es ist nur ein Wien !“
Stadtbeschreibungen von Wien. 1700 bis 1873. Geschichte eines literarischen Genres der
Wiener Publizistik. Wien: Böhlau Verlag 1994. 26 schen Gattung. Daß aus gutem Grund der
Vorwurf Stadt vor jeder andern die Gattung Roman auf den Plan rufe.“19 In seiner Arbeit
begründet sich die Tradition, die Stadt als einen in sich literarischen Raum zu begreifen und
von einem Bewusstsein der Stadt zu sprechen. In der Arbeit von Eckhardt Köhn
Straßenrausch wird dieses Bewusstsein bereits als ein weitestgehender ästhetischer Moment
begriffen. Diese Methode verfolgen auch Jurij Mann, „Moskwa w twortscheskom sosnanii
Gogolja“ (Moskau in Gogols künstlerischen Bewusstsein) und Karlheinz Stierle. Für Jurij
Mann bildet Moskau in Gogols Denken einen wesentlichen Dreh- und Angelpunkt, das sein
Denken massgeblich beeinflusst. Durch das Verständnis für Gogols Einstellung zu der
slawischen Hauptstadt, die er von der westlichen Hauptstadt St. Petersburg abgrenzt, lässt sich
das Werk des russischen Dichters an vielen Stellen leichter erschließen. Karl Riha versucht,
die Großstadtforschung von der bisher in germanistischen Untersuchungen praktizierten
Methode der Entgegensetzung von Stadt und Land zu lösen und das Großstadtmotiv ohne die
bisherigen Vorzeichen oder Bewertungen zu untersuchen, die der Großstadt vermehrt die
negativen Kategorien zugewiesen haben20. Seine Untersuchung ist eine Suche nach dem
Motiv, eine Stoffgeschichte, die sich auf die Darstellung der Stadt konzentriert. Wie Klotz
sieht er die Frage nach der Form aber keinesfalls ausgeklammert, da für ihn Stoff- und
Formgeschichte miteinander im Kontext diskutiert werden sollten. Er macht in seiner Arbeit
deutlich, dass für ihn die poetische Beschreibung der Stadt nicht ohne weiteres Hinterfragen
direkt aus ‘existentiellen Dichtererlebnissen‘ hergeleitete werden darf. Auch das
Großstadtmotiv entzieht sich nicht einer ‘Tradition des Erzählens‘, und wird deshalb von ihm
innerhalb einer Erzähltypologie untersucht, da die Fragen nach der Einbindung der
Beschreibungsabschnitte in das Ganze eines erzählten Textes von großer Wichtigkeit sind.
Denn an diesem Punkt stellt sich die Frage nach der Art und Weise des Übergangs von der
Beschreibung der Stadt zu der Erzählung der Stadt, die genügend Unbekannte beinhalten, da
sich die Großstadt durchaus ihrer Erzählbarkeit widersetzen kann. Riha stellt aber wie Stierle
in diesem Ringen um das Bewußtsein der Großstadt nicht die Figuren, die in ihr abgebildet
werden, heraus. Laut Riha besteht für Lukács ein enger Zusammenhang zwischen der sich
verändernden Wirklichkeit und der sich verändernden Romanform. Die Großstadt hat im 20.
Jahrhundert einen entscheidenden Anteil an der Veränderung der Romanform, weil sie die
Essenz der neuen Realität direkt die neue Romanform bedingt: „Zwischen moderner
Großstadt und modernem Roman vermittelt, was Lukács die ‘immanente‘, sich freisetzende
‘Poesie‘ dieser neuen 19 Volker Klotz: Die erzählte Stadt. S. 11. 20 Karl Riha: Die
Beschreibung der großen Stadt. S. 7ff. 27 Großstadtwirklichkeit nennt.“21 Lukács sieht im
Text eine Erfahrung zum Vorschein kommen, die in der Großstadt bereits vorgebildet, gar in
ihr versteckt ist, bis es in einer poetischen Verwandlung bewußt gemacht wird, bzw.
freigesetzt wird. An diese Überzeugung schließt auch die Untersuchungsmethode von Stierle
an22. Stellt sich die Großstadtwirklichkeit des 19. Jahrhunderts wirklich als Generator der
modernen Romanform dar? Riha stellt ebenfalls die Frage nach der „immanenten Poesie“ und
findet bei Lukács keine genaue Antwort. Er stellt fest, dass die Analyse durch das Fehlen
genauer Begriffe erschwert wird. Die Umschreibung bietet an vielen Stellen den einzigen
Ausweg, das gewaltige Ausmaß und die Vielschichtigkeit des Großstadtmotivs zu
überwinden. Die Untersuchungen von Marianne Thalmann und René Trautmann verwenden
bewusst nicht den Begriff Großstadt23. Ihre Untersuchungen beschäftigen sich hauptsächlich
mit einer Literatur vor dem Werden der Großstädte. Für sie besteht nicht der enge
Zusammenhang zwischen Romanform, Moderne und Entwicklung der Stadt zur Großstadt,
wie für Scherpe, Lukàcs und Stierle24. Pierre Citron legt in seiner Arbeit La poésie de Paris
dans la littérature française de Rousseau à Baudelaire eine umfassende Untersuchung der
Beschreibung von Paris in der Literatur dar. Das Hauptaugenmerk richtet er dabei auf die
Dichtung. Citron analysiert auch die Rolle des Autors und des Dichters, der sich einen
Standort für die Betrachtung der Stadt sucht. Die Beziehung des Autors zu Paris, die während
der Romantik die Grundlage für den Mythos Paris legt, findet bei Citron besondere
Beachtung. Die Bedeutung des Künstler für das Bild der Stadt findet daher in dieser Arbeit
noch die größte Beachtung. Dass es sich hier um den Hauptuntersuchungsgegenstand Poesie
handelt, ist dabei nicht zufällig. Die Forschung zum Künstlerroman erreicht bei weitem nicht
den selben Umfang wie die zur Stadt. Sie ist aber nicht von geringerem Interesse für unsere
Arbeit. Es existieren nur zwei ausführliche Arbeiten zum Thema deutscher Künstlerroman25.
Den Grundstein zu einer For- 21 Ebd. S. 28. 22 Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris.
Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München: Hanser 1993. 23 Thalmanns Untersuchung setzt
bereits im späten 18. Jahrhundert an und beschäftigt sich hauptsächlich mit der Zeit vor dem
Einsetzen der Mode der Großstadtromane von Sue und Dickens. Trautmann setzt im Vormärz
an und untersucht die Stadtdichtung bis zu Gotthelf und Keller. Marianne Thalmann:
Romantiker entdecken die Stadt. München: Nymphenburg 1965. René Trautmann: Die Stadt
in der deutschen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts (1839-1880). Winterhur: Keller 1957. 24
Scherpe fordert „ […] die Großstadt auf neue, dem Stand der Vergesellschaftung und der
Technik angemessene Weise erzählbar [zu] machen […]“ und stellt weiter fest: „Wenn es
eine Mythologie der Moderne gibt, so ist der Ort von dem sie erzählt und an den Sie
gebunden ist, die Großstadt.“ Klaus Scherpe: Die Unwirklichkeit der Städte. S. 14. 25 Erich
Meuthen weist auf den Mangel in der Forschung selber hin: „Seit dem Erscheinen von 28
schung des Künstlerromans hat die Untersuchung von Herbert Marcuse gelegt. Marcuse
bewegt sich hauptsächlich in der deutschen Literatur mit Ausflügen nach Frankreich und zu
Henrik Ibsen. Meuthen untersucht hingegen allein die deutschsprachige Literatur26. Beide
Interpreten beginnen bei Wilhelm Heinses Ardinghello oder die glückseligen Inseln, Karl
Philipp Moritz‘ Anton Reiser und Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre
ihre Untersuchung. Die Auswahl stimmt auch bei den Werken des 19. Jahrhunderts
weitestgehend überein. Während Marcuse mit den frühen Werken Thomas Manns endet, führt
Meuthen seine Untersuchung bis zum Doktor Faustus und Georg Ransmayers Die letzte Welt
fort. Beide Untersuchungen haben Interesse an der Frage nach den Möglichkeiten literarischer
Artikulation des Subjektes. Die Selbstreflexion, die die Künstlerfigur ermöglicht, führt beide
Untersuchungen zu einer Analyse des Einflusses der Kunst auf das Leben. Andrée SfeirSemler stellt ein umfassendes Bild des Künstler im 19. Jarhhundert her. Über die Auswertung
der Akten der Teilnehmer des Pariser Salons gelingt es ihr, eine Dokumentation des Lebens
des durchschnittlichen, aber situierten Künstlers nachzuzeichnen. Ihre Arbeit hilft von
manchen Verklärungen des Künstlerdaseins abzusehen, die besonders in der Zeit der
französischen Romantik zunehmen. Für diese Untersuchung ist das Bild des fiktiven Bild aber
wichtiger als der Künstler in der Darstellung von Sfeir-Semler. Der einsame Held im Kampf
um die Anerkennung und den Ruhm, mit Schwierigkeiten sich an die neuzeitlichen Heinses
‘Ardinghello‘ und Tiecks ‘Franz Sternbalds Wanderungen‘ ist der Begriff ‘Künstlerroman‘
gängig. In der literaturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte ist er jedoch
kaum mehr von Belang. Anfang der 20er Jahre entstand Herbert Marcuses Dissertation ‘Der
deutsche Künstlerroman‘. Seither ist – abgesehen von einem kurzen Essay Ernst Blochs und
einem Vortrag Werner Hofmanns […] nicht versucht worden, das Genre näher zu bestimmen
oder einen Überblick über seine Entwicklung zu gewinnen.“ Erich Meuthen: Eins und doppelt
oder Vom Anderssein des Selbst. Struktur und Tradition des deutschen Künstlerromans.
Tübingen: Niemeyer 2001. S. 2. Arbeiten zu Teilgebieten des Künstlers in der Literatur, die
für uns von Interesse sind: Helmut Kreuzer: Die Bohème. Beiträge zu ihrer Beschreibung.
Stuttgart: Metzler Verlag 1968. Maschkowzew, N. G.: Gogol w krugu chudoshnikow. [Gogol
in Künstlerkreisen]. Moskau: Iskusstwo 1955. 26 Herbert Marcuse: Der deutsche
Künstlerroman. Freiburg: Dissertation 1922. [Nachdruck in Ders.: Schriften. Band I.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978.] 29 Forderungen der Gesellschaft anzupassen, ist für die
moderne Perspektive auf die Stadt von größerem Interesse als der erfolgreich sich in das
bürgerliche Leben eingliedernde und über den wirtschaftlichen Verhältnissen stehende Maler.
Der modernen Stadtdarstellung liegt von Anfang an die Inszenierung eines bestimmten
Betrachtertypes zu Grunde. I – DER KÜNSTLER UND DIE POETISCHE EROBERUNG
DER STADT „Il est dans la Litterature, de meprisables Insectes, semblables à la Sauterelle:
Ils se traînent sur les poétises des Hommes-auteurs, ét les donnent au Public, incapables qu’ils
sont de rien produire d’euxmêmes: Ils s’enrichissent, tandis que le vrai Poète, le veritable
Inventeur, quelle que soit sa facilité, demeure pauvre, ét perie de tous les maux attachés à
l’humanité: Lecteurs, distinguez l’Auteur du Compilateur.“ Restif de la Bretonne: Les Nuits
de Paris. 1. Die Inszenierung der Ankunft in der urbanen Welt Die Schilderung des Momentes
der ersten Ankunft in einer unbekannten Stadt ist in der Literatur ein beliebtes Motiv. In der
Darstellung des urbanen Raumes nimmt diese Beschreibungsform eine Sonderstellung ein.
Sie hängt fast immer von einem Ich-Erzähler oder einer personalen Erzählsituation ab, in der
der Betrachter eine sehr wichtige Person für die Erzählhaltung ist. Denn von der
personengebundenen Erzählperspektive hängt ab, ob die Gefühle und die Gedanken vermittelt
werden können, die beim ersten Betreten einer Stadt im Betrachter entstehen. Das Innenleben
der Protagonisten ist der wichtigste Bestandteil der Ankunftsbeschreibung. Die
Einschränkung der Perspektive auf eine bestimmte Figur ist die Voraussetzung dafür, das
Außergewöhnliche, das Neue und das Extreme wahrzunehmen und darzustellen, also genau
jene Momente, die ein noch unvorbereiteter Betrachter im ersten Eindruck von einer größeren
Stadt vermittelt bekommt. Je größer die Stadt, je mehr sie sich von anderen Lebensbereichen
absetzt, desto stärker muss dieser Eindruck sein, und umso mehr müssen die Charakteristika
urbaner Lebenswelt hervortreten. Dieses Zusammenspiel von Erzählhaltung und
Darstellungsgegenstand entsteht im 18. Jahrhundert und wird in der Literatur bis ins 20.
Jahrhundert hinein umgesetzt und führt immer wieder zu neuen dramatischen Schilderung der
Ankunft im urbanen Raum. Das Unvorbereitete des Helden, seine Unbedarftheit, das
Unverbrauchte seiner Sinne steigert in diesen Szenen den Moment der Ankunft 31 genauso
wie das Ungewöhnliche und das Neue, das sich durch die Einschränkung der Perspektive auf
einen bestimmten Betrachter ins Monumentale, ins Gewaltige oder aber ins Mythische
steigern kann. Der unverbrauchte Beobachter wird zur bevorzugten Figur unter den
Stadtbetrachtern, weil er genau die Aspekte der Stadt mit besonderer Sehschärfe wahrnimmt,
die den urbanen Ort von anderen Orten abheben. Die Schilderung seiner Ankunft verspricht
deswegen das detailreichste und ausdrucksstärkste Bild der Stadt, eine Darstellung, die sich
auf die typisch urbanen Momente konzentriert und somit das literarische Abbild in seinen
Konturen schärft. Diese Ankunfts-Bilder werden häufig von den wahrnehmenden Charakteren
als aus der Erinnerung nicht auslöschbar bezeichnet, was auch ihrem ästhetischen Wesen, da
sie als erzählte Texte einen Moment fixieren, entspricht. Die Erinnerung ist in der Darstellung
der Stadt, von Rousseau bis Baudelaire, die menschliche Grundlage, auf der das urbane
Geschehen überhaupt darstellbar wird. Rousseau schildert in seiner Autobiographie
Bekenntnisse (1782-88) solch eine erste Ankunft in Paris, die als klassisch bezeichnet werden
kann. Nachdem das Ereignis einige Zeit zurückliegt, das autobiographische Ich längst mit
Paris vertraut ist, schildert es seine ‚prémière impression’ und das Bild der Stadt als eine Welt
des Unbekannten und des Abstoßenden, die ihm „entgegenschlägt“: „En entrant par le
fauxbourg St. Marceau je ne vis que de petites rues sales et puantes, de vilaines maisons
noires, l’air de la malpropreté, de la pauvreté, des mendians, des chartiers, des ravaudeuses,
des crieuses de tisanne et de vieux chapeaux. Tout cela me frappa d’abord à tel point que tout
ce que j’ai vu depuis à Paris de magnificence reelle n’a pu détruire cette prémière impression,
et qu’il m’en est resté toujours un secret dégout pour l’habitation de cette capitale.“1 Der
„erste Eindruck“ von Paris hinterläßt unauslöschbare Spuren. Diese Spuren sind so tief in das
Gedächtnis des Ich-Erzählers gegraben, dass sie auch durch später erworbene Eindrücke für
den Betrachter nicht verloren gehen. Das Besondere der Pariser Welt, die Armut und der
Unrat in den Außenbezirken, wird durch die Unbedarftheit des Betrachters im Rahmen seines
Blickfeldes hervorgehoben. Der Ich-Erzähler, dessen Weg im Werk aufgezeichnet wird, der
aus dem überschaubaren Genf kommend, längere Zeit auf dem Lande im Schutze seiner
Gönnerin und Geliebten gelebt hat, tritt zum ersten mal durch das Stadttor einer großen Stadt.
Die Betrachtersituation wird in den Bekenntnissen von diesem Gegensatz der Lebenswelten
und dem Weg des Betrachters maßgeblich beeinflusst. Da mit der Darstellung der 1
Rousseau: Les confessions. In: OEuvres complètes de Jean-Jaques Rousseau. Bd. 1. Paris:
Gallimard 1959. S. 159. 32 Stadtbilder auch eine Aussage über den Protagonisten der
Bekenntnisse getroffen wird, seine Entwicklungsgeschichte Hauptgegenstand des Werkes ist,
bedeuten die Bilder von Paris eine für den Roman wichtige Darlegung des augenblicklichen
Entwicklungsstands. Die Darlegung der Betrachtersituation gehört zu den wichtigsten
Voraussetzungen der Inszenierung des ersten Eindrucks. Sie ist entweder an den fiktionalen,
epischen (meistens Roman-) Text gebunden, weil mit diesem ein Hauptcharakter im
Mittelpunkt steht (z. B. Heinrich, Lucien), oder geht, wie im Falle von Nerval, von einer
nicht-fiktionalen, dokumentarischen Beschreibungshaltung aus, die aber in der Begegnung
mit dem unbekannten Ort, den ‚ersten Eindruck‘ zum Ausgangpunkt einer für Nerval
typischen Fiktionalisierung werden lässt. Dabei werden die realen Geschehnisse, die dem
Betrachter in der Ankunft begegnen, in die Erlebniswelt des Ich-Erzählers überführt, und
verleiten ihn dadurch, in das Reich der Impressionen hinüberzugleiten. Durch die
Hervorhebung des ‚ersten Eindrucks‘ wird so in Nervals Werk der Ausgangspunkt für eine
dokumentarische Fiktion geschaffen, die für den Erzähler in seiner Ankunft am unbekannten
Ort das Gesehene zum Einstieg in eine reiche Welt der Assoziationen werden lässt. Die
Ankunft in der unbekannten Stadt bildet, wie im Falle der Confessions von Rousseau,
bevorzugt den Übergang zwischen zwei sich entgegenstehenden Lebenswelten ab. Dabei wird
gezeigt, wie sich der Held auf unbekanntes Gebiet begibt und den Schutz in der Heimat der
ihm entgegentretenden Fremde und der Ungewissheit neuer Lebenswelten opfert. Von einem
solchen Wechsel sind die meisten ersten Stadtbegegnungen geprägt, und der Zeitpunkt der
Ankunft fällt in dem Erzählablauf meistens mit einer Zuspitzung von Gefühlen der
Entwurzelung und Angst zusammen. Dass diese Art der Verkettung von Erzählperspektive
und Stadtdarstellung in der Literatur des 19. Jahrhundert kanonisch wird, soll vorliegende
Untersuchung zeigen. Denn noch die bekanntesten Werke der Großstadtliteratur des 20.
Jahrhunderts bleiben der Ankunft in der Stadt in ihrer Erzählweise verpflichtet. Alfred
Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929) setzt die Inszenierung des ersten Eindruck auf
moderne Weise um. Franz Biberkopf kommt nicht aus einer Kleinstadt oder vom Lande,
verlässt aber das ihm zur Heimat gewordene Gefängnis. Diesen Schutz verlassend fährt er in
das Zentrum von Berlin, und Döblin versteht es, durch das Beziehen der Perspektive auf diese
Übergangssituation von Biberkopf, die ersten Bilder der Stadt ins Groteske und Phantastische
zu steigern. Am Anfang des Romans stehend, übernehmen diese Berlinbilder die Leitfunktion
für die gesamte Stadtdarstellung des Romans. Auch die Stadtdarstellung in Aragons Paysan
de Paris macht den Übergang vom Land in die 33 Stadt zur Grundlage der Parisdarstellung
des Romans. Die Inszenierung der Ankunft ist nicht auf eine Szene oder ein Kapitel begrenzt,
sondern füllt hier das gesamte Werk. Der erstaunte, naive Blick des Landmenschen, des
paysan, ist die Voraussetzung für die Wahrnehmung der dämmrigen, verschlossenen und sich
ständig wandelnden Welt der Stadt in Aragons Werk. In diesem Kapitel soll der erzählerische
Weg in die Stadt untersucht werden. Die Inszenierung des ersten Eindrucks macht deutlich,
wie wichtig die Betrachterfigur und die Darlegung ihrer Situation ist. Von diesen beiden
Faktoren hängt die Ausgestaltung der Stadtdarstellung im erzählten Werk entscheidend ab.
Dessen Zusammenspiel entscheidet darüber, ob eine literarische Eroberung eines so
komplexen Gebildes, wie die des Stadtraumes, möglich ist. Zunächst wird auf die klassische
Beobachterfigur von Sébastien Mercier eingegangen, bevor an den Beispielen von E.T.A.
Hoffmann, Nikolai Gogol, Gottfried Keller, Gérard de Nerval und Nathaniel Hawthorne
deutlich gemacht werden soll, was die spezielle Rolle der Künstlerfigur in dem
Zustandekommen der Darstellung und für die poetische Bemächtigung der urbanen Welt
bedeutet. 2. Die Anfänge der perspektivischen Stadteroberung. Die Beschreibungsform des
Tableau de Paris und die Rolle des ‚observateur’ Die Form des tableau geht zurück auf Louis
Sébastien Mercier. In seinem Werk Tableau de Paris (1781-88) öffnet sich die Stadt einer
Betrachtung und Schilderung jenseits des Interesses an dem Erzählen einer fiktiven Handlung.
Im Unterschied zu anderen Werken, wie z. B. Alain René Lesages Roman Le diable boiteux
(1707), ist Merciers Kennzeichen, das nach ihm kopiert und fortgeführt wird, die Erfindung
einer erzählenden Stimme, die sich ganz der Betrachtung hingibt und auch in der literarischen
Schilderung versucht, die ganze Nähe zum Vorgang des Betrachtens zu wahren. Der in dem
Tableau de Paris zu Wort kommende Chronist folgt Figuren, denen er auf seinem Weg durch
die Stadt begegnet, nicht, um deren Schicksal zu beleuchten, sondern beläßt die epische
Ausdehnung ihres Auftrittes in dem Rahmen, den das Erscheinen im öffentlichen Raum
ermöglicht. Während sein Zeitgenosse, der zweite große Chronist der Stadt Paris, Restif de la
Bretonne, in seinem Werk Les nuits de Paris (ab 1787), wie Lesage, so verfährt, dass er den
Gang durch die Stadt – sei es nun über die Bürgersteige oder wie bei Lesage über die Dächer
– zum Ausgangspunkt nimmt, um in die geschlossenen Räume einzudringen, bleibt Mercier
fast ausschließlich auf den öffentlichen Raum beschränkt und grenzt das Private sowie die
davon abhängende Fiktion aus. Die zufällige Begegnung mit fremden Personen ist bei
Bretonne und Lesage noch der Anstoß dazu, ins Fiktive des erzähle34 rischen Flusses
herüberzugleiten, sich von der Darstellung des allgemeinen städtischen Raumes abzuwenden
und das persönliche Schicksal der Figuren zu beleuchten. Mercier hingegen bietet dem Leser
die Gelegenheit, die Funktion oder Tätigkeit eines Menschen jenseits des Einzelschicksals im
Gefüge der Stadt dargestellt und erklärt zu bekommen. Dabei dauert die Beschreibung von
Personen so lange an, wie der Chronist sicher sein kann, dass seine Schilderung mit dem
tatsächlich offen vor ihm Liegenden und mit dem eindeutig zum allgemeinen Leben der Stadt
Gehörenden übereinstimmt. Merciers Vorgehensweise in der Stadtdarstellung lautet
zusammengefasst: der Leser muss das Gefühl haben, sich jederzeit von der Übereinstimmung
des Beschriebenen mit der Pariser Wirklichkeit überzeugen zu können und dabei von fiktiven
und personengebundenen Elementen einer Erzählung nicht gestört zu werden. Diese Form des
Erzählens fühlt sich dem dokumentarischen Aufzählen, Ordnen und Festhalten von Elementen
verpflichtet, aus denen eine gegenständliche Stadtumwelt zusammengesetzt ist. Die
Authentizität der vom Chronisten geschilderten Welt, die Übereinstimmung von erzähltem
und allgemein erlebten Raum, steht im Mittelpunkt des Interesses dieser Erzählform.
Jegliches imaginierte Beiwerk, epische Ausschweifen, bildliche Ausschmücken, das im
Erzählvorgang möglich wäre, wird von Mercier vermieden. Deswegen bedeutet der Begriff
tableau für Mercier nicht nur ‚Bild', eine der von der ursprünglichen lateinischen ‚Tafel'
(tabula) hergeleitete Bedeutung, sondern auch ‚Verzeichnis', ‚Liste' oder ‚Tabelle'2. Die
Bedeutung ‚Verzeichnis’ weist auf den ursprünglichen Gebrauch des Wortes tableau hin, das
im dokumentarischen Verfahren von Mercier seine Bedeutung behält. Stadtführer und
Kalender für Stadtbewohner, mit Angaben zu öffentlichen Festen, Marktzeiten, öffentlichen
Dienststellen, Krankenhäusern, etc., tragen bereits vor Merciers Tableau de Paris diese
Bezeichnung. So lautete zum Beispiel einer dieser Führer Tableau de Paris pour l’année 1759,
formé d’après les antiquités, l’histoire, la description de cette ville, der von „sieur Jèze“
herausgegeben wurde3. Der Gebrauch des französischen Wortes tableau vor Mercier, wie z.
B. bei Jèze, macht deutlich, dass im Zusammenhang der Stadtbeschreibung dieser Begriff
nicht nur die Bedeutung von ‚Bildtafel‘, sondern auch die von ‚Liste‘ oder ‚Verzeichnis‘ hat.
Das Werk von Jèze stellt eine Art Enzyklopädie der Stadt Paris dar und versucht, das
zeitgenössische Geschehen in Paris in einer übersichtlichen Struktur zu präsentieren und so
einen praktischen Führer für 2 Da es im Deutschen mehrere Möglichkeiten der Übersetzung
von tableau gibt, hat sich nach anfänglicher Verwendung der Worte ‚Gemälde‘ und ‚Bild‘ das
französische Original eingebürgert. Siehe die frühen Übersetzungen, die noch nicht tableau im
Titel tragen, von Bernhard Georg Walch: Paris, ein Gemälde von Mercier. Leipzig: 1783-84,
und Heinrich A. O. Reichard: Mercier's neuestes Gemälde von Paris. Fuer Reisende und
Nichtreisende. Leipzig 1789. 3 Siehe Michel Delon: „Piétons de Paris“. In: Paris le Jour, Paris
la Nuit. Paris: 1990. S. VI. 35 Stadtbewohner und Fremde zu bilden. Von der Sorge um
Aktualität und Neuheit zeugt der Aufruf an die Leser, für die jährlich notwendigen
Aktualisierungen ihre Beobachtungen dem Herausgeber mitzuteilen. Der Anspruch von Jèze
ist das Aufführen und Einordnen der Fülle der Angebote, die die Stadt Paris jedem Besucher
oder Einwohner darbietet. Sein Buch ist eine Gebrauchsanleitung für die in der Stadt
Lebenden. Die Auflistung der Monumente und Gebäude dient dazu, einen Stadtplan
offenzulegen und eine überschaubare Topographie herzustellen. Die knappen
Stadtbeschreibungen in diesem Almanach unterwerfen sich ebenfalls diesem Bestreben, eine
brauchbare Grundlage für Orientierungspunkte und Wegweiser zu schaffen4. Mercier gibt in
seiner Vorrede an, sich von dieser Form des tableau gelöst zu haben: „Je n'ai fait ni inventaire
ni catalogue"5. Auch wenn ein gewisser enzyklopädischer Anspruch bei Mercier erhalten,
sein Wille zur Erstellung einer umfassenden Bestandsaufnahme der Pariser Umwelt
unverkennbar bleibt, hat seine Art der Beschreibung mit der alten Form des Kalenders von
Jèze nur noch wenig gemein6. Mit den Stadtbeschreibungen von Mercier, bekommt die
Bedeutung ‚Bildtafel‘ für das französische Wort tableau Übergewicht. Diderot hat in diesem
Zusammenhang über seine Ausführungen zur Dramentheorie und der Genremalerei Mercier
bereits wichtige ästhetische Vorgaben gemacht. Zwar bleibt der enzyklopädische Anspruch,
ein vollständiges Verzeichnis aller Aspekte des Lebens von Paris vorzustellen und diese zu
kategorisieren, bestehen – die vielen Aspekte des Stadtlebens in den Kapitelüberschriften
machen dies deutlich –, aber die Mittel entsprechen jetzt nicht mehr denen einer strukturierten
4 Unter der Bezeichnung tableau wurden im späten 18. und im 19. Jahrhundert weiterhin
Reiseführer aufgelegt. Hinter Titeln, wie zum Beispiel "Tableau historique et pittoresque de
Paris", "Tableau de Paris, ou Indicateur général des monuments, curiosités, théâtres..."
verbergen sich nicht Stadtbeschreibungen in der Art von Mercier, sondern sie enthalten in der
ursprünglichen Form eine Auswahl an Unterhaltungs-, Besichtigungs- und
Bildungsmöglichkeiten, sowie praktische Hinweise für Einkauf, Übernachtung und Reise. 5
"Si quelqu'un s'attendoit à trouver dans cet ouvrage une description topographique des places
et des rues, ou une histoire des faits antérieurs, il seroit trompé dans son attente. Je me suis
attaché au moral et à ses nuances fugitives; mais il existe chez Moutard, imprimeur-libraire de
la reine, un dictionnaire en quatre énormes volumes, avec approbation du censeur et privilege
du roi, où l'on n'a pas oublié l'historique des châteaux, des colleges et du moindre cul-de-sac.
S'il prenoit un jour fantaisie au monarque de vendre sa capitale, ce gros dictionnaire pourroit
tenir lieu, je crois, de catalogue ou d'inventaire. Je n'ai fait ni inventaire ni catalogue; j'ai
crayonné d'après mes vues; j'ai varié mon tableau autant qu'il m'a été possible; je l'ai peint
sous plusieurs faces; et le voici, tracé tel qu'il est sorti de dessous ma plume, à mesure que
mes yeux et mon entendement en ont rassemblé les parties." Louis-Sébastien Mercier:
Tableau de Paris. Amsterdam: o.V. 1782. S. V ff. 6 Siehe hierzu Köhn. Er schreibt, dass
Mercier sich von der Tradition der Topographien absetzt, "[…] die durch Inventarisierung
von Straßen, Bauwerken und Sehenswürdigkeiten aller Art vor allem den Fremden und
Zugereisten den Weg durch die Stadt zu weisen suchten. Adressat seiner Darstellungen
hingegen ist das Pariser Publikum[…]". Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und kleine
Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin: Das Arsenal 1989. S.
18. 36 Aufzählung oder Gliederung. Vielmehr tritt ein neues Element auf, das einen
Zusammenhalt für die Aneinanderreihung der Beschreibungsabschnitte schafft. Das Tableau
de Paris von Mercier bekommen den entscheidenden Bestandteil eines jeden beschreibenden
Textes, den des Beobachters, des ‚observateurs’, wie Mercier ihn nennt. Dieser Schritt ist
bedeutsam, weil hier die Wirkung der Stadt auf einen Betrachter mit in den Text
aufgenommen wird. Während der Stadtführer von Jèze die Stadt in erster Linie als physisches
Objekt präsentiert, führt Mercier einen geistigen Zutritt zur Stadt vor, indem sein
‚observateur’ die Funktion übernimmt, die Stadtbeschreibung als die Wirkung einer
Gesamtheit auf eine einzelne Person aufzufassen. Die Wahrnehmbarkeit der Stadt wird
dadurch von Mercier zum ersten mal thematisiert. Eine Verbindung von Bild zu Bild findet in
Merciers Werk allerdings nicht statt. Es entsteht kein Weg durch die Stadt. Dieses Muster
wäre zu nahe an der erzählten Topographie, die den Spaziergänger auf seinem Weg durch die
Stadt in dem Dargestellten erkennen lassen würde und seine physische Verbindung mit dem
Gegenstand zu einer ordnenden Instanz im Erzählzusammenhang werden ließe. Mercier sagt
sich wiederholt von der Topographie los: "Je passerai sous silence sa position topographique,
ainsi que la description de ses édifices, de ses monumens, de ses curiosités en tout genre;
parce que je fais plus de cas du tableau de l'esprit et du caractere de ses habitans, que de toutes
ces nomenclatures qu'on trouvera dans les étrennes mignonnes. C'est au moral que je me suis
attaché; il ne faut que des yeux pour voir le reste." 7. Mercier will hinter die offensichtliche
Objektwelt schauen. Er will mit seiner Beschreibung den moralischen Zustand seines Landes
aufdecken. Das Erscheinen des Werkes im Ausland hat seinen Grund darin, dass die
geäußerte Kritik keine Zensur passiert hätte. Die Schärfe seiner Kritik an den Zuständen in
Paris entsteht allein aus seiner Beschreibung, die in den meisten Fälle eines Kommentars
entbehren kann. Der ‚observateur’ Mercierscher Prägung ist bereits ausführlich in der
Forschung charakterisiert und untersucht worden. Für den interpretatorischen Zusammenhang
dieser Arbeit ist die bisher von Eckhardt Köhn, Karlheinz Stierle und Kai Kaufmann gestellte
Frage nach dem Fortleben dieser Figur weniger von Bedeutung. Wie lange und wo diese
Figur und ihre Beschreibungsform überlebt und an welchen Stellen sie im 19. Jahrhundert
wieder auftaucht, inwieweit sie das Vorbild des Flaneurs ist, soll an dieser Stelle nicht so sehr
interessieren, wie die Frage nach dem, was die nachfolgenden Betrachter der Stadt von dieser
Figur unterscheidet. Dabei soll untersucht werden, wie die innere darstellerische Organisation
des Tableau de Paris 7 Mercier: Tableau de Paris. S. 18ff. 37 zu einer geschlossenen und
einheitlichen Präsentation von Stadt gelangt und wo das Aufbrechen dieser Form einen
eingreifenden poetischen Wandel ermöglicht. Mercier stützt sein darstellerisches Konzept auf
den einzigen Pfeiler des ‚observateur’. Er bildet einen beweglichen Punkt, auf den die
Darstellung der Stadt ausgerichtet ist. Jede Betrachtung geht von diesem Ort aus und
organisiert sich in ihm. Jeglicher durch die Stadt laufende Blick wird von dieser Schwerkraft
angezogen und bündelt sich an dieser Stelle. Eine dezentrale, mehrperspektivische Ansicht, in
der sich ein ungenaues Schnittmuster von Linien bilden würde, ist für die Betrachtungsweise
des Tableau de Paris ausgeschlossen. Allein die Fragmentierung der Stadt, die Zerlegung der
Vielfalt in die Einzelabschnitte der kompakten Kapitel ermöglicht die darstellerische
Bewältigung der Stadt. Ohne den ‚observateur’ ist das darstellerische System des tableau
undenkbar. Er allein erhebt die Stimme und er allein konstituiert damit die Autorität, die uns
in 4 Bänden mit über 1000 Kapiteln durch das Jahrzehnt vor der Französischen Revolution
und durch die bekannteste Stadt Europas führt. Ohne diese auf seine Person ausgerichtete
Perspektive wird kein Wort geäußert, kein Zentimeter in Paris zurückgelegt. Seine Macht im
Erzählzusammenhang wird von keiner Instanz beschnitten. Er stellt seine Beobachtungen dar,
ohne dass ihn eine höher stehende Autorität in seinem Anspruch auf die betrachtende
Alleinherrschaft gefährden oder ihm seinen erzählstrategisch wichtigen Platz streitig machen
könnte. Der ‚observateur’ ist sich über seine belangvolle Situation im klaren. Er findet diesen
für den Erzählzusammenhang zentralen Platz nicht zufällig oder bekommt ihn zugewiesen,
sondern er erobert ihn sich selbst. Der ‚observateur’ ist aktiv an der Gestaltung seiner eigenen
Rolle beteiligt. Er stellt sich in dem Vorwort des Tableau de Paris vor; er ist dabei höflich,
zurückhaltend und unvoreingenommen seinem Publikum und den Objekten seiner
Betrachtung gegenüber. Sein ‚Ich‘ ist überall präsent – vom ersten Wort an, aber er ist nicht
vorlaut; er wandelt das ‚Ich‘ immer wieder in ein fraternisierendes ‚Wir‘ um. Er bedient sich
einer die Beschreibungen durchdringenden Stimme, die aber dem Gegenstand der
Betrachtung immer den Vortritt lässt. Seine Figur und seine Rolle charakterisiert er am
Anfang im Vorwort ausführlich. „Je vais parler de Paris, non de ses édifices, de ses temples,
de ses monumens, de ses curiosités, etc assez d'autres ont écrit là-dessus. Je parlerai des
moeurs publiques et particulieres, des idées régnantes, de la situation actuelle des esprits, de
tout ce qui m'a frappé dans cet amas bizarre de coutumes folles ou raisonnables, mais toujours
changeantes. Je parlerai encore de sa grandeur illimitée, de ses richesses monstrueuses, de son
luxe scandaleux. Il pompe, il aspire l'argent et les hommes; il absorbe et dévore les autres
villes, (...). 38 J'ai fait des recherches dans toutes les classes de citoyens, et n'ai pas dédaigné
les objets les plus éloignés de l'orgueilleuse opulence, afin de mieux établir par ces
oppositions la physionomie morale de cette gigantesque capitale. Beaucoup de ses habitans
sont comme étrangers dans leur propre ville : ce livre leur apprendra peut-être quelque chose,
ou du moins leur remettra sous un point de vue plus net et plus précis, des scenes qu'à force de
les voir, ils n'appercevoient pour ainsi dire plus; car les objets que nous voyons tous les jours,
ne sont pas ceux que nous connoissons le mieux.8 Diese Selbstdarstellung gibt ihm die nötige
Autorität für den Weg, den seine Schritte durch die Stadt nehmen, machen aber auch die
Leserschaft auf die Schwierigkeiten und Besonderheiten seiner Situation aufmerksam. In der
Analyse seiner Funktion wird immer wieder die Abhängigkeit von dem Gegenstand seiner
Betrachtung deutlich. Seiner Sehkraft, seiner Betrachter- Anziehungskraft steht ein viel
schwerwiegenderes Objekt entgegen: die Stadt Paris. Die Masse der Stadt gefährdet die
Ordnung seiner Blickachsen. Obwohl die Stadt den ‚observateur’ gebärt, ihm erst seine
Aufgabe und damit seinen Daseinsgrund gibt, gefährdet sie ihn mit ihrer viel mächtigeren und
unüberwindlich scheinenden Masse. Über die Bemühungen, der Schwere und dem Volumen
der Stadt etwas entgegenzusetzen, legt der ‚observateur’ Zeugnis ab. Seine Aufgabe in der
Konfrontation mit dem Stärkeren sieht der ‚observateur’ in der reflektierenden Überwindung,
d. h. in einer sich die Schwierigkeiten intelligent bedienenden Haltung. Er will sich dadurch
die Kraft und Gewalt von Paris für seine Zwecke zu Nutze machen. Der ‚observateur’ stellt
deshalb fest, dass Paris eine ‚gigantische Hauptstadt’ ist, dass die Welt um ihn herum von
einer ‚unbegrenzten Größe’ ist, voll von ‚unermesslichem Reichtum’ und ‚skandalösen
Luxus'. Die Gebräuche und Gewohnheiten, die er sieht, sind im ständigen Wandel begriffen,
und so stellt sich die Ausgangslage für den ‚observateur’ als eine unübersichtliche und schwer
zu fassende Aufgabe dar. Konfrontiert mit dieser Herausforderung stellt er sogleich einen
Versuch an, seinen Betrachterstandort an das Spezifische dieser Situation anzupassen. Die
ersten drei Kapitel widmen sich einem Überblick der Stadt, der einen Gesamteindruck der
Stadt vermitteln soll. Der Überblick macht den Betrachter mit der ‚unbegrenzten Größe’
(grandeur illimitée) und der ‚Verschiedenheit der Objekte’ (diversité des objets) von Paris
bekannt. Dieser Unübersichtlichkeit will der ‚observateur’ ein strukturierendes System
entgegen setzen. Er entwirft für sich einen ‚saubreren’ und ‚präziseren’ Ausgangspunkt der
Betrachtung, einen „point de vue plus net et plus précis“9. In der Unordnung versucht er eine
8 Ebd. S. IVff. [Klammer (...) von Mercier. d.V.] 9 Ebd. S. IVff. 39 Ordnung zu etablieren. So
erkennt er in den zahlreichen Gegensätzen und in dem Kontrast die Möglichkeit, sich an einer
polaren Struktur zu orientieren, wie er am Beispiel der Sitten und sozialen Unterschiede zeigt.
Auf diese Weise hat er nicht nur für sich ein System des Sehens entwickelt, das die
Widerstände der Betrachtung überwindet, sondern er kann auch die Pariser das Sehen lehren,
da sie an den meisten alltäglichen Dingen vorübereilen, ohne diese wahrzunehmen. So
definiert Mercier seinen Zugang zu Paris. Er sucht einen Eingang in die Stadt, der die Ankunft
des ‚observateur’ in Paris beschreibt. Denn indem Mercier die Perspektive des ‚observateur’
festlegt, wird deutlich, wie die sich zunächst einer kohärenten Betrachtung und Beschreibung
sperrende Stadt ihre Wehrhaftigkeit verliert und von dem ‚observateur’ sehend erobert werden
kann. Die eigentliche für Mercier typische darstellerische Vorgehensweise repräsentieren die
ersten vier Kapitel allerdings noch nicht. In den Kapiteln 1-4, "coup-d'oeil général", "les
greniers", "grandeur démesurée de la capitale " und "physionomie de la grande ville", wird die
Einleitung insofern fortgesetzt, als sich der ‚observateur’ weiterhin in seiner Rolle und seiner
Aufgabe definiert. Die Stadt wird noch als Ganzes betrachtet und der ‚observateur’ sucht
einen angemessenen Betrachterstandort. Der ‚observateur’ beginnt erst in Kapitel 5, "les
carrieres", mit seiner eigentlichen strukturierenden Vorgehensweise der Aufteilung der Stadt
in Einzelaspekte und ihrer Beschreibung in kurzen Kapiteln. Die Zerlegung der Stadt in
Einzelbilder, die jeweils in einem Kapitel behandelt werden, ermöglicht eine erzählerische
Position, die die Limitierung und Konzentration der Fülle und Unübersichtlichkeit der
urbanen Umwelt entgegensetzt. Dem ‚observateur’ gelingt es, durch diese Einschränkung
seines Blicks sich von der Verpflichtung der Orientierung und Zuordnung im Ganzen der
Stadt freizumachen, und hieraus resultiert seine Unbekümmertheit um die Organisation der
Einzelteile in einem erzählerischen, topographischen oder historischen Gesamtaufbau des
Tableau de Paris. Die strukturelle Unabhängigkeit führt zu einer größeren Verpflichtung dem
einzelnen beschriebenen Objekt gegenüber, das in der Loslösung aus seiner Verknüpfung mit
anderen Gegenständen selber mehr Raum für die Analyse und Beschreibung erlangt. Mercier
benutzt den durch die Aufteilung und Herauslösung der einzelnen Beschreibungsabschnitte
entstandenen Freiraum, um hier moralische, gesellschaftliche und soziale Fragen zu stellen.
Das gewählte Gerüst lässt den reflektierenden, sich in ein Verhältnis zu den betrachteten
Objekten setzenden und sich in gleicher Weise mit den Objekten wie mit sich selber
auseinandersetzenden Beobachter nicht zu. Die später beim Flaneur anzutreffende
Gewohnheit, immer auch sich selber und das eigene Verhalten mit in dem Gefüge der Stadt
zu betrachten und zu beschreiben – dieser Hang 40 zur Selbstbespiegelung ist in dem Tableau
de Paris noch nicht aufzufinden. Nach Merciers Konzeption kann der Betrachter nur dann
objektiv betrachten und beschreiben, wenn er sich selbst aus dem zu Betrachtenden ausnimmt.
Der ‚observateur’ tritt nicht als Person auf, die ihre Charaktereigenschaften offenlegt. Der
‚observateur’ hat keinen Namen und keine Biographie; es wird keine gesellschaftliche
Verknüpfung sichtbar, weder soziale Stellung noch Beruf oder Herkunft werden erwähnt. Er
sieht sich selber nur in der Aufgabe des umherlaufenden und wiedergebenden Betrachters.
Der Erzählzusammenhang bleibt unpersönlich und anonym10. Der Leser soll auf diese Weise
von einer Projizierung der Objekte und des Geschehens auf eine unvoreingenommene
Oberfläche ausgehen, die keine Unebenheiten enthält, die das Bild verzerren könnten. Dem
Anschein einer Beeinflussung seiner Betrachtungsweise versucht der ‚observateur’ mit allen
Mitteln zu entgehen. Die Gültigkeit seiner Bilder vor einem anderen Auge, durch
Wiedererkennen, ist ihm von äußerster Wichtigkeit. Das Wiedererstehen von Paris in der
Beschreibung soll für seine Zeitgenossen so verständlich sein, wie für die Nachwelt. Das
Streben des ‚observateur’ nach persönlicher Zurücknahme ist Bestandteil seines
Selbstverständnisses. Wenn er schreibt, er wolle in seinem Werk lediglich abbilden, wie ein
Maler mit seinem Pinsel, aber keinen Raum der Reflexion der Beurteilung lassen11, dann
wird deutlich, was für eine Vorstellung von Authentizität der ‚observateur’ und mit ihm
Mercier vermitteln will. Das Tableau de Paris ist jedoch alles andere als frei von ‚jugement’
und ‚réflexion'. Das Gegenteil ist der Fall: hinter den Bildern stehen immer wieder mehr oder
weniger versteckte Exkurse der gesellschaftlichen Kritik, und Mercier sieht in der Benennung
der Missstände den einzigen Anreiz zur Verbesserung der sozialen Lage in Paris. Der
‚observateur’ spricht dies als seine Maxime immer wieder offen aus.12 Um die Authentizität
ist Mercier im Stil und in der Diktion bestrebt. Er lässt keinen Zwei- 10 Stierle schreibt dazu:
„Doch verhielt sich die Form [der Gattung tableau, d.V.] gegen ihre vielfältige Verwendung
gleichsam indifferent. Sie blieb anonym und führte auch den sonst unverwechselbarsten
Schriftsteller in ihre Anonymität zurück. Die Anonymität der Form entsprach der Anonymität
einer durchschnittlichen Erfahrung, in der die Leser der tableaux sich wiedererkannten. Dies
begründete den breiten, populären Erfolg der Gattung als einer einfachen Form der
Beschreibung des modernen Lebens in der ganzen Vielfalt seiner Erscheinungen.“ Stierle:
„Baudelaires ‚Tableaux Parisiens‘ und die Tradition des ‚Tableau de Paris‘.“ In: Poetica 6.
(1974). S. 285ff. 11 "Je dois avertir que je n’ai tenu dans cet ouvrage que le pinceau du
peintre et que je n’ai presque rien donné à la réflexion du philosophe.“ Mercier: Tableau de
Paris. S. X. Wenig später schreibt er: „Je le répète, je n’ai voulu que peindre, et non juger.“
Mercier: Tableau de Paris. S. XIV. 12 Köhn gibt ein treffendes Beispiel für das
moralisierende Verfahren in der Beschreibung. Siehe Köhn: Straßenrausch. S. 22ff. Mercier
beschreibt sein Anliegen selbst wie folgt: „J'ai pesé sur plusieurs abus. L'on s'occupe
aujourd'hui plus que jamais de leur réforme. Les dénoncer c'est préparer leur ruine.“ Mercier:
Tableau de Paris. S. VIII. „Non, il est impossible à quiconque a des yeux, de ne point
réfléchir, malgré qu’il en ait.“ Ebd. S. 7. Und etwas später: „C’est au moral que je me suis
attaché; il ne faut que des yeux pour voir le reste.“ Ebd. S. 19. 41 fel daran aufkommen, dass
der ‚observateur’ in seinen Beschreibungen um die größtmögliche Nähe zu seinen
Gegenständen bemüht ist. Die feste zeitliche Verankerung der Beschreibungen im Jetzt und
die Bezugnahme auf die Moden, Sitten und Gepflogenheiten seiner Zeit hat auch ihren Grund
darin, Gegenwart und Gegenwärtigkeit von Paris zu schaffen und sich strikt daran
festzuklammern. Mercier weicht von dieser Präsens-Fixierung nicht ab. Seine Ausflüge in die
Historie sind kurz und stehen im Zusammenhang mit dem Gegenwärtigen. Auch der
Übersetzer der deutschen Ausgabe des Tableau de Paris macht in den Anmerkungen der
Ausgabe von 1789 darauf aufmerksam, dass sich die Darstellung von Mercier streng an das
Vorbild hält und so dem Leser die Möglichkeit bietet, sich die richtige Vorstellung von Paris
zu machen: "Als ich selbst zu Paris war, überzeugte ich mich aus eigener Erfahrung, dass
Merciers Gemälde dieser berühmten Stadt, […] keine aus der Luft gegriffene Schilderung,
sondern eins von den Büchern sey, die einen Ausländer oder Reisenden die besten und
richtigsten Begriffe, von den Sitten, Ton, und Gang der Pariser Welt geben können."13 Die
Berichte von Mercier stellen Gegenwärtigkeit her; ihre Lebendigkeit resultiert aus diesem
Bemühen, über die öffentlichen Sitten und Handlungen das Bild der Stadt entstehen zu lassen.
Er ist sich des Wertes seiner Dokumentation bewusst: "Mais l'homme dédaigne ordinairement
ce qu' il a sous les yeux, il remonte à des siecles décédés; il veut deviner des faits inutiles, des
usages éteints, sur lesquels il n'aura jamais de résultat satisfaisant, sans compter l'immensité
des discussions oiseuses et stériles, où il se perd. J'ose croire que, dans cent ans, on reviendra
à mon tableau, non pour le mérite de la peinture, mais parce que mes observations, quelles
qu'elles soient, doivent se lier aux observations du siecle qui va naître, et qui mettra à profit
notre folie et notre raison."14 In diesen Ausführungen wird deutlich, dass die allgemeine
Abbildbarkeit der Stadt von Mercier und seinem ‚observateur‘ nicht in Frage gestellt wird. Ist
der ‚observateur’ ein Künstler? Für den Zusammenhang von Künstler und Stadt ist das
zweite, mit „Dachböden“ überschriebene Kapitel, interessant, da hier eine der wenigen Stellen
in dem Tableau de Paris zu finden ist, wo auf die Künstler und Schriftsteller und ihre
gesellschaftliche Rolle eingegangen wird. Während sich Vorwort und erstes Kapitel dem
‚observateur’ und seiner Rolle widmen, stehen im zweiten Kapitel die künstlerisch Tätigen
Menschen von Paris im Vordergrund der 13 Louis-Sébastien Mercier: Mercier's neuestes
Gemälde von Paris. Für Reisende und Nichtreisende. Leipzig: 1789. S. I. (Vorwort des
Übersetzers.) 14 Mercier: Tableau de Paris. S. XIIff. 42 Betrachtung. Für die Untersuchung
der perspektivischen Eroberung der Stadt, ist die Frage interessant, ob Mercier in seiner
Konzeption den ‚observateur’ zu den Künstlern und Schriftstellern rechnet, oder ihn einem
anderen Menschentyp oder Berufsgruppe zuordnet. Die Dachwohnung ist für Mercier der Ort,
an dem der junge geistige Nachwuchs wohnt und sich ausbildet. Unter den Dächern von Paris
beginnen Maler, Poeten und Schriftsteller ihre künstlerische Laufbahn. Die Dachböden
verhalten sich zu Paris, wie der Kopf zum Körper: "parlons d'abord de la partie la plus
curieuse de Paris, les greniers. Comme dans la machine humaine le sommet renferme la plus
noble partie de l'homme, l'organe pensant, ainsi dans cette capitale le génie, l'industrie,
l'application, la vertu occupent la région la plus élevée. Là, se forme en silence le peintre; là,
le poëte fait ses premiers vers; là, sont les enfans des arts, pauvres et laborieux,
contemplateurs assidus des merveilles de la nature, donnant des inventions utiles et des leçons
à l'univers; là, se méditent tous les chefsd'oeuvres des arts; là, on écrit un mandement pour un
évêque, un discours pour un avocat général, un livre pour un futur ministre, un projet qui va
changer la face de l'état, la piece de théatre qui doit enchanter la nation. Allez demander à
Diderot s'il voudroit quitter son logement pour aller demeurer au louvre, et écoutez sa
réponse. Presque point d'hommes célebres, qui n'aient commencé par habiter un grenier. J'y ai
vu l'auteur d'émile, pauvre, fier et content. Lorsqu'ils en descendent, les écrivains perdent
souvent tout leur feu; ils regrettent les idées qui les maîtrisoient lorsqu'ils n'avoient que le haut
des cheminées pour perspective. Greuze, Fragonard, Vernet, se sont formés dans des greniers;
ils n'en rougissent point, c'est là leur plus beau titre de gloire."15 Wenn Mercier feststellt, dass
alle berühmten Schriftsteller oder Maler einmal in einer Dachwohnung gelebt haben und auf
die geistigen Größen und Vorbilder seiner Zeit, Diderot, Rousseau, Greuze, Fragonard und
Vernet verweist, dann schafft er ein örtlich gebundenes Zentrum der geistigen Reflexion unter
den Dächern von Paris. Mercier spricht die Diskrepanz und den Abstand an, die zwischen
Außenwelt und Betrachter herrschen. Die Überwindung dieser Grenzen, die auch E.T.A.
Hoffmann in seiner Erzählung Des Vetters Eckfenster thematisiert, wird zu einer Aufgabe, die
viele Schriftsteller in Merciers Augen nicht schaffen. Wenn sie hinaus auf die Straße träten,
dann würden sie ihre eigentliche Kraft verlieren und die Ideen, die sich ihrer in den
Dachwohnungen bemächtigt hatten, nicht mehr ernst nehmen können. So bleibt der
Dachboden auch für Mercier ein abgeschlossener Raum, ein Ort der vielfältigen geistigen
Tätigkeit zwar, aber nicht immer ein Raum in Verbindung zur Außenwelt. Denn die
Aufmerksamkeit für das Geschehen der Straße von Seiten der in den Dachböden Tätigen ist in
Merciers Augen nicht stark genug. Hier wird deutlich, wo Mercier die Trennlinie zwischen
dem Künstler (sei es der Poet, Schriftsteller oder Maler) und seinem ‚observateur’ zieht. Nicht
15 Ebd. S. 11ff. 43 in der Abgeschlossenheit des Dachbodens kann der ‚observateur’ seine
Ideen fassen, sondern nur auf der Straße. Analog zu den Vorschlägen in Diderots „Essais sur
la peinture“, muss für Mercier der öffentliche Raum Gegenstand der Betrachtung sein16.
Diderot fordert in seiner Abhandlung: „[…] mischt euch in die öffentlichen Begebenheiten,
beobachtet auf den Straßen, in den Gärten, auf den Märkten, in Häusern, und ihr werdet
richtige Begriffe fassen über die wahre Bewegung der Lebenshandlungen.“17 Im Vergleich
zu Diderot geht Mercier aber noch einen Schritt weiter; er fordert vom engagierten
Schriftsteller nicht nur, dass er sich von der Einsamkeit seiner Stube lossagt, sondern auch
öffentliches Interesse in seinen Werken ausdrückt und sie in diesem Hinblick verständlich und
vermittelbar macht. Hierin besteht der wesentliche Gegensatz zu demjenigen Künstlertyp, der
sich zurückgezogen den Träumereien und der Kunst um der Kunst willen hingibt18. Für
Mercier hat der ‚observateur’ nur eine sinnvolle Aufgabe, wenn er hinaus auf die Straße geht
und die gesellschaftlichen Missstände ernst nimmt und durch seine Arbeit den Anstoß gibt,
sie zu beseitigen19. Mercier verabschiedet sich nicht vollkommen von dem Künstler, wenn er
von seinem ‚observateur’ spricht. Sein ‚observateur’ tritt in bestimmten Aspekten durchaus
als eine dem Künstler verwandte Figur auf. Er lehnt den zurückgezogenen, isolierten
Künstler- und Schriftstellertyp als Vorbild für seinen Betrachter ab. Dies wird in dem
Verhalten zu seiner Umwelt deutlich, sobald er sich in der urbanen Umgebung bewegt. Denn
die Herauslösung aus der Dachkammer ist mehr Symbol für eine Hinwendung und Öffnung
zur Außenwelt, die in direkter und unvermittelter Weise aufgenommen werden soll. Dahin
entwickelt er die Fä- 16 Denis Diderot fordert in seiner Schrift den akademischen Betrieb
dadurch aufzulockern, dass die Schüler der Malereiklassen der Académie des Beaux-Arts
weniger Zeit in den Lehrsälen vor Modellen und Skulpturen verbringen und häufiger hinaus
auf die Straßen gehen. Für ihn führt das Kopieren und Wiederholen des Immergleichen zu
einem manierierten und akademischen Stil, der nicht dieselben Qualitäten in einem Maler
ausbildet, wie das Zeichnen und das Malen nach Begebenheiten, die auf der Straße passieren.
Diderot fordert für die Malerei einen „natürlichen“ Weg. J. W. v. Goethe: Diderots Versuch
über die Malerei. In Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Band 7 Hrsg: N.
Miller u. K. Richter. München: Hanser 1991. S. 719ff. Diderots Vorstellungen eines Weges
zurück zur Natur sind schon am Anfang des Jahrhunderts von Roger de Piles geäußert
worden. Roger de Piles: Cours de peinture par principes. Paris: Estienne 1708. In seiner
Schrift fordert de Piles, sich so früh wie möglich von den Modellen zu lösen, die Natur zu
studieren und auf der Straße die Menschen bei ihrer täglichen Beschäftigung zu beobachten.
17 Zitiert nach der Übersetzung von Goethe in Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines
Schaffens. S. 536. 18 Eckhardt Köhn schreibt hierzu: "Mit dem neuen Ort weist Mercier dem
Philosophen auch eine veränderte Individualität zu; er rät ihm, sich auf die Straßenszenen
einzulassen und sie im Hinblick auf ihren gesellschaftlichen Sinn kritisch zu betrachten,
anstatt im Anblick der freien Natur eine Form des sinnlichen Glücks zu finden und
kontemplativ über deren System zu spekulieren." Köhn: Straßenrausch. S. 21. 19 Vgl. Köhn:
Straßenrausch. S. 19. 44 higkeiten seines ‚observateurs’. Die Dachkammer steht, wie Mercier
anfangs betont, für den Kopf und damit auch symbolisch für die Vorstellungswelt. Deren
Grenzen will Mercier überwinden. Er setzt in seiner Konzeption die Vorstellungswelt gegen
die tatsächliche urbane Umwelt ab. Trotz der dem ‚observateur’ auferlegten Aufgaben – die
Äußerung sozialer Kritik und die durchdringende Betrachtungsweise der Sitten der Pariser –
kommt der Figur die Möglichkeit zu, sich auch in ihrer Betrachtungsweise selber zu
beschreiben. In diesen auf sich selbst reflektierenden Passagen am Anfang des Tableau de
Paris definiert der ‚observateur’ seine Rolle und beschreibt sich selber im Vorgang des
Betrachtens. Dies wird insbesondere in den Einleitungskapiteln deutlich. Das Tableau de Paris
beginnt deswegen nicht umsonst mit dem Dachboden als Beschreibungsgegenstand, gilt er
doch als Ausgangspunkt für die Schriftlichkeit der Betrachtung, nicht aber als Bedingung für
die Betrachtung selbst. Diese muss an anderer Stelle liegen, und Mercier begründet dies auch.
Den Einfluss des urbanen Umfeldes auf einen künstlerisch tätigen Menschen hält Mercier für
wichtig. Will dieser sich in irgendeiner Form geistig und handwerklich entwickeln, ist er auf
das städtische Umfeld angewiesen. In einem längeren Abschnitt begründet er dies und stellt
gleichzeitig heraus, was den ‚observateur’ im Kern seiner Beobachterrolle mit der Stadt Paris
verbindet: On a dit qu'il fallait respirer l'air de Paris, pour perfectionner un talent quelconque.
Ceux qui n'ont point visité la capitale, en effet, ont rarement excellé dans leur art. L'air de
Paris, si je ne me trompe, doit être un air particulier. Que de substances se fondent dans un si
petit espace! Paris peut être considéré comme un large creuset, où les viandes, les fruits, les
huiles, les vins, le poivre, la cannelle, le sucre, le café, les productions les plus lointaines
viennent se mêlanger; et les estomacs sont les fourneaux qui décomposent ces ingrédiens. La
partie la plus subtile doit s'exhaler et s'incorporer à l'air qu'on respire: que de fumée! Que de
flammes! Quel torrent de vapeurs et d'exhalaisons! Comme le sol doit être profondément
imbibé de tous les sels que la nature avait distribués dans les quatre parties du monde! Et
comment de tous ces sucs rassemblés et concentrés dans les liqueurs qui coulent à grands flots
dans toutes les maisons, qui remplissent des rues entieres (comme la rue des lombards), ne
résulterait-il pas dans l'athmosphere des parties atténuées qui pinceroient la fibre là plutôt
qu'ailleurs? Et de là naissent peut-être ce sentiment vif et léger qui distingue le parisien, cette
étourderie cette fleur d'esprit qui lui est particuliere. Ou si ce ne sont pas ces particules
animées qui donnent à son cerveau ces vibrations qui enfantent la pensée, les yeux,
perpétuellement frappés de ce nombre infini d'arts, de métiers, de travaux, d'occupations
diverses, peuvent-ils s'empêcher de s'ouvrir de bonne heure, et de contempler dans un âge où
ailleurs on ne contemple rien? Tous les sens sont interrogés à chaque instant; on brise, on
lime, on polit, on façonne; les métaux sont tourmentés et prennent toutes sortes de formes. Le
marteau infatigable, le creuset toujours embrasé, la lime mordante toujours en action,
applatissent, fondent, déchirent les matieres, les combinent, les mêlent. L'esprit peut-il
demeurer immobile et froid, tandis 45 que, passant devant chaque boutique, il est stimulé,
éveillé de sa léthargie par le cri de l'art qui modifie la nature? Partout la science vous appelle
et vous dit, voyez. Le feu, l'eau, l'air travaillent dans les atteliers des forgerons, des tanneurs,
des boulangers; le charbon, le soufre, le salpêtre font changer aux objets et de noms et de
formes; et toutes ces diverses élaborations; ouvrages momentanés de l'intelligence humaine,
font raisonner les têtes les plus stupides.20 Dieses frühe Beispiel der Vereinigung von innerer
und äußerer Anschauung der Stadt macht deutlich, dass das Thema einer Verbindung von
Künstler und Stadt auch für das Tableau de Paris nicht ausgeschlossen werden kann. Zwar
bezieht Mercier zunächst das Talent, das sich in Paris entwickeln soll, nicht dezidiert auf den
Künstler, aber durch den folgenden Abschnitt wird deutlich, das nicht ein beliebiges Talent
(talent quelconque) ausgebildet wird, sondern ein solches, das in einer besonderen Weise mit
der spezifischen Atmosphäre und den Umständen von Paris in Verbindung steht. Die
Geschäftigkeit der verschiedenen handwerklichen Berufe vermischt sich hier mit den
Gerüchen, Lichterscheinungen und Geräuschen einer belebten Straße. Mercier verknüpft auf
diese Weise geschickt zwei Anregungen verschiedener Art. Zum einen wird der Betrachter
durch die Betriebsamkeit der Werkstätten und Läden zu einer im weiteren Sinne
handwerklichen Arbeit angeregt, zum anderen bezieht er Ansporn zu geistiger Aktivität, da
die verschiedenen Reize seine Sinneswelt nicht unbewegt lassen. Die Hauptaufmerksamkeit
von Mercier liegt in diesem Abschnitt auf dem zweiten Stimulus. Denn keinem Menschen
kann die Wirkung des Zitterns und des Bebens, der schlechten wie guten Gerüche, der
Flammen, des Rauches und des Dampfes entgehen. Die Bewegung der physischen Welt wird
durch die Schwingungen über die Nervenfibern direkt in geistige Bewegungen umgesetzt. Für
Mercier ist der Weg so direkt und unvermittelt, dass sich keiner, nicht einmal der ‚größte
Dummkopf’, dem Einfluß der betriebsamen Außenwelt entziehen kann. Keine Person, kein
Geist kann unter dieser Einwirkung, die zu jeder Zeit jeden der Sinne fordert, unberührt
bleiben. Der Abschnitt macht deutlich, dass der ‚observateur’ nicht nur, wie in der Einleitung
erklärt, der Räsonierende und das Gesehene Kommentierende sein kann, sondern dass er auch
eine kontemplative, unreflektierende Seite besitzt. So gesteht Mercier dem ‚observateur’ an
dieser Stelle durchaus zu, in dem Umfeld, in dem er sich bewegt, von den Eindrücken
überwältigt zu sein und von ihnen geleitet zu werden. Da der bildende Künstler zu Merciers
Zeit noch leicht in die handwerklichen Berufsgruppen eingereiht werden kann, was im 19.
Jahrhundert schwieriger wird, bleibt die Beschreibung des Artisanats nicht nur auf den
Bäcker, den 20 Mercier: Tableau de Paris. S. 3ff. 46 Schmied oder den Gerber eingeschränkt,
sondern schließt auch den bildenden Künstler mit ein. Die ansteckende Wirkung der
Umgebung soll folglich nicht nur eine geistige sein, die das Gehirn mit den ‚Vibrationen’ der
äußeren Welt in Übereinstimmung bringt, sondern eine, die ebenfalls die Hände zu
künstlerischer Aktivität anregt. Es kann davon ausgegangen werden, dass Mercier hier auch
die Tätigkeit des Schreibens miteinbezogen sieht. Diesen Gedanken folgend, macht es Sinn,
wenn der ‚observateur’ vorgibt, ein Maler zu sein, der nicht dasjenige beurteilt, was er
darstellt. Der Wunsch nach einer künstlerischen Methode der direkten Vermittlung von
Sinneseindrücken ist verständlich, da auf diese Weise Mercier die Authentizität für sich in
Anspruch nehmen kann, die er immer wieder in seinem Werk proklamiert. Folglich trägt der
‚observateur’ schon deutliche Züge einer zukünftigen Künstlerfigur, die sich
eigenverantwortlich durch die Straßen bewegt und sich ihrer Autonomie in der künstlerischen
Gestaltung bewusst ist. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Mercier den
‚observateur’ zu deutlich als Figur umreißen oder festlegen will, da die Beschreibung seiner
Funktion und Tätigkeit auf den Anfang des Tableau de Paris (in der Ausgabe von 1782)
beschränkt ist. Aber wie Mercier im zweiten Kapitel, ’Der Dachboden’, darlegt, sieht er den
Schriftsteller dazu verpflichtet, die Möglichkeiten, die ihm Paris in seiner Fülle,
Betriebsamkeit und Dichte bietet, für seine Arbeit zu nutzen. Nur so läßt sich die Aufgabe und
die Funktion des ‚observateur‘ verstehen und seine Entfernung zum modernen Künstler des
19. Jahrhunderts bestimmen. Die größte Affinität zu dem Künstler des folgenden Jahrhunderts
zeigt Mercier, indem er einen Zusammenhang zwischen dem Gegentand der Betrachtung,
dem Vorgang der Rezeption und der Reproduktion herstellt. Sein Hinweis, die aussichtsreiche
Förderung des Talents geschähe gerade in dieser dreifachen Zusammenführung, hebt die Stadt
in ihre eigentliche, bedeutsame Position. Analog stellt Karlheinz Stierle für die Ästhetik
Baudelaires und die Moderne fest: "Das Werk, in dem die Moderne zur Darstellung kommen
soll, setzt die Zusammenstimmung dreier Momente voraus: des Gegenstands der
Wahrnehmung, der Weise der Wahrnehmung und der Reproduktion der Wahrnehmung im
Medium der Kunst."21 Merciers Werk kann an manchen Stellen im Lichte der Moderne und
die Figur des ‚observateur’ als Vorläufer der modernen Künstlerfiguren betrachtet werden,
insbesondere des Flaneurs, wie Eckhart Köhn in seiner Arbeit herausstellt.22 21 Stierle:
„Baudelaires ‚Tableaux Parisiens‘ und die Tradition des ‚Tableau de Paris‘.“ S. 302. 22
"Mercier verkörpert literaturgeschichtlich den frühesten Typus des urbanen Spaziergängers,
dem die Großstadt zur Landschaft sich verwandelt. Das Bild der Stadt so gestaltend,
wie »Auge und Verstand es zusammengefügt haben«, ist dessen Perspektive erstmals als die
des darstellenden Ichs in 47 Desweiteren wird deutlich, dass Mercier in diesem und in
anderen Abschnitten versucht, auf spezifisch großstädtische Momente aufmerksam zu
machen, also auf jene Momente, die in der Provinz nicht zu finden sind, wie z. B. die Dichte
und Fülle der Gassen inmitten einer sich weit ausdehnenden Stadtlandschaft. Diese
Verbundenheit mit Paris, die auch als eine unüberwindliche Fixierung bezeichnet werden
kann, ist typisch für den ‚observateur’, der sich in ‚anderer Luft’ nicht bewegen könnte. Wenn
er in diesen urbanen Erscheinungen die Lichter und Geräusche beschreibt und in ihnen die
immanente Bedeutung für die Sinneswelt eines Menschen entdeckt, so wird deutlich, dass der
‚observateur’ für die der Großstadt anhaftenden optischen, auditiven und olfaktorischen
Aussendungen in besonderem Maße zugänglich ist und in ihnen einen woanders nicht
vorkommenden künstlerischen Wert entdeckt. In den dargelegten Beschreibungsmomenten
verdichtet sich auf diese Weise der Rezeptionszusammenhang zu einer intensiven mentalen
Übereinstimmung zwischen Erscheinung und Betrachter und bewirkt bereits eine der Lyrik
ähnliche Reduzierung der Perspektive auf ein allein empfindendes Ich. Merciers
Aufmerksamkeit für die Begabung des Betrachters, für die Herausbildung seiner Fähigkeit,
die allein darin besteht, dass er „es versteht zu sehen und zu hören“23, zeigt sein Interesse an
der Organisation und dem Aufbau einer das Urbane empfindenen Erzählerstimme, die sich in
den poetischen und literarisch gestalteten Wahrnehmungsprozess eingliedern läßt24. Es ist
bezeichnend, dass Mercier am Anfang einer Entwicklung steht, die das Urbane als das
Symbol für die Außenwelt im Ganzen sieht. Die Stadt in ihrer größten Dichte wird schon bei
Mercier in der Konzeption des ‚observateur’ nicht nur zu dessen größter Herausforderung,
sondern viel mehr zu dessen Voraussetzung. Der betrachtende Umgang mit der Welt, so wie
die Stadt sie präsentiert, wird zum dominierenden Beispiel für die Auseinandersetzung des
Menschen und des Künstlers mit der Außenwelt im Ganzen. Die Forschung hat in vielen
Arbeiten die ursprüngliche Bedeutung des Tableau de Paris für die nachfolgende Entwicklung
in der Literaturgeschichte erkannt. Nicht zuletzt Baudelaires Bezugnahme auf Mercier in
seinem Gedichtzyklus Les Fleurs du Mal hat hierzu den Anstoß gegeben. Merciers tableau
präsent." Köhn: Straßenrausch. S. 21. 23 "Que de tableaux éloquens qui frappent l'oeil dans
tous les coins des carrefours, et quelle galerie d'images, pleine de contrastes frappans pour qui
sait voir et entendre !" Mercier: Tableau de Paris. S. 8. 24 Interessant ist an dieser Stelle das
Zitat von Restif de la Bretonne, der ebenfalls den Zusammenhang von Urbanität und
menschlicher Empfindungsgabe herstellt: „Plaisirs bruyans! vifs ét delicieux plaisirs que
l’urbanité donne aux Heureux du siècle, que laissez-vous, quand vous êtes évaporés ?
L’ennui, l’affaissement, la langueur, l’inertie absolue, les vapeurs.“ Nicolas-Edme Restif de la
Bretonne: Les Nuits de Paris. S. 8. 48 Der Stadtbeschreibungstext ohne handelnde Personen,
wie Merciers Tableau de Paris und verwandte Texte, Reiseberichte aus dem 18. und 19.
Jahrhundert, oder Adalbert Stifters Chronik Wien und die Wiener, wählt den anonymen, nicht
als Person in den Vordergrund tretenden, dafür aber in der Regel allumfassend wissenden und
gebildeten Betrachter, der das Gesehene wohlstrukturiert und kommentiert wiedergeben kann.
Der erzählende Text, der Roman oder die Erzählung, gibt meistens eine Betrachtung der Stadt
aus der Perspektive einer näher vorgestellten Person wieder. Beide Varianten kommen aber
auch in Verschränkung vor. Wie die Beispiele von Gogol, Keller und Hawthorne zeigen, kann
die Stadtbetrachtung in ein und dem selben Werk zwischen diesen beiden
Betrachtermöglichkeiten hin und her wechseln. Der Wechsel gehört dabei schon zu einer
Inszenierung der Stadt-Betrachter Beziehung, wie später noch gezeigt wird. Auch Mercier
konstruiert einen Eingang in die Stadt. Der Rundblick im ersten Kapitel versucht einen
Überblick zu gestalten und dadurch eine Ankunft für den Leser nachzuvollziehen. Denn die
ersten Bilder der Stadt sind so gestaltet, als ob ein Betrachter sich einen ersten Eindruck
verschafft. Eine Vorkenntnis oder Vorbildung des Betrachters wird nicht sofort erkennbar,
und so begibt sich zu Beginn des Textes der Betrachter in die Stadt und inszeniert seine
Ankunft. Auch die Wahl der Themen weist auf eine Ankunft hin. Der Rundumblick ist der
Versuch, sich einen Überblick über die Stadt zu verschaffen; die Dachkammer, mit dem
Hinweis auf den Kopf der Stadt, steht für den Ort der intellektuellen Verarbeitung der
Eindrücke und das Finden der Sprache für das Gesehene; die Steinbrüche weisen nicht nur auf
die Materialität, sondern auch auf die Ausdrucksweise der Stadt hin, da die Steine für die
Architektur das, was für die Sprache die Worte sind. So bilden sich in den ersten fünf
Kapiteln Motive des geistigen und materiellen Einstiegs in die Stadt heraus. Welche
ausführlichen Aufgaben die Künstlerfigur für die Darlegung der Erzählsituation besitzt und
welche Rolle sie für das Zusammenziehen der Wahrnehmungs- und Darstellungsprozesse in
der Literatur spielt, soll anhand von E.T.A. Hoffmann verdeutlicht werden. Hoffmann führt
das gesamte Repertoire an Fragen auf, die sich im Zusammenhang mit den Abbildmethoden
der Kunst stellen. Er macht in seiner Erzählung Des Vetters Eckfenster deutlich, inwieweit die
erzählerische Form es ermöglicht, den Betrachter und seine gesamte Instanz in Beziehung zu
seinem Gegenstand zu setzen. Hoffmann stellt in der Erzählung dar, wie sich ein Dichter in
seinem eigenen System der Betrachtung einrichtet und sich selbst in die Betrachtung der Stadt
miteinschließt. Raimund Theis macht auf die besondere Aufgabe der Stadt in diesem
Zusammenhang noch einmal aufmerksam: 49 "Der zeitkritische Blick konstatiert in seiner
Analyse der Großstadt als der modernes Leben prägenden Daseinsform einen völligen
Wertezerfall, das Zerbrechen jeder tradierten Ordnung, so dass sich der Künstler mit seinem
Ziel, normative Wahrheit zu demonstrieren, allein in orientierungsloser Leere vorfindet. Bar
einer das Bewusstsein und die Kunstregeln übergreifenden Norm richtet sich der
Wahrheitsanspruch an die Kunstpraxis selbst, wird künstlerisches Schaffen zum Mittel der
Wahrheitssuche, wobei sich die Begrenztheit und eingeprägte Voreingenommenheit des
herkömmlichen Systems sprachlicher Mitteilung – letztlich die Unfähigkeit, darin
transzendente Wahrheit an sich einzufangen und wiederzugeben – immer wieder beweist."25
Der Künstler setzt zu der perspektivischen Eroberung der Stadt an, um sich im künstlerischen
Schaffen ein „Mittel der Wahrheitssuche“ zu etablieren und sich einen Zugang zum Verstehen
der Außenwelt ermöglichen zu können. In diesem Sinne findet auch die perspektivische
Eroberung der Stadt Berlin in der Erzählung von E.T.A. Hoffmann statt. 3. „...sich mit der
Welt befreundend!“ Der Künstler und seine Überwindung der Grenzen zwischen Innen- und
Außenwelt in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster Ausführlich durchleuchtet
E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung Des Vetters Eckfenster die Situation, aus der heraus die
Wahrnehmung der Stadt und damit ihre Beschreibung vollzogen wird. Hoffmann stellt einen
alternden, kranken und an sich selbst zweifelnden Schriftsteller vor, dessen Beobachtungen
des Gendarmenmarktes in Berlin den wesentlichen Teil der Erzählung bilden. Eine
Rahmenhandlung gliedert sich um mehrere Beschreibungsabschnitte, in der nicht nur die
Beobachtungs- und Beschreibungssituation ausführlich dargelegt wird, sondern diese von den
Protagonisten auch kommentiert und reflektiert wird. Der Erzähler der Rahmenhandlung, der
den Schriftsteller, seinen Vetter besucht, übernimmt die Aufgabe, die Ausgangssituation für
die später folgenden Beschreibungen aufzuzeigen: „Es ist nötig zu sagen, dass mein Vetter
ziemlich hoch in kleinen niedrigen Zimmern wohnt. […] Dabei liegt meines Vetters Logis in
dem schönsten Teile der Hauptstadt, nämlich auf dem großen Markte, der von
Prachtgebäuden umschlossen ist und in dessen Mitte das kolossal und genial gedachte
Theatergebäude prangt. Es ist ein Eckhaus, was mein Vetter bewohnt, und aus dem Fenster
eines kleinen Kabinetts übersieht er mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen
Platzes.“26 25 Raimund Theis: „Stadt-Erfahrung und Erzählung.“ In: Romanische
Forschungen. H. 1. (1971). S. 71ff. 26 E.T.A. Hoffmann: „Des Vetters Eckfenster.“ In Ders.:
Werke. Band 4. Frankfurt/M.: Insel 1967. S. 382. 50 Mit Blick auf den Gendarmenmarkt an
einem Markttag findet ein Dialog statt, in dem die beiden Vettern abwechselnd ihre
Beobachtungen des regen Treibens auf dem reichlich bevölkerten Platz schildern und
kommentieren. Dem Schriftsteller kommt in der Binnenhandlung, die in Form eines Dialoges
zwischen den beiden gestaltet ist, eine hervorgehobene Position zu, da er die ausführlicheren
Beschreibungen vornimmt und damit den Beschreibungsvorgang dominiert. Zudem fasst er
am Anfang den Vorsatz, dem Erzähler richtiges Betrachten zu lehren: „Auf, Vetter! ich will
sehen, ob ich dir nicht wenigstens die Primizien der Kunst zu schauen beibringen kann.“27
Der Besucher äußert allerdings nach den ersten Beschreibungsabschnitten seinen Zweifel an
der Übereinstimmung von geschildertem und wahren Leben, indem er auf die besondere
Veranlagung des Schriftstellers hinweist, mit der Phantasie eine beseelte und zugleich
glaubwürdige Wirklichkeit abbilden zu können: „Von allem, was du da herauskombinierst,
lieber Vetter, mag kein Wörtchen wahr sein, aber indem ich die Weiber anschaue, ist mir,
Dank sei es deiner lebendigen Darstellung, alles plausibel, dass ich daran glauben muss, ich
mag wollen oder nicht.“28 Mit dieser und ähnlichen Äußerungen bildet der Erzähler einen
konstanten Widerpart, der dem Dichter wiederholt einen Spiegel vorhält, und damit die
ausschweifenden und an Details überfüllten Ausführungen ins Verhältnis zu dem vom Fenster
aus Wahrnehm- und Erkennbaren setzt. Aber mit diesem Einwand des Besuchers dringt die
Erzählung zum eigentlichen thematischen Zentrum vor, dem Gegensatz von Wirklichkeit und
Phantasie. Dieser dient hier als Hülle für ein diffizileres und unmittelbar daraus abgeleitetes
Thema – der Beziehung des Schriftstellers zu dem vor seinem Fenster Stattfindenden, d.h.
seine eigene Einstellung gegenüber der äußeren Wirklichkeit. Die Erzählung baut einen
Antagonismus zwischen dem Künstler und seiner Umwelt auf, indem beiden von einander
streng getrennte Sphären zugeordnet werden. Dem Dichter wird von Anfang an eine
Veranlagung zum Phantasieren zugeschrieben; zweimal wird in der Einleitung auf die
„Fantasie“ des Schriftstellers hingewiesen29. Seine Geschichten seien „ersonnen“, und die
Hinweise auf die rege innere Vorstellungskraft des Künstlers begleiten die Erzählung bis zum
Ende. So verwundert es nicht, dass der einzige deutliche Verweis auf das Werk des Dichters
einer Märchensammlung gilt. Und obwohl er an einem der 27 Ebd. S. 384. 28 Ebd. S. 386f.
29 So äußert der Erzähler über seinen Vetter:„[…] die schwerste Krankheit vermochte nicht
den raschen Rädergang der Fantasie zu hemmen, der in seinem Innern fortarbeitete, stets
Neues und Neues erzeugend.“ Ebd. S. 381. Wenig später heißt es, und wieder bezieht sich der
Erzähler auf den Schriftsteller: „[…] die Fantasie fliegt empor und baut sich ein hohes,
lustiges Gewölbe bis in den blauen glänzenden Himmel hinein.“ Ebd. S. 382. 51 belebtesten
und bekanntesten Plätze Berlins wohnt, lebt er zurückgezogen in seiner Wohnung,
menschenscheu und mit seinen Gedanken fern des vor seinem Fenster sich abspielenden
Geschehens. „Mein Geist zieht sich in seine Klause zurück !“ ist die zusammenfassende
Beschreibung seiner Selbst und Begründung für die entstandene Isolation, in der er lebt. In
dieser zurückgezogenen Welt, die im Werk Hoffmanns oft zu einer grundlegenden
Voraussetzung für geistige oder künstlerische Tätigkeit gemacht wird, strebt der Schriftsteller
mit seinem Geist in Richtung Himmel und baut sich jenseits der niedrigen Zimmerdecke, das
heißt jenseits der ihn bedrängenden und eingrenzenden Realität, seine Gedanken- und
Phantasiewelt auf. Wird diese Ausrichtung der Gedankenwelt, die Hinwendung zum Irrealen
und Unwirklichen als die Grundhaltung des Schriftstellers beschrieben, so erscheint die
Außenwelt vor dem Fenster als Opposition, in ihrer Intensität und Gegenwärtigkeit dem
Phantastischem und Visionsbeladenen der Dichterwelt entgegengesetzt. Das Marktgeschehen
findet auf einem der schönsten Plätze Berlins statt, der in der Stadt zu Hoffmanns Zeiten
bereits eine vielfältige repräsentative Funktion für das Bürgertum erfüllt. Als Ort für die
religiösen Gemeinden mit den beiden Domen, Zentrum kultureller Entfaltung mit dem
Schauspielhaus, aber auch Wohnstädte des gehobenen Bürgertums und zahlreicher Künstler
der Zeit – an erster Stelle sind hier die Musiker zu nennen – erfüllt er unter vielem anderen
die Funktion eines Marktplatzes. Die Bekanntheit des Platzes ist in dieser vielfältigen
Benutzung begründet, und es dürfte sich kein anderer Platz oder eine andere Straße in dem
damaligen Berlin finden, der einen ausführlicheren und breiter gefassten Querschnitt durch
die Berliner (bürgerliche) Gesellschaft mittels seiner Passanten und seiner Architektur
abbildet. In anderen Worten ausgedrückt, die städtische Wirklichkeit wird an keinem anderen
Ort derart dicht zusammengedrängt und gebündelt und gleichzeitig umfassend zu betrachten
gewesen sein wie hier. Zudem war es Zeitzeugen wegen der genauen geographischen
Festlegung und der Berühmtheit des Ortes möglich, ihre eigene Erfahrung mit der Erzählung
zu vergleichen. Dass hier also der Sphäre eines Einzelnen, die durch innere Vorstellung und
Phantasie genährt wird, die Sphäre der Allgemeinheit, die durch routinehaften Ablauf,
deutliche architektonische Präsenz und allgemeine Nutzung, kurz durch Öffentlichkeit
geprägt und festgeschrieben ist, entgegengesetzt wird, bildet den entscheidenden
Ausgangspunkt für die Erzählung. Die Unterschiedlichkeit und die Unvereinbarkeit der
beiden Sphären wird zwar am Anfang der Erzählung aufgebaut und scheint unverrückbar,
wird in dieser Form allerdings nicht von dem alten Dichter akzeptiert. Er sieht die
Möglichkeit der Vermittlung. Denn die Grenze zwischen den beiden Welten ist durchlässig;
das Eckfenster, nach dem die Geschichte benannt ist, 52 macht dies deutlich. Ein Austausch,
in diesem Fall ein visueller, liegt im Rahmen des Möglichen, und eine Berührung der zwei
unterschiedlichen Sphären soll hergestellt werden. An diesem entscheidenden Schnittpunkt
zwischen öffentlicher und zurückgezogener, eigener Welt positioniert sich der Schriftsteller.
Die Motive für das Streben des Dichters in diese Position der Vermittlung werden deutlicher,
wenn man das künstlerische Ziel betrachtet, das dahinter zum Vorschein kommt. Hinter dem
Versuch, innere Anschauungswelt und äußere Gegenstandswelt durch Betrachtung und
Beschreibung zusammen zu bringen, verbirgt sich das grundlegende Verlangen des Künstlers,
seine eigene Vorstellungswelt mit der allgemeinen zu vereinen30. Der Schriftsteller spricht
den Wunsch nach Annäherung aus: „Aber dies Fenster ist mein Trost, hier ist mir das bunte
Leben aufs neue aufgegangen, und ich fühle mich befreundet mit seinem niemals rastenden
Treiben.“ Was hier als philosophische Frage bei Hoffmann nicht zum ersten mal behandelt
wird und in der Forschung häufig als der aussichtslose Versuch beschrieben wird, Leben und
Kunst zu vereinen31, bildet ein Grundthema der Handlung. Der Dichter bezeichnet selbst
seine künstlerische Vorgehensweise als „das wirkende, schaffende Leben, welches, zur
äußeren Form gestaltet, aus mir selbst hinaustritt, sich mit der Welt befreundend!“32 Der
Übergang von innerer, empfundener Welt zur äußeren, allgemeinen versteht er als eine
Annäherung, als eine Suche nach gemeinsamen Verstehen. Die Kunst beginnt dort zu
existieren, wo die „deutliche Anschauung der im Inneren aufgefaßten Gestalt“
(Lebensansichten des Katers Murr) nicht nur eine Entsprechung im Werk des Künstlers,
sondern eine Übereinstimmung in der äußeren Welt findet. Mit diesen Gedanken wird sich
der Dichter seiner Funktion und seiner geistigen Arbeitsweise bewusst, die versucht, beide
Sphären künstlerisch erfolgreich zueinander in Be- 30 In Hoffmanns Künstlerroman
Lebensansichten des Katers Murr kommt es im zweiten Band im dritten Abschnitt zwischen
dem Abt und Kreisler zu einem Gespräch über die gegenwärtigen jungen Künstler, in dem der
Abt darlegt, wie wichtig es für einen Maler sei, eine im Inneren gefaßte Gestalt zur äußeren
Darstellung zu bringen: „Es ist ein eigenes Ding mit unsern jungen Künstlern, sie studieren
und studieren, erfinden, zeichnen, machen gewaltige Kartons, und am Ende kommt Totes,
Starres hervor, das nicht eindringen kann ins Leben, weil es selbst nicht lebt. […] Es fehlt
unsern jungen Malern an der wahren Begeisterung, die das Bild in aller Glorie des
vollendetsten Lebens aus dem Innern hervorruft und ihnen vor Augen stellt. Man sieht, wie
sich dieser, jener vergebens abquält, um endlich in jene erhöhte Stimmung des Gemüts zu
geraten, ohne die kein Werk der Kunst geschaffen wird. […] Unsere jungen Maler bringen es
nicht zur deutlichen Anschauung der im Innern aufgefaßten Gestalt, und mag es vielleicht
nicht lediglich daher kommen, dass sie, gerät ihnen auch sonst alles so ziemlich gut, doch die
Färbung verfehlen ?“ Hoffmann: Werke. Band 3. S. 420f. 31 „Der Künstlerroman ist erst
möglich, wenn die Einheit von Kunst und Leben zerrissen ist, der Künstler nicht mehr in den
Lebensformen der Umwelt aufgeht und zum Eigenbewußtsein erwacht.“ Herbert Marcuse:
Der deutsche Künstlerroman. Freiburg: Dissertation 1922. [Nachdruck in Ders.: Schriften.
Band I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978.] S. 12. 32 Hoffmann: „Des Vetters Eckfenster.“ S.
382. 53 ziehung zu setzen. Der Dichter E.T.A. Hoffmann wäre jedoch nicht seiner eigenen
Natur gefolgt, hätte er es unterlassen, die Grenzen dieses künstlerischen Strebens aufzuzeigen
und den Künstler am Ende an diesem Versuch scheitern zu lassen. Schon in den beiden
Aussagen des Dichters wird der Widerstand sichtbar, der sich in seinem Versuch der
Hinwendung zur Welt manifestiert. Die Vermittlung findet am Fenster statt, und nicht im
Treiben selber, wodurch die Distanz zwischen ihm und der Außenwelt kenntlich wird. Das
Fenster unterstreicht somit die Ausgrenzung aus der Menge. Wenn er sich allerdings mit dem
regen Treiben ‚befreundet fühlt’, wird deutlich, dass die Annäherung erwünscht ist, auch
wenn sie noch nicht vollzogen ist. Der Wunsch nach der Eingliederung erscheint hier und
wird im Verlauf der Erzählung immer wieder aufgegriffen. Der Dichter versucht wiederholt in
die Außenwelt vorzudringen, sich mit dieser ‚zu befreunden‘ und sich in dieser einzugliedern.
Wie schwierig das Vordringen von einer Sphäre zur nächsten ist, macht die Episode mit dem
Blumenmädchen deutlich. Hier wird auch erkennbar, welchen Irrtümern der Dichter aufsitzen
kann, wenn er versucht, eine Eingliederung über sein eigenes Werk zu erreichen. Die Episode
ist nicht ohne Grund in den Mittelteil der Erzählung gerückt, um einen Wendepunkt zu setzen
und durch die Demaskierung der Eitelkeit und der Gefangenschaft des Dichters in einer
Kunstwelt die Isolierung in der eigenen Gedankenwelt zu demonstrieren. Er erzählt die
Begegnung mit einem Blumenmädchen, das er vor seinem Haus hinter einem Blumenstand
beim Lesen beobachtet. Er spielt mit dem Gedanken, „daß es eins meiner eigenen Werke sei,
was eben jetzt das Mädchen in die fantastische Welt meiner Träumereien versetzte.“33
Tatsächlich handelt es sich um ein vom Dichter geschaffenes Märchen, das das Mädchen liest.
Sie fühlt sich in die Welt der Geschichte versetzt, „als wenn man mitten drin säße“, aber die
Tatsache, dass es sich bei dem vor ihr Stehenden um den Schöpfer dieser Welt handelt,
übersteigt ihre Vorstellungskraft. In dem Dialog zwischen ihr und dem alten Dichter kommt
die ganze Ignoranz und Naivität zum Ausdruck, die den Dichter seiner Illusion beraubt, er
könne mit seinem Werk eine Brücke zwischen seiner geschaffenen und der vorhandenen
Realität schlagen. Der Dichter stellt verbittert fest, dass das Mädchen an dem
Zustandekommen des Buches nicht interessiert ist. Das Blumenmädchen steht für die
Einstellung der gesamten Gesellschaft gegenüber der Kunst. Das Philistertum, seine
Spießbürgerlichkeit und Kunstfeindlichkeit kommt in der Reaktion des Mädchens zum
Ausdruck. Hoffmann schreibt: „Der Begriff eines Schriftstellers, eines Dichters war ihr
gänzlich fremd, und ich glaube wahrhaftig, bei 33 Ebd. S. 391. 54 näherer Nachfrage wäre der
fromme kindliche Glaube ans Licht gekommen, dass der liebe Gott die Bücher wachsen ließe
wie die Pilze.“34 Der Künstler und sein Anteil an der Entstehung der Märchenwelt wird nicht
wahrgenommen. Die Gesellschaft liest zwar die von dem Künstler erschaffenen Werke,
bezieht die darin hergestellte Realität aber nicht auf das Vorstellungsvermögen des
Schriftstellers. Die anfängliche skeptische Haltung des besuchenden Vetters tritt wieder
hervor, und die Illusion zerplatzt wie eine Seifenblase vor den Augen des Dichters. Dabei ist
die Enttäuschung eine doppelte. Dem Dichter gelingt es nicht, in das durch sein Fenster
eingerahmte, von ihm selbst ausgeschmückte Bild vorzudringen. Die Welt hinter dem Fenster
präsentiert sich für ihn nicht als jene, die er am Anfang der Erzählung aufgebaut hat. Die
„Theaterwand“35 bleibt eine undurchlässige Grenze, hinter welcher der Dichter keine
Lebensgrundlage findet. Das Hinausgehen auf den Marktplatz, der Wille‚ ‚sich mit der Welt
zu befreunden’, scheitert, weil das Geschehen nur aus einer Perspektive für den Dichter
verständlich ist, nämlich die aus der Dachstube heraus. Die Vermittlung kann nur durch den
Rahmen des Fensters hindurch geschehen, nicht aber aus dem Geschehen selber heraus. Die
Erweiterung der Perspektive, die Eroberung des Raumes vor dem Fenster scheitert, weil sich
die Menschen dort nicht einer Welt zuordnen lassen, die sich der Dichter vorgestellt und
aufgebaut hat. Seine Schilderung des Marktgeschehens kann auf dem Marktplatz keine
Nahrung finden, sie muss dort abbrechen, denn der Dichter ist auf die Betrachtung aus der
Ferne angewiesen, auf eine Vermittlung über eine poetisch konstruierte Distanz hinweg. Der
Künstler bleibt hinter einer unüberwindlichen Schwelle gefangen, der Versuch der Eroberung
scheitert. Victor Hugo: Die poetische Eroberung der Stadt Der von Hoffmann dargelegte
Widerstand der Stadt gegenüber ihrer Eroberung durch die Beschreibung wird auch von
Victor Hugo in seinem Roman Notre-Dame de Paris thematisiert. In dem Kapitel II des 5.
Buches „Ceci tuera cela“ stellt Hugo die Frage nach der poetischen Vereinnahmung der Stadt.
Für ihn ist die in der Literatur beschriebene Stadt die neue und moderne Darstellung, die das
Auftreten der Stadt in der Wirklichkeit ablöst. Hugo diskutiert in einem in den Roman
eingefügten Exkurs das Verhältnis von Architektur und gedrucktem Text. Zum Anlass seiner
Überlegungen nimmt er den Satz: „Ceci tuera cela. Le livre tuera l’édifice.“ Der Satz bedeutet
zunächst die Zerstörung der Kirche durch Gutenbergs Erfindung 34 Ebd. S. 392. 35 Ebd. S.
387. 55 des Buchdrucks. „Édifice“ steht hier nicht nur für das Gebäude der Kirche im engeren
Sinne, sondern darüber hinaus für die die Kirche tragenden Pfeiler, die gesprochene und die
geschriebene Sprache, die Kanzel und die Handschrift. Das Ende des Monopols der Kirche
auf den größten Teil der allgemeinen Kommunikation bedeutet den Verlust ihrer eigentlichen
Macht. Das langsame Ende der Herrschaft über die öffentliche Sprache hat die Zerstörung der
wichtigsten Pfeiler ihres Gebäudes zur Folge, womit sie aufhört zu existieren. „La presse
tuera l’église.“ Für Hugo hat dieser Satz über diese religiöse Bedeutung hinaus noch eine
zweite, die er eine ‚philosophische’ nennt und die er dem Standpunkt des Gelehrten oder des
Künstlers zuschreibt. In dieser zweiten Bedeutung wird „l’édifice“ gleichgesetzt mit
Architektur, oder präziser ausgedrückt mit der Sprache der Architektur. Die Architektur ist bis
zur Erfindung des gedruckten Buches das eigentliche Buch der Menschheit („le grand livre de
l’humanité“). In ihr drückt sich der wesentliche Teil des kulturellen Schaffens und des
allgemeinen Wissens aus. Die Baukunst ist für Hugo die vorherrschende Ausdrucksweise
(„l’expression principale“). Die aufgerichteten Steine der Urvölker, die Pyramiden der
Ägypter, die Tempel der Antike und die Kathedralen des Mittelalters sind Werke, in denen
sich die Veränderungen und Errungenschaften der Menschen ablesen lassen, wie sonst in
keiner anderen Kunstgattung. Für die Menschheit weisen diese Bauwerke Analogien mit der
Sprache auf, da diese ebenfalls aus Einheiten wie den Wörtern besteht und nach Regeln
gebaut ist, die einer Grammatik entspricht36. Aber sie besitzen nicht den Nachteil vergänglich
zu sein wie die gesprochene Sprache, die nicht aus dem dauerhaften Material des Steins
geschaffen ist. So wird die Architektur zu der eigentlichen Schrift der Menschheit in der Zeit
vor Gutenberg: „Ainsi, jusqu’à Gutenberg, l’architecture est l’écriture principale, l’écriture
universelle.“37 Da die Architektur alles ausdrücken kann wie eine Schrift, sind die Gebäude
Teil einer Sprache. „[…] il n’est pas apparu dans le monde une pensée un peu compliquée qui
ne soit faite édifice, que toute idée populaire comme toute loi religieuse a eu ses monuments;
que le genre humain enfin n’a rien pensé d’important qu’il ne l’ait écrit en pierre.“38 Werden
die Gebäude zusammengefügt, entsteht eine Stadt, wie Wörter und Sätze zu einer Sprache
sich verbinden und einen Text bilden. Roland Barthes hat diesen Schluss gezogen und damit
der Literaturwissenschaft ein neues Gebiet eröffnet. Seiner Meinung nach lässt sich eine
Analogie zwi- 36 Vgl. Victor Hugo: Notre-Dame de Paris. Paris: Garnier 1961. S. 175ff. 37
Ebd. S. 180. 38 Ebd. S. 181ff. 56 schen dem Lesen eines Textes und dem Lesen der Stadt
beim Durchwandern herstellen, wodurch der Begriff „écriture de la ville“ geprägt wird39. Für
Victor Hugo wird im 15. Jahrhundert die Sprache der Architektur durch die Schrift des
Buches abgelöst. Mit dem Buchdruck beginnt der Niedergang der Architektur, da der
menschliche Geist sich auf dem Wege der Druckpressen schneller und einfacher Ausdruck
verschaffen kann. „Un livre est si tôt fait, coûte si peu, et peut aller si loin!“40 Es wird die
eine Kunstgattung in ihrer vorherrschenden Bedeutung durch die andere abgelöst. Alle
erneuernde Kraft in der Kultur wird durch das Buch verbreitet, während die Architektur sich
im Kreise zu drehen beginnt und sich immerfort wiederholt. Es ist aber die Kraft des
poetischen Vorstellungsvermögens, die dem Buch die eigentliche Vormachtstellung zuweist.
Da das Buch auch verschwundene Gebäude und Stadtansichten vergangener Tage in der
Beschreibung wieder auferstehen lassen kann, ist es der Architektur überlegen. Hugos eigenes
Unternehmen, das Paris des 15. Jahrhunderts in seinem Roman wieder lebendig werden zu
lassen, ist ein Beispiel für die eigentliche Macht des Buches. Der moderne Künstler bekommt
hier ein bedeutenderes Medium, sein Können wird anhand seiner poetischen und nicht seiner
baulichen Fähigkeiten gemessen. Der Architekt, noch im 18. Jahrhundert bedeutendster
Künstler in der Rangfolge der Künste, wird in Hugos Augen von dem Dichter abgelöst. Die
poetische Eroberung der Stadt Paris ist die von Hugo geforderte Maxime für den Künstler des
19. Jahrhunderts. 4. Gogols Künstler und die Annäherung an Petersburg Während Gogols
erste Erzählsammlung Abende auf dem Weiler bei Dikanka (1831ff.) sich noch der
ukrainischen Heimat als Handlungsort und vor allen Dingen dieser Gegend entstammenden
Personen, Sagen und Märchen als Vorlage bedient, verschiebt sich der geogra- 39 Roland
Barthes hat auf den Zusammenhang von Stadtlandschaft und Schrift bei V. Hugo
hingewiesen. Barthes setzt voraus, dass Sprache der Architektur gleich Sprache der Stadt ist.
Bei Hugo kommt der Begriff Stadt nicht vor. Aber die Herleitung ist nicht von weit hergeholt:
„Et nous retrouvons ici la vieille intuition de Victor Hugo: la ville est une écriture; celui qui se
déplace dans la ville, c’est-à-dire l’usager de la ville (ce que nous sommes tous), est une sorte
de lecteur qui, selon ses obligations et ses déplacements, prélève des fragments de l’énoncé
pour les actualiser en secret.“ Roland Barthes: „Sémiologie et urbanisme“. In Ders.:
L’aventure sémiologique. Paris: Éditions du Seuil 1985. S. 268. Bemerkenswert ist der Rat
von Barthes, nicht eine Struktur im Stadttext ausmachen zu wollen, die auf ein allgemeines
Zeichensystem übertragen werden kann - in Analogie zur Semiotik des sprachlichen Textes.
Nicht alle sind seinem Rat gefolgt: Siehe M. J. Gottdiener/A. P. Lagopoulos: The city and the
Sign. An introduction to Urban Semiotics. New York: 1986. 40 Hugo: Notre-Dame de Paris.
S. 186. 57 phische Erzählmittelpunkt in Gogols zweiter umfassenden Veröffentlichung
Arabesken nach St. Petersburg. Diese 1835 erscheinende Sammlung enthält Aufsätze
historischen und kunsthistorischen Interesses und die drei Erzählungen Der Newskij-Prospekt,
Das Porträt und Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen. Alle drei Erzählungen spielen in St.
Petersburg und lassen diese Stadt in ausführlicher Weise zum literarischen Gegenstand
werden41. Auf diese Weise spiegelt sich in dem literarischen Werk Gogols mit etwas
Verzögerung der eigene Wohnortwechsel42. Geht der Blick in den frühen Erzählungen noch
hauptsächlich in die Vergangenheit oder wird die Handlungszeit von einer zeitlosen
Beständigkeit des Provinz- und Landlebens geprägt, ist die gesamte Prosa ab der Mitte der
30er Jahre auf die Gegenwart ausgerichtet. Auch die Auswahl der erscheinenden Figuren
unterzieht sich einem grundlegenden Wechsel. Treten in den früheren Erzählungen noch
vorwiegend Bauern, Landbesitzer und Dorfbewohner auf, werden diese in den drei in den
Arabesken veröffentlichten Erzählungen von einem Ensemble typischer Stadtfiguren abgelöst.
Diese sich im Schaffen Gogols vollziehende Verlagerung der erzählten Welt vom Land in die
Stadt führt dazu, dass diesen späteren Erzählungen, die ab 1835 erscheinen, eine von Gogol
selbst nicht vorgenommene, sondern vom Publikum gewählte Bezeichnung als ‚Petersburger
Erzählungen‘ gegeben wird. Damit wird deutlich, wie stark der Handlungsort in den Augen
der Leserschaft diesen Erzählungen ihren Stempel aufdrückt. Das Hervortreten und das
deutliche Erscheinen St. Petersburgs wird um so mehr dem damaligen literarischen Publikum
ins Auge gefallen sein, als es eine Weile so scheint, als ob der Autor nicht nur wegen seiner
Herkunft, sondern auch wegen des Erfolges der zuerst publizierten ukrainisch- dörflichen
Geschichten so sehr mit diesem Sujet verbunden ist, dass diese thematische Festlegung
schwer auflösbar erscheint. Die Umorientierung und Verlagerung der erzählten Welt vom
Land in die Stadt mag deshalb manchen Leser erstaunt haben, auch wenn sich genug Motive
und Stilmittel aus der früheren Zeit sowie der Gebrauch phantastischer Wendungen im
Handlungsablauf in den neuen Erzählungen wiederfinden lassen. Zu der grundsätzlichen
Verlagerung der erzählten Geographie der Handlungsorte und dem erwachenden Interesse an
der Integration St. Petersburgs in das literarische Werk läuft die Entdeckung einer wichtigen
Figur parallel. Von Gogol wird keine Figur in der Anfangszeit 41 Die beiden Erzählungen
Der Newskij-Prospekt und Das Porträt finden sich in dem selben von Gogol zur Niederschrift
benutzten Heft und unterbrechen sich gegenseitig. Das heißt, dass die Arbeit an beiden
Werken parallel verlief. Siehe N. G. Maschkowzew: Gogol w krugu chudoshnikow. [Gogol
im Kreise der Künstler]. Moskau: Iskusstwo 1955. S. 13f. 42 Nikolai Gogol wird 1809 als
älteser Sohn einfacher Landbesitzer in der Ukraine geboren. Er geht nach Beendingung der
Schule im Dezember 1828 mit unbestimmten beruflichen Zielen nach St. Petersburg. 58
dieses poetischen Verlagerungsprozesses vom Land in die Stadt so sehr beachtet wie der
Künstler. In der Zeit der Loslösung von den ukrainischen Erzählungen, ab 1833 etwa,
entstehen die beiden Künstlererzählungen Das Porträt und Der Newskij-Prospekt. Vorarbeiten
zu den beiden Werken gehen auf das Jahr 1831 zurück43. Damit sind zwei der drei
Erzählungen, die 1835 gemeinsam in den Arabesken veröffentlicht werden und den Beginn
der Petersburger Erzählungen darstellen, Künstlererzählungen. Es kommen drei Künstler als
Hauptfiguren vor: Tschartkow und der Mönchskünstler in Das Porträt, und Piskarew in Der
Newskij-Prospekt. Neben den drei Künstlern treten in den drei Novellen noch der Offizier
Pirogow, dessen Schicksal in dem kürzeren, zweiten Teil der Erzählung Der NewskijProspekt beschrieben wird, und der Beamte Poprischtschin in Aufzeichnungen eines
Wahnsinnigen als Hauptfiguren auf. Die Vorherrschaft der Künstler in den drei Erzählungen
der Arabesken macht deutlich, dass diese Figur und ihre literarische Darstellung im
Mittelpunkt des Interesses von Gogols anfänglicher Petersburger Zeit steht. Zwei Umstände
belegen die besondere Bedeutung dieser Figur für Gogol in seiner anfänglichen Schaffenszeit
an den Petersburger Erzählungen und in der Zeit danach. Zum einen überarbeitet er nach 1835
die Erzählung Das Porträt und widmet sich in der Überarbeitung insbesondere der
Entwicklung des Künstlerschicksals der verschiedenen Figuren, bis er sie 1842 in einer
veränderten zweiten Version erneut veröffentlicht. Zum anderen fällt auf, dass Gogol in
seinen Petersburger Geschichten das Leben der kleineren und größeren Beamten, der
Militärangehörigen, der kleinen Handwerker und Händler, der Prostituierten, der Wachleute
und weiterer Personen beschreibt, um den gesellschaftlichen Mikrokosmos dieser Stadt
darzustellen. Dabei wird jedoch keine dieser Figuren so grundsätzlich in ihrer beruflichen
Existenz hinterfragt und so umfassend in ihrer persönlichen Verwicklung mit der Stadt und
der Gesellschaft gezeigt wie die Künstlerfigur. Auch für die poetische Darstellung der Stadt
St. Petersburg übernimmt diese Figur eine wichtige Funktion. Wie bei E.T.A. Hoffmann wird
im Umfeld der Künstlerfigur das erzählerische Gerüst, auf das sich die Darstellung der Stadt
stützt, sichtbar. Gogols Künstlerfiguren kommt eine ganz grundsätzliche, eine den
Erzählvorgang reflektierende Stellung zu. So nimmt 43 Die Fragmente “Fonar umiral“ (Die
Laterne erlosch) und „Straschnaja ruka“ (Die merkwürdige Hand) zeugen von Gogols früher
Beschäftigung mit der Petersburger Welt. Siehe Maschkowzew: Gogol w krugu
chudoshnikow. S. 12. Die beiden Fragmente in N. W. Gogol: Sobranie Sotschinenij w dewjati
tomach. [Gesammelte Werke in 9 Bänden.] Herausgegeben und kommentiert von W. A.
Woropaew u. I. A. Winogradow. Band 7. Moskau: Russkaja Kniga 1994. S. 116f.
Maschkowzew schreibt: Das Fragment sollte „das Leben eines armen Studenten berschreiben,
der aus Derpt in Petersburg ankommt und eine Beschäftigung sucht.“ Maschkowzew: Gogol
w krugu chudoshnikow. S. 12. 59 diese Figur in der Entstehung des gogolschen
Petersburgbildes eine Schlüsselfunktion ein. Ihre Präsenz hebt insbesondere die Brüchigkeit
der individuellen Wahrnehmung Petersburgs hervor. Keine der Novellen macht dies so
deutlich wie Der Newskij-Prospekt. In dieser Novelle macht Gogol die Erfahrung mit
veränderten Wahrnehmungsmustern, d.h. mit der Betrachtung der Stadt aus unterschiedlicher
Perspektive, mit einfachen poetischen Methoden kenntlich. Die perspektivische Eroberung
der Stadt Petersburg ist in dieser Erzählung die Grundlage für das Erzählen der beiden
Geschichten von dem Künstler Piskarjew und seinem Bekannten Pirogow. In dem ersten,
einleitenden Teil wird der Newskij-Prospekt von einem unabhängigen Erzähler beschrieben.
Die drei unterschiedlichen Teile sind aufeinander bezogen und thematisieren in ihrer
Gegenüberstellung die Unterschiedlichkeit von Wahrnehmung und Darstellung der Stadt. In
der Erzählung wird das Erscheinungsbild der Hauptstraße St. Petersburgs, die der Novelle
ihren Namen gibt, am Anfang und am Schluß ausführlich beschrieben. Hierdurch ergibt sich
ein Rahmen für die Erzählung, in der die Stadtbeschreibung dazu dient, die Erzählung
einzuleiten und abzuschließen. In der Rahmenerzählung treten die Hauptpersonen der
Binnengeschichte, der Maler Piskarjew und des Oberleutnant Pirogow, nicht auf.
Bemerkenswert ist der Wandel, den der Erzähler vollzieht, indem er sich dem Bild der Stadt
am Anfang des Textes in anderer Weise gegenüberstellt als am Ende. Der Anfang der
Erzählung führt das aufregende und bewegte Leben auf der wichtigsten Prachtstraße von St.
Petersburg in unreflektierter und direkter Form vor Augen. Der Kommentar des Erzählers tritt
vor der Pracht, dem Reichtum und dem Glanz der Straße zurück. Die Erzählung beginnt
zunächst mit dem Versuch einer umfassenden Darstellung der Stadt St. Petersburg. Der
Erzähler bedient sich hierzu eines Tricks, wobei er den bekannten Boulevard und die Stadt
kurzerhand gleichsetzt. Der erste Satz der Erzählung lautet: „Es gibt nichts Schönere als den
Newskij-Prospekt – zumindest in Petersburg; für diese Stadt ist er einfach alles.“44 Die
ausführliche Beschreibung des Boulevards, der sich jeder Personengruppe des
gesellschaftlichen Lebens der russischen Hauptstadt öffnet, verfolgt die Absicht, ein Abbild
der ge- 44 Nikolai Gogol: Der Newskij-Prospekt. Übersetzung Reissner. S. 124. Die
Gleichsetzung des Prospektes mit der Stadt hat bei den Übersetzern unterschiedliche
Gewichtung erfahren. Von Korfiz Holm wird in diesem wichtigen Anfangssatz „sostawljaet“
noch mit ‘bedeutet’ übersetzt: „Nichts Schöneres gibt es als den Newskij Prospekt, in
Petersburg einmal gewiß nicht - hier bedeutet er ganz einfach alles!“ N. Gogol: Gesammelte
Werke in fünf Bänden. Berlin: Aufbau 1952. S. 9. Georg Schwarz übersetzt „sostawljaet“ wie
Reissner mit ’ist’: „Es gibt nichts Schöneres als den Newski Prospekt, jedenfalls nicht in
Petersburg; für Petersburg ist er alles.“ N. Gogol: Gesammelte Werke in fünf Bänden.
Stuttgart: Cotta 1982. S. 707. 60 samten Stadt wiederzugeben. Die Darstellung eines Teiles
soll zu einer Vorstellung von der Gesamtheit führen. Das Anliegen dieses ersten ausführlichen
Beschreibungsabschnittes ist, dem Erzähler einen Weg zu der uneingeschränkt und umfassend
erzählten Wiedergabe einer Stadtgegenwart zu ebnen. Petersburger Gegenwart drückt sich an
diesem Ort aus, weil sich die Bevölkerung hier vorzeigen und präsentieren kann. Damit ist die
Suche nach dem Hintergründigen und jenseits des Boulevards Vorhandenen nicht notwendig,
folgen wir weiterhin der Argumentation des Erzählers, der Ursprung des sich auf dem
Boulevard Repräsentierenden ist. Mit dieser Einstellung, Stadtwirklichkeit aus der bloßen
Beobachtung von Repräsentation herleiten zu können, eröffnet Gogol die Erzählung, und er
beläßt den Erzähler in diesem epischen Glauben, bis der Maler Piskarjew auftritt. Der
Anfangsabschnitt ist umfangreicher, als es eine Exposition, die Schilderung eines
Handlungsortes oder die Rahmenhandlung einer Geschichte gewöhnlich verlangt. Der Auftritt
der handelnden Figuren findet erst nach der ausführlichen Beschreibung des Boulevards statt.
Der Umfang der Beschreibung ist halb so lang wie die zweite Binnenhandlung um Pirogow
und von einem Drittel der Länge der Binnenhandlung um den Künstler Piskarjew. Wenn der
Erzähler die Menge der den Boulevard bevölkernden Menschen beschreibt, löst er sie in
unterschiedliche Gruppen und Typen auf. Ein abruptes und unvermitteltes Auftreten der
Hauptfiguren bricht den längeren Beschreibungsabschnitt des Boulevards ab. Piskarjew und
Pirogow lösen sich nicht langsam aus der Menge heraus; ihre Zugehörigkeit scheint sogar in
Frage zu stehen, da sie in der Aufzählung der verschiedenen Typen, die den Boulevard
bevölkern, nicht genannt werden. Sie treten plötzlich ins Bild. Der Ausruf "Halt!" unterbricht
den Beschreibungsabschnitt und ist in seiner Bedeutung und Form ein klares Zeichen für
einen Wendepunkt, das Absetzen der einen erzählerischen Form und der Beginn einer
anderen45. Ein Dialog zwischen Piskarjew und Pirogow setzt ein, und die Ablösung der
monologischen Rede des Erzählers, die einen grundlegenden Umbruch innerhalb der epischen
Struktur bedeutet, enthält den Hinweis auf den formalen Wendepunkt für die gesamte
Geschichte. Auch hierdurch wird deutlich, dass sich der Anfangsabschnitt von der weiteren
Handlung abgrenzt. In ihm findet weder eine klassische Exposition, noch eine wirkliche
Rahmenhandlung statt, sondern es entsteht ein durch Umfang und deutliche Abgrenzung zur
Haupthandlung gekennzeichneter eigener Erzählabschnitt. Die Analyse der
Stadtbetrachtungs- und -darstellungsweise sowie der Erzählform zeigt die Besonderheiten
dieses Beschreibungsabschnittes und gibt Hinweise auf eine sich in die Geschichte
einflechtende Überlegung zum Verhältnis von Betrachter und 45 Siehe Gogol: Der NewskijProspekt. Übersetzung Reissner. S. 131. 61 Stadtumwelt. Die beiden Binnenhandlungen und
der letzte Abschnitt der Erzählung, der den geläuterten und seiner Illusion beraubten
Betrachter präsentiert, sind auf den anfänglichen Beschreibungsabschnitt bezogen. Eine
Analyse des Anfangsabschnittes ist notwendig, um den inneren Aufbau und den Umbruch im
Selbstverständnis des Betrachters zu beschreiben. Gogols Beschreibung des NewskijProspektes am Anfang seiner Erzählung zitiert von Stil und Form her die in der Zeit sehr
populären Physiologien46. Zunächst, in einem ersten Schritt, geht es Gogol um die Errichtung
einer geschlossenen, in sich kohärenten Oberfläche, durch die die Stadt sichtbar und
beschreibbar wird. Petersburg wird am Anfang der Novelle durch die Masse seiner Bewohner
vertreten. Erst der Auftritt von Piskarjew und Pirogow durchbricht die Anonymität der
unpersönlichen Menge und ermöglicht weitere Begegnungen47. Die Wende von der
unpersönlichen zur personengebundenen Schilderung findet statt und bewirkt damit auch den
Wandel in der Darstellung der Stadt. Von der anonymen Betrachtung wechselt die
Perspektive auf die Sichtweise der Protagonisten. Damit kann der Bedeutungswandel der
Begegnung auf dem Boulevard stattfinden. Der Erzähler nennt den Newskij-Prospekt den
„Boulevard der Begegnungen“. In dem unpersönlichen Anfangsabschnitt der Erzählung führt
die Begegnung jedoch nicht zu einem Kontakt zwischen den Menschen. Sie gehen aneinander
vorüber, ohne sich weiter auf den anderen einzulassen. Erst Piskarjews Begegnung mit der
Unbekannten führt über den Blickkontakt zu einer Reaktion, die die zufällige Begegnung zu
einem aus der Anonymität heraustretenden Ereignis werden lässt. Auch die Begegnung des
Leutnants Pirogow führt zu einer weiteren Entwicklung, so dass sich die beiden Begegnungen
zu persönlichen Entwicklungen ausweiten können. Die verletzende Profanität und
Gleichgültigkeit, welche die aus der Begegnung resultierende Beziehung zwischen Piskarjew
und der Unbekannten kennzeichnet und auf der Unterschiedlichkeit ihrer Vorstellungen
beruht, und die Aussichtslosigkeit und Flüchtigkeit der Begegnung Pirogows mit der zweiten
unbekannten Frau, stoßen die beiden Männer am Ende zwar zurück in die Vereinzelung, dies
aber nicht, ohne vorher die dramatischen Folgen ihrer Begegnung episch vorgestellt zu haben.
Die Stadtdarstellung folgt den sich in der Erzählung verändernden erzählerischen Bedürf- 46
Die Nachahmung und Tradierung dieser Form war in ganz Europa weitverbreitet. Zur
Geschichte dieses Genres siehe, Wien betreffend: Kai Kaufmann:„Es ist nur ein Wien !“
Stadtbeschreibungen von Wien. 1700 bis 1873.. S. 199ff., Paris betreffend: Karlheinz Stierle:
„Baudelaires ‚Tableaux Parisiens‘ und die Tradition des ‚Tableau de Paris‘“ und Ders.: Der
Mythos von Paris. S. 105-128, sowie Eckhardt Köhn: Straßenrausch. S. 17ff. 47 Siehe hierzu
auch Stierle, der das Thema der Begegnung in der unpersönlichen Masse als modernes Muster
der Stadtpräsentation betrachtet. Stierle: „Baudelaires ‚Tableux Parisiens‘ und die Tradition
des ‚Tableau de Paris‘.“ S. 289 und S. 310. 62 nissen. In der ersten Binnengeschichte, die
vom Maler Piskarjew handelt, wird deutlich, wie ein Individuum der Erscheinung des
Prospektes gegenübersteht und inwieweit die anfangs präsentierte Welt – wird sie aus dem
anonymen Erzählzusammenhang herausgenommen und ein Charakter in dieser gezeigt –
jemanden verleiten kann, die Zusammenhänge der Stadtwirklichkeit nicht mehr zu erfassen.
Die Künstlichkeit des Lebens auf der Straße wird zum Ausgangspunkt für die Verwirrung
Piskarjews, der sich in eine Traumwelt zu verlieren beginnt. Mehrere Hinweise liefert der
Erzähler, um das folgende Verhalten Piskarjews zu begründen. In der Charakterisierung des
Malers hebt der Erzähler hervor, dass er zu einer Klasse von Menschen gehört, die „sich zu
den Bürgern Petersburgs etwa so verhält wie eine Traumvision zur realen Welt.“48 Der
Erzähler wundert sich sogar über die Künstler, die in der Hauptstadt Rußlands bleiben, die
durch das Militär, die Regierungsbeamten und die Industriearbeiter geprägt ist und dem
Handel und ihrer geographische Lage, die sie zum wichtigsten Verkehrsknotenpunkt des
Landes gemacht hat, ihr Aussehen verdankt. Eine Stadt, die auf dieser materiellen und „harten
Wirklichkeit“ aufgebaut ist und zusätzlich ihre Kälte auf die geographische Lage des Nordens
und das rauhe Klima der Winter zurückführt, birgt grundsätzlich wenig Einladung für einen
Künstler. So erklärt sich, dass die meisten Künstler das Land verlassen haben, um in Italien zu
arbeiten. „Diese so ganz aus dem Rahmen fallende Bevölkerungsgruppe ist in einer Stadt, wo
man entweder Beamter, Kaufmann oder deutscher Handwerker ist, alles andere als
normal.“49 Als weiteres Unterscheidungsmerkmal zur übrigen Bevölkerung werden die
Künstler, die in Petersburg bleiben, als naiv und sorglos charakterisiert. Mit dem Auftreten
Piskarjews wird die Illusion zur Grundlage der Stadtbeschreibung, und es ist die innere Welt
Piskarjews, die die grundlegende Perspektive des Geschehens ausmacht. Der Erzähler tritt in
den Hintergrund, und seine auktoriale Erzählhaltung wird aufgelöst; er ist nicht mehr der
allumfassend Wissende, und in der Erzählsituation der Binnenhandlung teilt er nur noch Teile
seines Wissens mit. Die Veränderung hin zu einer eingeschränkten Perspektive, die das
Geschehen nicht mehr im Ganzen wahrnehmen läßt und dadurch Zusammenhänge isoliert,
gehört zum bestimmenden Aufbau der Binnenhandlung. Sie bekommt ihren Anfang und ihre
Begründung an einem bestimmten Punkt, dem Übergang von Rahmen- zu Binnenhandlung.
Diese Stelle der Novelle ist in ihrer Bedeutung hervorgehoben, weil der Erzähler bemerkt,
dass die Dämmerung einsetzt und das Licht der Laternen die Straße in einen geheimnisvollen
Zustand versetzt: 48 Gogol: Der Newskij-Prospekt. Übersetzung Reissner. S. 133. 49 Ebd. 63
Sobald jedoch die Dämmerung auf die Häuser und Straßen niedersinkt, der Stadtwächter, eine
Bastplane um die Schultern, die Leiter emporklimmt, um die Laterne anzuzünden, und in
gewissen niedrigen Fensterauslagen jene Stiche auftauchen, die sich am Tage nicht sehen
lassen dürfen, lebt der Newski Prospekt wieder auf und gerät in Bewegung. Es bricht die
geheimnisvolle Stunde an, da die Laternen alles ringsum in einem verlockenden und
wunderschönen Licht erscheinen lassen.50 Die Scheinwelt des Newskij-Prospektes nähert
sich jetzt in einer vorgerückten Stufe noch weiter der Illusion an. Das schwache Licht
begünstigt die ‘lückenhafte’ Wahrnehmung der Straßenwelt und verleitet dazu, das
Geschehen losgelöst von den Zusammenhängen zu betrachten, die bei Tageslicht noch
auszumachen waren. Es ist bezeichnend für die Erzählung, dass die Piskarjew-Geschichte zu
dieser Abendzeit einsetzt, und das Geschehen in der undeutlichen Stimmung der Dämmerung
seinen Anfang nimmt. Von Beginn an ist Piskarjew einer doppelten Bedrohung ausgeliefert,
der Scheinwelt des ständig sich verändernden Prospektes und der Undeutlichkeit, die aus der
schwachen Beleuchtung der Laternen herrührt. Zusätzlich versetzt die Verfolgung der
unbekannten Frau, die von nun an nur „die Schöne“ genannt wird, Piskarjew in solche
Erregung, dass ein Blick von ihr in seine Richtung ihn die Umwelt wie in einem Rausch
wahrnehmen läßt. Eine verwirrende Welt zieht vor den Augen des Malers auf, in der
Versatzstücke der Petersburger Gegenwart kunstvoll, wie aus der Ferne, mit der
Geschwindigkeit an ihm vorüberfliegen, die dem Prospekt eigen ist: Ein Zittern packte ihn, er
traute seinen eigenen Augen nicht. Nein, nein, es war nur die Laterne, deren trügerisches
Licht ihm dieses Lächeln ihres holden Mundes vorgespiegelt hatte; seine eigenen Träume
narrten ihn. Aber der Atem stockte ihm im Hals, ein sonderbares Beben faßte ihn, seine
Gefühle brannten lichterloh, und er sah alles wie durch einen Nebel. Das Trottoir glitt unter
ihm dahin, die Wagen mit den schnellen Trabern schienen stillzustehen, die Brücke dehnte
sich ins Grenzenlose, und die Joche barsten auseinander, ein Haus stand auf dem Kopf, das
Dach nach unten, ein Wächterhäuschen sauste ihm entgegen, die Hellebarde eines Polizisten
und die goldenen Buchstaben auf einem Ladenschild, nebst einer Schere, die daraufgemalt
war, blitzten dicht vor seinen Wimpern.51 Die Verwirrung des Verstandes wird durch die
Schnelligkeit und durch die Menge der auf die Sinne wirkenden Eindrücke ausgelöst. Eine
neue Welt umhüllt den Künstler. Die Vielfalt der Bilder nehmen ihm die Möglichkeit, einen
kohärenten Zusammenhang in der ihn umgebenden Welt zu sehen. Die Wirklichkeit löst sich
für Piskarjew in unerklärliche Einzelbilder auf, weil sein Bewußtsein nur noch Einzelteile der
komplexen Umwelt wahrnehmen kann. Piskarjew verliert auf diese Weise das Bewußtsein für
die Zusammenhänge und Kausalitäten 50 Gogol: Der Newskij-Prospekt. Übersetzung
Schwarz. S. 713. 51 Gogol: Der Newskij-Prospekt. Übersetzung Holm. S. 22ff. 64 der ihn
umgebenden Welt. Auch wenn diese Verwirrung zunächst durch ein Gefühl der Zuneigung zu
der unbekannten Frau ausgelöst worden ist, verstärkt die Schnelligkeit und die Masse der
Bewegungen auf dem Boulevard seinen Zustand. Die Ablenkung durch die Frau und das
ungehemmte, die Sinne betäubende Leben bewirkt den Rückgang der auf kausalen
Zusammenhängen beruhenden Denkweise. Die Ablenkung und die Betäubung sind die
Voraussetzungen dafür, dass sich die Einzelbilder der Stadt aus ihren Zusammenhängen lösen
und neue Verbindungen eingehen können. Die Einzelbilder erscheinen jetzt dem abgelenkten
Bewußtsein übersteigert und verzerrt, weil das kausale Anknüpfen an Ursache und Wirkung
anderer Umstände und damit die Relation zu abhängigen und verwandten Gegenständen fehlt.
Das Resultat sind die sich dem Bewußtsein unförmig und im übersteigerten Maß oder
verkehrt präsentierenden Gegenstände, wie die überlange Brücke oder das auf dem Kopf
stehende Haus. Das Fehlen der Wahrnehmbarkeit von Relationen zwischen Gegenständen
führt zu dem Verlust der Wahrnehmbarkeit unter anderem von Distanz. Entfernungen
verkürzen sich dadurch in ihrer Bewegung in Richtung auf das verwirrte Individuum, in
dessen Empfindung diese örtliche Veränderung viel schneller wird, als in dem rationalen
Zusammenhang der Bewegungen der Wirklichkeit. So nimmt Piskarjew das Wärterhäuschen
als einen auf ihn zufliegenden Gegenstand wahr. Die Petersburger Welt zeigt ein verkehrtes
Gesicht, das durch die nervöse Grundhaltung des Protagonisten hervorgerufen wird. Während
E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung noch die Verwirrung der Sinne durch die Fülle der
Eindrücke zu einer Täuschung des „als ob“ führt, ist in Gogols Werk die Übersteigerung
schon zu einer eigenständigen Realität innerhalb der Handlung erhoben worden. In Des
Vetters Eckfenster sieht der Mann mit dem Sack auf dem Rücken aus ‘als ob ein Känguruh
über den Markt hüpft’. In Der Newskij-Prospekt ist das phantastische Geschehen bereits
Wirklichkeit geworden, eine Wirklichkeit, wie sie sich Piskarjew vorstellt. Bewegliche
Gegenstände stehen still, und wenn die kausale Verknüpfung im Bewußtsein ausbleibt,
geraten umgekehrt feste Gegenstände dazu in Bewegung. In der Wahrnehmung Piskarjews
spiegelt sich ein Bild der Stadt, in der die Grundsätze der Erfahrungswelt aufgehoben werden
und neue Wahrnehmungen der Umwelt möglich werden. Die Einheit der vielen einzelnen
wahrnehmbaren Gegenstände in einer geschlossenen und kausal verschränkten
Erfahrungswelt löst sich auf, und der Zerfall bewirkt die Möglichkeit der isolierten
Betrachtung jedes einzelnen Gegenstandes. Das Herauslösen eines Aspektes oder
Gegenstandes aus dem Kontext der Stadt hat zur Folge, dass dieser neue Wendungen oder
Bedeutungen annehmen kann. Die Unbestimmtheit eines aus dem Zusammenhang
herausgenommenen Ob65 jektes oder Vorganges unterstreicht Gogol an mehreren Stellen der
Novelle. Am Ende der Erzählung stellt der Erzähler fest, dass das Gesehene nicht einer
eindeutigen Erklärung zuzuordnen sein muß. Er erkennt, dass Petersburg eine Kulisse der
Zweideutigkeit ist, und er spricht seine Warnung vor dem täuschenden Charakter der Stadt
offen aus. Seiner Meinung nach muß die aus dem ersten Blick abgeleitete Erklärung nicht
dem wahren Ereignis entsprechen. Er gibt vielmehr das Wahre hinter dem Augenscheinlichen
preis, um auf die leichte und alltägliche Täuschung aufmerksam zu machen. Gleichzeitig
macht er damit klar, dass jeder Blick auf eine Person oder ein Ereignis immer schon eine
Interpretation miteinschließt. Der Erzähler teilt zwei mögliche Erklärungen für Details aus
dem Stadtbild mit, um vorzuführen, wie leicht sich jeder Betrachter täuschen lassen kann: „O
traut ihm nicht, dem Newskij Prospekt ! […] Denn es ist doch alles nur Betrug und
Gaukelspiel und täuscht ganz etwas andres vor, als was es ist ! Sie glauben wohl, der Herr da
in dem gutgeschnittenen Rock sei reich? O weit gefehlt: nimm ihm den Rock, so bleibt von
ihm nichts übrig. Sie geben sich dem Wahne hin, die dicken Herren, die da vor dem
Kirchenneubau stehen, beurteilten den Stil des werdenden Gebäudes? Keine Spur: sie
sprechen nur davon, wie komisch sich dort oben die zwei Krähen gegenübersitzen. Und sie
glauben wohl, der aufgeregte Herr, der mit dem Armen fuchtelt, redet davon, dass seine
Gattin vom Fenster aus Papierkugeln nach einem Offizier geworfen hätte, den er gar nicht
kennt? Ach, keine Spur: er spricht von Lafayette.“52 Mit dieser Erzählung beschreibt Gogol
sein Programm für den gesamten Zyklus der Petersburger Erzählungen: Die Wirklichkeit
hinter den Erscheinungen hat ihre eigene Berechtigung, weil auch die objektive Wahrheit
allein von der Interpretation des Betrachters abhängig ist. Damit wird Stadtbeschreibung zu
Stadtinterpretation. Die Beschreibung Petersburgs in dem Zyklus erhält damit in der ersten
Novelle ihre eigene theoretische Begründung. Die Stadt hat unterschiedliche Wirklichkeiten;
so wie die wechselnden Perspektiven die Realität in verschiedene Aspekte aufteilen können,
besitzt die Stadtbeschreibung die Möglichkeit, eine eigene Wahrheit mit dem Text
aufzustellen. Sie behauptet ein Geschehen, das nicht mehr überprüfbar ist. So manifestiert
sich mit dem Text eine Stadtwirklichkeit, die auch aus der Täuschung eines Beobachters
hervorgegangen sein kann, aber trotzdem ihre eigene Berechtigung erlangt, weil sie
„vorstellbar“ ist und damit ihre eigene Existenz als Stadtbeschreibung besitzt. Die
Vorstellbarkeit von Stadtwirklichkeit wird zum bestimmenden Auswahlkriterium. Das
Verlangen nach Authentizität macht ein neues Verhältnis zum Begriff Realität notwendig. In
der Erzählung Der Newskij-Prospekt wird sich die Literatur ihrer Möglichkeiten zum
Abbilden 52 Ebd. S. 60. 66 einer eigenständigen Realität bewußt. Die Möglichkeit, die das
Verändern von Stadtwirklichkeit birgt, läßt die Stadtbeschreibung andere Aspekte ihres
Beschreibungsgegenstandes beleuchten. Auf diese Weise zerlegt Gogol mit seiner Erzählung
die Möglichkeit einer geschlossenen, in sich kohärenten Oberfläche der Stadterscheinungen.
Die Dekonstruktion der einheitlichen Betrachtung der Stadt ist das Resultat der wechselnden
Perspektiven. Die Behauptung von logischen und unverrückbaren Zusammenhängen hinter
der Oberfläche der Erscheinungswelt wird zerstört. Der Täuschung, der sich der Maler
Piskarjew ausgesetzt sieht, gilt allerdings für jeden Stadtbewohner. Damit zerfällt das
geschlossene und einheitliche Bild der Stadt St. Petersburg in die vielen Teile seiner
Einzelwahrnehmungen. Es ist auffallend, dass Gogol dieselben Bilder aus dem ersten
Abschnitt der Erzählung, die aus dem anonymen Betrachterwinkel dargestellt sind, im
zweiten Teil wiederholt. So wird die Betrachtung und Wahrnehmung Piskarjews mit
derjenigen des Erzählers kontrastiert. Am Anfang der Novelle werden bereits die vielen
Ladenschilder beschrieben, die den Boulevard säumen. Auch die Brücken und der starke
Verkehr auf den Straßen finden Aufmerksamkeit in diesem Abschnitt. Die Geschwindigkeit
und die daraus resultierende Wahrnehmungsveränderung hebt der anonyme Erzähler hervor,
indem er auch die Lichtverhältnisse beschreibt: "Lange Schatten huschen über Wände und
Pflaster, mit den Köpfen sind sie schon fast an der Polizei-Brücke."53 Die Veränderung der
Räumlichkeit, die Ausdehnung der Erscheinungswelt wird durch die Verzerrung der Schatten
erklärt und fügt sich so in ein geschlossenes und zusammenhängendes Bild der Stadt. Die
Ladenschilder hängen über der Straße, “[…] damit man durch sie erfahre, was in den Läden
selbst zu haben ist."54 Noch sind die Erscheinungen leicht in sich erklärbar und begründbar.
Die Wiederholung derselben Gegenstände führt in dem zweiten Teil der Erzählung dann zu
der oben beschriebenen Verzerrung und Auflösung des Raumes. Gogol verwendet im ersten
Abschnitt ein poetisches Bild, um den Veränderungsprozeß metaphorisch zu unterlegen. Er
benutzt das Bild der Spuren, um den Wahrnehmungsprozeß sinnbildlich darzustellen. Träger
der Spuren ist zunächst der Boden des Boulevards: "[…] und oh Gott, wie viel Füße haben
hier ihre Spuren hinterlassen!"55 Stiefel, das „flaumleichte Miniaturschühchen“, ein "Säbel,
der einen scharfen Kratzer einritzt – all das hinterläßt seine Spur 53 Gogol: Der NewskijProspekt. Übersetzung Reissner. Ebd. S. 131. 54 Ebd. S. 126. 55 Ebd. S. 125. 67 auf dem
Pflaster durch die Macht der Stärke oder die Macht der Schwäche."56 In dem Zitat deutet sich
die Verkehrung von Stärke und Schwäche an, die Aufhebung der Einteilung der Gegenstände
nach ihren physikalischen Verhalten. Obwohl leicht wie eine Daunenfeder – im Russischen
schreibt Gogol 'leicht wie der Rauch'– hinterläßt der Damenfuß auf dem Boden eine so tiefe
Spur, wie der Säbel. Die Relativierung von Eigenschaften wie hart und weich, schwer und
leicht öffnet den Blick für einen jenseits der physikalischen Kohärenz liegenden Raum, einen
Raum der poetischen Ambivalenz. Das Spiel mit den festgelegten Kategorien, die Anfechtung
des übereingekommenen Wissens, das Hinterfragen des sich oberflächlich Sichtbaren ist
Ausgangspunkt für die Darbietung einer ganz eigenen Wirklichkeitsstruktur. Gogol unterläuft
nicht den Konsens, der in den bisherigen Stadtdarstellungen hergestellt wurde, er benutzt ihn.
Er arbeitet mit der in dem tableau aufgestellten Konzeption des anonymen Erzählers und den
sich diesem bietenden Möglichkeiten. Der Erzähler der Novelle entfernt sich aber mittels
seiner erweiterten Erzählsituation von seiner ursprünglichen Position. Die Protagonisten sind
hieran maßgeblich beteiligt. Denn das Herauslösen aus der rationalen Verankerung geschieht
nicht um der Destruktion eines Weltbildes willen, sondern um den Blickwinkel auf eine
andere Figur zu übertragen. Die Auflösung bekommt aus der Sicht Piskarjews nicht den
Charakter der Unordnung, sondern wird in seiner Hinwendung zu der fremden Frau erklärbar.
Die Damenfüße hinterlassen Spuren, vergleichbar mit dem Abdruck eines Säbels im Stein.
Die poetische Ambivalenz erfüllt so für Gogol die Aufgabe der Präzision, einer Präzision, wie
sie für einen undeutlichen und nur verschwommen wahrnehmbaren Gegenstand geeignet ist.
Die Präzision, die aus den wechselnden Perspektiven und dem Experimentieren mit Erzählund Beschreibungszusammenhängen entsteht, dient dazu, sich mit den Sinnen und dem
Verstand den in der urbanen Umgebung oft entflüchtenden Gegenständen zu nähern. Dabei
steht der Säbel für ein weiteres, auf Piskarjew bezogenes Sinnbild. Die hinterlassenen Spuren
auf dem Newskij-Prospekt stehen hier nicht in erster Linie für das Gravieren von Eindrücken
in den Boden, sondern vielmehr für das Hinterlassen von Spuren in der menschlichen
Erinnerung. Der Säbel ist hier Sinnbild für einen geistigen Gravurstichel, der Piskarjew die
Eindrücke direkt auf eine innere Gravurplatte schreibt. So wird verständlich, woher der
Damenfuß sein eigentliches Gewicht erlangt; Schärfe und Schneidekraft des Gravurstichels
sind hier aber gleich ausschlaggebend, wie die Beschaffenheit der Gravurplatte. Die Naivität
des Künstlers, seine Scheu und Empfindsamkeit stellen eine weiche Platte zur Verfügung,
deren Nachgiebigkeit selbst den Fuß, „leicht wie Rauch“, tiefe Spuren einritzen lässt. Dieses
56 Ebd. 68 Sinnbild wiederholt sich im zweiten Abschnitt in der im Ladenschild angebrachten
Schere. Auch hier drückt sich die ganze Kraft des Eindrucks der äußerlichen
Erscheinungswelt in dem Bild der Schere aus, die dicht vor Piskarjews Wimpern zuckt57.
Gogol stellt materielle Spuren den geistigen gleich und schafft so eine poetische Verbindung
zwischen der Innenwelt Piskarjews und der Außenwelt. Die Schere, die dicht vor Piskarjew
Augen blitzt, ist das metaphorische Verbindungsglied, das ein poetisches Verfahren
beschreibt, das den Erzähler der Stadt mit dem Gravierstichel ausstattet. Hart und weich sind
auf die Eindrücklichkeit der Bilder bezogene Kategorien, das gilt für die Welt der Körper, des
Steins, wie für die Welt der Empfindungen, Gefühle und Erinnerungen. Das flaumleichte
Miniaturschühchen ist von der schneidenden Kraft und Härte eines Säbels. So verschmelzen
der Boulevard und sein erzählendes Bewußtsein zu einer poetischen Einheit. Die Zerstörung
der gemeinschaftlichen Wahrnehmungsgrundlage, das Etablieren der personengebundenen
Betrachtung der Außenwelt führt zu einem Verlust der sich in einer geschlossenen Oberfläche
präsentierenden kohärenten Erscheinungswelt. Die Erzählung erklärt auf diesem Weg den
Verlust einer Wahrnehmung der komplexen urbanen Wirklichkeit zu ihrem Programm.
Piskarjew führt in gesteigerter Form vor, welche Erfahrung der Stadtbeobachter mit der
Außenwelt macht. Dabei resultiert die Unwirklichkeit zu einem großen Teil aus dem
Unwissen um die Hintergründe des wahrgenommenen Geschehens. Die Erkenntnis um die
Hintergründe der sich präsentierenden Welt kann zur Enttäuschung führen. Dies wird
deutlich, wenn Piskarjew beginnt, sich eine eigene Welt hinter dem Wahrgenommenen
vorzustellen. Seine Veranlagung als junger, naiver Künstler läßt ihm dabei mehr Freiheiten
als anderen Personen. Der zweite Teil seiner Geschichte zeigt seine Verstrickung in diese
Vorstellungswelt, die sich von der Wirklichkeit ableitet, aber nicht mehr den gegebenen
Verhältnissen und Gesetzen entspricht. Der zweite Teil der Erzählung von dem Leutnant
Pirogow zeigt, wie sich ein Mensch mit der gegebenen Realität abfindet, ohne in eine
Fluchtwelt zu fliehen. Seine Vorstellungen und Wünsche sind nicht soweit von der Realität
entfernt, wie diejenigen von Piskarjew und er verliert sich aus dem Grunde nicht in einer aus
Ideale zusammengesetzten 57 Ein anderes immer wieder vorkommendes Bild, das Gogol
verwendet, um die Ausdruckskraft eines Ereignisses zu unterstreichen, ist der Blitz. Am
Anfang seiner Erzählung „Rom“, in der Erzählung „Der Mantel“ und in seinem Roman Die
toten Seelen werden Blitze beschrieben, um besonders starke Erlebnisse der Protagonisten zu
verdeutlichen. Im Rom-Fragment und im „Mantel“ sind es weibliche Personen, die den
blitzartigen Eindruck auslösen. Vergleiche auch Gogols Aufsatz „Die letzten Tage von
Pompeji“, in dem er eine Analyse des gleichnamigen Bildes von Brülow vornimmt. Das Bild
stellt eine Szene dar, in der die Stadt von der Lava des ausgebrochenen Vulkans und einem
zentral über der Stadt stehenden Blitz beleuchtet wird. 69 Scheinwelt. Am Ende von
Piskarjews Verfolgung, in der Wohnung „der Schönen“, löst sich die Illusion auf, die auf der
Perspektive des Künstlers aufgebaut ist. Es stellt sich heraus, dass die Frau eine Prostituierte
ist, und Piskarjews Hoffnungen, die „götterschönen Züge“58 seien die Hülle eines idealen
und reinen Wesens, das bereit zur „wunschentbundener Seelenliebe“ ist, zerfahren in alle
Richtungen. Aus der Perspektive Piskarjews nehmen wir das nüchterne und
heruntergekommene Interieur der Wohnung wahr, in der zwei Prostituierte ihre Wohnstätte
haben. Das Innere der Wohnung wird detailgenau wiedergegeben, um der Desillusion des
Künstlers die größtmögliche Ausdruckskraft zu geben und das Traumhafte seiner von nun an
folgenden Vorstellungswelt zu verdeutlichen. Das Bild, das sich Piskarjew von der Frau
gemacht hat, kehrt sich hier, durch die Konfrontation mit der wahren Welt, in das absolute
Gegenteil. Der Widerspruch zwischen der Petersburger Wirklichkeit und der Petersburger
Welt, wie Piskarjew sie sich vorstellt, wird durch diese Erzählhaltung deutlich, die das
Geschehen teils aus der Perspektive Piskarjews, teils aus der Perspektive des Erzählers
darstellt. Dem Erzähler kommt dabei die Aufgabe zu, die Stadt nüchtern zu beschreiben.
Piskarjew setzt mit seiner Betrachtung dieser objektiven Beschreibung eine Welt der Illusion
entgegen. Dabei gerät Piskarjew immer tiefer in einen Konflikt: je weiter sich das Bild der
Wirklichkeit von seinen illusionsbeladenen Vorstellungen entfernt, desto schärfer wird die
Konfrontation des Künstlers mit sich selber. Der weitere Verlauf der Binnenhandlung findet
deshalb im Inneren Piskarjews statt, der den Widersprüchen mit immer mehr Kraft begegnen
muß. So begegnet Piskarjew seiner angebeteten Fremden nur noch im Traum. Um diese
Begegnungen so häufig wie möglich zu erleben, schließt er sich in seiner Wohnung ein und
verbringt die Tage und Nächte in einem Dämmerzustand, immer in dem Bestreben, im Traum
der schönen Frau zu begegnen.59 Schließlich äußert er den Wunsch, dass es die schöne
Fremde nur noch in der Fiktion geben solle. Der Konflikt, der aus der Unterscheidung
zwischen Wirklichkeit und Fiktion entsteht, veranlasst Piskarjew, nur noch in einer Welt zu
leben, in derjenigen der Fiktion. „Es wäre besser, wenn sie überhaupt nicht lebte, wenn es sie
nicht gäbe hier auf Erden, wenn sie nur die Schöpfung eines hingerissenen Künstlers
wäre !“60 Die Traumzustände versucht Piskarjew 58 Gogol: Der Newskij-Prospekt. Holm. S.
21. 59 „Auf die Art wurden seine Träume ihm zuletzt das Leben, und damit nahm sein Leben
eine sonderbare Wendung: er schlief im Wachen und war wach im Schlaf. […] Erst wenn die
Nacht hereinbrach, wurde er lebendig.“ Ebd. S. 36. 60 Ebd. S. 38. 70 noch zu intensivieren,
indem er sich bei einem Perser Opium besorgt. Doch führt der Gegensatz zwischen erträumter
idealer, und der alltäglichen Welt vor seinem Fenster, die immer wieder in sein Bewußtsein
dringt, zu einer immer größer werdenden inneren Zerrissenheit. Nach dem Aufwachen wird
die äußere Welt zu einer Konfrontation mit der wahren Umgebung seines Lebens: „Alles
Alltägliche und Wirkliche schlug sonderbar befremdend an sein Ohr.“61 Das Hin- und
Hergerissen-Sein zwischen den beiden Welten führt zu dem für die Erzählung zentralen
Ausruf Piskarjews: „Du großer Gott, was ist das Leben! Ewiger Zwiespalt zwischen
Wirklichkeit und Traum.“62 In diesem Satz schneidet sich die Binnen- mit der
Rahmenhandlung. Der Erzähler warnt am Ende der Erzählung vor den Gefahren der
Traumwelt. Das tragische Ende des Künstlers, – Piskarjew nimmt sich das Leben, nachdem er
in seinem verirrten Idealismus um die Hand der Prostituierten anhält und von ihr abgewiesen
wird, – gibt der abschließenden Betrachtung des Newskij-Prospekts durch den Erzähler einen
anderen Ton. Im Gegensatz zur anfänglichen Beschreibung tritt der Erzähler geläutert auf und
setzt dem täuschenden Wesen des Boulevards seine Vorbehalte entgegen. Nicht mehr die
Pracht und der Reichtum stehen im Vordergrund seiner Stadtbeschreibung, wie noch am
Anfang der Geschichte, sondern die Warnungen, die hier auf die Täuschungen zielen, denen
ein jeder auf dieser Straße ausgesetzt ist. „O traut ihm nicht, dem Newskij Prospekt ! Ich
wickle mich so fest wie möglich in den Mantel, wenn ich ihn betrete, und mühe mich, gar
nichts von dem zu sehen, was mir dort begegnet. Denn es ist doch alles nur Betrug und
Gaukelspiel und täuscht ganz etwas andres vor, als was es ist !“63 Der Künstler ist an der
Täuschung zu Grunde gegangen. Sie hat ihn veranlaßt, in einer eigenen Welt die
Enttäuschung durch eine eigens geschaffene Traumwelt zu kompensieren. Die Unfähigkeit,
sich selber in Beziehung zur Außenwelt zu setzen, machen die Bemühungen um einen
Anblick allgemeiner und harmonischer Sphären aussichtslos. Die Stärke des Rauschgiftes, das
Piskarjew nimmt, bemißt sich an der Fallhöhe, die zwischen Schein und untrügerischer
Wirklichkeit liegt. Die zweite Binnenhandlung, die das Schicksal Pirogows beleuchtet, führt
vor, wie die Enttäuschung (die zweite Begegnung endet ebenfalls in der Zurückweisung
seitens der verfolgten Frau, allerdings durch den Ehemann, der ihn mit der Hilfe eines
Freundes verprügelt) von ei- 61 Ebd. S. 35ff. 62 Ebd. S. 38. 63 Ebd. S. 60. 71 nem
gewöhnlichen Petersburger Bürger verarbeitet wird: Er geht in ein Café, verspeist dort „zwei
Stücke Blätterteiggebäck“, liest in einer Zeitung und ist, als er wieder auf die Straße tritt,
„bedeutend milder aufgelegt“64. Auf diese Weise macht Gogol deutlich, dass der Typ des
Künstlers besonders anfällig dafür ist, sich in der Welt des Truges und des Scheins zu
verlieren. Der Newskij-Prospekt erweist sich als der Ort, an dem sich das trügerische
Geschehen verdichtet. Die Laternen werden vom Teufel angezündet und stellen den
Boulevard damit unter seinen Einfluss: „Er lügt zu jeder Zeit, der Newskij Prospekt, am
meisten aber dann, wenn droben über ihm die Nacht den dunklen Schleier aufhängt, gegen
den die weißen und die ockergelben Häuserfronten noch viel greller leuchten, und wenn sich
die ganze Stadt in Lärm und Glanz verwandelt, wenn Myriaden von Kaleschen auf den
Brücken donnern, wenn die Vorreiter mit lautem Ruf in ihren Sätteln auf- und niederhüpfen,
wenn der Leibhaftige selber die Laternen ansteckt, um uns alles in verlogenem und falschem
Licht zu zeigen...“ 65 Der Erzähler nutzt die personale Erzählhaltung konsequent aus, indem
er der Perspektive des Malers die Illusion zu Grunde legte, vor der er jetzt am Schluß warnt.
So erklärt sich auch, warum der Erzähler erst jetzt auf die Gefahren hinweist, gehörten sie
doch vorher zu seinem erzähltechnischen Gerüst, das darauf aufbaut, der naiven
Wahrnehmung des Malers in die letzten Winkel der Illusion zu folgen und Teile des
Geschehens aus dessen Perspektive darzustellen. Nur so konnte er die Verwirrungen und das
wahre Wesen der Traumwelt des Newskij- Prospekts vorführen und in die Träume Piskarjews
vordringen, die ohne Überleitung beginnen, so dass der Eindruck entsteht, Piskarjew erlebe
die Handlung im Wachzustand66. Aus dem selben Grund finden auch die Hinweise auf die
Prostitution versteckt statt; durch die Erwähnung, dass ein „Duft von frohem Müßiggang“67,
und „ein Hauch verwegenen Leichtsinns in der Luft“68 über dem Prospekt liege, wird in der
anfänglichen Beschreibung noch nicht mit der selben Ausdrücklichkeit eine Warnung in
Bezug auf die wahren Hintergründe der Ereignisse auf dieser Straße ausgesprochen. So stellt
sich heraus, dass die Hintergründe und die verdeckten Zusammenhänge im Widerspruch zu
den oberflächlichen Erscheinungen stehen. Piskarjew bleibt mit der Oberfläche der urbanen
Erscheinungen verbunden und akzeptiert nicht die Hintergründe. Deswegen kon- 64 Ebd. S.
59. 65 Ebd. S. 61. 66 Dies findet im ersten Traum statt, in dem er der schönen Frau begegnet.
Vgl. Gogol: Der Newskij-Prospekt. Holm. Ebd. S. 27ff. 67 Ebd. S. 9. 68 Ebd. S. 17. 72
struiert er sich eine eigene Welt der Träume. Die Stadt St. Petersburg wird dabei in das
traumhafte Erscheinungsbild mit überführt. Die verfolgte Unbekannte übernimmt eine
symbolische Funktion, indem sie den Charakter und die Grundeigenschaften Petersburgs
verkörpert. Die von dem Maler verfolgte Frau kann deswegen mit Petersburg gleichgesetzt
werden. Die Käuflichkeit der Frau und ihre auf Geld ausgerichtete Liebe stehen für moderne
Elemente des urbanen Lebens. Die Stadt ist in Gogols Beschreibung von dem selben
merkantilen, lieblosen und kalten Geist erfasst, wie dies bei der Prostituierten der Fall ist.
Aber erst die Handlung, die Konfrontation des naiven Malers mit dem abendlichen Geschehen
auf dem Boulevard legt das wahre Gesicht der Stadt frei. Während sich die überwiegende
Zahl der Bürger von dem Schein der Mode, der Pracht und der Herrlichkeit mitreißen läßt,
verfängt sich der Künstler in dieses Netz der Verführungen. Schon Puschkin stellt in seinem
Poem Der eherne Reiter den Glanz und die Herrlichkeit der Petersburger Welt als eine
Fassade dar, hinter der Gefahr, Unbarmherzigkeit und Vernichtung droht. Erst das Schicksal
des kleinen Mannes lässt die versteckte Realität offensichtlich werden. Weil die hinter den
Bildern erscheinende Wirklichkeit nicht evident ist, d.h. sich nicht durch sich selber erklärt,
bekommt der Betrachter nur Aufschluss über diese verborgene Welt, indem er sich um eine
zweite Wahrnehmung bemüht. Das Ringen um das Verständnis der verborgenen Bilder wird
zum eigentlichen Gegenstand der Stadtbeschreibung in dieser Zeit. Die Suche nach der
Realität hinter der vor dem Betrachter erscheinenden Welt wird von vielen Autoren zum
eigentlichen Ziel ihrer Stadtbeschreibung gemacht. Gegenstand der Beschreibung wird
deshalb oft das Unsichtbare, das Versteckte oder das Verdeckte. Das unvermittelt
Wahrnehmbare verliert stark an Interesse; es sind vielmehr die Gegenstände und Ereignisse,
die nur vermittelt wahrnehmbar sind, die beschrieben werden. Die Vermittlung durch den
Beobachter rückt damit viel stärker in den Mittelpunkt der Beschreibung, als dies in den
traditionellen Stadtbeschreibungen der Fall ist, die sich auf die Wiedergabe der unvermittelten
Wirklichkeit beschränken. Der Akt der Vermittlung durch den Beobachter kann dabei im
erzählten Text durch den Erzähler mit dargestellt werden. Dies verlangt eine zweite Ebene der
Beschreibung, die sich zu einer reflektierenden und begleitenden, parallel verlaufenden Spur
im Text entwickeln kann. In der Erzählung Der Newskij-Prospekt wird die Sonderstellung der
Petersburger Künstler mit der Vorstellung Piskarjews unterstrichen. Die Gemeinschaft der
Künstler wird vom Erzähler als Fremdkörper innerhalb der anderen Bevölkerungsgruppen
beschrieben: „Und sein Beruf war eine Seltenheit in dieser Stadt, wo jeder Mensch entweder
Staatsbeamter oder 73 Kaufmann oder deutscher Handwerksmeister ist. Denn er war
Künstler.“69 Die wirtschaftliche und soziale Ausrichtung der Stadt lassen Künstler unnötig
erscheinen und drängen sie an den Rand des Geschehens. Die meisten Künstler sind vor
diesen schlechten Bedingungen nach Italien geflohen, wo sie eine ihrer Kunst günstigere
Umgebung und ein angenehmeres Klima erwarten können. Daher rührt die weitreichende
Marginalisierung der wenigen in Petersburg verbliebenen Künstler, die sich nach der
Beschreibung des Erzählers in ihre Dachkammern zurückziehen, zusammen Tee trinken und
unter sich bleiben. Die Person Piskarjews unterscheidet sich von dem gewöhnlichen
Petersburger Bürger wie eine „Traumgestalt“ von der „ harten Wirklichkeit“. Seine Person
und sein Beruf grenzen ihn von der großen Masse der Petersburger Bürger ab. Diese
Unterscheidung ist wichtig für das folgende Verhalten des Malers. Denn seine Ausgrenzung
liegt nicht nur seiner Rolle – und damit seinem Verhalten – zu Grunde, sondern auch seinem
Gegenübertreten der Stadt. Die Ausgrenzung Piskarjews bewirkt die außergewöhnliche und
systematisierte Stadtdarstellung der Erzählung. Neben der Charakterisierung von Piskarjew –
und dem Künstler im Allgemeinen – bewirkt ein weiteres Mittel die Auflösung der
geordneten und in Einzelbilder aufgeteilten Stadtdarstellung und führt zur Dynamisierung des
Stadtbildes. Der Newskij-Prospekt wird zu Beginn der Erzählung als Mittelpunkt der Stadt
gesetzt: „[…] hier bedeutet er einfach alles“70. Dadurch wird der traditionelle historische
Mittelpunkt von Petersburg aufgehoben. Die im Vergleich zu anderen europäischen Städten
sehr spät einsetzende und rasche Entwicklung des Kerns von St. Petersburg geht auf einen
einheitlichen und strukturierten Stadtplan zurück, den Peter der Große entwarf. Den
Mittelpunkt der Stadt bilden die Peter-Paul-Festung, das Winterpalais, und die Admiralität.
Auf letzteres Gebäude führt der Newskij-Prospekt zu. Durch die Hervorhebung des
Prachtboulevards verliert die Stadt ihren Mittelpunkt am historischen Gründungsort und
geraten die Insel in der Newa mit der Peter-Paul-Festung und die gegenüber liegenden
historischen Gebäude der Admiralität und des Winterpalais‘ aus dem Blickfeld. Der
geographisch und politisch begründete Mittelpunkt der Stadt, der sich in dem historischen
Ensemble bündelt, wird bezeichnenderweise in der Beschreibung Gogols weder als
Mittelpunkt der Stadt herausgestellt, geschweige denn erwähnt, sondern durch einen anderen
Bezugspunkt ersetzt. In seinem Anfangssatz gliedert Gogol die Stadt um den NewskijProspekt 69 Ebd. S. 19. 70 Der Newskij-Prospekt wurde als Verbindungs- und Fernstraße im
Jahre 1704 auf freiem Feld begonnen. Dadurch bekam er von Anfang an sein gerades und
breites Erscheinungsbild, wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Hauptstraße St.
Petersburgs und bot dadurch schon 1835, zur Zeit der Veröffentlichung der Erzählung,
genügend Platz zum Flanieren und Repräsentieren. 74 herum und macht das Geschehen in St.
Petersburg von dieser Straße abhängig, die er als Referenz für das gesamte Leben setzt. Da
eine Straße, im Gegensatz zu einem Gebäude, einem Monument oder einem Platz, nicht einen
Ort bezeichnet, sondern vielmehr die Verbindung zwischen zwei Punkten, und damit eine
Vielzahl von Orten einschließt, führt Gogol die Auflösung einer in einem Mittelpunkt
fixierten Struktur der Stadt vor71. Petersburg wird so nicht als in sich ruhende, an ihrem
historischen Kern ausgerichtete Stadt vorgestellt, die ihre topographische Ordnung einem
historischen Stadtplan verdankt, sondern als eine in Bewegung befindliche Stadt, die dem
Wechsel, der Veränderung und der Dynamik unterworfen ist. Am Anfang der Erzählung und
im Fortgang der Geschichte bleibt die Beschreibung der Topographie Petersburgs durch das
Fehlen genauer Ortsangaben unbestimmt. Die Ortsangabe Newskij-Prospekt reicht hier für
den Hauptteil der Handlung aus, da eine genauere Festlegung zu einer Aufhebung der
dynamischen Struktur führen würde. So ist auch der Anfangssatz zu verstehen: der NewskijProspekt i s t die Stadt. Die Bewegung auf dem Boulevard, der Austausch und das Fließen
bestimmen die poetische Behandlung des urbanen Raumes. Jede genaue topographische
Angabe abseits des Prospektes, jeder Versuch, das Geschehen an einem bestimmten Ort
festzuhalten oder zu zentrieren würde der gogolschen Beschreibungsart des Fließens und
Fortlaufens des geschilderten Lebens entgegenwirken. Aus der Aufhebung der festen Struktur
ergeben sich die grundlegenden poetischen Möglichkeiten zur Darstellung 71 Siehe auch Karl
Schlögels Kommentar zum Newskij-Prospekt: „Seine Geschichte beginnt 1712, wenige Jahre
nach der Gründung der Stadt. Doch mit ihm wächst die Stadt, die ganz entgegen der
ursprünglichen Vorstellung ihr natürliches Zentrum hier und nicht auf der Wassiljewski-Insel
oder um die Peter-und-Pauls-Festung gefunden hat.“ Karl Schlögel: „Newski-Prospekt. Die
Leningrader Zirkulation.“ In Ders.: Promenade in Jalta und andere Städtebilder. München:
Hanser 2001. S. 102. Théophile Gautier ist auf seiner Reise 1858/1859 von der
Geschwindigkeit des Verkehrs und der Masse der Menschen auf dem Newskij-Prospekt so
beeindruckt, dass ihm schwindelig wird: „Nous ne fîmes que l’entrevoir, car la voiture tourna
et s’engagea dans la Perspective Nevsky, qui est à Saint-Pétersbourg ce qu’est la rue de Rivoli
à Paris, Regent’s Street à Londres, la calle d’Alcala à Madrid, la rue de Tolède à Naples,
l’artère principale de la ville, l’endroit le plus fréquenté et le plus vivant. Ce qui nous frappa
surtout, c’était l’immense mouvement de voitures – un Parisien cependant ne s’étonne guère
en ce genre – qui avait lieu dans cette large voie, et surtout l’extrême vitesse des chevaux. Les
drojkys sont, comme on sait, des espèces de petits phaètons bas et très-légers, qui ne
contiennent que deux personnes au plus; ils vont comme le vent, conduits par des cochers
aussi hardis qu’habiles. Ils rasaient notre rospousky avec une rapidité d’hirondelles, se
croisaient, se coupaient, passaient du pavé de bois au pavé de granit sans jamais se toucher;
des embarras en apparence inextricables se dénouaient comme par enchantement, et chacun, à
fond de train, filait de son côté et trouvait la place de ses roues là où une brouette n’aurait pu
passer.“ Théophile Gautier: Voyage en Russie. Hrsg.: Francine-Dominique Liechtenhan.
Paris: La Boîte à Documents 1990. S. 91.Gautier spricht immer wieder davon, dass sich vor
seinen Augen alles wie im Traum abläuft und die raschen Bewegungen der Stadt halten in
ihm den Schwindel der Seereise wach: „Tout cela nous passait devant les yeux comme une
rêve, car le rospousky allait fort vite, et avant de nous en être rendu bien compte nous étions
devant le perron de l’hôtel de Russie“. Ebd. S. 92f. 75 der schnellen Veränderung der urbanen
Erscheinungen, eines der Kernmotive der Erzählung. So wird durch die Darstellung der
Straße der urbane Stadtraum als Ganzes geprägt. Oder mit den Worten Karl Schlögels: „Dies
ist der Raum, in dem Nikolai Gogol die Geburt der Stadt beobachtet.“72 Die der Straße
immanente Bewegung und die für einen Prospekt notwendige perspektivische Blickachse (in
den Plänen von Peter dem Großen erscheint der Prospekt unter dem Namen „die Große
Perspektive“) führen zu einer durch stilistische Mittel verstärkten Dynamisierung des
Stadtbildes. Der Boulevard vermittelt dadurch ein generelles Gefühl von Urbanität in dieser
Zeit: „[…] er zieht die Menschen an wegen seiner Urbanität. Der Newski-Prospekt ist der
Raum für die Stadtwerdung Sankt Petersburgs.“73 Die literarische Übersetzung der
Stadtwerdung lässt sich in Gogols Werk an den wechselnden Perspektiven erkennen. Denn
durch kein anderes ästhetisches Mittel kann Gogol das neu erweckte Gefühl von Urbanität so
adäquat ausdrücken, wie durch den sich ständig bewegenden Betrachterstandpunkt. Gogol
überträgt die auf dem Boulevard wahrgenommene Bewegung auf die Darstellungsmittel. Der
Wechsel der Erzählperspektive von einem auktorialen zu einem personalen Erzähler, der
Wechsel zwischen den beiden Perspektiven von Piskarjew und Pirogow, die Läuterung des
Erzählers am Ende der Erzählung: alles dies spiegelt die Uneinheitlichkeit der urbanen Welt.
Dass vor Gogol bereits Puschkin auf der Suche nach einer angemessenen Form für die
Darstellung russischer Lebenswelt gewesen ist, macht das Werk Jewjenij Onegin (1825-32)
deutlich. Nicht die urbane Welt steht hier im Vordergrund, sondern die Verstrickung des
Helden in die komplizierten Verbindungen der russischen Gesellschaft. Puschkins Werk gilt
als Vorläufer in der Verwendung der wechselnden Perspektive74. Die ästhetische Erneuerung
liegt darin, in verschiedenen semantischen Ebenen des Textes dem Anspruch nach der
Wiedergabe einer alleinigen Wahrheit zu begegnen und in dem Wechsel der
Betrachterstandorte ein System der Multiperspektivität zu konstruieren, das am Ende zur
Herstellung einer umfassenderen Realität führt. Auch wenn die verschiedenen stilistischen
und semantischen Ebenen und die differenzierten Betrachterstandorte in einem vom Text
abhängigem System zusammengefaßt und aufeinander bezogen werden, hebt Lotman die
Unterschiedlichkeit und die Opposition hervor, die zu einer Rivalität der Perspektiven führt:
„Point of view introduces a dynamic element into a text: every one of the points of view in a
text makes claims to be the truth and 72 Karl Schlögel: „Newski-Prospekt. Die Leningrader
Zirkulation.“ S. 102f. 73 Ebd. S. 106. 74 Siehe J. M. Lotman: „Point of View in a Text.“ In:
New Literary History. Band 6. (1975) Nr. 2. S. 352. 76 struggles to assert itself in the conflict
with the opposing ones.“75 Die Dynamik, die durch den Wechsel der Perspektiven entsteht,
ist ein wichtiger Bestandteil von Puschkins Werk. Sie entsteht erst an den Stellen, an denen
sich der Betrachterstandort eines Textabschnittes von dem folgenden grundsätzlich in der
Färbung, in der Tonlage, im Stil, auf der semantischen Ebene, in der kritischen Haltung oder
in dem Abstand des Erzählers zum Geschehen unterscheidet. Je mehr sich diese Elemente
durch den Wechsel von einer Perspektive zur nächsten voneinander unterscheiden, desto mehr
gewinnt der Text an innerer Spannung und somit an Möglichkeit, eine eigene poetische
Wirklichkeit aufzubauen, die sich gegenüber einer äußeren Welt, der sogenannten
tatsächlichen Welt behaupten kann. Diese innere Kraft, die aus der Verteilung des
Dargestellten auf mehrere Perspektiven resultiert, erzeugt nicht nur im Jewgenij Onegin den
Eindruck von Realismus. Bjelinskij fand das russische Leben in diesem Poem so genau und
treffend widergespiegelt, dass er dem Werk die Bezeichnung ‚Enzyklopädie des russischen
Lebens‘ gab. Auf das in Petersburg spielende Werk von Gogol sind seine Zeitgenossen wegen
der natürlichen Darstellung aufmerksam geworden, die sie in hohen Tönen lobten und die die
Kritik, vor allem Bjelinskij und sein Kreis, zu dem Ausgangspunkt einer neuen, sich der
genauen Darstellung der Realität verschriebenen Schule machten. Damit wurde Gogol für
eine breit angelegte Strömung des Realismus in der Literatur vereinnahmt76. Dass Gogols
Weg des Realismus aber ein sehr eigener ist, und nicht nur in die von der Naturalistischen
Schule gewünschte Richtung zeigt, macht die Verwendung der wechselnden Perspektiven
klar. Für Lotman steht fest, dass das beginnende Streben nach Realismus in der russischen
Literatur an diesem Punkt ansetzen will; die Wirklichkeit in dem System der
Multiperspektivität wieder erschaffen zu wollen, bedeutet, dem wichtigsten Aspekt der
Wirklichkeit, der die Unmöglichkeit ihrer abschließenden und umfassenden Interpretation,
Rechnung zu tragen77. Die Widerspenstigkeit, die dem Verstehen und Übertragen von
Realität in ein darstellendes Medium wesenhaft ist, wird so in den Text übertragen und in
dessen Aufbau integriert. Eine schlüssige, die finale Auflösung suchende Betrachtungsweise
wird nicht als beherrschende Er- 75 Ebd. 76 Im Sinne der ‘Naturalistischen Schule’ wird
Gogol lange Zeit gelesen und interpretiert. Die Vereinnahmung ging aber zu weit und hatte
ihre Ausläufer noch im poetischen Realismus der Jahrhundertwende. 77 „Here the crucial
point for the style of realism in particular, which aims to escape from the subjectivity of
semantic-stylistic points of view and re-create an objective reality, is the precise relationship
between these multiple centers and the various (contiguous or mutually superimposed)
structures: they do not replace each other, but form relationships. […] Because of all this, the
literary model re-creates that most important aspect of reality - the impossibility of any one
definitive and exhaustive interpretation.“ J. M. Lotman: „Point of View in a Text.“ S. 350ff.
77 zählhaltung in Erwägung gezogen. Vielmehr wird der Widerspruch, der sich durch eine
Folge von Schilderungen aus unterschiedlichen Perspektiven ergibt, zum Programm und zur
tragenden Grundstruktur des Textes gemacht. Gogol nutzt in seiner Erzählung Der NewskijProspekt diese Struktur der wechselnden Perspektiven. Die ausführliche Beschreibung des
sich ändernden Lebens auf dem Newskij-Prospekt auf den Anfangsseiten der Erzählung ist
aus einer bestimmten Perspektive geschildert, die für den weiteren Verlauf von großer
Bedeutung ist. Die Einordnung der fiktiven Handlung in einen realen und historischen
Rahmen ist Aufgabe der Einleitung. Über die alltägliche Versammlung von Menschen stellt
der Erzähler eine Konzentration her, die den Anknüpfungspunkt für den Beginn einer
erdichteten Handlung bildet und so etwas wie das Interesse des Lesers weckt. Hier legitimiert
sich der Grundansatz jeder erdichteten Handlung, von dem allgemeinen auf das einzelne
Schicksal zu fokussieren. Aber mit dem Wechsel von dem allgemeinen Geschehen des
Boulevards zu dem besonderen geht auch der Versuch einher, das individuelle Schicksal und
den einzelnen Betrachterstandort zu einer allgemeingültigen Perspektive werden zu lassen.
Denn die Petersburger Welt ist nicht phantastisch, d.h. unwirklich, sondern eine Realität, die
sich im Bewußtsein eines Menschen spiegelt. Die Deformierung, die Übertreibung resultiert
aus der jeweiligen, genau erklärten und keineswegs irrealen Konstitution des Bewußtseins.
Das Bewußtsein der Figuren lässt sich mit sehr materiellen und rationalen Bedingungen
erklären. So entsteht die Spiegelung, die den Vorgang der Vermittlung mit inszeniert.
Nabokow sieht hierin die Möglichkeit, eine zweite Handlung hinter der vordergründigen
Handlung zu verstecken: „Ich habe zu zeigen versucht[…], daß sich in Gogols Büchern die
eigentliche Handlung hinter der vordergründigen versteckt. Diese eigentlichen Inhalte habe
ich angegeben. Seine Geschichten ahmen Geschichten mit einer Handlung nur nach. Es ist
wie mit einem seltenen Nachtfalter, der seine Nachtfaltererscheinung aufgibt, um das
Oberflächenmuster von etwas strukturell ganz anderem nachzuahmen – eines beliebten
Schmetterlings etwa.“78 Die Aufwertung des Aktes der Vermittlung, die mit der Öffnung des
Bewusstseins des Beobachters einhergeht und einen Einblick in die Gedanken während der
Wahrnehmung zuläßt, resultiert aus der Zusammenführung und Ausrichtung der Gedanken in
einer Figur. Diese Entwicklung – weg von der gemeinschaftlichen Wahrnehmung wie bei
Mercier, hin zur Konzentration auf die Wahrnehmung einer einzelnen Person – geht mit der
Isolierung des 78 Wladimir Nabokow: Gogol. S. 186. 78 Beobachters von der Gemeinschaft
einher. In der Folge tritt ein bestimmter Typ Beobachter auf, der sich bewusst von der
Gemeinschaft abspaltet, um seinen eigenen Erfahrungen unbeeinflußt nachgehen zu können.
Diese Isolierung des Beobachters läuft parallel zu dem allgemeinen Bestreben der Künstler im
Europa dieser Zeit, sich von der übrigen Bevölkerung in Lebens-, Denk- und Handlungsweise
abzusetzen. Die Isolierung des Künstlers fügt sich in das Konzept, das die „Naturalistische
Schule“ im Rußland jener Zeit vertritt. Mit der „Naturalistischen Schule“, einer geistigen
Strömung, die der Literaturkritiker Wisarion Bjelinskij an erster Stelle repräsentierte,
verlagerte die Literatur in Rußland ihr Interesse in zwei wesentlichen Punkten. Erstens wurde
die Poesie als vorherrschende Gattung von den erzählenden Gattungen beerbt, und zweitens
trat der ‘einfache Mann‘ an die Stelle des genuinen und vermeintlich besonderen
Individuums. Diese beiden Veränderungen haben tiefe Auswirkungen auf das literarische
Schaffen dieser Zeit. Die Prosa gibt Platz für philosophische Ausführungen, die die jungen
Autoren dieser Zeit vom Studium im westlichen Europa heimkommend, in ihren
Aufzeichnungen festgehalten haben und nun auf die russischen Verhältnisse übertragen.
Gogol steht dieser Schule voran, auch wenn er in gewissen Punkten uminterpretiert oder
bewußt falsch verstanden wird. Seine Werke werden in diesen Kreisen herumgereicht, und
zum Vorbild erklärt. Gogol sträubt sich Zeit seines Lebens gegen Auslegungen, die seine
Werke als radikale politische Manifeste sehen wollen, und die Übertragung der in der
Literatur geäußerten Ideen in die zeitgenössische russische Gesellschaft führt zu wiederholten
Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Fragen zwischen Bjelinskij und Gogol. Gogol
steht für die Einführung des ‘kleinen Mannes‘ in die Literatur. Seine Erzählung Der Mantel
wird zum Vorzeigewerk einer ganzen Epoche und die Hauptfigur Akakij Akakjewitsch, der
kleine Beamte, der von seinen Kollegen nicht Ernst genommen wird, wird zur Musterfigur
einer ganzen Generation von Schriftstellern. Die Gegenüberstellung ‘kleiner Mann‘ – ‘große
Stadt‘ beginnt bei Gogol ihre für die Literatur fruchtbare Karriere und wird über
Champfleury, Zola, Holz und Hauptmann bis zu Döblin eine Grundkonstellation für viele
Werke bleiben, die im urbanen Milieu spielen. Das Bild der Stadt bekommt durch diese
Gegenüberstellung von Groß und Klein eine entscheidende Prägung. In der Konfrontation des
kleinen Mannes mit der großen Stadt entfaltet diese erst ihre ganze Gewalt und
durchschlagende Kraft in Bezug auf das Individuum. Dies wird auch im Werk von Balzac
deutlich79. 79 Siehe auch Jurij Mann, der den Einfluss des romantischen Antihelden auf die
russische Literatur 79 5. Balzacs Roman Illusions perdues: Luciens gescheiterter Versuch der
Eroberung von Paris Der Übergang von der Kleinstadt nach Paris wird in Balzacs Roman
Illusions perdues als er Verlust von Kontrollierbarkeit der Umgebung beschrieben. Die
übersichtliche Lebenswelt der Kleinstadt Angoulême, ausgedrückt in der schützenden
Beziehung von Lucien zu Madame Bargeton, hat mit der Ankunft in Paris keinen Fortbestand
mehr. Der Verlust von Schutz und Vertrautheit wird in den ersten Erlebnissen von Lucien in
der neuen Stadt sichtbar. Seine ersten Eindrücke verdeutlichen die innere Entwicklung, die
seine Ankunft begleitet. Die überwältigende und in sich widersprüchliche Masse der
Eindrücke, die auf Lucien trifft, wird in dem Roman wie folgt beschrieben: „Pendant sa
première promenade vagabonde à travers les Boulevards et la rue de la Paix, Lucien, comme
tous les nouveaux venus, s’occupa beaucoup plus des choses que des personnes. À Paris, les
masses s’emparent tout d’abord de l’attention: le luxe des boutiques, la hauteur des maisons,
l’affluence des voitures, les constantes oppositions que présentent un extrême luxe et une
extrême misère saisissent avant tout. Surpris de cette foule à laquelle il était étranger, cet
homme d’imagination éprouva comme une immense diminution de lui-même.“80 Die
Verkleinerung der Person ist die entscheidende perspektivische Veränderung in der
Erzählhaltung des Romans. Der Erzähler stellt von nun an Paris als einen übermächtigen, die
Entwicklung von Lucien von Anfang an bestimmenden Ort dar. Die in der Provinz aufgebaute
künstlerische Hoffnung bekommt auf diese Weise einen äußeren Widerstand entgegengesetzt.
Die erhoffte Eroberung der Stadt mißlingt, und der Blickwinkel auf die Stadt Paris drückt dies
schonungslos aus. Der Großzügigkeit des Erzählens im ersten Buch, dem umfassenden Blick
auf die persönlichen Lebensverhältnisse von Lucien, folgt die Einschränkung und
Reduzierung des auf Lucien gerichteten Sichtbereichs. Der Roman beginnt sich auch eials
sehr groß erachtet. Das Bild, das E.T.A. Hoffmann von dem jungen Helden gezeichnet hat –
wie z.B. das von Anselmus in der Erzählung Der goldene Topf, bekommt für die Autoren
Gogol und Dostojewski Vorbildcharakter, laut Mann. Für den Vergleich von Anselmus, den
Helden aus Gogols Erzählungen und den frühen Dostojewski-Erzählungen siehe Jurij Mann:
Dialektika chudoshestwennogo obrasa. [Die Dialektik des künstlerischen Abbildes.] Moskau:
Sowetskij pisatel 1987. S. 67ff. Auch Alain Montandon untersucht den Einfluss von E.T.A.
Hoffmann auf Gogol. Insbesondere die Erzählung „Das öde Haus“ spielt für Montandon eine
große Rolle für den Einfluss Hoffmanns auf Gogols Erzählung der Newskij-Prospekt. Siehe
Alain Montandon: „Une Source peu connue de La Perspective Nevsky de Gogol.“ In: Revue
de littérature comparée. Nr. 3. (1976). S. 291-295. 80 Honoré de Balzac: Illusions perdues. In:
La Comédie humaine. Band 5. Hrsg.: Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard 1977. S. 264.
80 ner von Lucien unabhängigen Lenbenswelt zu öffnen. Die handelnden Personen nehmen
zu, die Ereignisse finden in zunehmenden Maße auch ohne einen Einfluß auf Lucien statt, und
Entwicklungen gehen unbemerkt an ihm vorüber. Der noch in der Kleinstadt verwendete
Blickwinkel beschränkt sich nicht mehr nur auf einen Protagonisten. Der von Balzac in Szene
gesetzte Übergang von der Provinz in die Stadt dient ebenfalls dazu, aus der Position der
Marginalität den Blick auf die Stadt darzustellen. Die Inszenierung des Ankunftsmomentes
hat eine entscheidende Wirkung auf die folgende Handlung, da der Handlungsort vornehmlich
durch die Aspekte vorgestellt wird, die für die Entwicklung des Helden von Bedeutung sind.
Die Einschränkung der Perspektive auf den verschüchterten Helden erfüllt die Funktion einer
Exposition, die den Handlungsort Paris vorstellt. Im zweiten und dritten Buch des Romans
erfüllen sich viele der in der Ankunft gemachten Beobachtungen, die zunächst nur auf den
äußerlichen Erscheinungen des Straßenlebens beruhen. Die Handlung des Romans führt die
gemachten flüchtigen Beobachtungen im Anschluss in der für Balzac typischen epischen
Breite aus. Die vorherrschenden Merkmale der Ankunftsszene, der starke Gegensatz der vor
den Augen erscheinenden Objekte und die Geschwindigkeit ihres Erscheinens und
Verschwindens in der Stadtwelt, deuten bereits auf die im Roman immer wieder
herausgestellte Haupteigenschaft von Paris hin, die darin besteht, eine Scheinwelt aufzubauen.
In Luciens Unterhaltung mit dem spanischen Priester im dritten Buch warnt der Geistliche
den jungen Dichter vor dem trügerischen Charakter des Pariser Lebens. Er vergleicht den
Aufstieg eines Künstlers mit dem eines Staatsmannes und hält Lucien vor, nicht genügend auf
die eigene trügerische Wirkung auf die Mitmenschen geachtet zu haben. „Vous n’avez rien,
vous êtes dans la situation des Médicis, de Richelieu, de Napoléon au début de leur ambition.
Ces gens-là, mon petit, ont estimé leur avenir au prix de l’ingratitude, de la trahison, et des
contradictions les plus violents. Il faut tout oser pour tout avoir. Raisonnons? Quand vous
vous asseyez à une table de bouillotte, en discutezvous les conditions? Les règles sont là, vous
les acceptez. […] Est-ce vous qui faites les règles dans le jeu de l’ambition? Pourquoi vous aije dit de vous égaler à la Société?... C’est qu’aujourd’hui, jeune homme, la Société s’est
insensiblement arrogé tant de droits sur les individus, que l’individu se trouve obligé de
combattre la Société. Il n’y a plus de lois, il n’y a que des moeurs, c’est-à-dire des simagrées
toujours la forme.“81 Der Schein und die Form bestimmen den beruflichen und
gesellschaftlichen Aufstieg im Leben von Paris, nicht die wahren Fähigkeiten des Menschen.
Der Priester nennt dies die 81 Ebd. S. 702. Siehe auch Georg Lukàcs, der diese Rede
kommentiert: Georg Lukàcs: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten. Neuwied/Berlin:
Luchterhand 1964. S. 397. 81 Spielregeln, denen sich Lucien nicht unterwerfen will. Der
junge Dichter kann sich dem oberflächlichen Leben nicht anpassen und scheitert deswegen an
den bereits zum Zeitpunkt seiner Ankunft einsetzenden Unterwerfung. Lucien liefert sich der
Scheinwelt aus und lernt nicht, diese für seinen eigenen Vorteil zu nutzen. Bereits in der
Provinzstadt beginnen die naiven Vorstellungen, die Lucien von einer Dichterkarriere hat:
„[…] il marchait dans une atmosphère pleine de mirages. Les jeunes imaginations sont si
naturellement complices de ces louanges et de ces idées,[…] qu’il faut plus d’une leçon amère
et froide pour dissiper de tels prestiges.“82 Madame de Bargeton bestärkt den jungen Mann in
seinen Träumen und veranlasst mit ihrer eigenen Reise nach Paris, den jungen Dichter ihr zu
folgen. Noch in Angoulême sagt Madame de Bargeton zu Lucien: „Je vous prendrai dans ma
voiture, et nous serons bientôt à Paris. Là, cher, est la vie des gens supérieurs. On ne se trouve
à l’aise qu’avec ses pairs, partout ailleurs on souffre, D’ailleurs Paris, capitale du monde
intellectuel, est le théâtre de vos succès! franchissez promptement l’espace qui vous en
sépare! Ne laissez pas vos idées se rancir en province, communiquez promptement avec les
grands hommes que représenteront le dix-neuvième siècle. Rapprochez-vous de la cour et du
pouvoir. Ni les distinctions ni les dignités ne viennent trouver le talent qui s’étiole dans une
petite ville.“83 Das Auseinandergehen von Schein und Wirklichkeit, von Wunsch und
Enttäuschung hängt direkt mit dem Stadtleben zusammen, in das sich Lucien nicht einfügen
kann84. Lucien ‚läuft sich die Hörner ab‘. Eine Auflösung des künstlerischen Konfliktes stellt
Balzac allerdings nicht dar; denn im ersten Buch propagiert der Erzähler noch den
einfühlsamen und empfindsamen Künstler, der allein in der Lage ist, das Publikum in eine
poetische Stimmung zu versetzen. „Ne faut-il pas avoir tout senti pour tout rendre? Et sentir
vivement, n’est-ce pas souffrir? Aussi les poésies ne s’enfantent-elles qu’après de pénibles
voyages entrepris dans les vastes régions de la pensée et de la société. N’est-ce pas des
travaux immortels que ceux auxquels nous devons des créatures dont la vie devient plus
authentique que celle des êtres qui ont véritablement vécu, comme la Clarisse de Richardson.
[…] D’ailleurs ces en- 82 Honoré de Balzac: Illusions perdues. S. 230. 83 Ebd. S. 249. 84
Lukàcs schreibt hierzu: „Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres
als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und
erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich
das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinen Wünschen und Meinen in die bestehende
Wirklichkeit und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt
und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt.“ : Georg Lukàcs: Deutsche Literatur
in zwei Jahrhunderten. S. 397. 82 fantements sublimes veulent une longue expérience du
monde, une étude des passions et des intérêts humains que je ne saurais avoir faite.“85 Nur
durch die Fähigkeit, sich in die Gesellschaft und ihre Gedanken einzufühlen, entsteht eine
‘elektrische Verbindung‘ zwischen dem Dichter und seinem Publikum: „Il doit se faire entre
le lecteur et l’auditoire une alliance intime, sans laquelle les électriques communications des
sentiments n’ont plus lieu. Cette cohésion des âmes manque-t-elle, le poète se trouve alors
comme un ange essayant de chanter un hymne céleste au milieu des ricanements de
l’enfer.“86 Der Poet, der sich nicht mit seinen künstlerischen Ansprüchen in die
gesellschaftlichen Verhältnisse fügen kann, muss an der Aufgabe scheitern, ein wirklicher
Künstler zu werden. So muss der Versuch der poetischen Eroberung von Paris scheitern, weil
sich Lucien nicht dazu bereit findet, die Welt, der er in Paris begegnet, als das zu akzeptieren,
was sie ist: eine Scheinwelt. 6. Die Annäherung des Künstlers an die Stadt in Gottfried
Kellers Roman Der grüne Heinrich In dem Roman Der grüne Heinrich (in der ersten Fassung
von 1854/55) geschieht eine ähnliche Entwicklung wie in Balzac Roman. Gottfried Keller läßt
die Hauptfigur mit der Ankunft in der fremden Stadt ebenfalls eine ‘Verkleinerung’ seiner
eigenen Person spüren, die sich auf die Wahrnehmungfähigkeit der Umwelt auswirkt. Keller
entwickelt die Betrachtung der Stadt entlang einer erlebten Betrachtungsweise. Die Ankunft
in München ist auch hier als eine auf den Künstler bezogene perspektivische Erlebniswelt
dargestellt. Kellers Roman wird in den drei Anfangskapiteln durch Heinrichs Reise aus der
Heimat in die Stadt eingeleitet. Diese Handlung verteilt sich auf den Abschied von der Heimat
(erstes Kapitel), die Reise in die Stadt (zweites Kapitel), und die Ankunft in der Stadt
München (drittes Kapitel). Die drei Anfangskapitel sind dadurch hervorgehoben, dass sie
einerseits als einziger Romanteil aus der chronologischen Reihenfolge genommen sind87, und
andererseits an die exponierte Stelle des Romananfangs gesetzt werden. Der Bruch der
chronologischen Folge 85 Honoré de Balzac: Illusions perdues. S. 207f. 86 Ebd. S. 199. 87
Die mitten in der Erzählzeit des Romans liegende Handlung des Land-Stadt-Übergangs, die
zwischen der Jugend Heinrichs und der Entwicklung liegt, die er in der fremden Stadt nimmt,
wird aus der zeitlichen Reihung herausgenommen und an den Anfang des Romans gestellt.
Das epische Scharnier zwischen den beiden Teilen des Romans wird dadurch hervorgehoben.
83 hebt die Bedeutung dieses Zeitpunktes für die persönliche Entwicklung des grünen
Heinrich hervor. Der Wechsel von der gewohnten Heimat in die Stadt bedeutet den
entscheidenden Wendepunkt im Leben Heinrichs und in seiner Ausbildung zum Künstler. Der
Roman ist in verschiedener Weise auf diesen Wendepunkt hin strukturiert, und der Gegensatz
von dem Leben in der Heimat und dem Leben in der Fremde bilden eine entscheidende
Grundlage für die Gestaltung. Der Verpflichtung, etwas für den Roman Bedeutendes zu
erzählen, die sich durch diese hervorgehobene Stellung der drei Kapitel ergibt, kommt Keller
nach, indem er den Wechsel der Lebensverhältnisse Heinrichs gezielt beleuchtet und dadurch
dramatisiert, dass er eine sich verstärkende perspektivische Einschränkung des erzählerischen
Blickwinkels dem Wechsel von der Kleinstadt in die fremde Metropole zu Grunde legt. Der
Roman beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung der Stadt Zürich. Die Stadt wird
zunächst aus der Entfernung betrachtet, indem der Erzähler einen distanzierten
Betrachterstandpunkt auf dem Zürichsee wählt und sich der Stadt langsam durch eine
Bootsfahrt nähert. Die Fahrt führt über den See und die durch Zürich fließende Limmat in die
Stadt hinein und läßt das Geschehen an dem Boot vorbeiziehen: „Das ganze Treiben einer
geistig bedeutsamen und schönen Stadt drängt sich an den leicht dahinschwebenden Kahn.“88
In der kleinen flußabwärts gelegen Nachbarstadt Baden endet die Fahrt, und damit bricht auch
die Beschreibung ab. Die Beschreibung liefert ein Stadttableau, indem sich Zürich mit seinen
charakteristischen Orientierungs- und Erkennungspunkten widerspiegeln kann. Hier weicht
Keller nur wenig von klassischen Texten der Städteliteratur ab89. Das bedeutet auch, dass der
erzählende Betrachter in einer angemessenen Entfernung zur Stadt und ihrem Leben bleibt
und nicht in ein direktes Verhältnis zu dieser tritt und nicht direkt von dem Geschehen berührt
wird. Der Erzähler beschränkt sich auf seine Rolle als Beobachter und wird nicht von den
Handlungen in der Stadt affiziert. Seine Rolle bleibt passiv, und das Geschehen zieht an ihm
vorbei, ohne dass er die Möglichkeit hat, in den Ablauf einzugreifen, den Blick auf einem
bestimmten Punkt ruhen zu lassen oder eine persönliche Erfahrung in die Beschreibung
einzuflechten: Aus dem „pfeilschnell vorübergeflossenen Gemälde“90 Zürich läßt sich kein
persönlich beeinflusster Beobachterstandpunkt ableiten. Bezeichnenderweise bricht die
Beschreibung zu dem Zeitpunkt ab, an dem der Erzähler an Land steigt. Die Schranke
zwischen beschriebenem Gegenstand Stadt und Beobachterstandort 88 Gottfried Keller: Der
grüne Heinrich. Erste Fassung. In: Sämtliche Werke. Band 2. Frankfurt/M.: Dt.
Klassikerverlag 1985. S. 11. 89 vgl. Karl Riha: Die Beschreibung der „Großen Stadt“. S. 152.
90 Keller: Der grüne Heinrich. S. 12. 84 wird erst jetzt durchbrochen, und die ästhetischen
Voraussetzungen des Stadtbildes bleiben in ihren Grenzen klar definiert. Das Wasser trennt
den Beobachter von der Stadt, die somit als eigenständiges und von ihm unbeeinflußtes
Objekt im Text bestehen bleibt. Es besteht nicht die Möglichkeit in der Stadtbeschreibung
eine individuelle Regung des Betrachters widergespiegelt zu finden. Auch im Vorbeiziehen
der Stadt und weil der Betrachter nicht in der Stadt an Land geht, wird klar dass es sich um
eine Absetzung des Stadtraumes von dem Betrachterstandort handelt. Die Stadt verweigert
sich folglich einer weiterführenden Betrachtung, die allein durch ein Anhalten des Bootes
ermöglicht würde. Das Betreten der Straßen bleibt aber so für die Beobachtungssituation
ausgeschlossen und wird durch mehrere Barrieren – Wasser, Fahrt des Bootes – verhindert.
Das Bild der Stadt steht für sich selber, und scheint lediglich dem ästhetischen Programm der
natürlichen Wiedergabe verpflichtet, also so direkt die Natur wiederzugeben, wie dies
möglich ist. Deswegen muß die Stadt auch aus der Ferne beschrieben werden, und in der
Verbindung mit der sie umgebenden Natur ergibt sich nicht die Frage nach der Darstellungen
von Einzelheiten, die das Bild schnell in ein komplexes Gebilde auflösen würden. Die Fahrt
auf dem Fluß, der Zürich durchfließt, liefert einzelne Bildausschnitte und Geräusche der
Stadt: Personen die sich versammeln, Brücken und Gebäude, das Denkmal Karl des Großen,
und Trommelschlag, Getöse des Marktes, „summendes Gewerk und Gewerb“. Aber die
ausführliche Anschauung und das Erlebnis der Stadt kann nicht vermittelt werden. Sie wird
durch die stetige Bewegung der Bootsfahrt, die beim Eintreten in die Stadt den Betrachter
schon wieder zur Stadt heraus führt, vermieden. Die Stadt erscheint dadurch nur in ihrer
Oberfläche, hinter der weitere Dimensionen nur erahnt werden können. Heinrichs Heimatort
ist die zweite Stadt, die im Roman vorgestellt wird. Sie wird in einer anderen Form
beschrieben als Zürich. Der Erzähler macht selber auf den Unterschied des
Beschreibungszusammenhangs aufmerksam und im weiteren Verlauf wird er wiederholt den
Beschreibungsvorgang selber reflektierend kommentieren. So kontrastiert er die Darstellung
Zürichs mit der folgenden Stadtbeschreibung, die sich perspektivisch von einem objektiven,
unbeteiligten und nicht genau festgelegten Betrachter löst. Auf den grundlegenden
poetologischen Unterschied weist der Erzähler am Anfang hin, wenn er erläutert, dass diese
Stadt eine „eingebildete“ ist und er damit eine Trennlinie zwischen dem Bereich des
Wirklichen und des Fiktiven zieht. „Die Zahl dieser Städte [der Erzähler nennt Zürich, Luzern
und Genf, d.V.] aber um eine eingebildete zu vermehren, um diese, wie in einem
Blumenscherben, das grüne Reis einer Dichtung zu pflanzen, möchte tunlich sein: indem man
durch das angeführte, be85 stehende Beispiel das Gefühl der Wirklichkeit gewonnen hat,
bleibt hinwieder dem Bedürfnisse der Phantasie größerer Spielraum und alles Mißdeuten wird
verhütet.“91 Die zweite Stadt wird somit auf eine andere Ebene gestellt und dem Bereich des
Fiktiven zugeordnet. Der Erzähler verweist gleich am Anfang der Einführung der neuen Stadt
auf die Dichtung, um auf die unterschiedliche Bedeutung der beiden Städte für die
Romanhandlung aufmerksam zu machen. Den Wechsel von der realen und dem Leser
bekannten Stadt Zürich zur „eingebildeten Stadt“ erklärt der Erzähler mit der Notwendigkeit
der Dichtung genügend Freiheit zu geben. Die Darstellung dieser Stadt ist zwar der
wirklichen Stadt Zürich verpflichtet, bekommt ihre entscheidende Bedeutung aber erst
dadurch, dass mit ihrer Vorstellung auch die Handlung des Romans beginnt und die
Charaktere auftreten. Der Erzähler macht dadurch auf die grundlegende poetologische
Entwicklung aufmerksam, die eine andere Stadtbeschreibung nicht nur ermöglicht, sondern
auch notwendig macht. Der Brauch des objektiven, der Wirklichkeit verpflichteten,
traditionellen Stadttableaus, wie am Beispiel des Romananfangs in der Beschreibung Zürichs
vorgeführt, kann nicht mehr konstituierende Vorgabe für den Erzähler sein, weil er von jetzt
an die Aufgabe erfüllen muß, den Personen der Handlung in der Stadt ein Lebensumfeld zu
schaffen, ihr Leben in der Stadt zu schildern und ihr Leben mit dem Geschehen der Stadt zu
verknüpfen. Damit wird an dieser Stelle eine neue Stadtbeschreibung eingeführt, die einzig
ein „Gefühl der Wirklichkeit“92 vermittelt, aber im Wesentlichen den erzählerischen
Möglichkeiten einer fiktiven Stadt folgt. Der Erzähler macht in der folgenden
Stadtbeschreibung deutlich, wie sich die Perspektive verändern kann, um das von ihm
wiedergegebene Bild der Stadt in die Romanhandlung einzugliedern und auf die handelnden
Figuren zu beziehen. Der Erzähler leitet nicht abrupt von der einen Form der
Stadtbeschreibung zur nächsten über, sondern langsam, indem er den Übergang von einer
Perspektive zur nächsten selbst darlegt und kommentiert. Der Erzähler betrachtet Heinrichs
Heimatstadt zunächst wie Zürich aus der Ferne und beschreibt sie aus einer vergleichbaren
passiven Erzählhaltung; auch jetzt zeigt er sich zunächst unbeeinflußt von dem Geschehen in
der Stadt und zeigt keinerlei Bindung an sie. Die kleine Stadt liegt in einem Tal, das von
einem Fluß durchflossen wird. Von einem Felsen aus, der der Stadt auf der anderen Flußseite
gegenüber erhöht gelegen ist, betrachtet er sie. Er erläutert seinen Betrachterstandort und die
sich daraus ergebende Perspek- 91 Ebd. S. 13. 92 Ebd. 86 tive genau, und vergleicht seinen
Ausblick mit der Sicht in einen „offenen Raritätenschrein“93. „Vom diesseitigen Berge aber,
welcher aus schroffen waldbewachsenen Felsen besteht, kann man in die Stadt hinein und
hinüber schauen, wie in einen offenen Raritätenschrein, so dass die kleinen fernen Menschen,
die in den steilen alten Gassen herumklimmen, sich kaum vor unserm Auge verbergen
können, indem sie sich in ein Quergäßchen flüchten oder in einem Hause verschwinden.“94
Der sich den Berghang hoch erstreckende Ort neigt sich aus der horizontalen Achse heraus
dem Betrachter zu, und bietet durch dessen erhöhten Standpunkt die verbesserte Einsicht des
nahezu senkrecht auf das Objekt fallenden Blickes. So erscheint die Stadt in die Vertikale
hochgestellt, und ermöglicht einen senkrechten Betrachterwinkel, wie bei der Sicht auf ein an
der Wand hängendes Bild. Die Menschen sind auf den Plätzen und in den in Blickrichtung
liegenden, bergauf laufenden Gassen ungehindert sichtbar, und können sich nur in Quergassen
und Häusern vor den Blicken verstecken und werden so von dem Erzähler betrachtet95. Dass
der Erzähler einen festen, topographisch bestimmbaren Betrachterstandort wählt, und seinen
Standort dort durch eine genaue Beschreibung fixiert, hat seinen Grund in der folgenden
Szene, in der die Hauptperson des Romans zum ersten Mal auftritt. Der grüne Heinrich wird
in den Roman eingeführt, indem er eine Wanderung zu dem Aussichtspunkt unternimmt, an
dem sich der Erzähler schon befindet. Dass er sich dem Standort des Erzählers den Berg hoch
spazierend nähert und so in den Roman eingeführt wird, verknüpft den Erzähler erstmals mit
dem Romangeschehen. Analog dazu wird sein Betrachterstandort in die räumlichen
Bedingungen der Romanhandlung eingegliedert, wodurch erst die für den gesamten Roman
wichtige Annäherung des Gesichtskreises von Erzähler und Romancharakter ermöglicht wird.
So stellt sich Heinrich an den selben Aussichtspunkt, von dem aus der Erzähler die Stadt
beschrieben hat und blickt ebenfalls auf die Stadt hinunter. Durch die räumliche Annäherung
von Erzähler und Heinrich wird ein für die weiteren Kapitel wichtiger Schritt unternommen.
Mit der folgenden Beschreibung der Stadt, mit den Augen des grünen Heinrichs gesehen,
macht der Erzähler deutlich, dass ein zwischen ihm und Heinrich übereinstimmender
Blickwinkel geschaffen ist. Somit wird eine Erzählhaltung konstituiert, in der das Geschehen
durch 93 Ebd. S. 14. 94 Ebd. 95 Vgl. die Betrachtungssituation in Adalbert Stifters Wien und
die Wiener in Bildern aus dem Leben. In: Die Mappe meines Urgroßvaters. Schilderungen.
Briefe. München: Winkler 1954. S. 277-464. Der Blick vom Stephansdom ist wie der
Panoramablick bei Mercier im Tableau de Paris im Kapitel „Coup d’oeil général“ der
klassische Einstieg in die Betrachtung einer Stadt. Auch Ludwig Tieck verwendet die
Vogelperspektive in seinem Roman Franz Sternbalds Wanderungen als Franz nach Nürnberg
kommt. 87 die Augen der Hauptperson wahrgenommen wird. „Heinrich Lee sah in seine
Vaterstadt hinüber.“ 96 So wird der dritte Abschnitt der Stadtbeschreibung eingeleitet, der
nun die Perspektive des grünen Heinrich zu Grunde gelegt wird. Der Erzähler weist mehrmals
darauf hin, dass es nicht mehr sein Blick ist, sondern der des grünen Heinrichs, der die Stadt
betrachtet und somit die Erzählsituation eine personale geworden ist: „Schnell ließ [der grüne
Heinrich] seine Augen treppauf und ab in allen Winkeln der Stadt herum springen, […]“97.
Die Stadtbeschreibung aus der Perspektive des grünen Heinrich läßt viele
Kindheitserinnerungen einfließen, die mit bestimmten Orten in der Stadt verbunden sind. Die
entscheidende Veränderung des Betrachtungsstandpunktes findet aber statt, als der Erzähler
Heinrich in die Stadt hinunter folgt und sich das Beobachten immer mehr auf den
Gesichtskreis des jungen Mannes konzentriert. Der unberührte, distanzierte Erzähler des
Romananfangs wird nun soweit in das Romangeschehen hineingezogen, dass sich sein
Betrachterstandpunkt von einem außerhalb der Welt der Romanfiguren liegenden Ort, hinein
in den Raum des Romangeschehens verlagert. Dabei wird die Perspektive des grünen
Heinrich immer wichtiger, und der Erzähler nimmt immer häufiger dessen
Betrachterstandpunkt an. Dieses von René Trautmann durch „Verengung des Blickfeldes“98
und von Karl Riha durch „Färbung des Stadtbildes“99 charakterisierte neue Erzählsituation
setzt sich entscheidend von der anfänglichen unbeeinflußten und uneingeschränkt
subjektlosen des Romananfangs ab. Riha faßt diese Entwicklung folgendermaßen zusammen:
„Die umfassenderen Möglichkeiten des Städtebildes, wie sie die Einleitung gegeben hatte,
sind beschnitten; das dort intendierte Totalbild ist hier filtriert, die größere Perspektivenfülle
auf eine Perspektive reduziert.“100 Die Kindheitserinnerungen bestimmen das Bild der Stadt,
der Orte und Plätze, die betrachtet werden. So ist das Bild der Stadt nicht mehr unmittelbar
aus dieser selbst heraus entwickelt, ein objektives, sondern durch die persönliche Einstellung
des Betrachters zu dem Gegenstand individualisiert. Die Gegenüberstellung mit der
anfänglichen Beschreibung Zürichs macht dies deutlich. Dieses in seiner Entwicklung
dargestellte Verhältnis des Erzählers zu der Hauptfigur, wird 96 Keller: Der grüne Heinrich.
S. 16. 97 Ebd. S. 17. 98 Trautmann beschreibt die Verlagerung des Betrachterstandorts hin zu
Heinrichs Perspektive in folgendem Zitat: „Hier wird die städtische Welt nicht mehr von
außen gesehen […], sondern vom Helden selbst als eine seelische Landschaft erlebt. Das führt
zu einer beträchtlichen Verengerung des Blickfeldes: die Stadt wird nur noch in einem
kleinen, durch das kindliche Gemüt verklärten Ausschnitt sichtbar.“ René Trautmann: Die
Stadt in der deutschen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts (1839-1880). S. 17. 99 Riha: Die
Beschreibung der „Großen Stadt“. S. 162. 100 Ebd. S. 164. 88 im weiteren Verlauf der
Geschichte weiter intensiviert.101 Noch einmal unterstreicht der Erzähler sein Interesse an
der Perspektive des grünen Heinrichs, indem er darauf hinweist, dass er das Kommende mit
dem Hauptcharakter zusammen „erleben“ muß: „Was er [der grüne Heinrich, d.V.] eigentlich
war und wollte, das müssen wir mit ihm selbst zuerst erfahren und erleben“102. Diese Nähe
bedeutet eine Verknüpfung des Bewußtseins von Erzähler und Heinrich. Das vom Erzähler
vermittelte Geschehen wird immer mehr aus dem Blickwinkel des am Geschehen tatsächlich
Beteiligten geschildert. Der Erzähler reflektiert diese Erzählhaltung und weist mehrfach und
ausdrücklich darauf hin: „wir [schildern] solche Dinge in der Weise, wie sie sich dem jungen
Wanderer eindrückten […].“103 Da die Wahrnehmung des grünen Heinrich zu der
konstituierenden Perspektive gemacht wird, und dem Erzähler durch die personale
Erzählsituation das Bewußtsein des Helden zugänglich ist, kann die ganze Erregung und
gespannte Erwartung vermittelt werden, die sich im Abschied von der Heimat aufbaut, sich
während der Reise steigert und in der Ankunft in der fremden Stadt ihren Höhepunkt findet.
In dem ersten Kapitel wird die Verbundenheit Heinrichs mit seiner Heimat geschildert, die
sich durch die enge Bindung an seine Mutter, ihre Fürsorge und die Vertrautheit der
Umgebung erklären. Heinrich ist noch nicht gewillt dieses aufzugeben und so kommen zum
ersten Mal Zweifel auf, was seine Reife anbelangt; er wird mehrfach als verspielt und
unerfahren dargestellt, und die geplante Reise, die ihn von dem Gewohnten trennen soll,
verdrängt er: „So spielte dieser Jüngling wie ein Kind mit der Natur und schien seine
bevorstehende, für seine kleinen Verhältnisse bedeutungsvolle Abreise ganz zu
vergessen.“104 Der Kontrast zwischen der unberührten friedlichen Welt der Heimatstadt und
der neuen Welt des Auslandes wird deutlich ab dem zweiten Kapitel in den Vordergrund
gestellt. Indem das Neue nur in seiner Wirkung auf Heinrich sichtbar wird, kommt die ganze
Verwirrung und Anspannung mit zum Ausdruck, die Heinrichs Wahrnehmung begleiten. Das
zweite Kapitel wird eingeleitet mit dem Hinweis auf das Zusammentreffen dieser beiden sich
unterscheidenden Sphären im Bewußtsein Heinrichs: die Erinnerung an die alte und die
Wahrnehmung der neuen Umgebung. 101 Der Aufbau des gesamten Romans tendiert stark zu
der personalen Erzählhaltung, die von Keller in der Ich-Perspektive der Jugendgeschichte erst
die adäquate Form bekommt. Zur weiteren Harmonisierung und Entsprechung der Form wird
die zweite Fassung des Romans, von 1878-1880, durchgehend in der Ich-Perspektive verfaßt.
102 Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. S. 24. 103 Ebd. S. 31. 104 Ebd. S. 18. 89 „Indem
eine Grundlinie der Landschaft nach der anderen sich verschob und veränderte und aus dem
heiteren Ziehen und Weben ein ganz neuer Gesichtskreis hervorging, welcher allmählich
wieder in einen neuen sich auflöste, war Heinrich, mit hellen Jugendaugen aufmerkend,
seinem Wesen zurückgegeben. Die verlassenen Mutter und Heimat bildeten wohl eine zarte
und weiche Grundlage in seinem Gemüte; doch auf ihr spielten mit ungebrochenen Farben
alle Bilder der neuen Welt, welche ihm aufging. Denn obgleich schon ziemlich die weite Welt
in leicht erfaßten Bildern seinem inneren Sinne vorbeizogen war und besonders sein
Künstlergedächtnis die Formen und Gestalten der fernsten Zonen bewahrte, so war ihm doch
jetzt die kleinste Neuheit, welche durch jede weitere Stunde Wegs gebracht wurde, das
Nächste und Wichtigste.“105 Der „neue Gesichtskreis“, den an Heinrich vorbeiziehende
Landschaften und Dörfer bilden, trifft in Heinrich mit einer „zarte[n] und weiche[n]
Grundlage in seinem Gemüte“ zusammen. Hierdurch wird das Eintreten der neuen Welt in
Heinrichs eingeschränktes und unreifes Bewußtsein als eine Konfrontation dargestellt, die
durch die Neuartigkeit der Bilder noch an Spannung gewinnt. In „ungebrochenen Farben“
bricht die neue Welt auf Heinrich ein. Und die Macht und die Stärke des Fremden und Neuen
wird angedeutet durch das Verb „spielen“; indem das Wahrgenommene auf seinem Gemüte
spielt, wird die Herrschaft des Wahrgenommenen über den Wahrnehmenden symbolisiert.
Heinrich besitzt keine Herrschaft über den Prozeß des Wahrnehmens, und wird in seiner
Wahrnehmung dem ausgeliefert, was sich durch die Erregung und Gespanntheit in seinem
Bewußtsein verzerrt abgebildet wird. Kurz nach diesem Zitat wird das erste Beispiel der
verzerrten und unbeeinflußten Wahrnehmung vorgeführt. Heinrich entfernt sich zunehmend
von seiner Heimat, und empfindet diese Veränderung verursachte Anspannung als einen Reiz:
„auch an sich selbst empfand er den Reiz eines neuen Lebens:“ Die Kutsche, in der Heinrich
reist, muß in einem Dorf halten, als eine Mädchengruppe geleitet von einem Pfarrer die Straße
überquert. Heinrich assoziiert mit diesem gewöhnlichen Vorgang eine verzerrte Vorstellung,
die aus dem Gemisch von unbekannten Reizen und innerer Anspannung resultiert: „Diese
dunkle Mädchenschar mit dem rotnasigen Pfarrer an der Spitze kam Heinrich vor wie ein
Flug gefangener Nachtigallen aus dem Morgenlande, welche ein betrunkener Vogelhändler
zum Verkauf umher führt. Der Zug schlängelte sich aber auch traumhaft genug unter dem
klaren Himmel und durch Land und Leute hin.“106 Zusammen mit dem Hinweis auf das
„traumhafte“ dieses Geschehens werden Heinrichs ersten Eindrücke dargestellt. Die innere
Anspannung ist Grund für ein angespanntes Wahrnehmungsverhalten, das sich als besonders
empfindlich für Unbekanntes und Neues 105 Ebd. S. 25. 106 Ebd. S. 31. 90 erweist. Die
Konfrontation zwischen alter und neuer Welt zeigen somit Auswirkungen auf Heinrichs
Wahrnehmungsvermögen, das die neuen Eindrücke verwandelt und verfremdet. Die Ankunft
in München und der sich unmittelbar anschließende erste Gang durch die Stadt bilden den
Höhepunkt der verfremdeten Darstellung. Vorher angedeutete Verwirrungen und seine
Neigung zu assoziativer Verkettung von wahrgenommenen und vorgestellten Bildern
bekommen in der Betrachtung der fremden Metropole ihre ausführlichste Ausprägung und
beherrschen die Beschreibung der Stadt in diesem Kapitel. Die Verengung des Blickwinkels
auf das überreizte und von den Ereignissen mitgerissene Gemüt des Grünen Heinrich führt zu
Bildern, die von Verfremdungen und Überlagerungen gekennzeichnet sind und sich am Ende
des Abschnittes bis zur Sinnestäuschung steigern. Die dichterischen Freiheiten, die dieses
personengebundene Sehen ermöglicht, werden von Keller genutzt, die Wirkung der
städtischen Lebendigkeit und des urbanen Überflusses an Eindrücken zu erhöhen. In dem sich
über die ersten drei Kapitel erstreckenden Prozeß der Veränderung von Stadtwirklichkeit,
bekommt die Gestaltung der Lichtverhältnisse eine die Hinführung auf Heinrichs Perspektive
unterstützende Funktion. Alle Stadtbeschreibungen enthalten eindeutige Hinweise zur
Tageszeit und Sonnenstand und Keller gibt damit eine eindeutige Lichtführung in seinen
Bildern vor. Dieses in der Stadtbeschreibung häufig verwendete Mittel, dient nicht zuletzt zur
Untermauerung von ästhetischen Ansprüchen, ähnlich wie die Malerei sie erhebt. Hier dient
sie allerdings der Verschleierung und Verfremdung des wahrgenommenen Gegenstandes,
weil es nicht Helligkeit und volles Sonnenlicht sind, die die München-Szene bestimmen,
sondern Dämmerung und Nacht. Heinrich kommt in der Dämmerung am Bahnhof von
München an: „[Die Sonne] näherte sich bei der Ankunft in der großen Hauptstadt, dem
Reiseziele Heinrichs, schon ihrem Untergange und vergoldete mir ihren letzten Strahlen die
weite Ebene samt der Stadt mit ihren Steinmassen und Baumwipfeln.“107 Es wird hier die
direkte Beziehung zwischen der Sonne und Heinrichs Reise hergestellt; je mehr sich Heinrich
„der großen Hauptstadt“ nähert, desto tiefer sinkt die Sonne. Während der Abschied von der
Heimat am Morgen, die Reise „unter dem klaren Himmel“ stattfindet, steht die fremde Stadt
mit dem Abend in Verbindung. Heinrich stürzt sich nach der Ankunft ungeduldig „unter das
Wogen und Treiben der Stadt.“108 Die Gebäude präsentieren sich in den letzten Strahlen der
Sonne, bevor die natürliche Beleuchtung durch die künstliche der Laternen abgelöst wird. 107
Ebd. S. 52. 108 Ebd. 91 „Da glühten im letzten Abendscheine griechische Giebelfelder und
gotische Türme; Säulen der verschiedensten Art tauchten ihre geschmückten Häupter noch in
den Rosenglanz, helle gegossene Bilder, funkelneu, schimmerten aus dem Helldunkel der
Dämmerung, indessen buntbemalte offene Hallen schon durch Laternenlicht erleuchtet waren
und von geschmückten Frauen durchwandelt wurden.“109 Im Vergleich mit der Reise, tritt
das Neue und Fremde noch einmal durch die Komplexität und die Fülle der Stadt gesteigert
vor Heinrichs Augen. Seine durch Empfindsamkeit gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit wird,
wie schon auf der Reise, schnell deutlich und begründet die zum Teil ungeordnete und
assoziative Beschreibung der Stadt. Die schon auf der Reise angedeutete Konfrontation
zwischen jugendlichem unbekümmerten Gemüt und farbenfroher ungefilterter Wirklichkeit
findet hier erst ihre volle darstellerische Entfaltung. Durch den Kontrast von friedlichem,
ruhigem und leeren Heimatort und der Lebendigkeit, Schnelligkeit, Lautstärke und Fülle der
fremden Stadt wird die Konfrontation deutlich, in der sich Heinrich befindet. Die Verwirrung,
der Heinrich so ausgesetzt wird, spiegelt sich auch in der Beschreibung der Stadt wider, die
ein von Widersprüchen geprägtes Bild überliefert. Einer Fülle von Eindrücken ausgesetzt,
vermag Heinrich diese nicht auseinanderzuhalten, und so vereinigen sich für ihn Gegensätze,
wie die sakralen und profanen Töne der Kirchen- und Wirtshausmusik: „Es herrschte ein
aufgeregtes Leben auf den Straßen und Plätzen. Aus Kirchen und mächtigen Schenkhäusern
erscholl Musik, Geläute, Orgel- und Harfenspiel.“110 Durch den Chiasmus, die umgekehrte
Reihenfolge der Geräusche bezogen auf die Kirchen und Wirtshäuser, wird die
Gegensätzlichkeit der Geräusche herausgestellt. Gleichzeitig deutet sich aber im Chiasmus
auch eine Vereinbarkeit dieser unterschiedlichen Klänge an; am Ende des Abschnitts wird das
Nebeneinander von sakraler und profaner Feststimmung in das aufgewühlte Gefüge der Stadt
integriert, und hierdurch die Antithese, durch die Aufnahme in das Bild der Stadt, über die
längst schon die Verschränkung von Gegensätzen als eins der dominierenden Momente gelegt
ist, aufgelöst: „Es war ein unendliches Gesumme überall und ein seltsamer Übergang der
katholischen Festandacht und der kirchlichen Glockentöne in die laute Lustbarkeit des
zweiten Osterabends.“111 Während Heinrichs Heimatstadt noch am Morgen des ersten
Ostertages gezeigt wurde, und die Feststimmung mit Ruhe und Harmonie einher geht, bricht
das laute und schwungvolle Gebaren einer sich in festlaune befindlichen Bevölkerung in der
neuen Stadt hervor. Die Grenzen, die in Heinrichs ländlich geprägter Heimatstadt noch von
109 Ebd. 110 Ebd. S. 52ff. 111 Ebd. S. 53. 92 strengeren religiösen Regeln gesetzt werden
und dem Menschen auch an Festtagen stille Andacht und innere Ruhe vorschreiben, sind in
dem katholisch geprägten München aufgehoben, so dass sich das Profane mit dem Sakralen
zu einer Festlichkeit verbinden kann. Der Wettbewerb, der zwischen den beiden eine
Verbindung schafft, deutet schon auf eine Beziehung hin, die dem grünen Heinrich bei seiner
Ankunft in München weniger das Unterschiedliche und mehr das Gemeinsame der beiden
Bereiche bewußt macht. So läßt sich das Übereinanderlegen und Ineinandergreifen der
musikalischen Klänge nicht nur als notwendige Folge urbaner Lebensenge begreifen, sondern
vielmehr als eine dem vom Lande kommenden unbekannte städtische Symbiose. Die
anfängliche Perspektive, die keine persönliche Anteilnahme in der Betrachtung der Stadt
verrät, ist hier umgewandelt und zu einem Blickwinkel, der die Verbundenheit des
Betrachters mit dem Geschehen in der Stadt zeigt. Heinrichs Gemütszustand drückt sich am
deutlichsten in der Beschreibung einer Fassade aus, die sich vor seinen Augen zu bewegen
beginnt. Hier findet die auf das Subjekt eingeschränkte Perspektive ihre stärkste Entfaltung,
weil vorgeführt wird, wie sich die aus der Anspannung resultierende Reizempfindlichkeit im
Beschriebenen spiegelt: Da und dort verschmelzten sich die alten Zierarten und Formen zu
neuen Erfindungen, die verschiedensten Gliederungen und Verhältnisse stritten sich und
verschwammen ineinander und lösten sich wieder auf zu neuen Versuchen; es schien, als ob
die tausendjährige Steinwelt auf ein mächtiges Zauberwort in Fluß geraten, nach einer neuen
Form gerungen hätte und über dem Ringen in einer seltsamen Mischung wieder erstarrt wäre.
Wie zum Spotte ragte tief im Hintergrunde eine kolossale alte Kirche im Jesuitenstile über
alle diese Schöpfungen empor und die tollen Schnörkel und Schlangenlinien derselben
schienen in dem schwachen Mondlichte auf und nieder zu tanzen. 112 Das Ineinanderfliessen
der verschiedenen Schnörkel und geschwungenen Linien ist nur von Heinrichs
Betrachterstandort aus begreifbar. Die Fülle der Reize, die die neue Stadt dem
Neuankömmling bietet, wird in dem ornamentiven Reichtum der Fassade versinnbildlicht und
führt zu einer Überspannung seiner Wahrnehmungskraft. So zeigt sich in der Beschreibung
der Fassade nicht primär die Ansicht eines Gebäudes, sondern die seelische Verfassung des
vor diesem stehenden Betrachters. Die innere Verfassung des grünen Heinrichs ist aus dieser
Betrachtung nicht wegzudenken, denn nur die Zurückführung der Perspektive auf seine
Person, liefert die Erklärung für das sonderbare Bild der sich verschränkenden und
bewegenden Fassade. Das Bewußtsein des Helden ist so in einer Stadtbeschreibung
offengelegt, und un- 112 Ebd. 93 trennbar mit der Ausprägung des Bildes verbunden. Die
durch einem individuellen Betrachterstandpunkt definierte Wahrnehmung, wird durch eine
lange Hinführung erklärt, indem die Anlage des Helden zu traumhaften und unwirklichen
Vorstellungen mehrmals vorgeführt wurde. Jetzt in der Dunkelheit erreicht die
individualisierte Stadtbeschreibung ihren Höhepunkt, und die Nah-Perspektive die
Vollendung ihrer erzählerischen Form. Zur Unterstützung der eingeschränkten
Wahrnehmungsform dient Keller die Lichtführung. Ein Vergleich mit der Wienbeschreibung
in Adalbert Stifters Wien und die Wiener zeigt die wesentlichen poetischen Unterschiede.
Stifters Beschreibung von Wien, vom Turme der St. Stephanskirche, beginnt
bezeichnenderweise mit dem Sonnenaufgang113. Eine gute Sicht, ein ungetrübter Blick wird
der Stadtbeschreibung zu Grunde gelegt. Wie in der Vorrede bemerkt, soll der Leser durch die
Beschreibungen wiedererkennen oder eine Vorahnung erlangen können114. Die ungefilterte
und direkt vermittelte Stadtansicht ist das Ziel dieser Beschreibungen. Der Text versucht das
Allgemeingültige und für jeden Verständliche und von jedem Wahrnehmbare darzustellen:
„Und nun, da der Tag alles ins Klare gebracht hat, lasse unsere Blicke durch dies schöne
Schauspiel wandern, ehe der Wind sich hebt, und der Staub seinen schmutzigen Schleier über
ganze Teile der Stadt, und jenen schönen Schmelz der Fernsicht legt.“115 Dieses klare Licht
begleitet die Rundschau vom Turme, so dass alles schimmert, glänzt und hell erscheint.
„Siehe, die Sonne ist unterdes heraufgestiegen, und gießt ihren Schimmer weithin und
Ausblendend über all den Schmelz und die Abenteuerlichkeit und Mannigfaltigkeit der
ungeheuren Stadt.“116 Die Nacht wird von Stifter mit den Geschichten der Menschen in
Verbindung gebracht. Die Schicksale einzelner Stadtbewohner lässt er blitzlichtartig wie an
einer Kette aufgereiht kurz erscheinen und gibt uns so ein Bild von der Innenseite der Häuser.
„Geizhälse zählten das Geld - Träume zuckten durch tausend Herzen - Wüstlinge feierten eine
Orgie - der Spieler trug das ganze Vermögen von zwei andern nach Hause.“117 Der Erzähler
beschreibt das Schicksal eines Mannes, der nachdem er Geld veruntreut hat, sich in seinem
Zimmer erschießt, während im Zimmer nebenan sein Kind und seine Frau schlafen. Die Nacht
wird mit den Geschichten der Stadtbewohner in Verbindung ge- 113 Vgl. Stifter: Wien und
die Wiener. In: Die Mappe meines Urgroßvaters. Schilderungen. Briefe. München: Winkler
1954. S. 285ff. 114 Ebd. S. 279. 115 Ebd. S. 285. 116 Ebd. S. 294. 117 Ebd. S. 297. 94
bracht. Wie in Restif de la Bretonnes Erzählzyklus Les Nuits de Paris eignet sich die Nacht
am besten für das Erzählen der dramatisch aufgeladenen Geschichten. „Welch eine Fülle,
unermeßlich reich an Freude und an Schauer liegt nicht in der Geschichte einer einzigen
Nacht einer solchen Stadt […].“118 Die Bedeutung von Tag und Nacht liegt so auch bei
Stifter in dem Unterschied zwischen Fiktion und Nichtfiktion. Je lichtloser die Stadt, desto
verwirrender stellen sich die Geschehen dar. Während der Tag der Darstellung eines
objektiven, klar umgrenzten Gegenstandes gehört, ist die Nacht der Augenblick individueller
Schicksale und einer erzählerischen, ins poetische hinübergleitenden Spannung, die sich aus
Unerklärlichem speist. Der Roman Der grüne Heinrich zeigt in der Ankunft in München einen
solchen Moment der poetischen Spannung. Das Bild der Stadt verschreibt sich einer
eigenständigen Wirklichkeit, die sich in dem Dämmerlicht verstärkt. Der Künstler bietet sich
als Mittler der Bilder an, und stellt sich als interesseloses und passives Übertragungsmedium
vor. Wenn Keller schreibt, „Was er [der grüne Heinrich] eigentlich war und wollte, das
müssen wir mit ihm selbst zuerst erfahren und erleben“ und kurz darauf, „wir [schildern]
solche Dinge in der Weise, wie sie sich dem jungen Wanderer eindrückten […]“, dann
bekommt die dargestellte Welt eine höhere Form der Realität, weil ihr Abdruck unverarbeitet
in einem naiven Gemüt sichtbar wird, das nicht im Stande und Willens ist, das Geschaute
aktiv zu reflektieren oder zu verändern. So kommt es zu einem passiven Reflex, der die
Stadtwelt als das sichtbar werden lässt, was sie im wesentlichen für den Menschen ist, das
zunächst unkontrollierte Wirken auf die Sinne. Die ordnende Funktion, die die literarische
Darstellung übernehmen könnte, indem sie Gegenstände topographisch oder historisch
zueinander in Beziehung setzt, wird hier negiert und die Vorherrschaft des Wirkens über das
Ordnen gestellt. Und je weniger die Möglichkeit besteht, Wahrgenommenes in eine kohärente
Struktur zu überführen, desto mehr kann das eigentliche Wesen der urbanen Umwelt auch im
poetischen Text hervortreten. So bildet das frische, unverbrauchte und aufnahmefähige, sich
den Eindrücken hingebende Bewußtsein die ideale Voraussetzung für die Vermittlung der
urbanen Geschehens. Baudelaire spricht deshalb in seinem Essai über Contantin Guys „Le
peintre de la vie moderne“ von dem genesenden Bewußtsein, das nach einer langen
Krankheit, neu erwacht. Der unbedarfte und unbelastete Betrachter kann sich uneingeschränkt
den Eindrücken hingeben und von ihnen leiten lassen, und es besteht nicht die Gefahr, dass
die Umwandlung des Geschauten in Kunst der Verfälschung ausgesetzt wird. So verspricht
die innere Anschauung, unreflektierende Anschauung realistischer zu sein, als das klassische
Stadttableau. 118 Ebd. S. 298. 95 Ist die Beschreibung in „Wien und die Wiener“ nicht durch
Irritation und Befremdung des Betrachters gekennzeichnet, bildet die Beschreibung
Münchens in Der grüne Heinrich eine hierzu gegensätzlichen Stil heraus. Die Form der
Chronik ermöglicht es dem Betrachter unabhängig von Einzeleindrücken, einen geordneten
Gesamteindruck von einem Gegenstand bzw. eines Aspektes der Stadt zu vermitteln und
diesen noch zusätzlich in historische, wirtschaftliche, soziale oder kunstgeschichtliche
Zusammenhänge zu stellen. Der Chronist unterscheidet sich von dem jungen, ungebildeten
Künstler darin, dass er sich nicht von seinem Gegenstand der Betrachtung überwältigen läßt,
sondern diesen durch seine ordnende und rationale Beschreibung beherrscht. Er ist im
Unterschied zu dem naiven, dilettantischen Betrachter informiert und gebildet und weiß, sich
an nützlicher und geeigneter Position für seine Stadtbetrachtung zu plazieren. Die Wahl des
Betrachterstandortes ist niemals willkürlich und erfüllt den Zweck der bestmöglichen Sicht,
d.h. des uneingeschränkten Zuganges mit der ausführlichsten und abwechslungsreichsten
Betrachtungsmöglichkeiten. Die Positionierung auf dem St. Stephansturme entspricht dem
überlegenen und beherrschenden Betrachterstandort, der auch in der Fahrt über den Zürichsee
am Romananfang des Grünen Heinrich eingenommen wird. Die Sicht auf die Stadt scheint
durch nichts eingeschränkt und von keinem Ort umfassender und ausführlicher zu sein oder
übertroffen werden zu können. Das Ende dieser Entwicklung der Einschränkung des
Stadtbildes auf einen Beobachterstandpunkt, macht der Vergleich mit dem Anfangsabschnitt,
der Fahrt über den Zürichsee, mit dem der Roman beginnt, notwendig. Der Anfang des
Romans konzentriert sich in der Stadtdarstellung noch auf das Feste, das Unveränderliche, das
Statische und auf die unverrückbaren Momente. Die Suche des Auges geht dorthin, wo auch
der Maler eines Ölgemäldes wiedererkennbare und orientierungswürdige Gegenstände fände.
Das entstehende literarische Bild ist somit den Konstituenten eines Abbildes auf der
Leinwand verpflichtet. Die Zweidimensionalität, die nur in konstruierten Fluchtpunkten eine
Tiefenperspektive vortäuscht, bleibt auch bei der Wiedergabe in Wörtern unberührt und in
Takt. Die Bewegung durch die Bootsfahrt ändert nichts an dieser Tatsache; auch die
Geräusche scheinen eher zufällig einer Liste mit zu erwartenden, typischen und gewöhnlichen
Töne und Klänge entnommen. Die Verbindung des Betrachters zu seinem Gegenstand der
Betrachtung, der Stadt, wird über das Dargestellte nicht hergestellt. Vielmehr entsteht der
Eindruck, der Betrachter fährt an einer langen Leinwand entlang, oder er lässt seinen Blick
darüberstreifen. In der Gegenüberstellung der Stadtbeschreibung von Zürich und von
München wird die Auswirkung des veränderten und auf Heinrich eingeschränkten
Blickwinkels deutlich. München gewinnt die Dreidimensio96 nalität, sie wird durchwandert,
gefühlt und erlebt, mit allen Eindrücken. So treten auch Momente der Flüchtigkeit hervor, die
im nächsten Augenblick nicht mehr erkennbar wären. Das Schnelle, Vergängliche, Lebhafte
und Augenblickverhaftete bekommt eine wichtige Bedeutung für die Beschreibung. Dies
entspricht der Vorstellung, dass der Künstler eine gesteigerte Wahrnehmung besitzt, die sich
durch eine ihre höhere Empfindsamkeit und Emotionalität auszeichnet. Heinrich Lee ist die
Möglichkeit gegeben, sich und seine Anschauung der Stadt München mit dem Leben der
Stadt in einer ganz anderen Art zu verknüpfen, als dies dem Erzähler des Romananfangs
zugestanden wird. Die Bilder die schon während der Fahrt nach München auf dem Gemüte
des jungen Mannes zu spielen anfangen, sind von einer grundlegend anderen Qualität, als die
der nüchternen, anonymen Stadtdarstellung. Die bewahrte Ordnung des anfänglichen
Stadttableaus weicht in der Münchenepisode einer losen Reihung von Eindrücken, die sich
nicht mehr zu einem auf die Topographie Münchens bezogenen klar erkennbaren Weg
zusammensetzen lassen. Der Ablauf der Fortbewegung über den Zürichsee in den Limmat,
durch die Stadt zum nächstgelegenen Nachbarort ist in der Darstellung mit erkennbaren
Ortsbezeichnung klar nachgezeichnet. Die Fortbewegung durch München folgt keiner
eindeutig erkennbaren Spur, sondern gibt nicht Orte und Gegenstände nach einem Schema der
topographischen sicheren Verankerung bekannt, sondern motiviert sich vielmehr durch ihre
Eindrucksstärke und unmittelbare Wirkung auf das Gemüt von Heinrich. Auch die
Stadtliteratur vor 1830 ist durch den Stil, in Struktur und Tonfall von der Chronik und der
Perspektive des allmächtigen Chronisten abhängig. Auch dort wo die Handlung der Fiktion
angehört (Bretonne/Lesage), bleibt innerhalb der epischen Struktur Platz, um einen
Chronisten einführen zu können und die Rolle des Erzählers übernehmen zu lassen (wie z. B.
am Anfang der Erzählung Der Newskij-Prospekt). Ein weiteres Beispiel ist Lesages Roman
Le Diable Boiteux, der den jungen Studenten Don Cleofas auf eine Stadtbesichtigung Madrids
schickt. Auf der Flucht vor Verfolgern, die ihn in seinem Liebesabenteuer stören, irrt er über
die Dächer und gelangt auf diese Weise in das geheime Labor eines Zauberers. Hier befreit er
aus einer Flasche einen Geist, der sich als Asmodée ‚Gott der Liebenden, Herrscher über die
Herzen‘ vorstellt. Der Bezug von Wahrnehmungsformen auf Darstellungsformen wird hier
wichtig. Bei Stifter herrscht Neutralität vor. Der Chronist ist nicht bemüht, sein Erlebnis zu
schildern, sondern nur das ohne Zweifel Wahrnehmbare. Bei Keller beziehen sich die
Darstellungsformen auf die Wahrnehmungsformen. Der lose Zusammenhalt zwischen
Darstellung und Wahrneh97 mung bei Stifter wird bei Keller ein wesentlicher poetischer
Bestandteil, der dem Text seine Form gibt. 7. Nervals Theater- und Kunstwelt. Die
Inszenierung des ersten Eindrucks In Nervals Werk ist das Prinzip der poetischen Eroberung
der Stadt tief verankert. Sein Betrachter erschließt sich den von ihm zum ersten mal
betretenen Raum in erster Linie über eine ausführliche Definition der Perspektive. Die von
Nerval gewählten Einstiege in die Stadtdarstellung stellen dadurch immer den Betrachter als
Person genau vor. In den Reiseschilderungen werden die Ankünfte in den verschiedenen
Städten von ihm mit besonderem Interesse geschildert. Diese Situationen dienen fast immer
dazu, einen besonderen Blickwinkel zu konstruieren. Spielt in diesen Stadtbegegnungen
immer das Erleben und die Überwindung der Fremde eine Rolle, konstruiert er auch in der
Beschreibung von Paris, in seinem Werk Les nuits d’octobre, einen besonderen Blickwinkel,
der auch hier die betrachtende Person in das Zentrum der Darstellungsmethode stellt und ihre
Verwunderung über das Entdeckte zum Ausdruck bringt. Obwohl ihm Paris bekannt ist,
begegnet er der Stadt als eine scheinbar neue Welt und stellt sie in der persönlichen
poetischen Wahrnehmung als unbekannten Raum dar. Die persönliche Erfahrungswelt und die
individuelle Wahrnehmungsebene werden zu den bestimmenden, die Darstellung
ermöglichenden Faktoren der Perspektive. Diese poetische Verschränkung stellt das
Wahrgenommene immer in Beziehung zum Betrachter und macht ihn zum Zentrum des
Stadtbildes: „Der Augenblick verschränkt für ihn das Wahrgenommene mit der
Wahrnehmung des Ich, die Schilderung mit der Meinung, das Fremde mit der Atmosphäre
seiner Assimilation.“119 Diese von Norbert Miller beobachtete Assimilation ist ein für Nerval
typisches Vorgehen im Erfahren von urbanen Räumen, das hier als eine auf den Künstler
bezogene poetische Eroberung analysiert werden soll. Nervals Beschreibung der Stadt Paris in
den 1852 erscheinenden Les Nuits d’octobre beginnt mit einer theoretischen Erörterung der
gerade populär gewordenen Strömung des ‚Realismus‘. Nerval nimmt Augenmaß an der
aufgebrochenen Diskussion zu diesem Thema, um sein ästhetisches Verständnis der Frage
nach Wirklichkeit und Imagination auszuloten. Die essayistische Form der 26 kurzen Kapitel
hat hier ihre Begründung. Nerval verschränkt poetische, beschreibend- prosaische und
reflektierend-theoretische Formen ineinander. Der noch in seinem Werk Voyages en Orient
weitestgehend eingehaltene Rahmen einer Beschreibung von räumlich 119 Norbert Miller:
„Schwebendes Erzählen. Phantasie-Stücke und Schattenrisse der Wirklichkeit.“ Nachwort in:
Gérard de Nerval: Werke in drei Bänden. Band 2. München: Winkler 1988. S. 525. 98 und
zeitlich geordnetem Ablauf der Reise, die durch die Fiktion der Märchen und Legenden schon
gelockert und unterbrochen wird, was sich in Lorely fortsetzt, findet in Les Nuits d’octobre
eine finale Auflösung. Das beschreibende Subjekt, der erzählende Reisende, ordnet sich nicht
mehr den Begebenheiten und Orten der Reise unter und zeigt Topographien, Klima,
Menschen, örtliche Kulte und Riten nur am Rande auf. In Nervals Oktobernächten finden sich
wenig Anhaltspunkte, um sich in einer dem Betrachter wie dem Leser gewohnten Umgebung
zu orientieren. Es wird vielmehr durch blitzartige Eindrücke, durch eine kontinuierliche und
ruhelose Bewegung, durch den raschen Wechsel der auftretenden Personen eine Stimmung
und Atmosphäre beschrieben, die in ihrer Vergänglichkeit deutlich macht, dass vor der
allgemein zugänglichen Oberfläche von Paris ein Netz der personengebundenen Referenzen
gespannt ist. In der Folge wird erkennbar, dass sich die zu findenden Orientierungspunkte im
städtischen Raum durch ihre primär persönliche Wahrnehmbarkeit auszeichnen. So beschreibt
der Betrachter in erster Linie Orte, die sich ihm in der Vergangenheit eingeprägt haben und
ihre poetische Gegenständlichkeit durch diesen persönlichen Eindruck gewinnen. Nerval hat
schon in der Sammlung der Reisebeschreibungen Lorely erste Ansätze eines auf den
Betrachter reduzierten Beobachterausschnittes gezeigt. Die ungefärbte und daher für die
objektive Anschauung verlässliche Perspektive eines nüchternen Reisebeschreibers, der die
Dinge für Nachreisende aufzeichnet, lehnt Nerval bewußt ab. Im Gegenzug schränkt er die
Perspektive auf eine dem Erzähler gegebene Rolle ein. Die Wirkung der Dinge auf dessen
Person stehen damit im Vordergrund der Beschreibungen. Nerval erörtert diese
Betrachtungsund Beschreibungshaltung und lässt sie vom Erzähler erörternd offenlegen. Ein
Beispiel hierfür ist die Ankunft in der Stadt Baden-Baden, die in der Beschreibung des
Erzählers in ein pastorales Ambiente getaucht und mit direkten Bezügen auf Arkadien
versehen wird. So wird die Atmosphäre der „Bohême galante“ vorweggenommen. Der
beobachtende Erzähler verweist auf den Maler Antoine Watteau, um eine subjektive
Stimmung mit der Erfahrung der Ankunft zu verbinden. Die Wiedergabe der Stimmung und
der Atmosphäre ist wichtiger als eine genaue und vom Nachreisenden leicht
wiedererkennbare Beschreibung, in der sich die Aufzählung bedeutender Gebäude der Stadt,
das Aufzeichnen einer Topographie, historische Hinweise, oder gar Hinweise zu Unterkunft
und Reisemöglichkeiten aneinanderreihen. Orientierungspunkte in Nervals Welt sind
theaterhaft verwandelte Schauplätze und ins traumhafte verwandelte Erlebnisräume von
atmosphärischer Dichte. Der Erzähler beginnt mit einer Beschreibung der Festlichkeiten und
lobt die Leichtigkeit, die Farbigkeit und die Heiterkeit der Bälle von Baden-Baden. Die Feste
von Paris grenzt er 99 von diesen ab: „Ces trois choses, beauté, lumière, harmonie, ont tant
besoin de l’air du ciel, des eaux et des feuillages, et de la sérénité de la nuit! Nos bals d’hiver
de Paris, avec la chaleur étouffée des salles, l’aspect des rues boueuses au dehors, la pluie qui
bat les fenêtres, et le froid impitoyable qui veille à la sortie, sont quelque chose d’assez
funèbre, et nos mascarades de février ne nous préparent pas mieux au Carême qu’à la
mort.“120 Der Betrachter setzt die Welt von Baden-Baden immer weiter von der
französischen Hauptstadt ab. Die Unterscheidung wird ihm immer wichtiger und er evoziert
eine traumhafte Stimmung, um dem Leser zu suggerieren, Nichts in Baden-Baden sei
wirklich, sondern alles ein Theaterstück. Schon beim Betreten der Stadt, hat er sich eine
Eintrittskarte gekauft: „Prenez vos billets d’entrée au salon de conversation“121, ruft er aus.
Von diesem Zeitpunkt an ist er bereit, die Stadt wie eine Theatervorstellung zu betrachten. Er
vergleicht das Ausehen der Stadt mit dem Bühnenbild einer pastoralen Oper. „[…] cette
décoration merveilleuse qui semble être la scène arrangée d’une pastorale d’opéra.“122 Und
er nimmt Platz auf einer Bank vor dem Kurorchester, wo die Sonnenstrahlen die
Bühnenbeleuchtung sind, von Gott ‘sorgfältig’ angezündet. So steigert er sich langsam immer
weiter in die Rolle des Theaterbesuchers hinein und nimmt seine Position so ernst, dass er
alles in Baden-Baden für künstlich erklärt: „Car, à vrai dire, et c’est là l’impression dont on
est saisi tout d’abord, toute cette nature a l’air artificiel. Ces arbres sont découpés, ces
maisons sont peintes, ces montagnes sont de vastes toiles tendues sur châssis, le long
desquelles les villageois descendent par des praticables, et l’on cherche sur le ciel de fond si
quelque tache d’huile ne va pas trahir enfin la main humaine et dissiper l’illusion.“123 Die
Illusion läßt sich nur durch den Abbau der Kulisse beenden: durch das Aufrollen des Rasens
wie bei einen Teppich, durch das Verstauen der Bäume in einem Lager und durch das
Abhängen der Sonne vom Himmel. In der Begegnung mit dem Stadtteil Lichtenthal, vermutet
der Erzähler den Großherzog von Baden als Arrangeur hinter einer künstlichen Szenerie. Das
Bild, das ihn an die Bilder von Watteau und an die Idyllen von Geßner erinnert, ist in seiner
pastoralen Stimmung so perfekt, dass es nur arrangiert sein kann, mit dem Ziel, eine
Theaterillusion („illusion scénique“) herzustellen. „Tenez, […] nous n’échapperons pas aux
impressions du livre et du théâtre, et toute notre consolation sera de croire que nous n’avons
ici que de la pastorale arrangée après 120 Gérard de Nerval: Lorely. In ders.: OEuvres
complètes. Band 3. Paris: Gallimard 1993. S. 31. 121 Ebd. S. 28. 122 Ebd. 123 Nerval:
Lorely. S. 28ff. 100 coup, que le grand-duc de Bade est un habile directeur qui a machiné tout
son pays, comme nous disions hier, dans le but d’une illusion scénique, et qui s’est formé, en
outre, une population de comparses pour animer la ville et la contrée. Voyez déjà la campagne
se garnir d’une foule riante et bigarrée; ces costumes ne sortent-ils pas des magasins de
l’Opéra-Comique?“124 So werden die Bewohner und Besucher von Baden-Baden zu
Schauspielern und Komparsen in einem Theaterstück, das den ganzen Tag und die ganze
Nacht lang aufgeführt wird. Der Betrachter ist der einzige Zuschauer. Wegen der
angenommenen Rolle des Theaterbesuchers, weiß er um die Künstlichkeit, die von den
Schönheit und Harmonie des Ortes abhängt. Alles taucht vor seinen Augen in dieses Licht der
Festlichkeit und des Spiels. Die Entrückung ist ein geschätztes Beschreibungsmoment von
Nerval. Immer wieder hebt er seine aus der Illusion heraus konstruierten Landschaften von
den langweiligen und trockenen Beschreibungen entzauberter Orte ab. Die Verschleierung
Baden-Badens durch die Herstellung einer Theaterillusion, die Anlehnung an die pastorale
Welt der Kunst, der Literatur und der Oper, hebt den Ort in eine Idealität, der ihn zum
Gegenpart einer häßlichen, lauten und kalten Umgebung der Großstadt macht. Unabhängig
von dem Grad wirklicher Idylle im Kurort, bekommt die Idealisierung ihre entscheidende
Gestalt erst durch das Herauslösen des Betrachters aus einer gewohnten
Beschreibungshaltung des Reisenden. Sein Spiel mit Realität und Illusion, seine sich in eine
Kunstwelt versetzende Betrachterposition macht die poetische Entrückung möglich, der der
Erzähler seine persönliche Perspektive auf die Außenwelt verdankt. Diese Entrückung, die in
der Beschreibung von Baden-Baden eher in einem Anfangsstadium steht, nimmt im Laufe der
Schaffenszeit von Nerval zu und bekommt in seinem Spätwerk die deutlichste Ausprägung.
Dabei ist immer die Entrückung der äußeren Umgebung in eine illusionsbeladene und durch
eigene Erinnerungsstücke verklärte Welt, der Weg des Betrachters zu sich selber. Nervals
Betrachter öffnet und gestaltet den Blick nach Innen mit der gleichen Vehemenz wie den
Blick nach Außen. Beide Blickachsen hängen in Nervals poetischer Gedankenwelt
miteinander zusammen, und auf dieser in zwei Richtungen laufenden Achse entsteht die
Perspektive auf die Stadt. Nerval gibt in seinem Werk zahlreiche Hinweise für sein poetisches
Wahrnehmungs- und Darstellungsverhalten. Die Entrückung des Beschriebenen in eine Welt
der Vorstellungen und 124 Zitat aus dem ursprünglichen Fassung des Artikels „Les Eaux de
de Baden-Baden“ in La Presse. 26. Juli 1840. Dieser Artikel wurde für die Fassungen nach
1846 von Nerval gekürzt. Vgl. „Notes et variantes.“ In: Nerval: OEuvres complètes. Band 3.
S. 983. 101 Assoziation findet in der Weise statt, dass der Betrachter seine Funktion offen
darlegt und seine Methode in dem Beschreibungstext mit darstellt. So findet sich z. B. in dem
Werk Lorely in der Durchwanderung von Straßburg der Vergleich von Theater und Stadt. Das
Betrachterverhalten ist wie in Baden-Baden rein kontemplativer Natur: „Je fais ici une
tournée de flâneur et non des descriptions régulières. Pardonnez-moi de rendre compte de
Strasbourg comme d’un vaudeville. Je n’ai ici nulle mission artistique ou littéraire, je
n’inspecte pas les monuments, je n’étudie aucun système pénitentiaire, je ne me livre à
aucune considération d’histoire ni de statistique, et je regrette seulement de n’être pas arrivé à
Strasbourg dans la saison du jambon, de la Sauerkraut et du foie gras. Je me refuse donc à
toute description de la cathédrale: chacun en connaît les gravures, et quant à moi, jamais un
monument dont j’ai vu la gravure ne me surprend à voir.“125 Der Betrachter von Straßburg
macht deutlich, dass er nicht den gewohnten Weg durch die Stadt wählt, der die ‘üblichen
Beschreibungen’ (descriptions régulières) vermittelt. Sein Gang durch die Stadt ist auch in
Straßbourg der Betrachtung eines Theaterstücks angenähert. Bekannte Monumente, die
Geschichte, die Statistik über Einwohner und Wirtschaft bleiben in der Beschreibung außen
vor. Die künstliche Welt scheint realer, als die wirkliche Welt. Der Stich der Kathedrale ist
dem Betrachter so viel wert wie der wirkliche Anblick. Auf der Fortsetzung der Reise, bei der
Ankunft in Brüssel, bedauert der Betrachter, dass die Schauspieler noch nicht durch
Automaten ausgewechselt worden sind126. Die Wirklichkeit der Stadt scheint nur als Kulisse
einer Theaterwelt vorstellbar. Auch München in der Reiseschilderung Voyage en Orient wird
als eine Opernbühne bezeichnet:„[…] alors aussi on n’improvisait pas en dix ans une capitale
qui semble une décoration d’opéra prête à s’abîmer au coup de sifflet du machiniste.“ 127 Die
Anmerkungen von Nervals Betrachter zielen immer wieder darauf, sich von der gewöhnlichen
Form der Reisebeschreibung abzusetzen. In der Voyage en Orient geht der reisende
Betrachter nur beiläufig auf eins der Verkehrsmittel ein, deren Aufzählen eigentlich zentraler
Bestandteil einer klassischen Reisedarstellung ist: „Si le journal naïf d’un voyageur
enthousiaste a quelque intérêt pour qui risque de le devenir, apprends que, de Bourg à
Genève, il n‘ y a pas de voitures directes.“128 Der Hinweis auf den Reiseweg und das
gewählte Reisegefährt ist hier zufällig. Im Vordergrund steht der ‘voyageur enthousiaste‘, der
sich mit den vielen Eindrücken und Empfindungen der Reise beschäftigt, sein eigenes Subjekt
in den Mittelpunkt stellt, und 125 Nerval: Lorely. S. 15ff. 126 Vgl. Ebd. S. 190. 127 Nerval:
Voyage en Orient. In Ders.: OEuvres complètes. Band 2. S. 200. 128 Ebd. S. 176. 102 deshalb
wenig Interesse an den objektiven Bedingungen der Fortbewegung hat. Ereignisse auf dem
Weg sind von gleichgroßem Interesse wie die Betrachtung des Zielortes. Zielgerichtetes
Vorankommen ist nicht die vorherrschende Absicht des ‘voyageur enthousiaste’. Er nimmt
Hindernisse und Umwege billigend in Kauf: „Tu ne m’as pas encore demandé où je vais: le
sais-je moi-même? Je vais tâcher de voir des pays que je n’aie pas vus; et puis, dans cette
saison, l’on n’a guère le choix des routes; il faut prendre celle que la neige, l’inondation ou les
voleurs n’ont pas envahie. Les récits d’inondation sont, jusqu’ici, les plus terribles.“129 Der
Betrachter erwähnt die Hindernisse, die den Weg versperren könnten, um zu verdeutlichen,
dass diese die Reise nicht behindern, sondern nur in der Richtung bestimmen. Das reale Ziel
der Reise verliert an Wichtigkeit. Nervals Reisender kann sich von dem realen Untergrund der
Wege lösen. In den Autoren Dassoucy, René Lepays und Cyrano de Bergerac sieht Nerval die
wahren Vorgänger und Vorbilder seines Reisenden. Hier hat er die sich zu großen Teilen auf
die Vorstellung stützende Reisebeschreibung kennengelernt: „À une époque où l’on voyageait
fort peu, faute de bateaux à vapeur, de chemins de fer, de chemins ferrés, et même de simples
chemins, il y eut des littérateurs, tels que d’Assoucy, Lepays et Cyrano de Bergerac, qui
mirent à la mode les voyages dits fabuleux.“130 So werden die in Lorely und Voyages in
Orient beschriebenen Reisen in den Zusammenhang der imaginierten Reisen gestellt. Wie
schon beim Grenzübertritt in Kehl, in Lorely, sieht der reisende Betrachter das zu besuchende
Territorium als ein Land der Imagination an. Diese während der Ankunft in der Stadt BadenBaden verwendete Entrückung wiederholt sich in der Stadt Konstanz. Im Gegensatz zu
Baden-Baden wird hier der schöne Schein durch das Betreten der Stadt enttarnt. Aus der
Entfernung entsteht noch das Bild einer in der Landschaft eingebetteten und vom Licht
verzauberten Stadt. In der Ankunft zerfällt das Bild der idyllischen Stadt, das der Betrachter
von nun an nur noch in seiner Imagination mit sich tragen kann. Aus diesem Grund, um sein
in der Vorstellung bewahrtes Bild nicht zu überdecken, verlässt er fluchtartig die Stadt. „Tu
me demanderas pourquoi je ne m’arrête pas un jour de plus à Constance, afin de voir la
cathédrale, la salle du concile, la place où fut brûlé Jan Huss, et tant d’autres curio- 129 Ebd.
S. 178. 130 Ebd. S. 193. Cyrano de Bergerac hat mit seinem Werk L’Autre Monde, les États
et Empires de la Lune tatsächlich eine phantastische Reise unternommen. Die Werke von
Dassoucy (Aventures, von 1677) und Lepays (Amitiés, Amours et Amourettes, von 1664 und
Nouvelles OEuvres, von 1674) beschreiben nicht auf diese Art vorgestellte Reisen. Dasoucy
ist bekannt für seine lebendigen und bunten Reisebeschreibungen und Lepays beschrieb in
seinen Werken nur vereinzelt Reisen, die aber nicht in imaginierte Länder führten sondern in
galante Landschaften. Vgl. Anmerkungen Nerval: OEuvres complètes. Band 2. S. 1404ff. 103
sités historiques que notre Anglais de la table d’hôte avait admirées à loisir. C’est qu’en vérité
je voudrais ne pas gâter davantage Constance dans mon imagination. Je t’ai dit comment, en
descendant des gorges de montagnes du canton de Zurich, couvertes d’épaisses forêts, je
l’avais aperçue de loin, par un beau coucher de soleil, au milieu de ses vastes campagnes
inondées de rayons rougeâtres, bordant son lac et son fleuve comme une Stamboul
d’Occident; je t’ai dit aussi combien, en approchant, on trouvait ensuite la ville elle-même
indigne de sa renommée et de sa situation merveilleuse. J’ai cherché, je l’avoue, cette
cathédrale bleuâtre, ces places aux maisons sculptées, ces rues bizarres et conturnées, et tout
ce Moyen Âge pitoresque dont l’avaient douée poétiquement nos décorateurs d’opéra; eh
bien ! tout cela n’était que rêve et qu’invention: à la place de Constance, imaginons Pontoise,
et nous voilà davantage dans le vrai.“131 Mit dem Vorwurf konfrontiert, die Stadt zu schnell
verlassen zu haben132, um etwas sehen zu können, antwortet der Betrachter, dass sein Sehen
sich einer anderen Aufgabe verschrieben habe. Der Betrachter stellt die Erfahrung der
Wirklichkeit als einen Verlust der Erinnerung dar. Die in der Kindheit durch die Lektüre,
durch das Betrachten von Bildern und durch Träume gewonnenen Eindrücke stellt Nerval
über die neuen, frischen Impressionen: „Aussi bien, c’est une impression douloureuse, à
mesure qu’on va plus loin, de perdre, ville à ville et pays à pays, tout ce bel univers qu’on
s’est créé jeune, par les lectures, par les tableaux et par les rêves. Le monde qui se compose
ainsi dans la tête des enfants est si riche et si beau, qu’on ne sait s’il est le résultat exagéré
d’idées apprises, ou si c’est un ressouvenir d’une existence antérieure et la géographie
magique d’une planète inconnue. Si admirables que soient certains aspects et certaines
contrées, il n’en est point dont l’imagination s’étonne complètement, et qui lui présentent
quelque chose de stupéfiant et d’inouï. Je fais exception à l’égard des touristes anglais, qui
semblent n’avoir jamais rien vu ni rien imaginé.“133 Die Erinnerung an die imaginierten
Städte geht durch den Besuch jeder neuen Stadt verloren. Die Wahrnehmung der realen Orte
bezeichnet Nerval als Verlust der imaginierten Orte. Für den Betrachter ist die Vermittlung
eines Eindrucks der Stadt, sprachlich und bildlich, wichtiger als die tatsächliche Begegnung
mit einem Ort. Er stellt die Vorstellungskraft als wichtigste Komponente über alle anderen
seines Abbildverfahrens. Die Rolle des Dichters wird so in das Wahrnehmungs- und
Abbildverfahren des Reisenden integriert. Der Betrachter weist wiederholt auf den hohen
Anteil Imagination hin, den er in den Vorgang des Betrachtens miteinfließen lässt. Bereits im
Moment der Wahrnehmung des Neuen spürt er eine Entrückung aus der Realität des
besuchten Ortes. Nerval legt hier sein poetisches Prinzip der perspektivischen Eroberung
fremder Räume offen, das seine Rolle als schöpferischer Mensch mi- 131 Nerval: Voyage en
Orient. S. 188ff. 132 „Mais vous avez passé trop vite ! mais vous n’avez rien vu !“ Ebd. S.
189. 133 Ebd. 104 teinbezieht, und damit deutlich wird, dass er nicht als Chronist die Orte
bereist, sondern als Künstler, der von den Eindrücken geleitet in eine Welt der Fiktion
ausweichen kann. Die realen Städte dienen als Quelle für Eindrücke, die in ihrer
Zusammenführung, Ausweitung und Beziehung den Künstler in eine Welt der Assoziationen
hinübergleiten lässt. Das in Lorely und in Voyage en Orient verwendete Nachzeichnen des
Eindrucks einer Reiseerfahrung, die assoziative Betrachterrolle, die Konstruktion einer
Schwelle am Stadteingang, alle diese Methoden führen in Nervals Werk Les Nuits d’octobre
zu einer Übersteigerung, die die Künstlichkeit und die Fiktionalität des literarischen
Beschreibungsvorgangs immer mehr in den Vordergrund stellt. Der Ich-Erzähler der
Geschichte stellt im ersten Kapitel mittels eines Sinnbildes das charakteristische Merkmal
dieses Werkes vor. Auf die schon veröffentlichten Reisebeschreibung Voyage en Orient und
Lorely verweist Nerval, um in Anlehnung an diese Reisen auf die neue Perspektive
aufmerksam zu machen. Der Anfangssatz der Oktobernächte lautet: „Avec le temps, la
passion des grands voyages s’éteint, à moins qu’on n’ait voyagé assez longtemps pour devenir
étranger à sa patrie. Le cercle se rétrécit de plus en plus, se rapprochant peu à peu du foyer. Ne pouvant m’éloigner beaucoup cet automne, j’avais formé le projet d’un simple voyage à
Meaux.“134 Zwar gibt Nerval als sein neues Reiseziel Meaux an, eine Stadt 60 km östlich
von Paris gelegen, doch wird in dem zitierten Satz eine Möglichkeit angedeutet, die sich im
Verlauf seiner Wanderung immer mehr bewahrheiten soll. Die Entfernung seiner Reisen, die
seit der Fahrt in den Mittleren Osten abgenommen hat, verkleinert den Kreis, in dem die Ziele
liegen soweit, dass am Ende nur noch das Umkreis der eigenen vier Wände übrig bleibt.
Metaphorisch wird in diesem wichtigen Anfangssatz angedeutet, dass der Betrachter für die
folgende Reise seine Wohnung gar nicht verläßt. Nicht ein in Entfernungen messbarer Raum
wird zum wesentlichen Bestandteil der Geschichte und Beschreibungen, sondern ein von
diesen Kategorien losgelöster, ein vorgestellter Raum, der zuvorderst an die Person des
Betrachters gebunden ist. Der Kreis taucht in dieser Zeit immer wieder als Symbol in den
Äußerungen Nervals auf. Der Kreis steht auch als Bild für eine Krankheit, von der sich Nerval
durch das Schreiben befreien will. In einem Brief beschreibt er diese Krankheit als eine
Gefangenschaft in einem Kreis: „Ce que j’écris en ce moment tourne trop dans un cercle
restreint. Je me nourris de ma propre substance et ne me renouvelle pas.“135 In seinem Werk
äußert sich dieses biographische 134 Nerval: Les Nuits d’octobre. In Ders.: OEuvres
complètes. Band 3. S. 313. 135 Nerval in einem Brief an Georges Bell, Anfang Dezember
1853. Nerval: OEuvres complètes. Band 105 Bekenntnis in der poetischen Darstellung der
äußeren Welt. Die in den Oktobernächten beschriebene Wanderung ist geformt und
komponiert wie eine Reise in der Vorstellungswelt. Der Weg durch Paris wird von dem
erzählenden Betrachter auf verschiedene Arten aufgelöst. Die örtlichen Bezugspunkte bleiben
in ihrem literarischen Aufbau ungeordnet. Das Verlassen der Stadt ist in der Aufteilung der
Überschriften nicht berücksichtigt. „Paris“ ist als Überschrift dem Werk vorangestellt und
bleibt auch über den Kapiteln stehen, in denen das Geschehen in den Kleinstädten Meaux und
Pantin beschrieben wird. Nerval gibt seiner Schilderung zwar den Anschein von realer
Fortbewegung, indem er Bahnhöfe, Umsteigeplätze, Zugabfahrtszeiten und Busverbindungen
beschreibt und Gebäude und geographische Merkmale erwähnt, diese werden allerdings
überlagert von einer erzählerischen Ebene, auf der sich die Vorstellungswelt des reisenden
Betrachters weit ausdehnt. Die topographische Fixierung der Reise wird auf der einen Seite
ermöglicht, auf der anderen Seite deren Aussagekraft aber verringert, da die Angaben zu
diesen real bestimmbaren Orten nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die eigentliche Reise
der Nuits d’octobre findet im Inneren, in der Vorstellungswelt des Erzählers statt, die sich
über die Bedingungen der Beschreibung einer realen Fortbewegung hinwegsetzt und mehr
den Gesetzen der poetischen Schöpfung unterliegt. Der Dichter, der sein Zimmer nicht verläßt
und dort seine Erlebnisse in der Zusammenschau mit seinen Erinnerungen, seiner
Vorstellungskraft und seinen Träumen aufschreibt, ist durch diese Perspektivierung in dem
gesamten Werk der Nuits d’octobre die bestimmende Instanz. So erobert sich der Dichter das
Paris seiner Vorstellungen und verlässt mit großen Schritten den Weg des anonymen,
traditionellen Beobachters. 8. Hawthornes Roman The Marble Faun. Die Erschließung der
Stadt durch die Kunst Hawthorne begegnet in seinem Roman The Marble Faun. (or The
Romance of Monte Beni) (1860) mit seiner Romdarstellung den Idealen der realistischen
Abbildung der Stadt. Seine Geschichte setzt sich nicht zum Ziel, die gegebenen aktuellen
Ereignisse Italiens darzustellen, ei- 3. S. 834. Siehe auch die Erläuterung zu dem Bild des sich
verengenden Kreises von Pichois/ Brix: „Le cercle se rétrécit, distance et création
confondues.“ Claude Pichois/ Michel Brix: Gérard de Nerval. Paris: Fayard 1995. S. 326. Und
die Anmerkung von Claude Pichois in Ebd. S. 15ff. Nerval schreibt in einem Brief: „Une fois
débarrassé de ces inquiétudes, je sortirai, selon le conseil d’Antony, de cette disposition à
n’écrire que des impressions personnelles, qui vient de ce que je tourne dans un cercle étroit.
On me dira ce qu’il faut que j’écrive et ma santé littéraire reparaîtra, ainsi que l’autre, et vous
fera le même honneur.“ Brief an den Doktor Blanche, den 10. Dezember 1853. Ebd. S. 836.
106 ne geschichtliche Situationsstudie anzufertigen oder einen Zeitroman zu entwerfen. Von
diesen Vorsätzen sagt er sich schon im Vorwort los. Zwar ist der Roman auf seinen
persönlichen Eindrücken von Rom aufgebaut, wie er selber offenlegt, aber zeittypisches
Geschehen oder Verhalten wird von der allgegenwärtigen Referenz auf die Geschichte und
der ‘phantasiereichen Handlung’ an den Rand gedrückt. Dieses Vorgehen, das den gesamten
Roman prägt, wird im Vorwort schon angekündigt. „This Romance was sketched out during a
residence of considerable length in Italy, and has been re-written and prepared for the press, in
England. The author proposed to himself merely to write a fanciful story, evolving a
thoughtful moral, and did not purpose attempting a portraiture of Italian manners and
character.“136 In den im Vorwort geäußerten konzeptuellen Fragen kündigen sich inhaltliche
Themen des Romans an. Denn Hawthorne überträgt die Fragen nach den Methoden der
Stadtdarstellung auf die Handlung. Für die handelnden Personen wird der Widerstreit
zwischen Realität und Phantasie ein vorherrschendes Sujet im Roman. Kein anderer Ort
scheint sich besser für die dramatische Auseinandersetzung zwischen diesen Gegensätzen,
zwischen Kunst und Leben, zu eignen als die Stadt Rom. Das Gesicht, das Hawthorne dieser
Stadt gibt und dem sich der Erzähler verpflichtet, ist das eines Ortes von überzeitlichen
Dimensionen, in dem sich die Personen in mythisch und fiktional aufgeladenen Räumen
zurecht finden müssen. Ihre Verlorenheit, speziell die von Miriam in der Mitte des Romans,
hängt mit dieser Entrückung der römischen Umgebung zusammen. So verschränkt sich das
Bild von Rom mit den persönlichen Entwicklungen der handelnden Personen. Die Stadt
gewinnt ihr Gesicht durch die Entdeckungsbemühnungen der drei Künstler. Dass sie mit ihren
Versuchen der Aufdeckung der Geheimnisse der Stadt am Ende scheitern, verhindert nicht,
dass es Hawthorne gelingt, ein einheitliches Bild von Rom darzustellen. Die Verwicklung
seiner Protagonisten in die Stadtdarstellung stellt die Frage nach dem Verfahren der
poetischen Eroberung. Die Darstellung der Stadt hängt eng mit der Wahrnehmung der
Protagonisten zusammen. Auch ihr Künstlerdasein verstärkt die von Hawthorne benutzte
Darstellungsmethode. Die Künstlichkeit ihrer Umwelt reflektieren die Personen und bilden
einen Zusammenhang zwischen ihrer Rolle als Künstler und ihrer Wahrnehmung des
Lebensumfeldes. Der Beginn des Romans verschränkt bereits die Sphäre der Kunst mit der
ihres Lebensumfeldes. Die vier Hauptfiguren, die drei Künstler und ihr italienischer Freund
Donatello, kommen mit dem traumhaften und phantasiebeladenen Zustand, den Rom
vermittelt, gleich zu Beginn 136 Hawthorne: The Marble Faun. In: Collected Novels. New
York: Library of America 1983. S. 854. 107 des Romans in Berührung. Die Präsenz von
Unwirklichem (unrealities) und schattenhaften Wesen bewegt von Anfang an ihre Gemüter.
Die Verschränkung von Kunstwelt und Gegenwart gehört zu den immer wieder
aufkommenden Konflikten in der Handlung. Der Roman beginnt mit der Betrachtung der
Faun-Skulptur von Praxiteles in den vatikanischen Museen. Die drei Künstler, Miriam,
Kenyon und Hilda stellen eine weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Aussehen
Donatellos und der Statue fest. So findet der Roman bereits in seinem Anfang zum
Hauptthema: Der Übergang vom Leben in die Kunst. Die Aufhebung der Grenzen zwischen
der Kunstwelt Roms und dem realen Geschehen führt die Personen immer tiefer in die
Geheimnisse der ewigen Stadt. Die Unterscheidung von Wirklichkeit und Kunstwelt wird
dabei aufgehoben. Rom stellt sich wiederholt als die Stadt dar, die in ihrer Konzentration von
Geschichte, Kunst und vergangenem Leben, das gegenwärtige Leben an die Seite drängt. Der
Erzähler macht auf diese Verdrängung aufmerksam. Er bezeichnet das persönliche Leben in
Rom als nur halbwirklich, als flüchtig und als vorgestellt: „We glance hastily at these things –
at this bright sky, and those blue, distant mountains, and at the ruins, Etruscan, Roman,
Christian, venerable with a threefold antiquity, and at the company of world-famous statues in
the saloon – in the hope of putting the reader into that state of feeling which is experienced
oftenest at Rome. It is a vague sense of ponderous remembrances; a perception of such weight
and density in a by-gone life, of which the spot was the centre, that the present moment is
pressed down or crowded out, and our individual affairs and interests are but half as real, here,
as elsewhere. Viewed through this medium, our narrative – into which are woven some airy
and unsubstantial threads, intermixed with others, twisted out of the commonest stuff of
human existence – may seem not widely different from the texture of all our lives. Side by
side with the massiveness of the Roman Past, all matters, that we handle or dream of, now-adays, look evanescent and visionary alike.“137 Die Stadtdarstellung beruht laut Erzähler auf
der Erfahrung von Kunst und vergangenem Leben, so dass durch die Schwere dieser
Entwicklungen die persönlichen Belange bei Seite gedrängt werden. Betrachtet durch dieses
‘Medium’, wie er es nennt, wird das Erzählen des Lebens ein vollkommen anderes und hebt
sich von dem gewöhnlichen ‘Muster’ alltäglichen Lebens ab. Die Funktion der Protagonisten
für die Entwicklung der Perspektive auf das Geschehen wird dadurch ersichtlich. Das
Schicksal der Stadt ‘verwebt’ sich mit dem individuellen Schicksal und spinnt so den Faden
der Handlung. Für Haw-thorne erschließt sich der städtische Raum in der Verschränkung mit
der Perspektive der Hauptfiguren. Dass sie für die poetische Erschließung, für die unwirkliche
Begegnung mit einer Stadt wie Rom, geeignet sind, 137 Ebd. S. 857ff. 108 sieht er in ihrem
Künstlerdasein begründet. Keine andere Figur sei für die Atmosphäre in dieser Stadt
empfänglicher als die Künstler. Dies wiederholt Hawthorne immer wieder.

o

Die Aufspaltung der Wirklichkeit in eine schon vorhandene, gegebene und in eine geschaute,
personengebundene Wirklichkeit macht ein Ordnungsprinzip notwendig, das die beiden
Sphären zu einander in Beziehung setzt. Im epischen Text übernimmt diese Aufgabe die
Erzählperspektive, d. h. die Verknüpfung des Geschauten, Erlebten und Gefühlten mit einer
bestimmten Person, oder der Erzählstimme. Auffällig ist der Versuch, im Laufe des 19.
Jahrhunderts die Zuweisung der Stadtbilder immer personengebundener vorzunehmen, also
mit handelnden Figuren zu verknüpfen. Das Verhältnis von geschauter und gegebener
Wirklichkeit wird in dieser Perspektive statuiert und durch den poetischen Aufbau zu
einander in Beziehung gesetzt. Oft birgt die Handlung Strukturelemente dieser
perspektivischen Ordnung, wird also der epische Ablauf zum Leitsystem des Betrachtens der
Stadt. Dass dieses Prinzip sich in bestimmten Motiven wiederholt, beweist seine ästhetische
Tragfähigkeit für den Roman. Ein Beispiel ist die Bewegung auf die Stadt zu und die erste
Begegnung, die mit einem noch unverbrauchten Gemüt und noch empfindlichen Sinnesnerven
stattfindet. Wie auf eine frische Gravurplatte ritzen sich hier die ersten Eindrücke ein, die in
der Stadt auf das unvorbereitete Bewusstsein treffen. Der Romananfang des Grünen Heinrich
führt dieses Zusammentreffen der beiden Wirklichkeiten an einem noch jungen und naiven
Künstler vor. Eine ähnliche Begegnung findet sich ebenfalls in der Erzählung Der NewskijProspekt. Eine grundlegende Frage, die bei Keller und Balzac auftaucht, ist die nach dem
Leben des Künstlers in einer Umwelt, die er nicht bestimmen, vorhersagen oder beeinflussen
kann. Die Erkenntnis des Verlustes von Beherrschung der Umwelt ist in beiden Romanen mit
dem Übertritt von der Heimatstadt in eine Metropole größeren Ausmaßes gekoppelt.
Geschieht in der Beschreibung des jungen Künstlers in seiner Heimatstadt noch alles nach
seinen Wünschen und Vorstellungen – das einfachste und in seiner Naivität bezeichnende und
auf die Natur beziehende, gleichzeitig metaphorische Beispiel in Kellers Roman ist das
Fließenlassen des Blattes von Quelle zum Brunnen – bekommt er in der fremden Stadt das
Unvorhersehbare, Unkontrollierbare und Ereignisse fern natürlicher Kausalität zu sehen und
zu spüren. In beiden Romanen steht die Familie – die Mutter in Kellers Roman oder der
Mutterersatz Madame Bargeton in Balzacs Roman – nicht nur für Geborgenheit, sondern
vielmehr für eine behüten109 de und bekannte Umwelt. Die dörfliche Struktur bricht nicht
mit diesen Vorgaben, sondern bildet eine Entsprechung. Den Übergang von Land und
Heimatort in die Stadt schildern beide Autoren in erster Linie, als ein Erleben der
Verkleinerung und der Bewusstwerdung der eigenen Geringfügigkeit. Keller drückt dies
sinnbildlich in der Szene aus, in welcher der König Heinrich die Mütze vom Kopf schlägt.
Balzac läßt Lucien seine Bedeutungslosigkeit gegenüber der Gesamtheit und
Unübersichtlichkeit von Paris bereits bei der Ankunft spüren. Diese Ankunftsszenen sind seit
dem 18. Jahrhundert bekannt und werden in verschiedenen Erzählzusammenhängen variiert.
Auch der Student Anselmus ist in E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Goldene Topf“ beim
betreten von Dresden in dieser Beziehung überfordert. Die Schwierigkeit des Künstlers
zwischen zwei sich ausschließenden, und sich polar entgegengesetzten Sphären zu
unterscheiden, wird in der Literatur der Romantik zu einem immer wiederkehrenden Thema.
Das zwischen Traum und Wirklichkeit Hin- und Hergerissen-Sein, ist in verschiedenen
Novellen dargestellt. Dieses Thema verbindet sich mit dem Thema Stadt. Hier findet der
Verlust der Wirklichkeit am spürbarsten statt. Die Komplexität der Stadt ist nicht mehr mit
rationalen Mitteln zu begegnen und verleitet den Künstler, andere Wirklichkeiten für sich
aufzubauen als die vordergründigen. Für die meisten Protagonisten findet dieser Übergang
unbemerkt statt. Die Traumwelt hat dadurch die gleichen Konstitution und Zusammensetzung
wie die Wirklichkeit. Eine Unterscheidung kann nicht mehr stattzufinden. Die Künstlerfigur
dient im besonderen Maße für die Entstehung der modernen Motive der Stadt. Der Vorgang
des Beschreibens wird durch diese Figur erst zu einem künstlerischen Prozeß und der
Künstlerroman und die Künstlererzählung können dies besonders deutlich machen. Die
Künstlerfigur wird in einem besonderen Umfang in die Auseinandersetzung mit der
Außenwelt verwickelt und begleitet hierdurch den erzählerischen Prozeß der poetischen
Sichtbarwerdung der Stadt. Es wird durch diese Figur ermöglicht, den erzählerischen Prozeß
mit einem menschlichen Bewußtsein zu durchdringen und gleichzeitig die gestalterische
Spannung zu erhöhen, um neue poetische Bilder in dem Moment ihrer Entstehung zu zeigen.
Die Wahrnehmungsvorgänge sind daher erst durch die Figur des Künstlers mit den Fragen der
Darstellung sinnvoll verbindbar. II – DIE VERZAUBERUNG DER STADT. DAS
KÜNSTLERFEST UND DIE KUNSTSTADT 1. Das Hoffest in der urbanen Welt Der
wichtigste Auftraggeber des Künstlers in der Geschichte ist lange Zeit, neben den sakralen
Bestellern, der Hof. Von diesem hängt über Jahrhunderte die gesellschaftliche Funktion des
Künstlers ab. Seine vielseitige Integration in die täglichen Abläufe der Herrscherhäuser
werden auch in der Literatur dargestellt. Auch hier erscheint das Hoffest häufig als wichtigste
Aufgabe der künstlerischen Repräsentationsverpflichtungen. Auch wenn sich die Monarchien
im Laufe der Geschichte stark verwandeln, bleibt das Hoffest ein fester Bestandteil der
königlichen und fürstlichen Gepflogenheiten. Die nicht immer spannungslose Beziehung, die
Künstler und Herrscher dabei führen, macht insbesondere E.T.A. Hoffmann in seinem
Künstlerroman Die Lebensansichten des Katers Murr (1820) deutlich. Die Schilderung der
Aufgabe des Meister Abraham und des Musikkapellmeisters Kreisler am Hofe des Fürsten
Irenäus in Hoffmanns Roman macht die gesellschaftliche Aufgabe des Künstlers an einem
Hofe eines deutschen Kleinstaates am Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich. Hoffmann richtet
seinen Blick nicht nur auf den Kapellmeister Kreisler, als die eigentliche zentrale
Künstlerfigur im Roman, sondern auch auf dessen Freund den Meister Abraham, der eine
besondere Stellung am Hofe besitzt. Meister Abraham, in dessen Hand die Gestaltung eines
Hoffestes liegt, wird als der „Maître de Plaisir des Irenäusschen Hofes und ironische[r]
Schwarzkünstler“1 bezeichnet. In seiner Hand laufen die Fäden der Festgestaltung zusammen,
und er wird auf diese Weise das „belebende Prinzip der Hofmaschine“2. Sein Talent wurde
bereits vom Vater des jetzigen Fürsten entdeckt. Meister Abraham befriedigte bereits dessen
Hang nach „Abenteuerlichen, Seltsamen, Geheimnisvollen“3. Denn der Vorgänger des
Fürsten Irenäus „fand aber bald, daß Meister Abrahams magische Kraft vorzüglich sich darin
bewähre, einen gewissen bösen Geist zu beschwören, der sich an kleinen Höfen nur gar zu
gern einnistet, nämlich den 1 E.T.A. Hoffmann: Werke. Band 3. Frankfurt/M: Insel 1967. S.
158. 2 Ebd. S. 162. 3 Ebd. S. 159. 111 Höllengeist der Langenweile.“4 Die Aufgabe des
Künstlers am Hofe ist, das wird hier von Hoffmann in dem historischen Rückblick
unterstrichen, in den verschiedenen Kunstgattungen zu unterhalten. Das Hoffest entwickelt
sich so zu einer eigenen Kunstart, die die vielen einzelnen – mehr oder weniger künstlerischen
– Ausdrucksformen mit einschließt: Theater, Malerei, Feuerwerk, Musik, Mode und die
Skulptur. Die Festgestaltung unterliegt dem grundsätzlichen Wunsch nach Verkleidung und
Maskerade. So fügen sich die Bewohner der Residenzstadt dem Willen des Hofes, legen
Kostüme an und spielen die ihnen zugetragenen Rollen. Das Fest bekommt dadurch den
Charakter eines im Hofpark aufgeführten Theaterstücks. Die Funktion des Künstlers für das
Hoffest und seine Bedeutung für den Ablauf unterstreichen in Hoffmanns Roman die
Bedeutung des Hofes für die gesellschaftliche Rolle des Künstlers am Anfang des 19.
Jahrhunderts. Da die Hofkultur in der europäischen historischen Entwicklung immer mehr in
Stadtkultur aufgeht, verändert sich auch das gesellschaftliche Umfeld für den Künstler. Mit
dem Umzug der Höfe in die Städte oder mit dem Anwachsen der kleineren Residenzstädte zu
größeren Städten verändert sich das gesellschaftliche Zusammenspiel und die Ausgangslage
für die Künstler5. Aus den Hoffesten entwickeln sich auf diese Weise im 19. Jahrhundert die
Künstlerfeste. Die Darstellung des Übergangs kann in der Literatur verfolgt werden. Dabei
unterscheidet sich die Erzählung des künstlerischen Lebens in den verschiedenen Städten
noch von einander und ist auch von dem jeweiligen Entwicklungsstand der Loslösung
abhängig. In den Städten München und St. Petersburg ist die Hofkultur in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts noch sehr stark ausgeprägt, während in Paris bereits die ausführliche
Umwälzung der Herrscherverhältnisse zu einer Auflösung dieser Kultur geführt hat. In der
literarischen Darstellung des Künstlerlebens ist dieser Stadt-Unterschied deutlich erkennbar.
So werden bei Puschkin, z. B. in der Erzählung Ägyptische Nächte, die Künstler noch als
Diener einer höheren Gesellschaft dargestellt. Gogol übernimmt dieses Darstellungsmuster
und wandelt es nur in soweit ab, als dass er die Abhängigkeit des Künstlers von der
Gesellschaft auf Umwegen beschreibt. Deutlich sind in seinen Erzählungen die Hierarchien
der Pe- 4 Ebd. S. 161ff. 5 Siehe hierzu Arnold Hauser: „Philipp von Orléans verlegt die
Residenz von Versailles nach Paris, was im Grunde die Auflösung des Hofes bedeutet.
[…]Die ‘Stadt’ beschränkt sich nicht mehr auf ein Dasein neben dem ‘Hof’, sie verdrängt den
Hof und übernimmt seine Kulturfunktionen. Der melancholische Ausruf der Pfalzgräfin
Elisabeth Charlotte, der Mutter des Regenten, ‘Es gibt keinen Hof mehr in Frankreich!’
entspricht durchaus den Tatsachen. […] Largillière malt bereits mit Vorliebe die Bourgeosie
und nicht mehr den Hofadel wie seine Vorgänger; er lebt in Paris, nicht in Versailles, und
bringt auch damit den Sieg der ‘Stadt’ über den ‘Hof’ zum Ausdruck.“ Arnold Hauser:
Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. München: Beck 1953. S. 6ff. 112 tersburger
Gesellschaft dargestellt und in der Erzählung Der Mantel wird der russische Zarenhof an der
Spitze dieser Hierarchie besonders leicht erkennbar. Die Rolle des Usurpators übernimmt hier
stellvertretend die Figur der ‚höheren Persönlichkeit‘, die zwar vage definiert wird, aber noch
ausreichend erkennbar ist. Die Rolle des Hofes in München ist in Der grüne Heinrich
ebenfalls von Bedeutung. Gleich bei der Ankunft in der bayrischen Residenzstadt macht
Heinrich in der Szene der nächtlichen Begegnung mit dem König seine erste Erfahrung mit
dem Hof. Diese Erfahrung setzt sich während des Münchenaufenthaltes weiter fort. In Paris
sind in der Zeit der Romantik die Künstlerfeste zwar unabhängig von einem höfischen
Rahmen, dennoch machen die romantischen Dichter in ihren Werken gerne Gebrauch von der
historischen Überlieferung höfischer Feste und ihrer Kulissen. Zum Teil gelingt es ihnen, alte
Gebäude und deren Architektur zum Zwecke des Schaffens von Authentizität zu benutzen
und die Atmosphäre vergangener Zeiten wiederaufleben zu lassen. Die Künstlerkreise in Paris
haben sich zwar auf von Institutionen unabhängige Festformen verständigt, und diese
Unabhängigkeit wird an allen Ecken und Enden zelebriert, dennoch hält Nerval in seiner
Schilderung des Dichterlebens im Abbruchviertel des Carrousel du Louvre an den alten,
vorgegebenen Festtraditionen des 16. Jahrhunderts und deren Schilderung im Werk von
Ronsard fest. 2. Die Pariser Romantiker und ihr Kunstfest Im Gegensatz zu einem
öffentlichen Fest grenzt sich das Künstlerfest in der französischen Romantik von dem übrigen
Stadtgeschehen ab. Die topographische Festlegung, die die Künstlerfeste in O’Neddys Werk
Feu et Flammes (1833), Gautiers Le club des hachichins (1846) oder Nervals La Bohême
galante (1852) erfahren, unterstützt eine aus der Mitte der Gesellschaft entrückte Perspektive
auf die Stadt. Durch die Verortung des Künstlerfestes an bestimmter Stelle innerhalb der Stadt
drückt sich zwar ein Gefühl des Stolzes und der Faszination für die kulturellen
Errungenschaften und Ansammlungen der Stadt aus, aber der Ausdruck der Geringschätzung
über Philistertum, soziale Ungerechtigkeit und urbane Prunksucht verbindet sich schnell mit
den Auswüchsen moderner urbaner Entwicklungen. Die Stadt ist den Künstlern insbesondere
dort fremd, wo sie nicht der Kunst dient. Die Entstehung der Kunstwelt, die Inszenierung
einer eigenen, von der Alltäglichkeit abgelösten Welt, hat die Abgrenzung von den
verachteten Teilen des städtischen Geschehens zur Folge. So stehen häufig die
Geschlossenheit, die Zurückgezogenheit und die Suche nach Geheimhaltung im Vordergrund
der 113 Schilderung der romantischen Künstlerzusammenkunft. In den Darstellungen spielen
selbst die öffentlichen Kunstinstitutionen keine Rolle. Vielmehr dient die Tradition und die
Überlieferung alter Hoffeste den Künstlern zur Erschaffung ihrer Kulisse. So schließt sich
Nerval in seinen Schilderungen den Festformen der Renaissance an, wie er sie in Ronsards
Beschreibungen gefunden hat. Das Hotel Pimodan 1845 In dem urbanen Gefüge von Paris
gibt es zahlreiche Möglichkeiten, aus der Gegenwart des 19. Jahrhunderts herauszutreten. Die
an vielen Orten präsenten historischen Gebäude bieten einen der Wege, sich einen
Zufluchtsort abseits des gewöhnlichen Betriebes der Stadt zu suchen. Hier finden besonders
viele der Künstlerzusammenkünfte und Künstlerfeste in der Zeit der Romantik statt. Der in
den 40er Jahren begonnene, später von Haussmann in den 50er und 60er Jahren in großem
Umfang fortgeführte Umbau der Stadt prägt das Gefühl für die neue urbane Zeit. Breitere
Straßen, repräsentativere Fassaden, bessere Verkehrsmöglichkeiten und größere Plätze sind
Ziel der Regierungen und ihrer Stadtplaner in dieser Zeit. Ganze Viertel verändern ihr
Aussehen grundlegend. Für das Quartier um die neue Oper von dem Architekten Garnier wird
nicht nur Platz für das Gebäude selber geschaffen, sondern auch für die breiten auf sie
zuführenden neuen Boulevards. Die daraus resultierende Veränderung, der Abriß der
bestehenden Gebäude, wird von dem Photographen Charles Marville dokumentiert (Abb.1)6.
Auf den Photographien von Marville wird deutlich, wie tiefgreifend diese Veränderungen für
das Gesicht von Paris in dieser Zeit sind und welchen Einfluss auf das Orientierungsvermögen
der Bewohner diese urbane Neuordnung haben muss, denn das neue Aussehen der
französischen Hauptstadt wird von pragmatischen Gründen geprägt. Weniger stehen
ästhetische oder kulturhistorische Motive im Vordergrund. In Paris entsteht ein Stil des neuen
bürgerlichen Repräsentationsstrebens – dem sich auch die Herrscher Louis-Philippe und
Napoleon III. anschließen –, von dessen Erschaffung sich die überwiegende Zahl der Künstler
ausgeschlossen fühlt. So bekommen Stadtviertel, die sich dieser Neuordnung entziehen oder
entgegensetzen, eine besondere Rolle in der Darstellung künstlerischer Entfaltung. Ein
Beispiel ist die Île St-Louis. Die Seine bildet eine natürliche Grenze für die Bewohner dieses
Viertels. Von den Umbaumaßnahmen des 19. Jahrhunderts weitestgehend verschont, 6
Marville wird 1858 von Haussmann und der Stadt Paris beauftragt, die Neugestaltung der
Stadt mit Photographien zu dokumentieren. Er führt diese Tätigkeit 20 Jahre lang durch. Für
die Dokumentation der Bautätigkeit im Viertel rund um die Opéra-Garnier siehe Marie de
Thézy: Marville. Paris. Paris: Hazan 1994. S. 444ff. 114 überleben hier viele historische
Gebäude. Théophile Gautier bewohnt hier zusammen mit Charles Baudelaire und dem Maler
Beauvoir 1845 das Hôtel Pimodan7. Für Gautiers Geschichte Le club des hachichins sind das
Gebäude und die Ereignisse dieser Zeit Vorlage. Gautier geht in der Erzählung eingehend auf
die topographische Lage des Hotels ein. Die geographische Situation auf der Insel St-Louis
unterstützt den geheimnisvollen Charakter der Zusammenkunft, die hier dargestellt wird. Die
Abgrenzung der Teilnehmer von der Öffentlichkeit wird mit der topographischen Struktur der
Stadt in Verbindung gebracht. Der Erzähler der Geschichte erhält zunächst eine
geheimnisvolle Einladung mit der Aufforderung, sich zur Abendzeit in dem 1656 erbauten
Adelssitz einzufinden. „Un soir de décembre, obéissant à une convocation mystérieuse,
rédigée en termes énigmatiques compris des affiliés, inintelligibles pour d’autres, j’arrivai
dans un quartier lointain, espèce d’oasis de solitude au milieu de Paris, que le fleuve, en
l’entourant de ses deux bras, semble défendre contre les empiétements de la civilisation, car
c’était dans une vieille maison de l’île Saint-Louis, l’hôtel Pimodan, bâti par Lazun, que le
club bizarre dont je faisais partie depuis peu tenait ses séances mensuelles, où j’allais assister
pour la première fois. Quoiqu’il fût à peine six heures, la nuit était noire.“8 Die Lage des
Hotels im Gesamtplan der Stadt, die Abgeschiedenheit des Hauses auf der Île St-Louis, wird
dargelegt, um das Herauslösen des Ortes aus dem Gesamtplan der Stadt zu exemplifizieren
und damit den Abspaltungsvorgang zu dramatisieren. Die Darlegung der Topographie spricht
eine eigene, poetische Sprache, die die Suche der Künstlerversammlung nach Schutz („oasis
de solitude“) vor den Beeinträchtigungen der Zivilisation („empiétements de la civilisation“)
verdeutlicht. Im Inneren des Hotels setzt sich die ortsgebundene Dramaturgie fort. Die
Beschreibung des Weges in den Saal der Zusammenkunft inszeniert den Übergang vom
öffentlichen in den privaten Raum. Der beschriebene Weg führt über einen Hinterhof und eine
große Treppe, aus der Zeit Ludwig XIV., in den Saal der Zusammenkunft. Hier scheint sich
das Innerste eines geheimen Ortes zu befinden, so wie ein Tempel des ranghöchsten Gottes in
der Mitte einer heiligen Stadt. Gautier inszeniert den Aufstieg in den Saal über die große
Treppe, die zu einer halb phantastischen, halb realen Kulisse ausgebaut wird. Da sich auf der
Veranstaltung dem Erzähler nach der Einnahme von Haschisch Traumbilder und
phantastische Ereignisse vor Augen stellen, ist der Übergang von der Pariser Realität in den
Raum der Phantasie von großer 7 Das Hôtel Pimodan, auch Hôtel Lauzun genannt, liegt am
Quai d’Anjou Nr. 17 auf der Ile St- Louis. 8 Théophile Gautier: Le club de Hachichins. In:
OEuvres. Hrsg.: P. Tortonese. Paris: 1995. S. 731. 115 Bedeutung. Der Moment des Wechsels
zwischen den beiden entgegengesetzten Sphären wird von Gautier dazu benutzt, die
Grundlage seines poetischen Verfahrens zu verdeutlichen. Diese sieht in der vorhandenen
Gegenstandswelt lediglich den Ausgangspunkt für das phantastische Geschehen: „La réalité
ne servait que de point de départ aux magnificences de l’hallucination.“9 Der Zusammenhang
von Realität und Phantasie ist damit wichtiges Element für den erzählerischen Ablauf der
Verfremdung. Damit wird die Beschreibung des Weges, die genaue Darlegung der
Topographie, zu einem Schlüssel für den Zugang in die innere Welt des sich dem Rausch
aussetzenden Protagonisten. Die Bewegung durch die nächtliche Stadt, hin zu der verlassenen
Straße auf der Île Saint-Louis, hinein in das bezeichnete Haus, über den Hinterhof, das
Treppenhaus hinauf, in den stillen Saal beschreibt den Ort der Zusammenkunft als etwas
Entrücktes, das nur wenigen bekannt ist. Diese Bewegung macht eine innere Entwicklung
deutlich, die durch die poetische Ausbreitung die Entfaltung einer persönlichen
Ausdruckswelt vollzieht. Dass sich das Haus außerhalb der gewöhnlichen Zeitordnung
befindet, wird mehrmals betont: „Le temps, qui passe si vite, semblait n’avoir pas coulé sur
cette maison, et, comme une pendule qu’on a oublié de remonter, son aiguille marquait
toujours la même date.“10 Durch die Abgelegenheit, durch das Betreten eines isolierten
Raumes und durch das Anhalten der äußerlich ablaufenden Zeit wird die persönliche und
biographische Umwelt erzählerisch erschlossen. Wichtigstes Mittel für das Anhalten der Zeit
und die Flucht sind die Drogen11. Sie versetzen die Teilnehmer in eine Welt, die sie von den
langweiligen und störenden Mitbewohnern der Stadt befreit und ihren eigenen Lebensstil
ermöglicht. So erfüllen die Künstler in den Augen des Erzählers ihre Rolle als Bürgerschreck
hervorragend: „Un honnête philistin eût éprouvé quelque frayeur à la vue de ces convives
chevelus, barbus, moustachus, ou tondus d’une façon singulière, brandissant des dagues du
XVIe siècle, des kriss malais, des navajas, et courbés sur des nourritures auxquelles les reflets
des lampes vacillantes prêtaient des apparences suspectes.“12 Die Abgeschiedenheit der
Versammlung, das Ablegen der gewöhnlichen Sitten, das Verlassen der alltäglichen Rituale
wird zur Voraussetzung dafür, dass im Rausch die phantastischen Bilder an dem Erzähler
vorbeiziehen. Die erlebte Traumwelt setzt sich aus Licht und Schatten zusam- 9 Ebd. S. 736.
10 Ebd. S. 732. 11 An den Treffen von Gautier, Baudelaire und den anderen Künstlern nimmt
auch der Arzt und Psychiater Jacques-Joseph Moreau de Tours teil und versorgt die Gruppe
mit Haschisch. 1845 schreibt er das Buch mit dem Titel Du hachich et de l’aliénation mentale.
12 Théophile Gautier: Le club de Hachichins. S. 735. 116 men, mythische und literarische
Figuren ziehen an ihm vorbei und er erlebt 30 Opern in zehn Minuten. Diese Entrückung des
Künstlers aus der prosaischen Alltäglichkeit stellt ebenso Gérard de Nerval in seinen Werken
dar, die das Leben im Louvreviertel schildern. Das Künstlerleben im Louvreviertel 1834-1836
Balzac beschreibt im Kapitel „Le Louvre“ seines Romans La Cousine Bette (1846), das zum
Abbruch freigegebene Viertel auf dem carrousel de Louvre, in dem von November 1834 bis
1836 die Künstler Nerval, Gautier, Houssaye und ihre Freunde in alten herrschaftlichen
Häusern leben: „Ce ne sera certes pas un hors-d’hoeuvre que de décrire ce coin du Paris
actuel, plus tard on ne pourrait pas l’imaginer; et nos neveux, qui verront sans doute le Louvre
achevé, se refuseraient à croire qu’une pareille barbarie ait subsisté pendant trente-six ans, au
coeur de Paris, en face du palais où trois dynasties ont reçu, pendant ces dernières trentesix
années, l’élite de la France et celle de l’Europe.“13 Das Viertel ist Teil der um den
historischen Kern des Louvre herum gebauten Stadt. Mit der Erweiterung des Louvre im 19.
Jahrhundert, die eine über die Grande Galerie hinausgehende Verbindung von
Tuilerienschloss und Louvre beinhalten soll, müssen die Häuser auf dem Carrousel entfernt
werden(Abb.2)14. Der Abriss des Viertels, der 1834 bereits begonnen hat, ist Ende der 40er
Jahre vollzogen. Im Jahre 1848, erscheint die Erinnerung von einem der Bewohner dieses
Viertels. Théophile Gautier veröffentlicht in einem Artikel über Prosper Mérimée die
Schilderung der Ereignisse aus seiner Sicht: „Quelques temps après la révolution de juillet,
vers 1833 à peu près, une petite colonie d’artistes, un campement de bohèmes pittoresques et
littéraires menait une existence de Robinson Crusoé, non dans l’île de Juan Fernandez, mais
au beau milieu de Paris, à la face de la monarchie constitutionnelle et bourgeoise, à cet angle
du Carrousel laissé en 13 Honoré de Balzac: La Cousine Bette. Paris: Garnier 1962. S. 48. 14
In der Mitte der Abbildung ist die Grande Galerie entlang der Seine zu sehen, auf deren Dach
(bzw. im Eckpavillion de Flore) der Betrachterstandort gewählt ist. Am linken Bildrand ist
das Tuilerienschloss, am anderen Ende der Grande Galerie, im Rechten Winkel zur Seine,
verläuft der Westflügel des Hauptteils des Louvre, der sich um den Cour Carée bildet.
Zwischen diesen drei Gebäudeteilen liegt das Doyenné Viertel. Die Häuser dieses Viertels
müssen abgerissen werden, weil die Grande Galerie entlang der rue de Rivoli eine dem
symetrischen Gesamtplan verschriebene Entsprechung erhalten und so der Platz zwischen
Tuilerienschloss und Hauptteil geschlossen werden soll. Unter Napoleon I. wird der Ausbau
entlang der rue de Rivoli begonnen und 1811 fertiggestellt. Dieser Teil, der Nordflügel, ist, im
Rechten Winkel auf das Tuilerienschloss zulaufend, am linken oberen Bildrand zu erkennen.
Wenn Balzac auf die 36 Jahre hinweist, die die Häuser auf dem Carrousel überlebt haben,
dann bezieht er sich auf die Zeitspanne, die zwischen der Fertigstellung des letzten
Bauabschnittes und der Handlung seiner Geschichte liegt. Die Arbeiten am Ausbau des
Louvre werden von Napoleon III. 1852 wieder aufgenommen. 117 dehors de la circulation
comme ces places stagnantes des fleuves où ni courans ni remous ne se font sentir. C’est un
endroit singulier que celui-là: à deux pas du roulement tumultueux des voitures, vous tombez
tout à coup dans une oasis de solitude et de silence. La rue de Doyenné se croise avec
l’impasse du même nom et s’enfonce au-dessous du niveau général de la place par une pente
assez rapide; l’impasse se termine par une espèce de terrain fermé assez peu exactement d’une
clôture de planches à bateaux noircies par le temps.“15 Im Gegensatz zu Balzac, der eine
Atmosphäre der Rebellion und der Opposition über dem Viertel erkennen lässt, hebt Gautier
eher die Stille und die Abgeschiedenheit des Ortes hervor. Wie das Hotel de Pimodan ist der
Aufenthalt in der impasse de Doyenné von Einsamkeit und Schutz vor den lauten Einflüssen
der Stadt geprägt. Die Künstler sind wie einsame Inselbewohner durch Bauzäune selbst von
dem über den place de Carrousel führenden Verkehr geschützt. Der Verfall des Viertels, die
Ruinen, die hier stehen, führen zu der Charakterisierung ‚wild‘ und ‚düster‘ („ce lieu sauvage
et sinistre“16). Die verlassenen Gebäude verbreiten eine trostlose Stimmung, und die Zeit
scheint an diesem Ort angehalten worden zu sein: „On dirait que ces pauvres logis ont la
conscience de l’arrêt que pèse sur eux, tant leur physionomie est morose.“17 Und wie Balzac
verweist Gautier auf eine Besonderheit des Ortes; die Verlassenheit und der äußerliche Zerfall
bilden einen merkwürdigen Kontrast zu der in unmittelbarer Nähe befindlichen
repräsentativen Herrschaftsarchitektur des Louvre. Balzac hebt den Gegensatz noch hervor; er
weist auf den Louvre als traditionellen Sitz der französischen Monarchie hin und hebt
hierdurch die Bedeutungslosigkeit des Viertels noch hervor. Gautier verweist ebenfalls auf die
auch im 19. Jahrhundert weiterhin bestehende Funktion des Louvre für die französische
Herrschaft Louis Philippes, der im Tuilerienschloss residiert. Die Nähe ist für ihn allerdings
nicht von dem dramatischen Kontrast begleitet, den Balzac in ihm sieht. Im Gegensatz zu
Gautiers Erinnerungen richten die Schilderungen von Nerval das Augenmerk nicht so stark
auf den Verfall und die fehlende Zukunft des Viertels, als vielmehr auf die prunkvolle
Vergangenheit. Nervals Schilderung der Erlebnisse in der rue de doyenné erscheinen 1852
unter dem Titel La Bohême galante in der von dem Mitbewohner Houssaye geleiteten
Zeitschrift L’Artiste. Die Beschreibung des Künstlerlebens dieser Zeit ist ein Rückblick auf
jene Zeit, in der er mit seinen Freunden in den vom Abriss bedrohten Häuser wohnt. Auch
Nerval beschreibt die besondere Topographie des Ortes; das von ihnen bewohnte Haus 15
Théophile Gautier: „Marilhat.“ In: Reveu des deux Mondes. 1 Juli. 1948. S. 56. 16 Ebd. S. 56.
17 Ebd. S. 56ff. 118 liegt mitten im Viertel (Siehe Abb. 3). 17 Jahre später, als Nerval die
Erinnerungen schreibt, sind die Häuser bereits abgerissen, und der Raum für den großen von
Tuilerienschloss und Louvre eingerahmten, von Napoleon III. fertig gestellten, Innenhof
geschaffen. Auch Nerval schmückt seine Erzählung mit Einzelheiten aus, die sich aus der
besonderen Topographie diese Ortes und der historischen Pariser Stadtentwicklung ergeben.
Im Gegensatz zu Balzac und Gautier wird von Nerval auf die üppige Ausstattung der Häuser
hingewiesen. Die Nähe zum französischen Hof hat in diesem Viertel zu einer dem Stand der
dort Angestellten entsprechenden Einrichtung der Häuser geführt, die die Künstler 1834 zum
Teil noch vorfinden. Rocailleverzierungen an den Wänden und Türen, weitläufige Räume und
Wandgemälde gehören in der Schilderung von Nerval zu dem Bild der Künstlerbehausungen.
So spricht er auch nicht von ‚maisons‘, wie Gautier und Balzac sondern von dem Palais, in
dem sie wohnen. Der Blick auf die Ruine der Kirche Saint-Thomas du Louvre und auf die
Fassade des Louvre, Möbel aus der Zeit Ludwig des XIII., Bilder von Watteau im Original
und in Kopie, dies alles fügt sich zu einem Bild Pariser Vergangenheit zusammen. Die Welt
des Künstlers setzt sich in Nervals Schilderungen aus den Relikten der Geschichte zusammen.
Die topographische Festlegung in Paris dient nicht dazu, das Künstlerleben in der
Auseinandersetzung mit der Pariser Gesellschaft zu zeigen, sondern enthebt den Künstler
vielmehr durch die Vergänglichkeit des Ortes dieser Aufgabe. Nervals Versuch, den Künstler
aus einer sozialen Vernetzung herauszulösen, führt ihn dem Mikrokosmos einer in der
eigenen Welt versunkenen Künstlerszene zu. So nutzt Nerval die Besonderheit des Ortes zu
einer Isolation des Künstlers aus seiner Umwelt, zu einer Überführung des Künstlers in eine
von Alltäglichkeit entrückte Welt. Trotz der Festlegung des Ortes bekommt die gegenwärtige
Stadt keine bestimmende Rolle in dieser Erzählung. Besonders deutlich wird diese
Entrückung aus dem aktuellen urbanen Umfeld bei der Betrachtung von Nervals Umgang mit
dem ‚Boheme‘ Begriff, den er in dem Titel seiner Erzählung zitiert. Der Boheme-Komplex Im
Titel La Bohême galante kommen verschiedene Bedeutungen des ‚Boheme‘ Begriffs zum
tragen. Der Gebrauch des Begriffs zur Bezeichnung einer Gruppe von Künstlern, die sich in
vielseitiger Form vom konventionellen Lebensstil lossagen, entwickelt sich in der Zeit, die
zwischen dem Wohnen in dem Abbruchviertel und dem Veröffentlichen der Geschichte liegt,
also zwischen 1834 und 1852. Im 18. Jahrhundert und am Anfang des 19. Jahrhunderts wird
der Ausdruck „vie de bohème“ noch dazu genutzt, um ein ungeordnetes, wildes und freies
119 Leben zu bezeichnen, ohne dass dabei eine bestimmte Menschengruppe gemeint ist. Die
Erwähnung der Künstler im Zusammenhang mit diesem Ausdruck geschieht am Anfang eher
beiläufig. So ist z. B. in Balzacs Roman Une fille d’Ève von 1838 ein direkter
Zusammenhang des Terminus „vie de bohème“ mit der Künstlerschaft noch nicht etabliert
und die Identifizierung der Gruppe der Künstler als ‘Bohème’ fehlt noch18. Im Laufe der Zeit
verknüpft sich der Ausdruck aber immer stärker mit dem Lebensstil einer bestimmten Schicht,
in der die Künstler eine immer wichtigere Rolle übernehmen. 1840 bezeichnet Balzac in
seiner Heinrich Heine gewidmeten Geschichte Un prince de la bohème eine junge,
heranwachsende, ehrgeizige, ein bestimmtes Viertel von Paris bevölkernde Gruppe als
‘bohème’: „La bohème, qu’il faudrait appeler la Doctrine du boulevard des Italiens, se
compose de jeunes gens tous âgés de plus de vingt ans, mais qui n’en ont pas trente, tous
hommes de génie dans leur genre, peu connus encore, mais qui se feront connaître, et qui
seront alors des gens fort distingués; […] On y rencontre des écrivains, des administrateurs,
des militaires, des journalistes, des artistes!“19 Die Künstler und Schriftsteller sind zwar unter
dieser Gruppe, aber noch nicht an erster Stelle mit dem Begriff gemeint. Erst in der Mitte der
vierziger Jahre setzt sich die Bedeutung im Sinne der Bezeichnung von Künstlern fest. In
Balzacs Roman La Cousine Bette, von 1846, ist die Einschränkung auf die Künstler
erkennbar. Ihre historische, noch heute andauernde Prägung bekommt der Boheme-Komplex
in den Feuilletongeschichten des bis dahin erfolglosen Schriftstellers Henry Murger, der unter
dem Titel „Scènes de la bohème“ in der Zeitschrift Le Corsaire-Satan von 1845 bis 1849 die
Geschichten von Schaunard, Rudolph und ihren Freunden veröffentlicht. Die künstlerische
Erfolglosigkeit und die damit zusammenhängende Misere bestimmen in erster Linie diese
Geschichten. Es ist nicht so sehr die Antibürgerlichkeit, die später mit dem Begriff in
Verbindung gebracht wird, die den Geschichten den Stempel aufdrücken, denn die
Hauptpersonen stammen aus bürgerlichem Milieu und kehren am Ende der Geschichte
dorthin auch wieder zurück. Auch ist die Handlung eng mit der die Helden umgebenden
bürgerlichen Schicht verzahnt. Vom Onkel, über den Vermieter bis hin zum Ladenbesitzer
erscheinen verschiedene Vertreter kleinbürgerlicher Kreise. So bildet die Boheme in Murgers
Werk eher einen romantisch verklärten Freiraum innerhalb der bürgerlichen 18 Siehe Honoré
de Balzac: Une fille d’Ève. In La Comédie humaine. Band 2. Hrsg.: Pierre-Georges Castex,
Paris: Éditions Gallimard 1976 Seite. 319,“Quoique la vie de la Bohème se déployât chez elle
dans tout son désordre“. Siehe auch die Verwendung der Redewendungen “la vie
bohémienne“ und “cette vie débraillée, bohémienne“ ein paar Seiten weiter. Ebd. S. 319 und
321. 19 Honoré de Balzac: Un Prince de la bohème. In: La Comédie humaine. Band 7. Hrsg.:
Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard 1977. S. 808. 120 Klasse. Der Erfolg von Murgers
Geschichten, der sich in dem ab 1849 im Théâtre des Variétés jahrelang gespielten
Theateradaption und zahlreichen Auflagen der Buchpublikation ausdrückt, belegt die Affinität
des bürgerlichen Publikums von Paris für diese verklärende Sicht auf den Künstler20. Als
Nerval 1852 seine Bohême galante veröffentlicht, geschieht dies auf dem Höhepunkt des
Boheme-Erfolges und zum Zeitpunkt der größten Verbreitung des Murgerschen
Bohemeverständnisses. Nerval wird nicht zuletzt wegen Murgers Erfolg von Arsène
Houssaye, dem Hauptredakteur und Herausgeber der Zeitschrift L’Artiste und selbst 1834/36
Mitbewohner in der Impasse de doyenné, darum gebeten worden sein, etwas zu diesem
Themenkomplex für L’Artiste zu verfassen. Nervals Gebrauch des Bohemebegriffes spiegelt
allerdings ein gegensätzliches Verständnis von Künstlerschaft in Paris wider. Dies macht sich
bereits in der Schreibweise des Begriffs bemerkbar. Die von Houssaye gewählte und durch
Murger eingebürgerte Schreibweise des Titels mit „bohème“ lässt Nerval in „Bohême
galante“ ändern21. Nerval macht in der leicht geänderten Buchpublikation seine Schreibweise
wiederholt geltend; als Titel des im Januar 1853 veröffentlichten Buches wählt Nerval Petits
châteaux de Bohême. So wird bereits in den beiden Titeln deutlich, dass es Nerval nicht um
die Erweiterung des durch Murger verbreiteten ‚bohème‘-Kanons und dessen Verständnis des
Begriffes geht. Nervals Verständnis stützt sich vielmehr auf die vielschichtige Entstehung des
Bohemebegriffs, die sich mit seiner eigenen schicksalhaften Biographie verschränkt. In
Frankreich entsteht die Bezeichnung einer unordentlichen Lebensführung oder einer
unüberschaubaren Situation als „vie de bohème“ durch die seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts verwendeten Vergleich mit dem ‘Zigeunerleben’. Da die Zigeuner (bohémiens)
wiederum ihren Namen im Französischen von dem Land Böhmen (Bohême) – wo ihre
Herkunft vermutet wurde – ableiten, ist der Rückgriff auf dieses Land in der Redewendung
„vie de bohème“ mit enthalten. Nerval kann nicht umhin, den etymologischen Weg der
Begriffsentstehung, der sich mit einer literarischen Komponente vereint, zurückzuverfolgen,
da dies auch einen Weg zurück zu den Anfängen seines schriftstellerischen Werkes und
darüber hinaus zu den Verwicklungen seines eigenen Schicksal bedeutet. In dem Titel der
zweiten Veröffentlichung, Petits châteaux de Bohême, ist der zentralen literarischen
Bezugspunkte von Nerval durch 20 Neue Untersuchungen über Arbeits- und
Verdienstmöglichkeiten der Maler in dieser Zeit zeigen den Grad der Verklärung durch die
Bohemegeschichten. Ohne einzelne Künstlerschicksale in Paris zu analysieren, schafft es
Sfeir-Semeler, die Bedingungen und die Normalität des Berufs Maler aufzuzeigen und den
Alltag der breiten Schicht dieser Berufsgruppe zu schildern. Andrée Sfeir-Semler: Die Maler
am Pariser Salon 1791-1880. Frankfurt/M.: Campus 1992. 21 Siehe Pichois: Gérard de
Nerval. S. 322. (Anmerkung 72). 121 die Anspielung erkennbar, das Werk von Charles
Nodier L’histoire du Roi de Bohême et de ses sept châteaux22 (1830). In Nodiers Werk wird
lange vor der künstlerbezogenen Boheme-Entwicklung mit dem historischen und
literaturgeschichtlichen Komplex Böhmen gespielt. Nodier benutzt das Land Böhmen, um
eine Reise dorthin zu schildern. Der Reisende Théodore soll die sieben Schlösser des Königs
von Böhmen besuchen, die im Verlauf des Romans regelmäßig angekündigt werden. Aber
wiederholt wird die Reise von eingeschobenen Geschichten und Erzählungen unterbrochen,
so dass der Roman bei Ankunft im ersten Schloss bereits sein Ende gefunden hat.
„Luftschlösser“ heißen in Frankreich „Châteaux d’Espagne“; Nodier lehnt sich hier also an
die ‘spanischen Schlösser’ an, wenn er die böhmischen vollmundig ankündigt, sie dann aber
im Nichtvorhandensein beläßt. Nodier folgt ebenfalls einer zweiten Traditionen der
Täuschung. Neben den Luftschlössern hat die Histoire du Roi de Bohême ihre Tradition,
angekündigt, aber nicht erzählt zu werden. Die Geschichte des Königs von Böhmen wird
bereits in Tristam Shandy von Lawrence Sterne angekündigt, und wegen Unterbrechungen, so
wenig erzählt wie bei Nodier. Sternes Rückgriff auf Böhmen ist Nerval ebenso geläufig, wie
der von Nodier. Denn bei Sterne wird der Ursprung und der Grund der literarischen
mystifizierenden Böhmentradition genannt, Shakespeares Winters Tale. Die Verwirrung, die
mit diesem Stück um Böhmen ausgelöst wurde, machte dieses Land für lange Zeit zu dem für
die Literatur interessanten, geheimnisvollen und mit Ironie beladenen Ort. Weil Shakespeare
die aus seiner Vorlage Pandosto, or the Triummph of Time (1588 gedruckt, und 1607 unter
dem Titel Dorastus and Fawnia erneut aufgelegt) von Robert Greene übernommenen
Handlungsorte (Shakespeare übernimmt auch alle Charaktere, bis auf Mopsa) Sizilien und
Böhmen vertauschte, und die Personen in der 3. Szene des 3. Aktes mit dem Schiff an der
Küste von Böhmen landen lässt, stellt sich die Nachwelt, mit Ben Jonson angefangen, Fragen
um den Grad der Entrückung und Bedeutung des Meeres für Böhmen23. Was für Sternes
Protagonisten Anlass zur Erörterung über Geographie, Seefahrt und Überschwemmungen ist,
hatte für Shakespeare einen eher praktischen Nutzen. Da das Stück von seiner Aufteilung in
zwei Handlungsorte in seinem dramatischen Aufbau abhängt – dem Hof als der bedrohlichen
und furchteinflößenden Sphäre auf der einen und dem schutzbietenden Fluchtort in der
Wildnis und Natur auf der anderen Seite – ist die Akzentuierung leichter über eine
Landschaft, die dem Publikum bekannt ist, herzustellen. So hat Shakespeare den Böhmerwald
der mediterra- 22 Charles Nodier: L’histoire du Roi de Bohême et de ses sept châteaux. Paris:
1830. 23 Siehe auch August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und
Literatur. Hrsg.: Edgar Lohner. Band 2. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 1966. S. 249ff. 122
nen Landschaft Siziliens vorgezogen, und wie in seinem Stück As you like it, in dem die
Wälder der Ardennen den Schutzraum bilden, einen nicht zu weit von England entfernten
Handlungsort gewählt, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, die Vorstellung von
englischer Waldlandschaft einfließen zu lassen. Die Einfachheit des Bühnenbildes im
elisabethanischen Theater, dazu die genaue Kenntnis des Theaterhandwerks und der
Aufführungspraxis haben Shakespeare dazu bewogen, die von Greene vorgegebenen
Handlungsorte zu vertauschen24. Die poetische Verschmelzung antiker Mittelmeerkultur und
nordeuropäischer Gewohnheit lässt sich im Sheep Shearing feast feststellen. Hier sind beide
Traditionen, die der arkadischen Schäferwelt und die des englischen Schur-Festes mit
einander verbunden. Die dichterische Vorgehensweise in den Stücken Shakespeares,
arkadische Landschaft und Atmosphäre mit der Naturdarstellung des europäischen Nordens
zu verbinden, setzt Nerval ebenfalls um und benutzt sie für seine persönliche BöhmenVorstellungen. Aus Shakespeares Methode leitet sich der Entwurf seines ‘galanten Böhmen’
ab. Aber auch die Entrücktheit von Böhmen, versinnbildlicht in der Lage am Meer, ist eine
Nerval vertraute Charakterisierung. Diese in der Rezeption von Shakespeares A Winters Tale
immer wieder aufgenommene Entrückung findet auch in einem anderen berühmten und in der
Zeit vielbeachteten Werk eine von Shakespeare unabhängige Entsprechung. Gottfried August
Bürgers Ballade Leonore war in Frankreich durch Madame de Staëls De l’Allemagne bekannt
geworden. Nerval hat neben der Faustübersetzung sich immer wieder diesem Werk in
Übertragungen gewidmet25. Allein acht verschiedene Übersetzungen aus seiner Feder sind
überliefert. Der Ritt Leonores auf dem Pferd hinter dem unbekannten Reiter in ein dunkles
und unheimliches Land, in dem sie in einem feuersprühenden Loch versinkt, hat Böhmen als
Ziel26. 24 Die Handlung um Florizel und Perdita wird im 18. Jahrhundert besonders gerne
gespielt. Berühmteste Stück ist die Bearbeitung von David Garrick, Florizel and Perdita, das
am 21. Januar 1756 am Drury Lane Theater Premiere hat. Dieses Stück wurde erfolgreich für
den Rest bis zum Ende des Jahrhunderts gespielt. Ebenfalls erfolgreiche Aufführungen fanden
im 19. Jahrhundert im Sadlers’ Wells und Princess’ Theatre statt. 25 Zu den Übersetzungen
der Leonore siehe Claude Pichois: Nerval. S. 58. 26 Pichois nennt Nervals Beziehung zu
seinen Eltern, insbesondere zu seiner Mutter, wie sie auch in der Ballade zum Ausdruck
kommt, einen Schlüssel zum persönlichen Themenkreis des Dichters (Le „Clé de la
thématique personelle de Nerval“). Das an Böhmen angrenzende Schlesien ist mit Nervals
eigenem Schicksal dadurch verknüpft, dass seine Mutter auf Napoleons Rußlandfeldzug, auf
dem Nervals Vater als Arzt teilnimmt, in Schlesien stirbt. Das angrenzende Böhmen bekommt
dadurch eine besondere, sehr persönliche Bedeutung. Zeit seines Lebens drückt sich diese
Beziehung zu dem fernen Ort, der das Grab seiner Mutter beherbergt, in dem Bemühen um
die deutsche Sprache und in dem Interesse an diesem Kulturraum aus, die diese Region für
Nerval so bedeutsam macht und in seiner Vorstellung zusammenrücken lässt. 123 In Nervals
Werk Bohême galante bekommt der Boheme-Komplex, der eigentlich die Schilderung des
Künstlerlebens in der ‚impasse de doyenné‘ bezeichnen soll und der Aufhänger für Houssayes
Bitte an Nerval gewesen ist, viele weitere Motivkomplexe an die Seite gestellt. Nervals
Beharren auf der Schreibweise mit dem Akzent circonflex27 macht deutlich, dass das
Gewicht auf der literaturhistorischen und persönlichen Bedeutung dieses Begriffes liegt und
dass es ihm weniger um den Anschluss an die neu entstandene Definition der
Bohemebewegung geht. Seine Schilderungen in der Erzählsammlung La Bohême galante
beweisen, dass die Ausgrenzung der Künstlergemeinschaft aus der Stadtgemeinschaft der
Ausgangspunkt für den weiteren poetischen Erzählaufbau seiner Geschichte ist. Durch die
Steigerung der Ausgrenzung, der Ich-Erzähler verlässt die Künstlergruppe am Ende des 4.
Kapitels, wird ihm nun eine andere, unter neuen Bedingungen stehende Welt zugänglich. Die
Reise in Nervals Heimatregion, dem Valois, steht unter dem Eindruck des persönlichen
Lebensschicksals. Nicht mehr ein von vielen bevölkerter Ort, sondern ein abgelegener Ort
wird der entscheidende Raum für die Erzählung. Dieser Boheme-Aspekt wird häufig
übersehen, weil das im Titel enthaltene Wort Bohême in der Zeit der Erscheinung bereits die
Schilderung einer mit Urbanität in Zusammenhang gebrachten Lebensweise junger Künstler
anzukündigen verspricht. Die Verbindung des alten mit dem neuentstehenden BohemeMythos, die beide von diesem einen Begriff abgeleitet werden können, und die
Verschränkung von den mit dem Land Böhmen und der Lebensweise „vie de bohème“ in
Zusammenhang stehenden Aspekte ist die eigentliche Kunst der Epik der Bohême galante. Sie
ermöglicht das übergangslose Gleiten zwischen so verschiedenen Komplexen wie der
Lebensumwelt Paris und den unbekannten Gegenden eines fernen Landes. Diese
geographische Unabhängigkeit, die auf einer Nerval eigenen Erzählweise gründet, überträgt
sich auch auf die Beschreibung von Paris in den Nuits d’octobre. Nerval entwickelt so ein
System der topographischen Unabhängigkeit, indem er sich allein auf einen poetischen
inneren Wert der urbanen Gegenstandswelt konzentriert. Das Beschreiben aus dem
Blickwinkel eines Erzählers, der nicht seine Füße auf den selben Boden setzt, auf dem der
betrachtete Gegenstand steht, ist die Grundlage dieser Unabhängigkeit. Nervals Poetik, die
eine 27 Dass es im 19. Jahrhundert noch eine Auseinandersetzung um richtige Schreibweise
gibt, macht der Lexikoneintrag im Larousse von 1869/76 deutlich: „L'Académie écrit dans ce
sens Bohème par un è. Pourquoi ? La raison de cet è nous échappe; aussi ne ferons-nous
aucune distinction pour l'orthographe entre le substantif commun et le nom propre qui lui a
évidemment donné naissance. Nous ne pouvons attribuer la substitution du è au ê qu'à une
distraction de MM. de l'Académie.“ Larousse. Grand Dictionnaire Universel du XIXe siècle.
Paris: 1866-1879. [Réprint: Genève-Paris, 1982]. S. 866. Hierdurch wird die Schwierigkeit
der Zuordnung deutlich. Beigetragen zu der Verwirrung hat auch der widersprüchliche
Gebrauch von George Sand. 124 Loslösung von dem geographisch und geometrisch
festgelegten Boden zum Programm erhebt, macht vielmehr die Wanderung im Geiste zu ihrer
Grundlage. Auf diese Weise kann der Text La Bohême galante als paradigmatisch in Nervals
Kunst bezeichnet werden, da er zunächst das Leben des Erzählers in einer Umwelt beschreibt,
die sich bereits unter seiner, wenn auch noch nicht erzählerischen, so doch gestalterischen
Kontrolle befindet. Die Beschreibung der Loslösung aus den gewöhnlichen gesellschaftlichen
Stadtstrukturen und sozialen Hierarchien ist das eigentlich interessante Moment, das von
Nerval beleuchtet wird, und das die einzige Anknüpfung an die lit. Bohemebewegung eines
Murger und Champfleury darstellt. Im Gegensatz zu diesen beleuchtet Nerval aber nicht die
Misere, die durch soziale Ausgrenzung und die Nichtbeachtung eines kunstfeindlichen
Kleinbürger- und Philistertums entsteht, sondern schildert vielmehr eine zur Bürgerlichkeit
kongruente Kunstwelt. Die dem mittleren und gehobenen Bürgertum entstammenden
Romantiker geben sich einer Kunstwelt aufgeschlossen, die in der Welt, der sie entstammen,
bereits bekannt ist. Allein die Übersteigerung und das Ausmaß der Kunstbegeisterung und die
Fähigkeit, sich in die Kunstwelt hineinzuleben. In der Darstellung des Künstlerfestes kommt
es zwar zur Entfernung der Künstler aus der Gesellschaft und zu ihrer Isolierung, aber dieses
stellt noch keine Stadtflucht dar. Die Faszination für die Stadt und die Abhängigkeit von der
kulturellen Einheit, die die Stadt stiftet, beides drückt sich in dem Künstlerfest aus. Die
romantischen Künstlerkreise in Paris bestimmt der höfische Festbrauch allerdings nur noch
am Rande. Das in der Bohême galante von Nerval geschilderte Fest bestimmt die Nähe zum
Louvre nur zum Teil. Die Inszenierung ihres Festes ist zwar in die Nähe der höfischen
Bräuche und Sitten gerückt, die Verlegung des Hoffestes in die Stadt hat allerdings eine
veränderte Rolle des Künstlers zur Folge. Er fügt sich nicht mehr in den Plan eines vorher
gestalteten Gesamtkunstwerk, sondern wird selber Träger einer inszenierten Wirklichkeit, die
in der literarischen Schilderung eine zweite Brechung erfährt. Wenn der Künstler vorher einer
unter vielen im Zusammenspiel der Festgestaltung gewesen ist, so wird er jetzt in der Rolle
des Erzählers zum allein Schaffenden. Damit setzt auch die Selbstinszenierung ein.
Wichtigster Bestandteil dieser Selbstinszenierung ist dabei die Verkleidung. Nerval wird von
Gautier als der Organisator der Feste bezeichnet. Und es ist Nerval, der sich um die
Kostümierung der Teilnehmer kümmert: „Gérard trouva un moyen de tout concilier, c’était de
donner dans ce salon Pompadour un bal costumé; de cette façon, les personnages ne jureraient
pas avec l’architecture. […]Gérard ne fit rien, mais il nous donna le 125 conseil de nous
couronner de fleurs, suivant l’usage antique.“28 Die Verkleidung macht deutlich, dass das
Fest sich mehr zum Künstlerfest als zum Hoffest entwickelt. 3. Kellers grüner Heinrich in den
zwei München Der Gegensatz von Stadt und Land wird in Kellers Roman Der grüne Heinrich
mit dem Gegensatz von Künstlichkeit und Natürlichkeit verbunden. München wird im Roman
zu einem umfassenden Raum der Kunst erklärt, dem sich der grüne Heinrich mit seiner
ganzen Persönlichkeit und künstlerischen Arbeit nach der Ankunft unterwirft. Zu Beginn der
Münchenepisode heißt es: „Er schwamm tapfer mit in dieser Strömung und hielt vieles, was
oft nur Liebhaberei und Ziererei ist, für dauernd und wohnlich, dem man sich eifrig hingeben
müsse. Denn wenn man von einer Menge, die eine eigene technische Sprache dafür hat,
irgendeine Sache ernsthaft und fertig betreiben sieht, so hält man sich leicht für geborgen,
wenn man dieselbe nur mitspielen kann und darf.“ 29 Die städtische Umwelt wird damit nach
der Ankunft zunächst zu einem Ort der Anpassung und nicht der Bewährung. Für den grünen
Heinrich bedeutet dies zunächst eine persönliche Entwicklung entsprechend den öffentlichen
Begebenheiten und Aktivitäten. Der Roman widmet sich, um diese Aufnahme zu vollziehen,
der Darlegung und Aufzeichnung äußerlicher und öffentlicher Verhältnisse. Die Stadt
München bekommt dadurch im Roman ein deutliches Gesicht und wird in ihren besonderen
Merkmalen ausführlich dargestellt. Dass die historische Situation in München im Roman als
Kulisse benutzt wird und eine ausführliche Berücksichtigung erfährt, ist für die Untersuchung
des Romans von Bedeutung: Der Künstler Heinrich wird in der spezifischen Verflechtung von
öffentlicher und persönlicher künstlerischer Aktivität Münchens gezeigt. Die Residenzstadt
verfügt über ein reiches Programm öffentlicher und halböffentlicher Kunstaktivität. Der
bayrische Hof mit Ludwig I. ist bekannt für seine Kunstliebe und seine ausgiebige
Mäzenatentätigkeit. Von dem König ist der Ausruf überliefert „Aus allen Gauen Deutschlands
kommen die Künstler zu mir, wir wollen ein rechtes Kunstleben führen.“30 Dieser Satz
Ludwigs I. am Anfang seiner Regierungszeit Ende der 20er Jahre machen das persönliche
Engagement des Königs für die Kunst und die Künstler deutlich. Er sieht sich schon in jungen
Jahren selbst nicht nur in der Funktion des 28 Théophile Gautier: „Marilhat.“ S. 57f. 29
Keller: Der güne Heinrich. S. 545. 30 Ludwig I. zitiert nach Norbert Lieb: München. Die
Geschichte seiner Kunst. München: Callwey 1971. S. 241. 126 fürstlichen Mäzens, sondern
sucht die Nähe zu den Künstlern. Während seines Italienaufenthaltes als junger
Thronanwärter macht er seine Verbundenheit mit dem Künstlerdasein deutlich; er kleidet sich
wie die dort lebenden Maler, geht mit ihnen in die gleichen Lokale und eignet sich ihren
Lebensstil an. Ein Gemälde von Franz Ludwig Catel überliefert eine Szene aus einer
römischen Weinschenke, in der der König unter den Künstlern Platz genommen hat (Abb. 4).
Die eigentliche, einem Herrscher seiner Größenordnung entsprechende Betätigung als
Kunstförderer ist in seinen Augen nur Teil eines „rechten Kunstlebens“, in dem er sich einem
romantischen Ideal folgend in einer hierarchie- und ständelosen Welt zu den Künstlern zählen
kann. Sein ganzes Leben lang versucht Ludwig I. sich in einer geistigen und
brüderschaftlichen Nähe zu den Künstlern zu präsentieren. So ist auch sein Ausruf „Ich bin
kein Gast, ich gehöre zu euch“31 auf einem Künstlerfest zu verstehen. Seine Identifikation
mit dem Künstlerdasein und sein Selbstbewusstsein zeigt sich auch darin, dass er eigene
Werke neben die der großen Künstler seiner Zeit stellt. Auf dem 1828 von ihm bei Joseph
Stieler in Auftrag gegebenen Porträt von Goethe, gibt er diesem seine eigenen 1818 verfassten
Verse in die Hand, die deutlich lesbar auf dem Bild zu erkennen sind. Dadurch wird sichtbar,
in welche geistige Verwandtschaft sich Ludwig I. stellt und welche Nähe er zu den Künstlern
seiner Zeit sucht. Der wiederholte Versuch des Königs, sich unter die Künstler zu gesellen
und sich in eigenen Werken Ausdruck zu verschaffen, führt nicht zu einer Vernachlässigung
seiner Tätigkeit als Kunstmäzen. Im Gegenteil, seine vielen Bauprojekte, seine
stadtplanerischen Entwürfe für München, seine Förderung der Maler und sein
gesellschaftlicher Einsatz für die Künstler lassen einen Herrscher erkennen, der seine
Residenzstadt zum Mittelpunkt eines umfassenden Kunstlebens machen will. Er ist für das
Erreichen seines Zieles nicht auf eine bestimmte Rolle oder geistige Schule festlegt. Ludwig
I., der geistigen Entwicklung des deutschen Idealismus folgend, betrachtet die Schönheit und
das Idealbild, das in der Kunst zur Anschauung kommen soll, als die eigentliche Möglichkeit
der Erziehung der Gesellschaft32. 1808 hatte Schelling in der Gründungsurkunde der
Münchner Kunstakademie geschrieben: „Die Liebe für Maß und Schicklichkeit, welche die
Kunst einflößt, geht endlich auf das Leben über.“33 Der Ver- 31 Ebd. 32 Schiller und
Hölderlin sind hierin die großen Vorbilder für den bayrischen König. Schelling wird 1827 als
Professor an die Münchner Universität geholt. 33 Ebd. S. 290. Leo von Klenzes
Architekturinszenierung sieht das Gebäude im öffentlichen Raum dazu prädestiniert, einen
Bildungsauftrag zu erfüllen. Norbert Lieb spricht von der „Architektur- Bildung“:
„Charakteristisch für die Ludwigszeit ist nicht nur die Anwendung historischer
Einzelelemente, sondern die Architekturkopie, die Replik sowohl bestimmter Typen wie
individueller Bauten 127 such, der Kunst eine Vorbildfunktion zukommen zu lassen und sie
in alle Lebensbereiche zu integrieren, hat Auswirkung darauf, wie Kunst und Künstler in der
Regierungszeit Ludwigs I. behandelt und wahrgenommen werden. Der Versuch, eine
Verbindung zwischen der Kunst, den repräsentativen Aufgaben, die sie erfüllen muss, und der
Öffentlichkeit herzustellen, gelingt nicht immer. Die hohen Bauausgaben führen zu
politischen Spannungen in der Ständeversammlung und zu Protesten in der Bevölkerung. Das
von Ludwig I. durchgesetzte Kunstprogramm hat es im Vormärz immer schwerer,
angenommen zu werden. Sein Wunsch nach Verbindung von Kunst und Öffentlichkeit ist
deshalb auch als Protektion zu verstehen, bindet er so das gehobene und mittlere Bürgertum in
seine Kunsttätigkeiten mit ein. Diese Absicht ist auch in seinen Worten anlässlich der
Grundsteinlegung der Neuen Pinakothek abzulesen: „Als Luxus darf die Kunst nicht
betrachtet werden; in allem drücke sie sich aus; sie gehe ins Leben über; nur dann ist sie, was
sie sein soll.“34 Der Wunsch des bayrischen Königs nach der Verbindung von Kunst und
Leben wird besonders deutlich an einem Beispiel, das auch in Kellers Roman ausführlich
beschrieben wird und an dem der grüne Heinrich teilnimmt. Dies sind die in der Faschingszeit
stattfindenden Festumzüge, die unter reger Beteiligung der Bevölkerung München zu einer
Kulisse der Heiterkeit und der Festlichkeit werden lassen. In Kellers Roman wird einer der
regelmäßig in München stattfindenden Umzüge ausführlich beschrieben. Es ist der FaschingsFestzug vom 17. Februar und vom 2. März 1840 in München, der als eine besonders
aufwendige und prächtige Veranstaltung ausführlich in einem „Gedenkbuch“ 35 von Rudolf
Marggraff beschrieben wird. Der Festzug setzte sich aus drei Teilen zusammen und wird von
Marggraff in der Reihenfolge der tatsächlichen Abfolge beschrieben: zunächst kommt der
„Auszug der Nürnberger Bürger“, dann der „Zug des Kaisers Maximilian I. und seines
Gefolges“. Marggraff widmet sich in seinem Buch zunächst diesen beiden Hauptzügen,
erläutert danach die dargestellten historischen Persönlichkeiten, bevor er die sich den
Hauptzügen anschließende Gruppe der „Mummerei“ beschreibt. Als historische Vorlage für
den Münchner Faschingsumzug diente unter anderen Quellen Albrecht Dürers Holzschnitt
Triumphzug, dessen Programm von Maximilian I. und seinem Sekretär Marx der
Vergangenheit. Wir müssen dies positiv bewerten: als Phänomen der »Bildung« der
Architektur, als Garantie einer überzeitlich richtigen, d.h. eben »klassischen« Gestaltung
bestimmter Bauaufgaben und ihrer öffentlichen Bildungsabsicht.“ Op.cit. S. 290ff 34 Ebd. S.
288. 35 Rudolf Marggraff: Kaiser Maximilian I. und Albrecht Dürer in Nürnberg. Ein
Gedenkbuch für die Theilnehmer und Freunde des Maskenzugs der Künstler in München am
17. Februar und 2. März 1840. Nürnberg: 1840. 128 Treitzsauerwein 1512 ausgearbeitet und
in Dürers Werkstatt in Bestellung gegeben wurde. Dürer hält in seinem Holzschnitt eine in
seiner Zeit häufig in europäischen Städten vorkommende öffentliche Veranstaltung fest. Der
Triumphzug, auch Trionfo genannt, ist eine in der Renaissance populär gewordene öffentliche
Veranstaltung und sowohl Ausdruck höfischer und bürgerlicher Festkultur: „Schon seit der
Neige des Mittelalters hatte der Einzug eines Fürsten in eine Stadt Anlaß gegeben zu einem
festlichen Wetteifer, bei dem der Gast seine Macht und die Wirte ihre Ergebenheit
bekundeten. Elemente aus volkstümlichen Umzügen und aus kirchlichen Umgängen hatten
sich eingemischt, und am Schluß hatte die Renaissance der Einrichtung klassische Würde und
einen klassischen Namen verliehen und sie nach ihren Vorstellungen vom Triumph römischer
Feldherren zum Trionfo ausgebaut. Ein festlicher Nachglanz davon fällt noch in das Barock
hinein.“36 In München wird also ein mehr als dreihundert Jahre alter Brauch auf Anregung
und unter Beteiligung Ludwig I. neu inszeniert. Der König nimmt dabei die Möglichkeit
wahr, Maximilian I. selber zu spielen. Die Bewunderung für dieses Vorbild hängt mit einem
Pragmatismus zusammen, das sich aus der Zeit und der politischen Lage ergibt. Das in der
Renaissance erstarkende Bürgertum, das besonders in den Städten an gesellschaftlichen
Einfluss gewinnt, stellt eine historische Entwicklung dar, die sich im 19. Jahrhundert in
Europa wiederholt. In der Zeit des Vormärz verbindet sich in der städtischen bürgerlichen
Schicht ein eigenständiger Geschäftssinn und eigener kultureller Geschmack mit einem
erstarkenden politischen Selbstbewusstsein. Der Ausgleich der Interessen zwischen dem an
Macht gewinnenden Bürgertum und dem Hof ist auch bestimmend für die geschichtliche
Entwicklung in München. Alewyn beschreibt den Festzug als Zeichen des gelungenen
Zusammenlebens dieser beiden Pole, als eine öffentliche Proklamierung des Zusammenhaltes:
„Der alte Festzug war aus dem Zusammenwirken zweier Partner entstanden: des einziehenden
Fürsten und der empfangenden Bürgerschaft. Es sind genau die beiden Elemente, auf denen
die Kultur der Renaissance ruhte. Darum steht der Trionfo in der Renaissance in seiner
Blüte.“37 Das Zusammenspiel von Kunst und Leben, das sich im Wesen des Umzuges
ausdrückt, ist für den bayrischen König ein Mittel seiner politischen Botschaft; sein Wunsch
nach renaissanceähnlicher Machtverteilung drückt sich in der Unterstützung und Beteiligung
am Umzug aus. 36 Richard Alewyn: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste.
S. 23 37 Ebd. S. 26. 129 Rudolf Marggraff erwähnt zu Beginn seines Buches das Interesse des
Königs an der Überführung des historischen Ereignisses in die Gegenwart und die besondere
Eignung der Stadt München als Ort für die Inszenierung der Vergangenheit: „Diese an sich so
merkwürdige und durch ihre beziehungsreichen Erinnerungen für uns zugleich so wichtige
Zeit nach ihren vorherrschenden Richtungen in einem lebendigen, charakteristischen und
anschaulichen Bilde zur Erscheinung zu bringen, dies war ein Gedanke, welcher leicht und
um so eher bei den Künstlern in München entstehen und Wurzeln fassen konnte, als sich hier,
unter königlichem Schutze, mehr als irgendwo ein reiches, vielgestaltiges Kunstleben in
unbefangenem, rüstigem und gemeinsamen Schaffen herausgebildet hat. Zu der großen
Nürnbergischen Kunstepoche zwischen den Jahren 1480 und 1530 bietet nur München in
unserer Zeit eine verwandte und entsprechende Erscheinung dar.“38 Die besondere Eignung
der Stadt München für die Gestaltung des Umzuges sieht Marggraff in dem besonderen
künstlerischen Reichtum, der sich dort unter Ludwig I. entfaltet hat. Marggraff weist so auf
die von Ludwig I. angestrebte innere Beziehung der beiden Epochen hin, denn die
künstlerische Blüte in München hat ihr Vorbild in der „großen Nürnbergischen Kunstepoche“,
deren Protektor Maximilian I. und deren Protagonist Albrecht Dürer ist. Die angestrebte
Verbindung der beiden Epochen, die Marggraff in seiner Schilderung in den Vordergrund
stellt, baut auf die rege künstlerische Tätigkeit in den beiden Städten. Dadurch bekommen, die
Künstler eine zentrale Rolle zugewiesen, die sie in der Gestaltung des Festes einnehmen. In
Kellers Roman wird Heinrich und seinen Künstlerfreunden eine entsprechende Rolle zugeteilt
und ihre Mitgestaltung am Münchner Künstlerfest ausführlich dargelegt. Keller stützt sich in
seiner Romanbeschreibung vom Umzug und des sich anschließenden Festes auf die
überlieferten Schilderungen von Rudolf Marggraff, die er in großen Teilen übernimmt, wie
der Erzähler im Roman selber anmerkt39. Von besonderer Bedeutung für den Umzug und das
sich anschließende Fest ist die Verkleidung. Die Maskerade wird zu einer besonderen
Beschäftigung für die Künstler und die Teilnehmer des Umzuges. Bereits der Trionfo in der
Zeit der Renaissance zieht aus dem Spiel und der Inszenierung seine besondere Wirkung40.
Die gespielte Wirklichkeit ist im Münchner Umzug von zentraler Bedeutung. Der
Spielcharakter und die Verschiebung der Zeit wird dabei auch von Keller mit Interesse
beleuchtet. Die Beteiligung der Künstler und damit auch die 38 Marggraff: Gedenkbuch. S. 4.
39 Vgl. Keller: Der grüne Heinrich. Ebd. S. 590. 40 Vgl. Richard Alewyn: Das große
Welttheater. S. 25. 130 von Heinrich an der „Auferweckung“ des „alten Nürnberg“41 ist
Gegenstand ausführlicher Betrachtung: „[…] als die ganze reich geartete Künstlerschaft sich
zusammentat, um in einem großen Schau- und Festzuge für die kommende Faschingszeit ein
Bild untergegangener Reichsherrlichkeit zu schaffen; denn es war ein wirkliches Schaffen,
nicht mittelst Leinwand, Pinsel, Stein und Hammer, sondern wo man die eigene Person als
Stoff einsetzte und in vielhundertfaltigem Zusammentun jeder ein lebendiger Teil des Ganzen
war und das Leben des Ganzen in jedem einzelnen pulsierte, von Auge zu Auge strahlte und
eine kurze Nacht sich selber zur Wirklichkeit träumte.“42 Der Umzug selbst wird zum
Kunstwerk erklärt. Die Entrückung aus der Realität und die Einrichtung der
„Traumwirklichkeit“ wird damit zu einer kollektiven Anstrengung, an der die Künstler, der
König, sowie die übrige Gesellschaft teilnehmen. Dabei werden Heinrich und seine
Künstlerfreunde von den übrigen Teilnehmern getrennt und um eine weitere Stufe in die
Traumwelt entrückt. Denn Heinrich und seine Freunde nehmen bereits am gespielten Spiel
teil. Durch die Übernahme der Nürnberger Festkultur und ihr Nachspielen findet das
Inszenieren des bereits inszenierten statt. Der Erzähler des Romans schildert den Aufbau des
Zuges; zuerst ziehen historische Persönlichkeiten ein, voran die Künstler und Handwerker,
dann Ritter, Fürsten und Könige. Am Ende „[…] rauschte und tanzte jetzt die Mummerei
heran, in welcher alles, was die Künstlerschaft an übermütigen Sonderlingen, Witzbolden,
seltsamen Lückenbüßern und Kometennaturen in sich hegte, Platz gewählt hatte.“43 In
diesem letzten Teil befinden sich die drei Künstlerfreunde. Erikson ist als „wilder Mann“
verkleidet, nur in Eichenlaub gehüllt führt er den ‚Zug der Diana‘ an. Lys trägt das „Gewand
eines jagdliebenden Königs“ und geht im ‚Triumphzug der Venus‘ mit. Heinrich schließlich
trägt ein „laubgrünes Narrenkleid“ mit Schellenkappe44. Dieser Teil des Umzuges setzt sich
aus dem Zug des Bergkönigs, dem Triumphwagen der Venus, dem Wagen der Diana und dem
Wagen des Bacchus zusammen. Der Gruppe um den griechischen Weingott steht der
Thyrsusträger vor, „welcher die behaarte, ge- 41 Keller: Der grüne Heinrich. S. 565. 42 Ebd.
S. 565. 43 Ebd. S. 597. Marggraff beschreibt die Mummerei folgendermaßen: „Namentlich ist
es von Nürnberg bekannt, daß seine Bewohner wunderliche Mummereien, seltsam lustige
Aufzüge und Narrenspiel jeder Art über die Massen liebten […] Vor allem aber hatte der
Kaiser sein Wohlgefallen an solchen Ergötzlichkeiten; ohne Maskerade ging keine nur irgend
wichtige Festlichkeit bei ihm vorüber, und selbst in den Bildern seines Triumphzuges spielt
die ‘gulden Mummerei’ […] eine sehr bedeutende Rolle. Die Mummerei durfte mithin um so
weniger fehlen, als auch der freien dichterischen Phantasie bei diesem ebenso sinnreichen als
anziehenden Abbilde geschichtlicher Wirklichkeit ihr gutes Recht widerfahren sollte.“
Marggraff: Ein Gedenkbuch. S. 145ff 44 Keller: Der grüne Heinrich. S. 598ff. 131 hörnte und
geschwänzte Musikbande führte.“45 Die ungeordnete Zusammensetzung der Gruppen und die
Abbildung antiker, heidnischer und christlicher Vorbilder geben dem Zug sein Aussehen. Die
Feststimmung kommt insbesondere durch das Spiel der Bacchusgruppe zustande. Hier ist die
Musik besonders laut und das Gebaren der Teilnehmer besonders ausgelassen. Die Aufteilung
des gesamten Umzuges in zwei unterschiedliche Teilnehmergruppen führt dazu, die Künstler
in ihrer festlichen Aktivität von dem Rest abzuheben. Der Erzähler des Romans behandelt
diesen Teil des Umzuges als getrennte Inszenierung: „In diesem letzten Teile, welcher recht
eigentlich ein Traum im Traume genannt werden konnte, in welchem die in historische
Vergangenheit sich Zurückträumenden mit den Sinnen dieser Vergangenheit das Märchen
und die Sage schauten, hatten die drei Freunde ihren Raum gewählt, um als verdoppelte
Phantasiegebilde dem Phantasiebilde der gestorbenen Reichsherrlichkeit vorzutanzen.“46 Die
Verdopplung der Inszenierung führt zu einer dreifachen Entrückung aus der Realität. Das sich
aus dem Umzug entwickelnde Künstlerfest, das die ganze Nacht andauert und am nächsten
Tag außerhalb der Stadt im Grünen fortgesetzt wird, ist somit Teil einer mehrfach
gebrochenen im Roman dargestellten Realität. Die anderen im Roman beschriebenen Feste,
das in der Heimat stattfindende patriotische Tellfest und das Baseler Schützenfest, sind
Volksfeste, die in ihrer Art der Beschreibung der Wirklichkeit verhaftet bleiben und nicht aus
einem traditionellen Rahmen herausgelöst werden können. Das Künstlerfest in München
hingegen findet seinen Abschluss in einem Theater und drückt damit den Spielcharakter der
ganzen Veranstaltung aus. Der Erzähler schildert die Ereignisse nach der Ankunft des
Umzuges im Theater wie folgt: „Das große Theater war in einen Saal umgewandelt und hatte,
voll erleuchtet, bereits die beiden Hauptkörper des Festheeres, die, welche das Fest geben,
und die, welche es sehen sollten, in sich aufgenommen. Während in den Logenreihen die
wohlhabendere und gebildete Hälfte der Stadt in vollem Schmucke versammelt harrte, den
königlichen Hof in der Mitte, waren die Seitensäle und Gänge dicht angefüllt von den sich
ordnenden Künstlerscharen. Hier wogte es hundertfarbig und schimmernd durcheinander.“47
45 Ebd. S. 597. Marggraff beschreibt die Szene folgendermaßen: „Mit Trauben umkränzt und
phantastisch mit langen, von der Schulter herabwallenden, buntfarbigen Bändern geschmückt,
folgt, den umlaubten Thyrsusstab in der Hand, der Führer des Bachuszuges. […] und die
Wirkung weinseligen Uebermaßes in brüderlichen Umarmungen kund gebend[…]“
Marggraff: Ein Gedenkbuch. Ebd. S. 145ff. Der Thyrsosstab ist das Abzeichen des Dionysos,
seines Gefolges und seiner Verehrerinnen. 46 Keller: Der grüne Heinrich. S. 566. 47 Ebd. S.
577. 132 Auch im Theater bekommen die Künstler einen gesonderten Platz zugewiesen. Sie
gehen nicht auf in dem Publikum des Zuschauerraumes, sondern halten sich im Hintergrund
des Theaters auf. Die ausführliche Behandlung des Festumzuges und des Künstlerfestes hat
seinen Grund im epischen Aufbau des Romans. Der Faschingszug und das Begleitgeschehen
haben ihre besondere Bedeutung für die persönliche Entwicklung des grünen Heinrich. Die
von Ludwig I. und der Stadtbevölkerung in München aufwendig inszenierte Phantasiewelt,
die durch Architektur und Museumsgebäude zu einem öffentlichen Raum der Künste und der
idealen Anschauung von Welt erweitert wird, hat ihre Auswirkung auf den Helden des
Romans. Diese Kunstwelt – und im speziellen das Künstlerfest in München – sind der
Ausgangspunkt für den im weiteren Verlauf des Münchenaufenthaltes fortschreitenden
Desillusionierungsprozeß. Die Rückwendung in eine ideale Vergangenheit der Renaissance
versetzt den grünen Heinrich in eine Welt des Scheins, die von dem jungen Maler dankbar
angenommen wird. In der Kunst des jungen Malers läuft die Flucht aus der Realität parallel,
und der Aufbau der Scheinwelt ist hier ebenfalls abzulesen. Das Münchner Umfeld setzt sich
zu einer verführerischen Landschaft zusammen, in der Heinrich verlernt, die Bereiche der
Phantasie und der Wirklichkeit zu trennen. In der Beschreibung seiner Bilder ist die
Auswirkung der Beeinflussung zu erkennen. Er wird in seiner Malerei von seiner
Erfindungsgabe mitgerissen und von seiner munteren Phantasie geblendet: „Es war so artig
und bequem für Heinrich, daß er eine so lebendige Erfindungsgabe besaß, aus dem Nichts
heraus fort und fort schaffen, zusammensetzen, binden und lösen konnte! Wie schön, lieblich
und mühelos war diese Tätigkeit, wie wenig ahnte er, daß sie nur ein übertünchtes Grab sei,
das eine Welt umschloß, welche nie gewesen ist nicht ist und nicht sein wird! Wie wunderbar
dünkte ihm die schöne Gottesgabe des vermeintlichen Ingeniums, und wie süß schmeckte das
Wunder dem rationellen, aber dankbaren Gottgläubigen!“ 48 Dass Heinrich seine Kunst allein
aus der Vorstellungswelt zu schaffen beginnt, hat seine Ursache in dem Aufenthalt des jungen
Malers in München. Dieser Zusammenhang wird wiederholt im Roman festgestellt. Die
Pracht und der Reichtum der hier gebotenen Welt, lässt ihn die tatsächlichen Bedingungen
seiner Künstlerexistenz vergessen. Dies gilt sowohl für seine ästhetische Ausrichtung, als
auch für die lebenspraktische Seite seines Künstlertums: „Sobald er die angehäuften
Kunstschätze der Residenz und dasjenige, was von Lebenden täglich neu ausgestellt wurde,
gesehen, auch sich in den Mappen einiger jungen Leute 48 Ebd. S. 558f 133 umgeschaut,
welche aus poetischen Schulen herkamen, ergriff er sogleich diejenige Richtung, welche sich
in reicher und bedeutungsvoller Erfindung, mannigfaltigen, sich kreuzenden Linien und
Gedanken bewegt und es vorzieht, eine ideale Natur fortwährend aus dem Kopfe zu erzeugen,
anstatt sich die tägliche Nahrung aus der einfachen Wirklichkeit zu holen.“49 Heinrichs
Verlust des Unterscheidungsvermögens zwischen poetischer Welt und der ‚einfachen
Wirklichkeit‘, die immer mehr ihre prosaische Seite in dem Roman zu zeigen beginnt, wird
auch in einem Traum verdeutlicht. Hier ist es der Übergang von Kunstwerk in die Realität, die
Heinrich beschäftigt. Er gelangt in eine Stadt, in der eine Halle steht, auf deren Wänden die
ganze Geschichte des Landes dargestellt ist. Durch diese Stadt fließt ein Fluss, über den eine
Brücke führt: „Das lebendige Volk, welches sich auf der Brücke bewegte, war aber ganz das
gleiche, wie das gemalte und mit demselben eines, wie es unter sich eines war, ja viele der
gemalten Figuren traten aus den Bildern heraus und wirkten in dem lebendigen Treiben mit,
während aus diesem manche unter die Gemalten gingen und an die Wand versetzt wurden.
Diese glänzten dann in um so helleren Farben, als sie in jeder Faser aus dem Wesen des
Ganzen hervorgegangen und ein bestimmter Zug im Ausdrucke desselben waren. […] Der
Ein- und Ausgang der Brücke aber war offen und unbewacht, und indem der Zug über
dieselbe beständig im Gange war, der Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen
Leben unausgesetzt stattfand und alles sich unmerklich jeden Augenblick erneuerte und doch
das Alte blieb, schien auf dieser wunderbar belebten Brücke Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft nur ein Ding zu sein.“50 In diesem Traumbild wird der zentrale Konflikt des grünen
Heinrich erkennbar. Der in München zunehmende Realitätsverlust, der in der Künstlerkrise
und der Rückkehr in die Heimat gipfelt, baut auf dem Unvermögen auf, fiktives und reales
Geschehen auseinanderzuhalten. Die Vereinigung der gemalten und der realen Welt vollzieht
sich hier im Traum, und der Wechsel findet so übergangslos statt, wie er in der Beschreibung
des Künstlerfestes bereits erkennbar gewesen ist. Die Folgen einer solchen Zusammenführung
werden im Roman in aller Deutlichkeit dargestellt; der Verlust der Zeitempfindung ist eine
der Konsequenzen der Ineinanderführung der unterschiedlichen Sphären. Wie bereits in der
Heimatstadt am Tag der Abfahrt nach München fehlt dem grünen Heinrich ein Empfinden für
das Fortschreiten der Zeit. Das Zukünftige erweckt nicht seine Aufmerksamkeit. Gleiches gilt
für Heinrichs Handlungen in München. Die Versunkenheit in der Kunstwelt, sein Interesse an
der ‘gespiegelten’ 49 Ebd. S. 554. 50 Op. cit.. S. 771. Hervorhebung im Original. 134 Welt
raubt ihm die Fähigkeit, sich für zukünftiges Geschehen zu interessieren. Der Erzähler sieht
dieses Defizit als direkte Folge der Münchner Umwelt an, der sich Heinrich aussetzt:
„Indessen war es ihm unmöglich, aus sich herauszugehen, und da er sich unterrichtete und
zugleich deutsche Luft atmete, so war es erklärlich, daß er in seiner rhetorischen Welt ein
Weiser und Gerechter, ein geachteter Tonangeber war, äußerst Weises und Gerechtes dachte
und sprach, ohne im mindesten etwas Gerechtes wirklich zu tun, d. h. für Gegenwart und
Zukunft tätlich einzustehen.“51 Wie stark die Beziehung zwischen Heinrich und München ist,
deutet sich mit Beginn der Münchenepisode an und wird nach der Erzählen der
Jugendgeschichte, in dem Moment der Fortsetzung der Münchenhandlung, noch einmal
hervorgehoben: „Das zweite Jahr ging seinem Ende entgegen, seit Heinrich in der deutschen
Hauptstadt, dem Sitze eines vielseitigen Kunst-, Gelehrten- und Volkslebens, sich aufhielt,
mitten in einem Zusammenflusse von Fremden aller Gegenden in und außer Deutschland.“52
Es folgt der Hinweis, dass Heinrich „von der Gewalt einer großen Nationalkultur“53
angezogen und festgehalten wird. Die Darstellung seiner Situation in München zielt damit auf
eine Gebundenheit an einen bestimmten Ort, aus der sich im weiteren Verlauf der Geschichte
eine Gefangenschaft entwickelt. Heinrichs Versunkenheit in die Kunstwelt, diese von der
Künstlerexistenz abhängige Verbindung mit München, löst sich erst auf, als sich aus der Welt
des Spiels und des Verrückens eine andere Wirklichkeit herauszulösen beginnt. Zwei
Ereignisse kündigen das Ende der Vorherrschaft der Illusion und das Erwachen des grünen
Heinrichs an. Beide Ereignisse entstehen aus dem Theaterspiel selbst und zeigen ihr wahres
Gesicht erst nach einer Demaskierung. Das erste Ereignis findet während des Umzuges statt.
Als die Schar der verkleideten Teilnehmer durch die Residenz Ludwig I. zieht, begegnet
Heinrich, „dem wirklichen Könige, in dessen Machtkreis zuletzt diese ganze Traumwelt
hing“54. Heinrich erinnert sich in diesem Moment an die erste Begegnung mit Ludwig I. in
der Nacht nach seiner Ankunft in München, als dieser ihm die Mütze vom Kopf geschlagen
hat, weil er nicht ordentlich gegrüßt hatte. Da sich der König auf eine Bemerkung des grünen
Heinrichs hin, an das Ereignis zu erinnern scheint, der Aufforderung des Künstlers, die Kappe
erneut vom Kopfe zu schlagen aber nicht folgen kann, da Heinrich seine Kappe mit einer
Dornenkrone geschmückt hat, entwickelt sich an dieser Stelle ein Spiel um die Frage nach den
Machtverhältnissen, das zum Zeitpunkt der dritten 51 Ebd. S. 723. 52 Ebd. S. 545. 53 Ebd. 54
Ebd. S. 601. 135 und letzten Begegnung auf der Parade entschieden sein wird. So fallen
sowohl Heinrich als auch der König auf dem Umzug nicht nur aus ihrer angestammten,
sondern auch aus der für das Fest gespielten Rolle und verlassen so für einen Augenblick das
in Szene gesetzte Spektakel, um deutlich zu machen, dass sich das Schicksal des Malers an
eben dieser Frage – wer hat die eigentliche Macht über die Kunstwelt? – entscheidet. Das
zweite Beispiel für das beginnende Ende der Traumwelt und das Erwachen des grünen
Heinrich aus der Illusion ist die Auseinandersetzung mit Ferdinand Lys um Agnes. Die
Duellszene am Schluss des dritten Buches markiert das Ende der Traumstadt München. Denn
mit dem Ende des Festes fallen die beiden Freunde aus ihrer für das Fest gewählten Rollen
und finden sich als Feinde gegenüberstehend wieder. Die Verletzung von Lys durch Heinrich
zeigt, wie sich aus dem Spiel der Ernst eines realen Kampfes entwickeln kann. Die
Duellszene makiert auf diese Art einen Wendepunkt. In den folgenden Kapiteln zeigt sich das
Leben in München dem grünen Heinrich von einer ganz anderen Seite. Finanzielle Not und
künstlerischer Misserfolg beginnen sein Dasein zu prägen. Durch die Gegenüberstellung der
zwei verschiedenen Lebenswelten in ein und der selben Stadt, wird deutlich, dass das
Künstlerfest Heinrich eine vergangene Kunstepoche dargestellt hat und dass die ideale, aber
nachgespielte Welt nicht mit seiner Gegenwart identisch ist. Die Zerrissenheit zwischen
Vergangenheit und Zukunft ist die Folge der nicht angenommenen Herausforderung ein der
Münchener Gegenwart angepasstes Künstlerschicksal anzunehmen. Die im Verlauf der
Münchenepisode aufbrechende und immer deutlicher werdende prosaische Welt steht der
Vergangenheit entgegen und verknüpft das Schicksal des grünen Heinrich mit seiner Zukunft.
Aus dem München, das sich zunächst als eine der Renaissance angenäherten Kunststadt
versteht, wird die moderne, der Zukunft zugewandte Stadt. Diese neue urbane Gegenwart
fordert Heinrich zu einer neuen Einstellung heraus. Das Künstlerleben in Kellers Roman ist
zwischen diesen beiden Polen aufgespannt, dem Pol der „Diesseitigkeit“55, wie Marcuse ihn
nennt, und dem der Rückwendung in die Zeit der Renaissance. Die Zerrissenheit zwischen der
Vergangenheit und der Zukunft verbindet sich mit der künstlerischen Entwicklung von
Heinrich. Anders ausgedrückt, der Konflikt zwischen Rückwärts- und Vorwärtswendung führt
zu der Spannung, in der Heinrich seine künstlerische Identität verliert. Denn die Zerrissenheit
führt zu einer Unentschlossenheit in Heinrich, die 55 „Die helle Lebensbejahung, die
Wiedereinsetzung und Wiedergewinnung der Wirklichkeit, die Verwurzelung des Künstlers
in unmittelbar-gegenwärtige Diesseitigkeit, die seit dem Jungen Deutschland Ziel und
Sehnsucht des Künstlertums gewesen war: in Gottfried Keller findet sie ihre Erfüllung.“
Herbert Marcuse: Der deutsche Künstlerroman. S. 210. 136 sich auf die künstlerische
Entwicklung bezieht. Während das Künstlerfest rückwärtsgewandt ist, bekommen die neuen
Aspekte des urbanen Lebens immer mehr Bedeutung. Die großstädtische Lebenswelt
erscheint in Kellers Roman, aus heutiger Sicht betrachtet, zwar nur am Horizont, aber den
historischen Entwicklungen und sozialen Neuerungen kann sich auch eine der Tradition
verhafteten Residenzstadt in der Mitte Europas nicht entziehen. So stellt der Roman sowohl
das Künstlerbezogene als auch das urbane Bild eines geschichtlichen Übergangs dar. In dem
Takt, in dem sich München von einer kunstnahen Metropole zu einer Stadt der prosaischen
Nüchternheit wandelt, nimmt auch das Thema der Desillusion an Gewicht zu. Die Stadt kann
ihre Künstler nicht ernähren. Unter diesen Umständen lassen sich die Lebensläufe von
Heinrichs Freunden verstehen, die sich in immer größere Nähe zum Bürgertum begeben, ohne
ihre Künstlerkarrieren deshalb gänzlich aufzugeben. Erikson bewegt durch „ein
unbedeutendes Genrebildchen“ eine reiche Frau dazu, ihn zu heiraten und führt fortan das
Leben eines Bildliebhabers und Kunsthändlers. Die so vermeindlich erfolgreich vollzogene
Vereinigung von Bürgerlichkeit und Künstlerschaft, führt zwar vor Augen, dass das Schicksal
von Heinrich nicht alternativlos ist, einen echten Ausweg stellt es dennoch nicht für Heinrich
dar. Die Unvereinbarkeit von Bürgerlichkeit und Künstlerschaft ist, ohne diese These in den
Mittelpunkt des Romans zu rücken, die dargestellte Überzeugung. Bedeutender für die
Darstellung des Desillusionsmomentes ist die Gegenüberstellung von Stadt und Land. Die
Schilderung des erzählerischen Bewusstseinswandels in den Anfangskapiteln des grünen
Heinrich macht den Übergang von der Heimat des Helden in die fremde Stadt zum
Ausgangspunkt der Feststellung von veränderter Stadtwahrnehmung. Für die schlüssige
Argumentation scheint die Gegensätzlichkeit der beiden Welten von entscheidender
Bedeutung; je schärfer dabei der Kontrast zwischen alter und neuer Umgebung im Roman ist,
desto eher würde der persönliche Wandel und das Schicksal des Protagonisten in der Stadt
verständlich, so der naheliegende Schluss. Die Veränderung der Umgebung ist allerdings in
erster Linie, eine der Wahrnehmung und damit der subjektiven erzählerischen Darstellung.
Wie weitreichend Keller diese Sicht in den Anfangskapiteln von dem Protagonisten abhängig
macht, wird bei eingehender Betrachtung der Münchenepisode deutlich. Die auf Heinrich
stark eingeschränkte Perspektive des Anfangs schwächt sich im weiteren Erzählverlauf
wieder ab und weicht der auktorialen Erzählhaltung, der grundlegenden Erzählweise der
Münchenkapitel. Zu vergleichbarer Intensität und Deutlichkeit der Münchenbilder der
Eingangskapitel kommt es im weiteren Verlauf des Münchenaufenthaltes nicht mehr. Allein
die Traumsequenzen gegen Ende und nach der Münchenepisode führen das Innenleben noch
einmal in ähnlicher Ichbezogenheit 137 dem Leser vor Augen, aber ohne dass der Stadt im
Traum eine hervorgehobene Rolle als Schauplatz zukommt. Die bewusste Konstruktion einer
Gegensätzlichkeit zwischen Schweizer Heimat und deutschem Aufenthaltsort wird von
Sengle gänzlich in Frage gestellt: „Im grünen Heinrich wechseln Stadt, Dorf und Adelssitz in
bunter Folge, wie dies der Tradition des Bildungsromans entspricht […]. Nirgends wird ein
Gegensatz zwischen Stadt und Land konstruiert.“ 56 München, soviel steht fest, ist in Kellers
Roman nicht die schreiende Großstadt, die erbarmungslos die unerfahrene Landbevölkerung
in ihrem tosenden Getriebe zerreibt. Eine solche Stadtdarstellung, zu der das 18. Jahrhundert
in seinen moralisch geprägten Kunstwerken und nicht ohne Sinn für dramatische
Lebensentwicklungen gelangte, und zu deren bekanntesten Schöpfer William Hogarth mit
seinen Bilderzyklus A Rake’s Progress, 1732ff., und Restif de la Bretonne mit seinem Romn
Le paysan perverti ou Les dangers de la ville, 1776, gehören, schafft die ersten Ansätze des
Mythos Großstadt, wie er für das 19. Jahrhundert bedeutsam wird. Nur hätte Keller an seiner
Gegenwart vorbeigeschrieben, gäbe er München Züge einer großen Metropole mit allen ihren
in der Zeit bereits bekannten gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen.
Mitte des 19. Jahrhunderts ist das literarische Bewusstsein um die Großstadtdarstellung in
Deutschland noch nicht erwacht. Was in der Darstellung von London, Paris und in Teilen
auch für Petersburg bereits üblich und von besonderem Interesse ist, lässt sich weder in
München, noch in anderen deutschen Städten finden. Die für die ganze Nation bedeutsame
und in ihrem Rang unangreifbare Hauptstadt ist in dieser Zeit in Deutschland noch nicht
vorhanden. „Deutschland ist ohne eine Weltstadt zur Weltmacht aufgestiegen.“57 Dieses Zitat
von Treitschke fasst eine historische Entwicklung zusammen, die ihre Auswirkung in der
Literatur nicht vermissen lässt. Die Bauern- und die Dorfgeschichte sind Vorbild für die
Schilderung der Kleinstadt. Wie René Trautmann in seiner Untersuchung Die Stadt in der
deutschen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts nachweist, sind die Geschichten und Skizzen aus
Berlin und anderen deutschen Städten im Vormärz noch Kleinstadtpoesie. Für Trautmann
kommt der neue Einfluss aus dem Ausland; die Werke der Emigranten in Paris, Heinrich
Heine, Ludwig Börne und andere, zeugen von dem Beginn eines literarischen Bildes der
Großstadt in deutscher Sprache. 56 Friedrich Sengle: „Wunschbild Land und Schreckbild
Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur.“ In: Studium generale. Jg.
16 . (1963). Nr.10. S. 629. 57 Treitschke zitiert nach Friedrich Sengle: Wunschbild Land und
Schreckbild Stadt. Ebd. S. 626 138 Das Fehlen des Großstädtischen in Der grüne Heinrich
führt aber nicht dazu, dass der Roman zu einer Kleinstadterzählung wird. Das hängt mit dem
besonderen Lebenswandel von Heinrich zusammen. Sein Schicksal, das von der Kunst und
seinem Verlangen, Künstler zu werden, abhängt, ist zwar mit der Umgebung verstrickt, dies
aber nicht in der Dorfgeschichte vertrauten Weise. Sengles Betrachtung des grünen Heinrich
stellt in der Münchenepisode die nähe zur Dorfgeschichte fest. Dabei beachtet er aber nicht
das moderne Schicksal des Helden, das Heinrich ausgeprägter als die Figuren der
Dorfgeschichte in einer stärker werdenden Isolation zu seiner Umwelt gefangen hält.
Heinrichs Entwicklung als Künstler ist im Roman die entscheidende Vorgabe für den
Umgang mit dem Handlungsort München. In der Frage der Kunst besitzt diese Stadt nämlich
einen Einfluss, der von dem einer Kleinstadt weit entfernt ist. Die Residenzstadt bietet ein
reiches Angebot an Kunstwerken und an künstlerischer Förderung, an künstlerischer
Kameradschaft, an ausführlichem Kunstleben, so dass die Entwicklung des grünen Heinrich
nicht von seiner festgelegten Umgebung losgelöst betrachtet werden kann. Desweiteren stellt
sich die Stadt aber auch in der Kunst dar. Mittels Heinrichs Malerei gelingt es Keller, ein
metaphorisches Netz aufzuspannen, in dem sich eine Vielzahl von Hinweisen über München
und Heinrichs Ergehen in München einfangen lassen. Der Gegensatz von Stadt und Land, von
Heimat und Fremde wird in den Bildern zu einem Streit der unterschiedlichen Bildthemen
und Stilrichtungen. Walter Benjamin58 macht auf diese Bedeutung der Kunst für den Roman
aufmerksam; in der künstlerischen Tätigkeit wird der Gegensatz von Heimat und München
sichtbar: „Die Schweiz ist ihm sein halbes Leben lang ein fernes Bild, wie Ithaka dem
Odysseus, gewesen. […] Dem Dichter ist die Odyssee das geliebteste Werk gewesen, dem
angehenden Maler tritt immer wieder eine phantastische Paraphrase der Heimatlandschaft
seinen Naturstudien in den Weg.“59 Der Gegensatz von Stadt und Land ist demnach nicht in
der Größe, Lautstärke oder Anzahl der Menschen, in den verschiedenen Abstufungen von
Urbanität zu suchen, sondern in den leisen, versteckten Unterschieden, die in Heinrichs Kunst
offenbar werden. In Heinrichs Malerei zeigt sich seine Verbundenheit mit der Heimat und
deren idyllischer Landschaft. Dem steht die Wirklichkeit Münchens entgegen, das sich in
Benjamins Augen einer Poetisierung und damit literarischen Übersteigerung wider- 58 Walter
Benjamin: „Gottfried Keller. Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke.“ In:
Gesammelte Schriften. Band II.1. Ebd. S. 283-295. Benjamin schrieb diesen Aufsatz für die
Zeitschrift die Literarische Welt anläßlich des Beginns der Herausgabe der Keller-Werke
durch Jonas Fränkel 1926. Publiziert wurde Benjamins Beitrag im Augustheft 1927. 59 Ebd.
S. 289. 139 setzt: „Wie Kellers Werk durchaus auf unromantischem Grunde erbaut ist, erweist
nichts deutlicher als die unsentimentale, epische Einrichtung seiner Schauplätze.“ 60 Die
romantische Verklärung der Stadt, ihre Verzerrung ins Dämonische oder Phantastische, wie
bei Gogol oder Hoffmann, wird von Keller umgangen. Er lässt das kleinstädtische München
so zur Darstellung kommen, dass der realistische Rahmen nicht verlassen wird, und sich ein
wirklichkeitsnaher Eindruck vermitteln lässt. Die Nähe zu seiner Umwelt zeigt Keller auch
durch die Verwendung historischer Quellen, wie z.B. die Beschreibung des Künstlerumzuges
von Rudolf Marggraff, den er bruchlos in seinen Roman übernehmen kann. Das
„Unsentimentale“ an dem Schauplatz München ist das Fehlen jeglicher Dramatik, die jeder
Stadt – auch München – schnell zugeschrieben werden könnte, die Absage an ihre Rolle als
Verderberin und Verführerin. Die Funktion als „Schreckbild“ erfüllt München nicht einmal in
Ansätzen; weder zu Heinrichs Ankunft noch bei seinem Abschied trägt München Züge einer
großen, unüberschaubaren, unzusammenhängenden, kontrastreichen Stadt. Allein die
Verzerrung des Blickwinkels von Heinrich in den Anfangskapiteln stellt den Eindruck von
Masse und Größe her und lässt auf diese Weise den Gegensatz zu Heinrichs Heimat indirekt –
über das naive, künstlerisch verspielte Gemüt eines unerfahrenen jungen Mannes – entstehen.
Der indirekte Weg, über den der Roman zu einem Gegensatz von Stadt und Land gelangt, ist
ohne den Entschluss des grünen Heinrich, Künstler zu werden, nicht zu erschließen. In
Heinrichs Beziehung zur Kunst liegt der Schlüssel zum Verständnis der Münchner Umwelt
und deren Bedeutung für den Protagonisten. Die Darstellung der Stadt hat in der
Auseinandersetzung von Heinrich mit der Malerei und seinem Künstlerschicksal im Ganzen
eine bedeutende Grundlage. Ohne die Ausführungen zu Heinrichs Kunst würde sich seine
Person nicht in Beziehung zu seiner Umwelt setzen lassen und München als Stadt undeutlich
bleiben. Der Erzähler tritt mit einer Erklärung zu dieser Ausführlichkeit zu Heinrichs Kunst
selbst hervor: „Der Verfasser dieser Geschichte fühlt sich hier veranlaßt, sich gewissermaßen
zu entschuldigen, daß er so oft und so lange bei diesen Künstlersachen und Entwickelungen
verweilt, und sogar eine kleine Rechtfertigung zu versuchen. Es ist nicht seine Absicht, so
sehr es scheinen möchte, einen sogenannten Künstlerroman zu schreiben und diese oder jene
Kunstanschauungen durchzuführen, sondern die vorliegenden Kunstbegenbenheiten sind als
reine gegebene Facta zu betrachten, und was das Verweilen bei denselben betrifft, so hat es
allein den Zweck, das menschliche Verhalten, das moralische Geschick des grü- 60 Ebd. S.
288. 140 nen Heinrich und somit das Allgemeine in diesen scheinbar zu absonderlichen
berufsmäßigen Dingen zu schildern.“61 Die Rechtfertigung des Erzählers für das
Ausschweifen ist folgende: von der Kunst und von dem Künstler lässt sich der Weg zum
Menschen besser finden und der Charakter des grünen Heinrich wird durch sie aus der
Innerlichkeit nach Außen gespiegelt. Damit wird die Motivation seines Handelns in sozialen
und gesellschaftlichen Belangen im Roman erkennbar. Aus der Verortung des Künstler in
seiner künstlerischen Welt will der Erzähler des Romans sehr wohl auch die Positionierung in
der gegenwärtigen, realen Welt mit ihren moralischen allgemeinen Bedingungen abgeleitet
wissen. Zwischen beiden Welten sieht der Erzähler direkte Verbindungen und folgt in der
Auseinandersetzung mit seiner Hauptfigur diesem Muster der Parallelbetrachtung. Folglich
ergeben sich eine Anzahl von Rückschlüssen von der Konzeption der Kunst des grünen
Heinrich auf sein Denken und Handeln im gegenwärtigen Leben. Der Erzähler äußert sich
hier ablehnend zum Künstlerroman und der ausführlichen Kunstbetrachtung, um seine
kritische Distanz dem Künstlerdasein gegenüber Ausdruck zu verschaffen. Im Roman stellt er
wiederholt seine Auffassung vom Antagonismus zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit
dar, die sich wiederum auf die Land – Stadt Betrachtung überträgt. Seine kritischen
Anmerkungen zu Heinrich und seiner Kunst, die sich während des Romans zu einer
unüberbrückbaren Distanz immer weiter aufbaut (und sich hierin mit der Abneigung
gegenüber der Stadt überschneidet), zielen direkt auf die Unfähigkeit, sich im Leben zurecht
zu finden. Aus den künstlerischen Beurteilungen leiten sich direkt die Überlegungen zu
Heinrichs Lebenseinstellung ab; ein dichtes Argumentationsgewebe dient dem Erzähler von
der Beschreibung des einen Aspektes zum anderen zu wechseln: „Weil Heinrich auf eine
unberechtigte und willkürliche Weise an Gott glaubte, so machte er unter anderem auch
allegorische Landschaften und geistreiche, magere Bäume; denn wo der wundertätige
Spiritualismus im Blute steckt, da muß er trotz Aufklärung und Protestation irgendwo
heraustreten. Der Spiritualismus ist diejenige Arbeitsscheu, welche aus Mangel an Einsicht
und Gleichgewicht der Erfahrungen und Überzeugungen hervorgeht und den Fleiß des
wirklichen Lebens durch Wundertätigkeit ersetzen, aus Steinen Brot machen will, anstatt zu
ackern, zu säen, das Wachstum der Ähren abzuwarten, zu schneiden, dreschen, mahlen und zu
backen. Das Herausspinnen einer fingierten, künstlichen, allegorischen Welt aus der
Erfindungskraft, mit Umgehung der guten Natur, ist eben nichts anderes als jene
Arbeitsscheu; und wenn Romantiker und Allegoristen aller Art den ganzen Tag schreiben,
dichten, malen und operieren, so ist dies alles nur Trägheit gegenüber derjenigen Tätigkeit,
welche nichts anderes ist als das notwendige und gesetzliche Wachstum der Dinge. Alles
Schaffen aus dem Notwendigen und Wirklichen heraus ist 61 Keller: Der grüne Heinrich. S.
555. 141 Leben und Mühe, die sich selbst verzehren, wie im Blühen das Vergehen schon
herannaht; dies Erblühen ist die wahre Arbeit und der wahre Fleiß; sogar eine simple Rose
muß vom Morgen bis zum Abend tapfer dabei sein mit ihrem ganzen Corpus und hat zum
Lohne das Welken. Dafür ist sie aber eine wahrhaftige Rose gewesen.“62 Der Erzähler
kommt im Roman immer wieder auf das Einfache, Strebsame und Unschuldige des
Landlebens zu sprechen. In diesem Abschnitt werden die Arbeitsschritte aufgezählt, die zum
Herstellen des Brotes notwendig sind. In der Gegenüberstellung von traditioneller ländlicher
Arbeit und derjenigen des grünen Heinrich an seiner Kunst, die hier zu einer modernen und
städtischen Tätigkeit stilisiert wird, fallen zwei Unterschiede besonders ins Gewicht; zum
Einen arbeitet Heinrich alleine, während die Landbevölkerung miteinander und sich in einer
Kette von Arbeitsschritten zuarbeitet, zum anderen muss der gesellschaftliche Nutzen der
Kunst in dieser Art Vergleich als gering und der Nutzen des Brotes als besonders hoch
erscheinen. So folgt das Landleben Heinrich in die Stadt und Keller lässt das Ländliche an
vielen Stellen als eine zweite – nicht präsente, aber vergangene, erinnerte und vererbte –
Wirklichkeit mitlaufen. Die Verbindung der Farbe grün mit Heinrichs Namen bekommt hierin
seine entscheidende und direkteste Begründung. So wird in der Rede über das Wesen der
Kunst der Gegensatz von Land und Stadt aufgebaut und wie hier immer wieder auf die
Verbindung von Stadt und Künstlichkeit auf der einen, Land und Natürlichkeit auf der
anderen Seite hingewiesen. Im Gegensatz zum Grün, das für die Heimat und die Natur steht,
bekommt die Stadt die graue Farbe zur Versinnbildlichung ihres Wesens. Der Wechsel in die
graue Stadt findet jedoch nicht ohne Übergänge statt. Die Ankunft von Heinrich in München
stellt die Farbenpracht und die bunte Welt der Bilder, Kleider und das Farbenspiel der
Abendröte zur Schau. Mit dem Einsetzen der Nacht verblassen diese Farben, und so wird die
Farblosigkeit bereits in der Beschreibung der Ankunft als Leitmotiv eingeführt. Das Grau
bekommt zur Symbolisierung der Stadt in Heinrichs Kunst eine hervorgehobene Bedeutung
und drängt die anderen Farben an den Rand der Farbpalette. In München widmet sich
Heinrich zwar zunächst der Landschaftsmalerei, diese verwandelt sich aber in dem Takt, in
dem der Maler von seiner neuen Umwelt aufgenommen wird. Die Stadt lässt Heinrich auf
diese Weise in der künstlerischen Arbeit die Heimatlandschaft vergessen. Seine Arbeitsweise
und seine Kunst passen sich der neuen Umgebung an: 62 Ebd. S. 558. 142 „Also Heinrich
versenkte sich nun ganz in jene geistreiche und symbolische Art. Da er seine Jugendjahre
meistens im Freien zugebracht, so bewahrte er in seinem Gedächtnisse, unterstützt von einer
lebendigen Vorstellungskraft und seinen alten Studienblättern, eine ziemliche Kenntnis der
grünen Natur, und dieser Jugendschatz kam ihm jetzt gut zustatten; denn von ihm zehrte er
diese ganzen Jahre. Aber dieser Vorrat blaßte endlich aus, man sah es an Heinrichs Bäumen;
je geistreicher und gebildeter diese wurden, desto mehr wurden sie grau oder bräunlich, statt
grün; je künstlicher und beziehungsreicher seine Steingruppierungen und Steinchen sich
darstellten, seine Stämme und Wurzeln, desto blasser waren sie, ohne Glanz und Tau, und am
Ende wurden alle diese Dinge zu bloßen schattenhaften Symbolen, zu gespenstigen Schemen,
welche er mit wahrer Behendigkeit regierte und in immer neuen Entwürfen verwandte.“63
Die Stadt findet über die Farbwahl und den Stil der Bilder eine nicht unwesentliche
Berücksichtigung im Roman. Das Resultat der sich verändernden Gemälde sind „ossianische
oder nordisch mythologische Wüsteneien“, die der grüne Heinrich nicht aus „eigener
Anschauung“ kennt, sondern sich ihm vor seinem „innere[n] Auge“64 auftun. Die sich mit
München verbindenden urbanen Momente treten somit nicht in einer direkten Abbildung der
Stadt auf, sondern werden über Heinrichs Kunst dargestellt. Dass damit über die
Wahrnehmung der Stadt und das innere individuelle Verarbeiten der Münchner Umwelt
urbane Eindrücke geschaffen werden, ist von entscheidender Bedeutung. Wichtige Faktoren
der Münchner Stadtdarstellung sind dadurch nicht mimetische Bausteine, die zu einer direkten
Abbildung führen, sondern persönliche bildliche Zeugnisse. Die Loslösung von der direkten
Abbildung der Außenwelt ermöglicht eine Abbildung der individuellen Verbindung des
Helden mit seiner Umwelt und damit ein Umfassenderes und realistischeres Bild von
München, das sich in der darstellerischen Breite von der Wahrnehmung bis zur Wiedergabe
erstreckt. Die individuelle Auseinandersetzung mit München und die Darstellung mittels der
Kunst werden auch in einem weiteren Beispiel deutlich. Das Symbol für die Stadt sind nicht
nur die kargen verlassenen Landschaften, sondern auch das Spinnennetz. Heinrich malt „ein
ungeheures graues Spinnennetz“65, an dem er in wochenlangen „dunkle[n] Selbstvergessen“
66 arbeitet. 63 Ebd. S. 555ff. 64 Ebd. S. 556. Das Zitat lautet vollständig: „Und
merkwürdigerweise waren diese Gegenstände fast immer solche, deren Natur er nicht aus
eigener Anschauung kannte, ossianische oder nordisch mythologische Wüsteneien, zwischen
deren Felsenmälern und knorrigen Eichenhainen man die Meereslinie am Horizonte sah,
düstere Heidebilder mit ungeheuren Wolkenzügen, in welchen ein einsames Hünengrab ragte,
oder förmliche Kulturbilder, welche etwa einen deutschen Landstrich im Mittelalter, mit
gotischen Städtchen, Brücken, Klöstern, Stadtmauern, Galgen, Gärten, kurz ein ganzes
Weichbild aus einem anderen Jahrhundert ausbreiteten, endlich sogar hochtragische Szenen
aus den letzten Bewegungen der Erdoberfläche, wo dann die rüstige Reißkohle gänzlich in
Hypothesen hin und wieder fegte.“ 65 Ebd. S. 655. 66 Ebd. 143 Heinrich versinkt dermaßen
in seiner Arbeit, dass sein Malerfreund Erikson sich dazu veranlasst fühlt, Heinrich zu helfen.
Erikson rät ihm: „sieh, wie du aus der verfluchten Spinnwebe herauskommst, die du da
angelegt hast, und wenn du dich mit dem Ding, mit der Kunst oder deren Richtung irgend
getäuscht findest, so besinne dich nicht lange und stelle die Segel anders!“ 67 Die
Gefangenschaft des Protagonisten stellt Keller nicht in erster Linie wie Gogol oder Hoffmann
über die Anlage der äußeren Beschaffenheit der Umwelt und der dort auftretenden Figuren
dar, sondern er lässt Heinrich selber nach einem Ausdruck für seinen Zustand suchen. Dabei
eignet sich das dargestellte Motiv sehr gut als Sinnbild für die Stadt. Das Spinnennetz ist nicht
nur das Abbild für die in der Stadt zusammenlaufenden Verkehrswege, auf denen auch
Heinrich nach München gekommen ist, sondern auch Ausdruck für sein Festsitzen in
München. Bereits zu Beginn des Münchenaufenthaltes wird auf das Netz und die
verführerische Wirkung, die sich hinter diesem verbergen kann, angespielt: „Heinrich war
ausgezogen, die große Germania selbst zu küssen, und hatte sich statt dessen in einem der
schimmernden Haarnetze gefangen, mit welchen sie ihre seltsamen Söhne zu schmücken
pflegen.“68 Der erste Hinweis auf das Netz hebt dessen Funktionen des Festhaltens und des
Gefangennehmens hervor. So wird gleich zu Beginn der Münchenepisode auf die unsichtbare
Bedrohung hingewiesen, die sich mit Schmuck verbinden kann. Die reich geschmückte Stadt
wird zu einem Gefängnis für Heinrich und so ist das Haarnetz eine Vorausschau auf die
Situation, in der sich Heinrich in der fremden Stadt wiederfinden wird. Wie diese
Gefangenschaft genau zustande kommt, macht eine weitere Betrachtung der Begebenheiten in
München notwendig. Denn in der Schilderung des künstlerischen und gesellschaftlichen
Lebens wird die Anziehungs- und die Abstoßungskraft deutlich, der sich Heinrich ausgesetzt
sieht. In der zerstörenden Macht, die die Stadt entwickelt und der sich der Held verstärkt
ausgesetzt sieht, wird der Stadt-Land Gegensatz wieder offensichtlich und setzt seine epische
Dynamik fort. 67 Ebd. S. 660ff. 68 Ebd. S. 546. III – DIE ENTFESSELUNG FREMDER
MÄCHTE. DER KÜNSTLER IM DUNKEL DER STADT „Hibou! combien de fois tes cris
funèbres ne m’ont-ils pas fait tressaillir, dans l’ombre de la nuit! Triste et solitaire, comme toi,
j’errais seul, au-milieu des tenèbres, dans cette Capitale immense: la lueur des reverbères,
tranchant avec les ombres, ne les detruit pas, elle les rend plûs saillantes: c’est le clair-obscur
des grands Peintres!“ Nicolas Restif de la Bretonne, Les Nuits de Paris „Und doch war meine
Nacht noch besser als der Tag!“ Fjodor Dostojewski, Helle Nächte. Gottfried Kellers Roman
Der Grüne Heinrich zeigt sowohl die Faszination für die Stadt als auch die abschreckende
Kraft, die in ihr vorhanden ist. Am Ende des Romans werden die heiteren Stadtbilder des
Anfangs durch Bilder ersetzt, die Unsicherheit und Fremdheit ausdrücken. Der so gestaltete
Kontrast verstärkt den Mythos, den das Thema Stadt in dieser Zeit entwickelt und von dem
sie durch das Jahrhundert begleitet wird. Über die hellen, heiteren und im Laufe der
Jahrhunderte prächtig ausgestatteten Residenzstädten Europas legt sich in der Literatur im
Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr der düstere Ton des Zerfalls und der
Unordnung. Gerade die Residenzstädte entwickeln sich zu einem Raum der Bedrohung, in
dem der Verfall und die Zerstörung mit der Herrlichkeit und dem Übermaß der
Palastarchitektur und der großen Paradeplätze kontrastiert, wodurch das Elend und die
Unterdrückung umso deutlicher hervorgehoben werden. Nicht nur Keller und Hoffmann
stellen diesen Kontrast dar; in Russland spielt St. Petersburg eine wichtige Rolle, um in einer
Stadt diese zwei Gegenwelten darzustellen. Berühmtes Beispiel ist Puschkins Poem Der
eherne Reiter, das hier als erstes untersucht wird. Die Entwicklung des literarischen Bildes der
Stadt hängt in entscheidendem Maße von der in diesem Poem vollzogenen Verlagerung der
Perspektive ab. Nicht der teilnahmslose Beobachter und Chronist, der sich meistens auf die
Geschichte einer 145 Stadt, sprich die Daten und allgemeinen Hauptereignisse stützt,
bestimmt die Erzählperspektive der Erzählung, sondern der kleine Beamte Jewgenij. Seine der
Künstlerfigur dieser Zeit angenäherte Verhaltens- und Sichtweise inszeniert ein St.
Petersburg, das in der Literatur bis dahin noch nicht dargestellt wurde. Was in Gottfried
Kellers Der Grüne Heinrich als Ausgrenzung durch Fremdheit in einem noch nicht bekannten
Raum beschrieben und in den Beginn des Romans episch integriert wird, ist für die Figuren in
Gogols Erzählungen, die die Stadt schon länger bewohnen, längst eine Entfremdung im
bereits bekannten Raum geworden. Ohne den Weg der perspektivischen Eroberung zu gehen,
beginnen die Petersburger Geschichten inmitten der Stadt mit Personen, deren Ankunft in
Petersburg schon vollzogen ist. Die Sicht auf die sie umgebende Welt wird dennoch nur durch
das ihnen zur Verfügung stehende Ausschnittsfenster frei. Diese perspektivische Reduzierung
hängt mit der perspektivischen Eroberung eng zusammen, die die Voraussetzung für das
poetische Zusammenspiel von Innen- und Außenwelt ist. In diesem Kapitel sollen die
ästhetischen Mittel für die Schilderung des Lebens vom Künstler in seiner urbanen Umwelt
untersucht werden und die Verknüpfung von urbaner Lebenswelt und Künstlerumwelt
beleuchtet werden. Die untersuchten Werke sind in ihrer Erzählstruktur, symbolischen
Sprache und topographischen Ausstattung so aufgebaut, dass die Erzählstruktur ein
Ausschnittsfenster freigibt, das eine direkte Verbindung von urbanem Umfeld und innerem
Leben der Figuren ermöglicht. Durch die Isolierung und Ausgrenzung aus der Gemeinschaft
wird dieses Sichtfenster auf die Stadt begrenzt und bekommt eine individuelle Prägung.
Sämtliche Romane und Erzählungen besitzen diesen auf eine Figur eingestellten und
zulaufenden Blickausschnitt in unterschiedlicher Ausprägung und Strenge. Dabei fällt auf,
dass die Stadt zu einem poetischen Umfeld gehört, das in der Zeit, die hier untersucht wird,
immer deutlicher ihr dunkles und mysteriöses Gesicht zeigt. Die romantische Stadt
unterscheidet sich insoweit von der realistischen oder naturalistischen Epoche, als dass sie
noch nicht Züge einer wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Entwicklung in sich trägt,
sondern vielmehr die zeitlosen und dörflichen Strukturen offen legt. Die nahende
Umstrukturierung und der beschleunigte Wachstum der Städte ab der Mitte des 19.
Jahrhunderts wird dabei wie eine Vorahnung in fremden Bildern der Dunkelheit, des
Aberglaubens, des Zaubers, des Fluchs und der dämonischen Kräfte geschildert. Der Künstler
dieser Zeit lebt mit dieser mysteriösen Stimmung und sieht sein Schicksal in engem
Zusammenhang mit der im Wandel befindlichen Stadt. 146 1. Die Verdunkelung der Stadt:
Puschkins Der eherne Reiter Das Eingrenzen des Sichtfeldes auf die Stadt und die poetische
Abhängigkeit dieses Ausschnittes von einer bestimmten Person lässt den urbanen Raum in
einem besonderen Licht erscheinen. Dieses poetische Verfahren hat der Stadt Petersburg in
Puschkins Erzählung Der Eherne Reiter zum ersten Mal eine Färbung ins Dunkle und
Unheimliche gegeben und damit die Ambivalenz im Vorgang der literarischen Abbildung von
Petersburg offen gelegt. Eine Stadt, die bis zum Zeitpunkt von Puschkins und Gogols
Veröffentlichungen der 30er Jahre hymnisch in ihrer ganzen Glorie mehr besungen denn
beschrieben wurde, tritt plötzlich in den Dunst von Verderben, Bedrohung und Ausgrenzung.
Zwar bestimmt die stolze Hauptstadt in all ihrer repräsentativen Pracht und ihrem strahlenden
Reichtum die Einleitung von Puschkins Verserzählung, aber die Tragik und die Vernichtung
durch die verheerende Überschwemmung von 1824 rücken die Verhältnisse im Inneren des
Handlungsablaufs zurecht. Im ersten und zweiten Teil bilden sich Gegensätze heraus, die die
historische literarische Darstellungsweise des Stadtbildes verändern, und vor allen Dingen in
ihren poetischen und erzählerischen Möglichkeiten erweitert. Für Gogol hat diese von
Puschkin verwendete Erweiterung des poetischen Stadtbildes eine große Bedeutung.
Zusammen mit den Vorboten der Flut tritt Jewgenij zu Beginn des ersten Teiles des Poems
auf. Im Anschluss an die Einleitung mit der Ruhmesrede auf die Stadt und Peter den Großen,
„den Herrscher […] der halben Erde“1, tritt der kleine unbedeutende Beamte auf die Szene,
der in der ursprünglichen Fassung des Poems noch ein Dichter gewesen ist. Seine Einfachheit,
die sich im Verlauf von Puschkins Arbeit in Bolldino im Herbst 1833 in den verschiedenen
Fassungen immer weiter steigert, macht deutlich, welche Art der Polarität Puschkin seiner
Erzählung zu Grunde legen will. Die Beleuchtung von Jewgenijs Schicksal entweiht die von
Peter dem Großen aufgebaute Petersburger Glorie und Herrlichkeit und zieht der Stadt im
Verlauf des Poems eine Maske herunter. Der Glanz und die Machtrepräsentation bekommen
vor dem Hintergrund der Flutkatastrophe und der verheerenden Folgen für große Teile der
Bevölkerung eine neue Bedeutung. Wie in Grillparzers Novelle Der arme Spielmann die Stadt
Wien, wird Petersburg von einer Flutkatastrophe heimgesucht. Unter der Überschwemmung
haben die einfachen Leute in ihren ärmlichen Behausungen am Rande des Flusses am
stärksten zu leiden. Die durch die Na- 1 Alexander Puschkin: Der Eherne Reiter. Übertragen
von Wolfgang E. Groeger. Berlin: Newa Verlag 1922. S. 38. 147 turgewalt entstandene
bedrohliche Atmosphäre entwickelt sich zu Beginn des Ehernen Reiters, steigert sich langsam
und richtet sich immer stärker gegen die Stadt und die Menschen, die in ihr leben. Jewgenij
hilft die ganze Pracht und kraftstrotzende Repräsentation und Dekoration einer aufwendig
errichteten Hauptstadt nicht in der entstandenen Not. Er muss sich vor der Flut auf einen der
am Senatsplatz aufgestellten Löwen retten und hebt durch die Ironie des Bildes, er sitzt auf
dem Raubtier mit Blick auf die Statue Peter des Großen, seine Hilflosigkeit und Bedürftigkeit
noch mehr hervor. Jewgenijs Schicksal nimmt aber erst am folgenden Tag die eigentliche
tragische Wendung. Als er über den Fluss setzt, um seine Geliebte zu suchen, muss er
feststellen, dass sie und ihr Haus verschwunden sind. An ihrer früheren Wohnstätte findet er
nur noch ein Chaos von Resten zerstörter Häuser und Trümmer vor. Leichen liegen auf der
Straße. Hier wandelt sich das Bild der prächtigen, strahlenden und lebensfrohen Stadt, die
sich und ihre Bewohner in Festen und Paraden feiert, in ein Wasteland. Ein Bild des
Schreckens und der Zerstörung bietet sich den Augen des armen Helden: „Ohne
aufzuschauen,/ Lief er landein. Gar wohl vertraut/ Sind ihm die Straßen hier. Er schaut.../ Und
kennt nichts mehr: o Bild voll Grauen!/ Durch Trümmer ist der Weg verlegt;/ Verwirrt,
zerbrochen, weggefegt/ Ist alles hier; die Häuser liegen/ Wirr durcheinander; Wände, Stiegen/
Sind eingestürzt zu Hauf ringsum;/ Wie auf dem Schlachtfeld schlummern stumm/ Und reglos
Leichen.“2 Von dem Verschwinden seiner Geliebten getroffen und durch die Ungewissheit
ihres Schicksals um den Verstand gebracht, zieht Jewgenij von nun an verwirrt des Tags und
des Nachts durch die Stadt. Jewgenijs Ausgrenzung aus der Gesellschaft drückt sich
insbesondere in den Bildern der Stadt aus. Jedes Anzeichen eines Sturms, das leichte Kräuseln
der Wellen auf der Newa, die Zunahme des Windes etc., ruft Jewgenij die schicksalsvolle
Nacht zurück ins Gedächtnis. Während er von der Erinnerung verfolgt durch die
wiederhergestellte Stadt stolpert, nimmt das Leben um ihn herum seine gewohnte Form an.
„Das Leben trat in seinen Kreis/ Und lief in dem gewohnten Gleis.“3 Hier liegt die Spannung
verborgen, die der Lage Jewgenijs ihre traurige Ausrichtung gibt. Es entsteht ein ins Auge
springender Kontrast zwischen der wenig bekümmerten Bevölkerung und dem aus dem Gleis
geworfenen Beamten. Hierdurch wird die Beschreibung der Stadt von Grund her geprägt.
Nach der Flut gehen die Bewohner Petersburgs noch besorgt zu Bett, während sie am
folgenden Tag bereits ihren gewohnten Geschäften nachgehen, wenig betroffen von den
Ereignissen: 2 Ebd. S. 32. 3 Ebd. S. 35. 148 „Die Beamtenflut/ Strömte zum Dienst, halb
ausgeruht./ Den von dem Strom beraubten Laden/ Tat auf der Krämer, unverzagt,/ Um an der
Herrschaft und der Magd/ Zu rächen den erlittnen Schaden./ Es wurde flink von Platz und
Hof/ Manch Boot gekarrt./ Der Graf Chwostof,/ Ein Dichter, den die Musen lieben,/ Hatte in
Versen schon beschrieben/ Des Newaufer Schreckenstag.“4 Während sich Jewgenijs
Kollegen nach der stürmischen Nacht nur „halb gestört“ in ihrem Schlaf auf den Weg zur
Arbeit machen und die Dichter schon das Ereignis zu neuen Werken verarbeiten, kehrt
Jewgenij weder an seinen Arbeitsplatz noch in seine Wohnung zurück. Die Resistenz der
Petersburger deutet sich schon während der Flut an. Das Standbild von Peter dem Großen an
seinem Platz am Ufer trotzt unbedroht den Wellen. Dieses Bild des sich den Naturgewalten
entgegenstemmenden Reiters kontrastiert mit dem aufgewühlten Inneren des kleinen
Beamten, den die Erinnerung an den Sturm und die Wassergewalten nicht mehr loslassen. Die
elementaren Naturkräfte beherrschen in der Folge Jewgenijs Wesen. Die Bilder der Newa und
des Himmels über St. Petersburg sind im poetischen Fortlauf der Geschichte als geistige
Verfassung des Helden übersetzbar und damit nicht nur Metaphern für einen inneren
seelischen Zustand, sondern zugleich Auslöser des Gemütszustandes. So entsteht eine
wechselseitige Verflechtung von Innen- und Außenwelt, wobei die stärkere Einflussnahme
des einen auf den andern nicht erkennbar ist. Der perspektivische Aufbau mittels der
Hauptbetrachterfigur ermöglicht also die Konstruktion der Bilder und Szenen in beide
Richtungen. Wie sich Jewgenijs innerer Zustand auf die Stadt überträgt, zeigt sich im zweiten
Teil des Poems, als er durch die Straßen wandelt, die verlassen und leer sind und überwiegend
in der Dunkelheit der Nacht beschrieben werden. Die Bilder der Zerstörung und der
Verwüstung, die Jewgenij am anderen Flussufer gesehen hat, übertragen sich so auch auf den
Rest der Stadt. Die Übertragung findet aber nur durch ihn statt. Er wandert durch eine Stadt,
die ihm immer fremder und distanzierter vorkommen muss, je deutlicher sich ihm der
Konflikt zwischen dem äußeren Schein und dem grausamen Geschehen zeigt. Puschkin
integriert auf diese Weise Petersburg in den Erzählaufbau und lässt die Stadt zu einem
vielseitigen Akteur werden, der an Jewgenijs Ausgrenzung beteiligt ist. Die dämonische
Macht in der Stadt verknüpft sich mit Peter dem Großen, der allein in dem von Falconet
geschaffenen Standbild das Poem beherrscht. Puschkin nennt ihn in der ursprünglichen
Fassung ‘Kumir’ (Götterbild), das die Zensur in ‘Gigant’ umwandelt. Das Standbild ist den
Kräften der Natur näher als denen des lebenden Zaren. Durch das Überhöhen im 4 Ebd. S. 36.
149 Kunstwerk des Standbildes, dem in seiner Darstellung die Akzentuierung von Kraft und
Macht gelingt, durch seine Beständigkeit über die Jahrhunderte, die der Vergänglichkeit Peter
des Großen entgegensteht, wird der Gründer der Stadt zu einer mythologischen Figur, die
weder vergänglich noch angreifbar scheint. Peter der Große ist „Wie Russland stolz und
unbezwungen!“ 5 Dies gilt für die Geschichte wie für das gegenwärtige Geschehen. Aber erst
durch das Standbild symbolisiert sich die Einheit von Stadt und Person auf der poetischen
Ebene. Puschkins Werk macht dies deutlich: Der Zar wird immer wieder als der Gründer der
Stadt und als ihr eigentlicher Schöpfer genannt. Aber die Verbindung von Zar und Stadt, die
sich schon aus dem Namen ergibt, wird erst unauflösbar, als der Standort des Denkmals
deutlich wird. Durch die Aufstellung auf dem Senatsplatz, mit dem Blick auf die Newa, hat
das Standbild einen die Stadtgeographie beherrschenden Ort zugewiesen bekommen. Im
Mittelpunkt der Stadt, auf einem weiten Platz kann das Denkmal seine sich weit über die
Stadt erstreckende Wirkung entfalten. Puschkin macht diese mit dem Standort verknüpfte
Dominanz in seinem Werk deutlich, indem er den ziellos umherirrenden Jewgenij immer
wieder ungewollt an diesen Ort zurückkehren lässt. Und genau aus dieser stadtbeherrschenden
Stellung entwickelt sich die übernatürliche Macht, die den Reiter am Höhepunkt des Poems
lebendig werden lässt. Die Stadt besitzt somit ihren eigenen jenseitigen Raum, eine ihr
eingeschriebene Vergangenheit, die sich aus der Geschichte gelöst hat und eng mit dem
Ehernen Reiter verbunden ist. Der echte Peter besitzt keine menschlichen Kräfte mehr,
sondern hat durch die zahlreichen Überlieferungen bereits die der Götterwelt empfangen. Der
Streit von jenseitigen und diesseitigen Kräften im Poem geht zu Gunsten der jenseitigen aus.
Die Naturgewalten, die göttlichen Kräfte des Zaren, liegen weit über dem einfachen Bemühen
der Stadtbewohner, die sich auf das tägliche Überleben konzentrieren. Jewgenij sieht das
Fremde über der Stadt aufziehen. Die Selbstbestimmung seines Lebens stellt er in Frage.
Seine Handlungen sind eingeschränkt wie in einem Traum. Die Natur und die dämonischen
Kräfte, die sich verbünden, bestimmen sein Schicksal: „Ist es ein Traum, dies Meererbeben?/
Ist unser ganzes Leben nur/ Ein Traum der höhnenden Natur?/ Als wie gebannt vom Blick des
Bösen,/ Kann sich Eugen vom Stein nicht lösen!/ Ringsum, im Schein des fahlen Lichts,/ Ist
trübes Wasser – weiter nichts./ 5 Ebd. S. 17. 150 Und auf granitnem Postamente,/ An
unbewegtem Felsenrand,/ Ragt starr, mit ausgestreckter Hand,/ Aus dem empörten Elemente/
Auf erznem Rosse der Gigant.“6 Schließlich wird die Zivilisationskritik vor dem Hintergrund
des Schicksals und der Ausgrenzung Jewgenijs immer deutlicher und steht am Ende als
Puschkins stille Anklage an Peter den Großen, der die Stadt ohne Rücksicht auf die Erbauer
und ihre Bewohner an einer einsamen und durch ungünstige Naturverhältnisse ständig
gefährdeten Stelle errichten ließ. Aber nicht die Natur in ihrer besonderen Gestalt am
verzweigten Ausfluss der Newa am finnischen Meerbusen ist ausreichender Grund für die
große Verbreitung von Tod und Schrecken, sondern die ausgedehnte Besiedelung und
Errichtung einer Stadt an dieser ungünstigen Stelle. Rousseaus Äußerungen zu dem Erdbeben
von Lissabon im Jahre 1755 folgend, ist nicht die Natur in ihren unterschiedlichen
Ausbrüchen von Kraft und Gewalt Ursache des Unglücks, sondern die Tätigkeit des
Menschen, seine Errichtung von Gebäuden und Städten. In dem Poem „Der Eherne Reiter“ ist
die Flut nicht ausreichender Grund für das Unglück, weil ohne den Befehl Peter des Großen
zur ausgedehnten Besiedelung und Errichtung der Stadt an diesem politisch und strategisch
zwar günstigen, zur Errichtung einer dichten Besiedlung aber gänzlich ungünstigen Ort, das
Verhängnis nicht eingetreten wäre. Die Schilderung der Geschehnisse in Puschkins
Petersburg-Poem ist in zeitlicher („das Schicksalsjahr“) und in räumlicher Nähe zum
Dekabristenaufstand zu sehen. Diese im 19. Jahrhundert für die Zaren gefährlichste Erhebung
findet im Dezember 1825 statt, nachdem Alexander I. im November gestorben war und es zu
einem Streit um die Trohnnachfolge kommt. Bedeutendster Ort der Geschehnisse ist der für
das Poem wichtige Senatsplatz, auf dem sich die verschiedenen Truppenteile, Anhänger von
Nikolaus I. und die aufständischen Offiziere gegenüberstehen. Die Regimenter hatten sich am
26. (14.) Dezember 1825 versammelt, um den Eid auf den neuen Zaren zu leisten. Der
Aufstand endet mit dem Sieg der zarentreuen Armee-Einheiten. Die aufständischen Offiziere,
darunter viele Freunde und geistige Weggefährten Puschkins, werden ein Jahr später
hingerichtet oder in die Verbannung geschickt. Der Aufstand ist eine Art Prolog für die
Regierungszeit Nikolai I. und hat Folgen für dessen 30 Jahre währenden Führungsstil. Der Zar
und sein Regime bekommt durch den Aufstand die Vorsicht und die eigene Sicherung von
Anfang an für ihre Amtshandlungen mit auf den Weg gegeben. Das autoritäre und die
Gesellschaft ständig kontrollierende Regierungssystem, das der Marquis Astolphe de Custine
auf seiner Reise 1839 erschreckt vorfand und in 6 Ebd. S. 27. 151 seinen Lettres de Russie7
detailliert beschrieb und verurteilte, hatte eben in der Wahrung der Kontrolle über die Stadt
und das Land begonnen und sich in ihren weiteren Regierungshandlungen – durch die
Bedrohung der zentraleuropäischen Revolutionen 1830 und 1848 am Leben erhalten –
fortgesetzt. Wie weit die politische Kontrolle und die Beobachtung durch die Zensurbehörden
und Bevollmächtigten reicht, der sich Puschkin, Gogol und ihre Kollegen unterwerfen
mussten, wird in dem Poem versteckt dargestellt. Ohne mit einem Wort direkt auf den
Aufstand einzugehen, werden die Folgen der Flut mit den Folgen des Aufstandes in einen
poetischen Zusammenhang gestellt. Die Gewalt des Volkes wird von Puschkin geschickt in
die Nähe der Gewalten der Natur gerückt. Die Rede des Zaren vom Balkon herunter ist ein
Zusammenlegen der doppelten Machtlosigkeit, der sich die Zaren ausgeliefert sehen: „In
jenem schicksalsschweren Jahr/ Regierte noch, ruhmvoll und weise,/ In Russland der
verstorbne Zar./ Er, dessen Herz voll Güte war,/ Trat still auf den Balkon, und leise/ Sprach
er: «Nicht können Könige Krieg/ Mit Gottes Elementen führen.»/ Er schaute auf die Flut und
schwieg,/ Im Herzen ein erschüttert Rühren.“8 So wie die Wellen der Flut über den
Senatsplatz laufen, gehen ein Jahr später über den selben Platz die Wellen des Aufstandes
hinweg. So schwingen, ohne dass Puschkin ein ausdrückliches Wort über den Aufstand fallen
lässt, die Ereignisse des Dezembers 1825 in dem Poem mit. Die Beklemmung, die Jewgenij
spürt und die mit dem Reiterstandbild Peters des Großen in Verbindung steht, rührt auch von
der Niederschlagung des Aufstandes her. Puschkin beschäftigte sich in dieser Zeit mit dem
Pugatschow-Aufstand – ein für die russische Zarin Katharina die Große bedrohlicher
Aufstand der Bauern 1773-1775 –, der von dem Kosaken Jemeljan I. Pugatschow angeführt
wurde. Puschkin hegte große Bewunderung für Pugatschow. Ein weiteres Indiz für die
Bedeutung der Dezembererhebung für die bedrohliche Stimmung in Der Eherne Reiter ist die
enge Anknüpfung, die Andrej Belyj in seinem Roman Petersburg (1922) an Puschkins Werk
sucht. Belyj nimmt das fast hundert Jahre ältere „Petersburgpoem“ als Inspiration,
Motivschatz und geistige Vorlage für seinen Roman9. Er setzt die bedrohliche Stimmung, die
sich aus den Unruhen im Umfeld der Revolution von 1905 ergeben, ebenfalls aus einer
Natursymbolik zusammen, die derjenigen des Vorbildes ähnlich ist. Das 7 1843 erscheint die
Buchausgabe La Russie en 1839 und wird im gleichen Jahr auch ins Deutsche übersetzt. 8
Puschkin: Der Eherne Reiter. S. 24. 9 Siehe in Belyjs Roman die Motti aus Puschkins Werk
zu Beginn jeden Kapitels. Das erste Kapitel von Belyjs Roman beginnt mit den ersten Versen
des Ehernen Reiters. 152 permanent wechselnde, unbestimmbare Licht, die Nebel, Wind und
Wasser sind hier die vorherrschenden Elemente, die Belyj den Stadtbildern unterlegt und
dadurch die Atmosphäre einer durch etwas Unbekanntes, das sich im Laufe des Romans als
ein Volksaufstand entpuppt, bedrohten Stadt nachbildet. Die Verbindung der Elementarkräfte
mit der Revolution, von Natur- und gesellschaftlichen Kräften bereitet der Stadt einen
geeigneten Boden, auf dem sich die diabolischen Mächte umso leichter entwickeln können.
Die Anfälligkeit der Stadt Petersburg für die Geister rührt nicht wie im Berlin E.T.A.
Hoffmanns von philiströser Ruhe und Ordnung her, sondern von den elementaren Gewalten
der Natur. Die Brücke zwischen Naturgewalten und Volksaufstand lässt sich ebenfalls
schlagen, wenn die historischen Folgen des Dekabristenaufstandes betrachtet werden; die
Verfolgung der geistigen Elite Russlands kann mit den Ereignissen nach der Flut verglichen
werden. Das Aufräumen nach der Zerstörung durch die Flut, wie es im Ehernen Reiter
dargestellt wird, ist die Wiederherstellung des gewohnten Lebenslaufs nach der Katastrophe,
die Rückkehr zur Normalität ist ein versteckter Vergleich mit den Bemühungen von Nikolaus
I., unter seiner Herrschaft das zaristische System nach der Niederschlagung des Aufstandes
wie bisher weiterzuführen. Vor dem Hintergrund der Flut findet aber eine tiefe
gesellschaftliche Veränderung statt. In Petersburg ist die Situation nach der Katastrophe nicht
die selbe wie vorher. Die Konzentration auf das Einzelschicksal, das Puschkin in seinem
Poem ästhetisch umsetzt, lässt die Veränderung besonders augenscheinlich werden. Die
Bilder des machtvollen Zaren, der dem frevelnden, ihn in Frage stellenden Jewgenij auf
seinem Pferd des Nachts hinterher setzt, macht den alleinigen Herrschaftsanspruch der Zaren
deutlich. Die Aufrechterhaltung dieses Machtanspruches führt zur Verfolgung jedes
Individuums, das sich dem politischen Willen des Zaren widersetzt. So wird symbolisch die
ständige Kontrolle und die zahlreichen Eingriffe der zaristischen Regierung in das
Geistesleben nach 1825 dargestellt. Sie belasten das Verhältnis zwischen Künstler und
Gesellschaft wie in keinem anderen Land in Europa zu dieser Zeit. Die Stadt Petersburg stellt
dadurch einen Ort dar, der dem Künstler wenig Luft lässt und die freie künstlerische
Entfaltung erschwert. Die Dämonisierung der Stadt ist der Versuch, die Unterdrückung der
freien Äußerung poetisch verdeckt darzustellen. Die in Petersburg sich der Kunst
entgegenstellenden Verhältnisse werden so von Puschkin, wie auch später von Gogol, in die
Darstellung der Stadt eingefügt. Die dem Künstler dämonisch verklärt gegenüberstehende
Stadt, mit der er sich nicht zu verbinden vermag, wird in der Literatur ein häufig
anzutreffendes Sujet. Die Dämonisierung der Stadt ist der Versuch, einen Ausdruck für die
der Kunst feindlich gegenüber stehende Macht, die sich aus dem Hof und Teilen der
bürgerlichen 153 Gesellschaft zusammensetzt, zu finden. Die Stadt Petersburg wird auf diese
Weise als ein Ort beschrieben, an dem die Künstler in ihrer Arbeit behindert werden, weil
große Teile der Stadtbevölkerung rücksichtslos ihren eigenen Nutzen verfolgen. Die
Dämonisierung der Stadt ist auch von E.T.A. Hoffmann vielfach in seinem Werk poetisch
umgesetzt. Die Erzählung „Des Vetters Eckfenster“ führt die diabolische Macht vor, die die
Stadt besitzt und die der Schriftsteller in Ansätzen entdeckt, als er hinunter auf den
Gendarmenmarkt blickt. Wie bei Puschkin und Gogol, die beide durch Odojewskij mit
Hoffmanns Werken vertraut sind10, entsteht die Täuschung und der Spuk aus dem einfachen
und gewöhnlichen urbanen Geschehen heraus. „Es scheint, als habe das dämonische Berlin
Hoffmanns nachgerade seinen Ursprung im aufgeklärten Berlin selber, als stellten gerade die
Ritualisierung des Alltagslebens und die Methodik der Lebensführung ein sicheres und enges
Gehäuse dar, in dem Spuk und Gespenst eine bevorzugte Heimstatt haben.“11 Diese
Äußerung von Brüggemann geht auf den Kern der Hoffmannschen Verfremdung ein. Wenn z.
B. in der Erzählung „Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus dem Jahre 1809“ ein gewöhnlicher
Passant aus der Menge hervortritt, der wie viele andere gewöhnliche Bürger den Nachmittag
im Tiergarten verbringt, so ist an der Person zu Beginn nichts Geheimnisvolles zu bemerken.
E.T.A. Hoffmanns Spiel mit den verschiedenen Realitätsebenen macht die Person des Ritters
Gluck um so geheimnisvoller, je später sich das Ungewöhnliche an seiner Person zeigt. Das
plötzliche Hervortreten des Dämonischen aus der Mitte der Stadt, das Erscheinen aus ihrem
ganz gewöhnlichen Ablauf gibt dem Spuk eine erhabene Wirkung. Derart entstehen in der
Erzählung „Des Vetters Eckfenster“ aus dem gewöhnlichen Alltagsgeschehen die
wunderlichen Gestalten und Tiere, die das Bild der Stadt verfremden. Eine gewöhnliche
Marktfrau, die einen Sack auf dem Rücken trägt, wird auf diese Weise zum Känguru. In
Gogols Werk setzt sich der geschickte Umgang mit den verschiedenen Wirklichkeitsebenen
fort. Ein wichtiger Bestandteil der Verfremdung in Gogols Werk sind die glaubhaften
Elemente. Die Phantasiewelt beginnt jedesmal an dem Ort, an dem weder etwas Auffälliges
stattfindet noch besondere Personen auftreten. In den sehr gewöhnlichen Lebensläufen ent- 10
E.T.A. Hoffmann wird in den Kreisen um den Dichter und Forscher Fürst Wladimir
Fjodorowitsch Odojewskij gelesen. Dieser ist der Initiator und Vorsitzende des Kreises der
Weisheitsfreunde (1823-25). Dort beschäftigt man sich mit der deutschen idealistischen
Philosophie (Schelling) und romantischen Dichtung (Tieck, Novalis, E.T.A. Hoffmann).
Zusammen mit Küchelbecker gibt er den Almanach Mnemosina (1824/25) heraus. Seit 1826
führt er seinen Petersburger Salon, der Zentrum des literarischen, musikalischen Lebens ist.
Odojewskij ist eine exzentrische Persönlichkeit, interessiert an Literatur, Musik und den
Naturwissenschaften. 11 Heinz Brüggemann: Das andere Fenster. Einblicke in Häuser und
Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform. Frankfurt: 1989. S.
101. 154 stehen plötzlich Unebenheiten, zunächst alltägliche Ereignisse, die sich zu Auslösern
dramatischer Entwicklungen steigern. 2. Diabolische Symbole der Stadt: Das Porträt von
Nikolai Gogol In der Erzählung Das Porträt stellt Gogol einen Künstler in seinem von der
Stadt Petersburg abhängenden Lebenswandel dar12. Wie in der Erzählung Der NewskijProspekt geht es um einen Maler, der sich der Verführung durch seine Umwelt nicht
widersetzen kann und am Ende an der – in sich selber aufgebauten – Illusion zu Grunde geht.
Wie schon in Puschkins ‘Petersburger Poem’ Der Eherne Reiter ist der epische Ablauf in
Gogols Werk ohne den Bezug auf die russische Hauptstadt nicht verständlich. Es geht wieder
eine dämonische Kraft von ihr aus, die tief in der Stadt an der Newa verwurzelt ist. Analog
zum Newskij-Prospekt (und den anderen Petersburger Erzählungen) sind die stadtbezogenen
Angaben und Beschreibungen so umfangreich und in die Struktur des Textes verwoben, dass
die Möglichkeiten einer räumlichen Orientierung gegeben sind. Diese konsequente, durch die
Erzählweise unterstützte Orientierung im Petersburger Raum dient nicht nur zur
Charakterisierung einer Stadt, sondern verwickelt vielmehr das Schicksal ihrer Hauptfigur mit
den konstitutiven Elementen einer festgelegten und poetisch wahrgenommenen urbanen
Umwelt. Noch prägnanter als in Der Newskij-Prospekt sind in dieser Erzählung die für einen
Künstler relevanten Züge der Stadt an der Newa ausgearbeitet, d.h. wird das
künstlerspezifische Umfeld beschrieben. Und Gogol macht auch hier deutlich, was in Der
Newskij-Prospekt schon anklingt, dass er in der Stadt Petersburg einen Ort sieht, an dem sich
täglich die ganze Ablehnung der Gesellschaft gegenüber dem Künstler manifestiert. Ein
Beispiel hierfür ist das sich in Gogols Werk wiederholende Thema der Verführung, das
mittels der Personifizierung über den urbanen Motivkomplex gelegt wird. In beiden
Erzählungen ist die Verführung Mitte und Wendepunkt der Handlung und bringt die Künstler
Tschartkow13 und Piskarjew von ihren vorgezeichneten Wegen ab und setzt sie ihren
eigentli- 12 Die erste Fassung der Erzählung Das Porträt erscheint 1835 in der Sammlung
Arabesken. Die zweite Fassung dieser Erzählung erscheint 1842 zusammen mit den
Aufsätzen „Skulptur, Malerei und Musik“, „Die Architektur in der heutigen Zeit“ und „Der
letzte Tag von Pompeji“ in der Zeitschrift Sovremenik. Bjelinskij hatte die erste Version der
Erzählung noch als mißglückten Versuch bezeichnet, in die Gattung der phantastischen
Literatur vorzudringen. Nicht zuletzt wegen dieser Kritik überarbeitete Gogol die Erzählung
noch einmal und gibt dem Geschehen der zweiten Fassung von 1842 einen weniger
phantastischen Verlauf. 13 Der Name des Künstlers Tschartkow (tscherdak= Russisch für
Dachboden) und sein Wohnort gehen zurück auf einen Vorschlag von W. F. Odojewskij.
Odojewskij schlägt Puschkin und Gogol vor, 155 chen Bewährungsproben aus. In beiden
Erzählungen gehen die Verführungen von Personen aus, die zu Gruppen gehören, die
besonders mit dem schnellen Wachsen und mit der Misere der Städte in Verbindung stehen.
In Der Newskij-Prospekt sind die Prostituierte und in Das Porträt der Wucherer, der nachts
aus dem Porträt steigt, Auslösende und Ausführende der Verführung. Da beide Figuren fest
mit den modernen urbanen Lebensformen verkettet sind und ihre Tätigkeiten als in
besonderem Umfang von der urbanen Lebensumwelt abhängig bezeichnet werden können
(Gogol drückt dies im Anschluss an seine Beschreibung des Stadtviertels Kolomna aus), wird
die Verbindung von den Themen Stadt und Verführung manifest. Daher kann von einer
sinnbildlichen Personifizierung der Stadt Petersburg gesprochen werden, durch die Gogol
urbane Lebenswelt zu charakterisieren vermag. Während in der Erzählung Der NewskijProspekt das Symbol für die Verführung die fremde Frau auf der Straße ist, steht in Das
Porträt das Abbild des Wucherers für die Verlockung. Beide, Prostituierte und Wucherer,
verkörpern Verlangen und Hoffnungen und sind mit dem urbanen Leben, wie es sich
insbesondere im 19. Jahrhundert entwickelt, eng verknüpft. Auch Piskarjew und Tschartkow
streben nach Anerkennung, Ruhm und Erfolg beim anderen Geschlecht. Gogol gibt hierfür zu
Beginn der beiden Erzählungen eindeutige Hinweise. Die fehlende Erfüllung ihrer Wünsche
und Hoffnungen führt zu dem Glauben, in einer Scheinwelt das Vermisste vorzufinden.
Piskarjew flieht in eine Traumwelt von der idealen Liebe und Tschartkow in eine Illusion, ein
wirklich großer und bedeutender Künstler zu sein. Ihre Illusionen lösen sich am Ende auf und
entlassen sie in eine Realität, die sie beide in den Wahnsinn treibt und für beide den Tod
bedeutet. Die verführende und feindliche Umwelt der Stadt wird in Gogols Werk zum
Verhängnis verschiedener Figuren. Aber in den beiden Künstlererzählungen weiß er die
Bedrohlichkeit der Stadt auf den Typus des Künstlers auszurichten. Die dem Künstler in der
Stadt feindlich drei Geschichten zu schreiben, die alle im selben Haus spielen. In dem Brief
vom 16.(28.) September 1833 schreibt Odojewskij Puschkin: „Der erste [Odojewskij selber]
[beschreibt] die Wohnetage, der zweite [Gogol] – den Dachboden; könnte nicht Herr Belkin
[Odojewskij nennt Puschkin nach dessen Erzähler der 1831 erschienenen Die Erzählungen
des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin] es auf sich nehmen, den Keller [zu beschreiben]?“
Wasilij Gippius: N.W. Gogol w pismach i wospominanijach. [Gogol in den Briefen und
Erinnerungen seiner Zeitgenossen.] Moskau: Federazija 1931. S. 74. Weiter schreibt
Odojewskij: „Rudyj Panek [gemeint ist Rudyj Panko, der als Herausgeber von Gogols
Erzählungen in Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka auftritt] hat selbst vorgeschlagen den
Almanach folgendermaßen zu benennen: Trojtschatka oder Almanach der drei Etagen. Was
sagt Herr Belkin zu alledem?“ idid. Puschkin antwortet in dem Brief vom 18. (30.) Oktober
1833 an Odojewskij: „Warten Sie nicht auf Belkin; er sieht nicht ohne Grund einem
Verstorbenen ähnlich; er kann weder in der Wohnung oder dem Wohnzimmer von
Gomosejko [Odojewskij] noch dem Dachboden von Panko verkehren. Es wäre unwürdig, ihn
in ihrer Umgebung auftreten zu lassen...“ Ebd. [Übertragung vom Verfasser dieser
Untersuchung.] Siehe auch N. G. Maschkowzew: Gogol w krugu chudoshnikow. S. 12f. 156
gesinnte Stimmung kommt bereits im Anfangsabschnitt zum Ausdruck, in dem eine
Kunsthandlung beschrieben wird. Einförmigkeit, Langeweile und künstlerisches Unvermögen
machen sich auf den angebotenen Bildern in der Auslage breit: „Hier aber war nur eines zu
verspüren: absoluter Stumpfsinn und eine kraftlos kümmerliche Talentverlassenheit, die sich
ganz unverfroren auf die Kunst geworfen hatte, da doch ihr eigentliches Feld im besten Fall
ein Handwerk von der gröbsten Art gewesen wäre.[…]. Dafür waren Zeugen diese Farben
und der flotte Strich, das lockere Gelenk und die geübte Hand, die eher einem primitiven
Automaten als einem richtigen Menschen zu gehören schienen.“14 Nicht nur
Interesselosigkeit an künstlerischer Tätigkeit, sondern schiere Kunstfeindlichkeit wird in dem
Angebot dieses Geschäftes deutlich. Die Bilder scheinen nicht durch Künstlerhand, sondern
mechanisch entstanden zu sein. Dies drückt sich auch in der Art und Weise des Verkaufs aus.
Allein ein lautstarker und geschickt agierender Händler zieht die Kundschaft an und versteht
es, durch ausgiebiges Anpreisen seiner Ware die Kunst abzusetzen. Die Veräußerung von
Kunst unterscheidet sich insofern nicht von dem Absatz anderer Gegenstände, die auf dem
Markt des Gostinij Dwor angeboten werden. Der Kunsthändler reiht sich ohne Unterschied in
die Menge der anderen Kleinhändler ein. Die Hervorhebung gilt auf diese Weise gleich zu
Beginn der Erzählung dem wirtschaftlichen Aspekt der Kunst, ein Akzent, der sich mit Blick
auf Tschartkows Schicksal nicht verschieben, sondern festigen soll. Auch die Negation des
Künstlers schreibt sich hier in die Geschichte ein, da sich niemand für die Schöpfer hinter den
Bildern interessiert. Sie sind wie die meisten auf dem Markt angebotenen Gegenstände
anonym entstanden und werden ohne Bezug zu den Schöpfern verkauft. Tschartkow ist ein
junger Künstler, der am Anfang seiner Laufbahn steht. Seine Selbstzweifel betreffen seine
künstlerische Betätigung und kommen früh in der Novelle zum Ausdruck. Auf dem Heimweg
von der Kunsthandlung, in der er das Porträt eines geheimnisvollen Mannes erworben hat,
setzt bereits der mysteriöse Einfluss des Bildes ein, der seinen Selbstzweifel nährt und dem er
fortan nicht mehr entkommen soll. Mit dem erworbenen Porträt unter dem Arm geht er in
Gedanken versunken durch die Stadt und stellt sich Fragen nach dem Wesen der Kunst15. Die
einsetzenden Auswirkungen auf Tschartkow werden in der Szene manifest, in der er die
anbrechende Dämmerung und die sich verändernden Lichtverhältnisse betrachtet, und er sein
kontemplatives Anhalten mit dem Ausruf „Hol’s der Teufel“ abbricht. 14 Gogol: Das Porträt.
Übersetzung Holm. S. 111. 15 Siehe Ebd. S. 230. 157 Tschartkows Gedanken über die Kunst
beinhalten neben den Reflexionen zum Wesen der Kunst und den Überlegungen zu ihrer
Ausübung die bereits in der Kunsthandlung manifest gewordene wirtschaftliche Seite. Da er
sich von seiner Kunst ernähren muss, bedeutet das Handwerk des Künstlers Sicherung des
Lebensunterhalts und ist damit eine existentielle Frage für ihn. Die Verkettung dieser
Sachverhalte wird zum Ausgangspunkt für den Zweifel an seiner Begabung als Künstler. Da
er nicht genug Geld mit seinen Bildern verdienen kann, zweifelt er an der Qualität seiner
Kunst. Tschartkows Schlussfolgerung soll sich im Verlauf der Erzählung als Irrtum erweisen;
Gogol widerlegt durch die Schilderung zweier Malerschicksale – des aus Italien nach
Russland zurückkehrenden Künstlers und des Mönchmalers des zweiten Teils der Erzählung –
den Glauben, dass der künstlerische Erfolg auch in materieller Hinsicht ablesbar sein muss.
Beide Maler leben unter Entbehrungen und mit spätem Erfolg, wie der aus Italien
heimkehrende Maler, oder ganz ohne wirtschaftlichen Erfolg, wie der Mönchmaler. Den
Maler überkommen zunächst ohne fremdes Zureden Selbstzweifel. Er ruft aus: „Nein, ich
werde niemals ein großer Maler sein!“16 In der zweiten Version sind die Selbstzweifel
abgemildert. Dort heißt es: „»Ja, ja! Gedulde dich! Gedulde dich nur«, stieß er ärgerlich
hervor. »Aber alle Geduld hat einmal ein Ende. Gedulde dich! Und womit soll ich morgen
mein Mittagessen bezahlen? Kein Mensch leiht mir was. Und wenn ich alle meine Bilder und
Zeichnungen verkaufen wollte, bekäme ich für alles zusammen gerade zwanzig
Kopeken.«“17 Der porträtierte Wucherer beginnt, nachdem er in Hoffmannscher Manier
(siehe Der Artushof) aus dem Bild herausgestiegen ist, Tschartkow in seinen Selbstzweifeln
zu bestärken und stellt ihm eine düstere Zukunft in Aussicht. Er entmutigt den Maler noch
weiter, indem er ihm erzählt, dass es aussichtslos sei ‘in dieser Welt’ von seiner eigenen
Kunst leben zu wollen: „Du glaubst, man kommt in der Kunst zu etwas, durch langes Streben,
dass man dann etwas gewinnt, dass man etwas herausbekommt, dass du etwas erhältst? Bei
diesen Worten verzerrte sich sein ganzes Gesicht zu einer merkwürdigen Grimasse und ein
erstarrtes Lachen legte sich auf seine gesamten Gesichtszüge, du wirst das beneidenswerte
Recht erhalten, dich von der Höhe der Isak-Brücke in die Newa zu stürzen oder dich mit
deinem Schal an den nächsten Nagel aufzuhängen […] Vergiss diese dumme Idee. In dieser
Welt ist alles einem Interesse unterworfen. Nimm also deinen Pinsel und porträtiere die 16
Übersetzung der ersten Version vom Verfasser dieser Arbeit. Siehe im Original Gogol:
Gesammelte Werke in 9 Bänden. Herausgegeben und kommentiert von V. A. Woropaew u. I.
A. Winogradow. Band 7. Moskau: Russkaja Kniga 1994. S. 270. 17 Gogol: Das Porträt.
Übersetzung Reissner. S. 208. 158 ganze Stadt. Nimm jeden Auftrag an; aber entwickele
keine Leidenschaft für dein Handwerk, verbringe nicht ganze Nächte und Tage damit […].“18
Nur das Malen von Porträts könne ihm Erfolg sichern, denn in Petersburg sei alles den
Interessen der Bewohner unterworfen. Abschließend gibt er dem Maler den Rat: „Verlass
diese Dachkammer und such dir eine Wohnung für Reiche.“19 Ein Vergleich der beiden
Fassungen der Erzählung zeigt den unterschiedlichen Anteil, den der Wucherer an der
Verführung von Tschartkow hat. Während in der Verführungsszene in der überarbeiteten
zweiten Version der Erzählung von 1842 nicht gesprochen wird, sondern durch den zunächst
geträumten und am nächsten Tag tatsächlichen Erhalt einer größeren Geldsumme das
Schicksal des Malers seine Wendung nimmt, ist in der ersten Version der dämonische
Geldverleiher durch seine wörtliche Rede direkter und damit aktiver an der Verführung und
der Beeinflussung Tschartkows beteiligt. Wo in der ersten Version die sehr direkten und
genauen Anweisungen des Geldverleihers von Tschartkow befolgt werden, sind dieselben
Handlungen des Künstlers in der zweiten Version von ihm selbst gefasste Entschlüsse, deren
Umsetzung durch das im Bilderrahmen versteckte Geld ermöglicht werden. Die Fallhöhe des
Malers wird im Vergleich zur ersten Version also erhöht und die Macht der indirekt
wirkenden dämonischen Kraft verstärkt, da der Verführte in der zweiten Version standfester
erscheint und das Dämonische sich auf indirekte und subtilere Weise ausdrücken muss als die
etwas einfache Methode der direkten Ansprache und direkten Anstiftung des Wucherers in
der ersten Fassung. In der zweiten Version geht die dämonische Einflussnahme nicht nur
direkt von dem Gegenstand Bild aus, sondern ist allgemeiner gefasst und steht mit der
gesamten Umwelt von Petersburg in Verbindung. Der Einfluss der Stadt und ihrer
dämonischen Kraft hat sich in der zweiten Version somit gesteigert. Gogol lässt hier nicht so
sehr den Wucherer sprechen als das Dämonische in einem umfassenden Sinne. Die
dämonischen Kräfte werden dadurch in der zweiten Version stärker auf die Umwelt bezogen.
Ein Beispiel dafür ist die Lichtsymbolik, die im Vergleich zur ersten Version an Bedeutung
zunimmt. Nach der nächtlichen Verführungsszene passt sich Tschartkow seiner Umwelt an
und wird zum Modemaler. Dies führt zur Abhängigkeit von seiner Kundschaft. Der Künstler
muss den Wünschen der Kunden nachkommen und kann seiner Kunst nur bei Nachfrage aus
der bürgerlichen Gesellschaft Petersburgs nachgehen. Das so leicht erworbene Geld
ermöglicht es 18 Übersetzung des Verfassers dieser Arbeit. Siehe im Original Gogol:
Gesammelte Werke in 9 Bänden. Band 7. S. 273. 19 Übersetzung des Verfassers. Im Original:
Ebd. 159 ihm zwar, ein ausschweifendes Leben in höheren gesellschaftlichen Kreisen zu
führen, von diesem Leben und seinem Ruhm „berauscht“20, bemerkt er allerdings nicht
seinen unvermeidlichen Abstieg in die künstlerische Belanglosigkeit: „Tschartkow war ein
Modemaler geworden – in jeder Beziehung.[…] Seine auf Zerstreuungen gerichtete
Lebensweise, seine Verpflichtungen in der Gesellschaft, wo er bemüht war, die Rolle eines
Mannes von Welt zu spielen, hoben ihn weit ab von der Arbeit und vom Nachdenken. […]Die
ewig gleichen, aufgedonnerten, ausdruckslosen, gewissermaßen zugeknöpften Gesichter von
Beamten, Offizieren und Zivilisten verlangten seiner Kunst wenig ab: Sein Pinsel hatte
verlernt, prächtige Draperien auf die Leinwand zu zaubern; ungestüme Bewegungen,
Leidenschaften fanden keinen Ausdruck mehr. Von spannungsreichen, wohlmotivierten
Kompositionen bei Gruppenbildern konnte gleich gar nicht mehr die Rede sein. Er sah nur
noch eine Uniform, ein Korsett, einen Frack – Äußerlichkeiten, die einen Künstler nicht
anrühren können und seine Phantasie abtöten.“ 21 Derartig um die künstlerischen Ideale
gebracht, ist „Tschartkows Sehnsucht […] mit allen Sinnen ausschließlich aufs Gold
gerichtet. Gold wurde zu seiner Leidenschaft, seinem Ideal, seinem Genuss, seinem Ziel,
Gegenstand seiner Furcht.“22 Wie ausgeprägt Tschartkows Verirrung ist, wird von Gogol
verdeutlicht, indem er einen gegensätzlichen Künstler, der im Kloster praktiziert, auftreten
lässt und diesen wirklichen Künstler mit Tschartkows Künstlerdasein kontrastiert. Bevor in
dem zweiten Teil der Erzählung die Philosophie dieses Mönchkünstlers dazu beiträgt, das
Bild vom standfesten und den weltlichen Verführungen entsagenden Idealkünstler zu
zeichnen, tritt ein Malerfreund auf, der seine Lehrjahre in Italien verbracht hat. Auch dieser
Künstler unterscheidet sich von Tschartkow in grundlegenden Zügen und besitzt bereits in
jungen Jahren eine dem Petersburger Künstler entgegengesetzte Einstellung zur Kunst. Von
diesem Künstler heißt es: „Er hatte sich von seinen Freunden und Verwandten
zurückgezogen, auf liebe Gewohnheiten verzichtet und war dorthin geeilt, wo unter dem
schönsten Himmel die Heimstatt der Künste gedeiht – in jenes wundervolle Rom, bei dessen
bloßer Erwähnung das feurige Künstlerherz laut und heftig schlägt. Dort hatte er sich wie ein
Einsiedler in seine Arbeit vergraben und sich bei seinem Tun durch nichts ablenken lassen. Es
war ihm gleichgültig, ob man sich über seinen Charakter die Mäuler zerriss, über seine
Unfähigkeit, Beziehungen zu Menschen aufzubauen und zu pflegen, über seine Missachtung
gesellschaftlicher Umgangsformen, über den Verruf, in den er die Maler durch seine ärmli- 20
Vgl. Gogol: Das Porträt. Übersetzung Reissner. S. 237. 21 Ebd. S. 234-237. 22 Ebd. S. 238.
160 che Kleidung ohne jeden Schick brachte. Ob sich seine Kollegen über ihn ärgerten oder
nicht – ihm war es egal. Er setzte sich über alles hinweg, opferte alles der Kunst.“23 Der
Verzicht auf einen aufwendigen Lebensstil, die Isolation und der Ortswechsel von Petersburg
nach Rom sind die Grundlagen dieser antonymen Künstlerkarriere. Solcherart sich der wahren
Kunst widmend, lässt sich der Idealkünstler weder „[…] auf lärmende Unterhaltungen und
Streitgespräche“24 noch auf einen teuren und modischen Lebensstil ein, wie Tschartkow ihn
führt. Hierdurch gelangt der aus Italien heimkehrende Künstler zu einer Übereinstimmung
von innerer Welt und Kunstwerk: „Sichtbar gemacht waren durchweg jene fließend runden
Linien, die sich in der Natur unter der Oberfläche verbergen und die allein das Auge eines
schöpferischen Künstlers wahrzunehmen vermag, während beim bloßen Kopisten alles eckig
herauskommt. Man sah, dass der Maler zuerst alles, was er der Außenwelt entnahm, in sein
Inneres versenkte, von wo er es dann, in seiner Seele gebadet, hinausschickte wie einen
feierlichen, harmonischen Gesang.“25 Bereits an diesem Künstler wird das im zweiten Teil
der Erzählung dargestellte Verhältnis von Kunst und Religion sichtbar. Als Vorwegnahme des
Mönchkünstlers besitzt dieser Maler bereits die Fähigkeit zur spirituellen Versenkung, um der
religiösen Macht der Kunst gerecht werden zu können: „[…] hier schien er sich mit allen
anderen zu einer stummen Hymne auf ein göttliches Kunstwerk vereinigt zu haben.“26 Der
Idealkünstler besitzt kein Verlangen zu glänzen, nicht die winzigste Eitelkeit ist an ihm zu
bemerken. Seine Kunst ist einfach, unschuldig und heilig. Vor einem erscheint die Frucht
einer Inspiration, die plötzlich den Geist des Künstlers besucht hat. Seine Kunst ist wie die
heiligen Werke, in denen die große Kunst einen himmlischen Vorhang wegzieht und so dem
Menschen einen Teil seiner eigenen inneren Welt zeigt, die voll von ‘Harmonien und heiligen
Mysterien’ ist27. Beim Anblick dieser Kunst erkennt Tschartkow seine Nichtigkeit und
seinen 23 Ebd. S. 239. 24 Ebd. S. 239ff. 25 Ebd. S. 241. 26 Ebd.. 27 Siehe im Original Gogol:
Gesammelte Werke in 9 Bänden. Band 7. S. 285. Die französische Übersetzung dieses
Abschnittes der ersten Version der Erzählung Das Porträt lautet: „Et des hommes qui
renfermaient en eux une étincelle de la connaissance divine, avides seulement de ce qui est
grand, étaient impitoyablement, inhumainement privés des belles, des saintes oeuvres dans
lesquelles le grand art retire un voile du ciel et montre à l’homme une partie de son propre
monde intérieur, plein d’harmonies et de mystères sacrés. Nulle part il n’était de refuge où ils
pouvaient échapper à la rapacité de sa passion qui n’épargnait rien. Son oeil de feu,
perspicace, pénétrait partout et découvrait jusque dans la poussière des rebuts la trace de
pinceau d’un vrai artiste. Dans toutes les ventes où il se mon161 Irrtum. Seine künstlerische
Unfähigkeit wird ihm auf einen Schlag ersichtlich. Er kann seinen Lebensstil und seine Kunst
nicht fortsetzen. Mit „seiner philiströsen Ruhe war es vorbei“28. Er erkennt das Erlahmen
seiner früheren künstlerischen Kraft. Der „simple, inhaltlose Automatismus seiner gewohnten
Arbeitsweise hatte seinen früheren Schwung erlahmen lassen.“29 Die Flucht aus St.
Petersburg erscheint als das eigentliche Heilmittel für die Erlangung wahrer Künstlerschaft.
Die Abwesenheit von der russischen Hauptstadt erweist sich als die Voraussetzung zum
Erfolg. Rom wird als die Petersburg entgegenstehende Welt aufgebaut, die es dem
Malerfreund ermöglicht, zu wirklicher Meisterschaft in der Kunst zu gelangen. Gogols
Entwurf einer künstlerfreundlichen Stadt geschieht in seinem Rom-Fragment, das
bezeichnenderweise nicht mehr einen richtigen Künstler zeigt, sondern nur noch einen
ästhetischen, kontemplativ herumspazierenden und vergnügt versunkenen Betrachter, der
nicht den bedrohlichen Verhältnissen ausgesetzt ist, denen sich Tschartkow und Piskarjew
stellen müssen. Die Anwärterschaft auf das Künstlerdasein scheint wegen der Harmonie der
römischen Welt für den Fürsten, die Hauptfigur des hier später untersuchten Werkes, gar nicht
erst in Frage zu kommen. Hier ist auch die Ursache für die Fadheit und Spannungslosigkeit
des Textes zu suchen, der nicht mehr abgeschlossen wurde und in die Anfangszeit des
religiösen Fanatismus und der spirituellen Versunkenheit von Gogol gehört. Wladimir
Nabokow sieht in dem Rom-Fragment die Anfänge zu dem Versuch, sich dem zweiten Teil
des Romans Die Toten Seelen anzunähern. Die angestrebte spirituelle Heilung
Tschitschikows bekommt in Rom einen Ort, wo sich der Aufstieg ins Paradies verorten
lässt30. Allerdings bleibt der zweite Teil der Toten Seelen genauso unvollendet wie das RomFragment und gehört genauso wenig zu den Höhepunkten von Gogols Schaffenswerk wie
dieses. Es ist eine bittere Ironie, dass Gogols eigenes Streben nach religiöser und
künstlerischer Verwirklichung am Ende seines Lebens in einer Niederlage endet, die seine
besten literarischen Werke bereits beschrieben hatten. Der Künstler wird auch von Tolstoi als
Held betrachtet, der auserwählt ist und auf eine andere Stufe gehoben wird als der
gewöhnliche Mensch. Dieser Kampf bedeutet Aufopferung trait, chacun désespérait d’avance
d’arriver à obtenir une oeuvre d’art. On aurait dit que le ciel en courroux avait envoyé exprès
ce terrible fléau dans le monde pour en ôter toute harmonie. Cette terrible passion colora son
visage de teintes affreuses: il y régnait une bile presque insensé; ses sourcils broussailleux et
son front perpétuellement barré de rides lui donnaient une expression sauvage et le séparaient
complètement des paisibles habitants de la terre.“ Gogol: Nouvelles de Pétersbourg.
Hrsg./Übersetung: Jean-Louis Backès, Sylvie Thorel-Cailleteau. Paris: Le livre de poche
1998. S. 316f. 28 Gogol: Das Porträt. Übersetzung Reissner. S. 242. 29 Ebd. S. 243. 30
Wladimir Nabokow: Lectures on Russian Literature. Hrsg.: Fredson Bowers. San Diego:
Harvest 1981. S. 15ff. 162 und kann bis zum Einsatz des eigenen Lebens führen. In seiner
Erzählung Albert (1857) beschreibt Tolstoi die Isolation und die Ausgrenzung des dem
Wahnsinn nahen Musikers Albert und dessen Verteidigung durch Petrow: „Die Kunst ist der
höchste Ausdruck menschlicher Kraft. Sie wird nur wenigen Auserwählten gegeben und hebt
den Erwählten zu solcher Höhe, daß der Kopf ihm schwindelt, und es ihm schwer wird, sich
bei gesundem Verstand zu erhalten. In der Kunst wie in jedem Kampf gibt es Helden, die sich
ganz ihrer Sache hingeben und, ohne ihr Ziel erreicht zu haben, zugrunde gehen.“31 Durch
Tolstois Erzählung wird deutlich, wie Gogols Vorstellungen bezüglich des Künstlers und
seiner Stellung in der Gesellschaft auch in der Zeit nach Gogols Tod in der Russischen
Literatur weiterlebt. Der Mönchkünstler bleibt für die Nachwelt ein wesentliches Vorbild
hingebungsvoller und bis an die Grenzen reichender Künstlerschaft. Gogol versteht den
Künstler als ein höhergestelltes, aus der Menge herausgehobenes Wesen, weil er für die
geistige und spirituelle Heilung der Menschen zuständig ist. In diesem Sinne gestaltet er das
Wesen des Mönchkünstlers, der sich zum Vermittler zwischen der irdischen und der
göttlichen Welt entwickelt. Verstrickt sich Tschartkow noch in irdische Verlockungen und
Genüsse, dient die Entsagung des Mönchkünstlers seiner Unabhängigkeit von weltlichen
Handlungen und Geschehnissen. Auch der aus der Heimat fortgereiste Künstler findet erst in
der Loslösung von Petersburg und der Besinnung auf seine eigenen Stärken, durch die
Ablehnung der in der Gemeinschaft geforderten Tätigkeiten, durch Entsagung von dem
gewohnten sozialen Umgang, der Entfernung von einem gewohnten Lebensstil und dem
Tragen von modischer Kleidung den Zugang zu wirklich künstlerischer Betätigung. Erst der
sich von diesen äußeren Einflüssen freimachende Künstler findet die Möglichkeit, sich in
wirklich künstlerischer Weise auszudrücken und die Wahrheit tragende Kunst zu schaffen.
Die damit zusammenhängende Isolation ist Teil des vom Künstler zu ertragenden Schicksals.
Nicht durch die Aufnahme in die Gesellschaft und durch ein ausgedehntes Leben in der
Gemeinschaft, wie Tschartkow es vormacht, wird die Grundlage zu künstlerischer Tätigkeit
im Sinne Gogols geschaffen, sondern durch den Rückzug in die Einsamkeit und die
Besinnung auf sich selbst. Das hierzu von dem Mönchkünstler vorgetragene Manifest liest
sich als eine allgemeine Aufforderung an alle künstlerisch tätigen Menschen. 31 Lew Tolstoi:
Albert. In: Ders.: Gesamtausgabe des dichterischen Werkes. Hrsg.: Erich Boehme. Band 10.
Berlin: Malik 1928 S. 260. 163 Ein weiteres Vorbild für den Idealkünstler ist Puschkin. Gogol
bewunderte in Puschkin zeitlebens den großen Künstler. In ihm sah er das Vorbild wahrer
Künstlerschaft. In seinem Aufsatz „Ein paar Worte über Puschkin“ gibt es mehrere Hinweise
auf den falschen Künstler, der nur nach dem Volksgeschmack und dem Geld schielt. Gogol
hebt Puschkin deutlich von dieser Art Künstler ab. In seinem Werk überträgt er die
Eigenschaften des Freundes auf die wirklich erfolgreichen Künstler. Ein weiteres Beispiel
hierfür ist der Vater des Malers B. aus dem zweiten Teil des Porträts. Sein Einlassen auf den
Wunsch des Wucherers, ein Porträt von ihm zu fertigen, bringt den Vater in die Nähe des
Teufels und setzt ihn so einem Fluch aus. Von dem Schicksal, das seine Familie in den Tod
treibt, versucht er sich reinzuwaschen. Er geht ins Kloster und bemüht sich, seinen
ursprünglichen Zustand wiederzuerlangen, der es ihm erlaubt, unbelastet Kunstwerke malen
zu können. Allein im Kloster findet er die Einsamkeit und Ruhe, und die Loslösung von der
weltlichen Dingen, die das „reine Künstlerherz“ beschmutzen. Inwieweit der Tod von
Puschkin im Jahre 1837 ebenfalls für die Wiederaufnahme des Stoffes und zur Weiterarbeit
an der zweiten Version des Porträts geführt hat, kann nicht genau beantwortet werden. Die
persönliche Anteilnahme am Tode des Freundes und Mentors nach dem Duell mit d’Anthès
war groß, es fehlen jedoch detaillierte Äußerungen von Gogol, aus denen eine deutliche
persönliche Stellungnahme zu den verwickelten Umständen und der Ursache für die
Herausforderung zum Duell herauszulesen ist. Der Gedanke liegt aber nahe, dass Tschartkows
Aufstieg zum Modemaler und die damit zusammenhängende Verwicklung in die Petersburger
Gesellschaft, die Tschartkow am Ende zum Verhängnis wird, von Gogol als eine Parallele zu
Puschkins Lebensende gesehen wird. In dem Brief zum Tode Puschkins an M.P. Pogodin,
geschrieben in Rom am 30. (18.) März 1837, nimmt er lebhaften Anteil an dem Schicksal
seines Freundes: „Hatte ich sie denn nicht vor Augen, die teure Ansammlung unserer
erleuchteten Ignoranten? Oder weiß ich nicht, was sie sind, die Räte – vom Titularrat bis zu
den Wirklichen Geheimen? Du schreibst, alle Menschen, selbst die kalten, waren betroffen
von diesem Verlust. Was aber waren diese Menschen zu seinen Lebzeiten ihm anzutun bereit?
War ich denn nicht Zeuge der bitteren, bitteren Minuten, die Puschkin durchzustehen hatte?
[…] Oh, wenn ich mich all unserer Richter, Mäzene, hochgebildeten Schlauköpfe, unserer
ganzen edlen Aristokratie erinnere… Mein Herz erbebt schon bei dem Gedanken.“ 32 32 Es
folgt eine Begründung, warum Gogol nicht nach Petersburg zurückkehrt und das Lob auf
Rom, „eine Welt die reich ist durch die Künste, durch den Menschen“. Brief an M.P. Pogodin,
Rom, 164 Es wird deutlich, dass Gogol einen Zusammenhang zwischen den Ursachen für den
tragischen Tod von Puschkin und der spezifischen Petersburger Umwelt, in der er lebte, sieht.
Es ergeben sich dadurch vielfach Parallelen zwischen dem Schicksal von Tschartkow und von
Puschkin. Die Verwicklung der Helden der Literatur dieser Zeit in die herrschenden
gesellschaftlichen Verhältnisse ist ein vorherrschendes Thema, nicht nur bei Gogol. Puschkins
Jewgenij Onegin und Ein Held unserer Zeit von Lermontow führen vor, wie sich das
Individuum im Umgang mit den Mitmenschen verlieren kann. Allen Protagonisten wird die
Verstrickung in die gesellschaftlichen Kreise, aus denen sie sich ab einem gewissen Punkt
nicht mehr zu befreien wissen, zum Verhängnis. Alle (außer Onegin) kommen durch ihren
fanatischen und jugendlichen Eifer und durch ihren Stolz ums Leben. Das Duell oder der
Wahnsinn gehören zu den häufigsten Todesarten dieser Literatur. Der falsche Glaube an ihre
Unverwundbarkeit, gesellschaftliche Intrige und zwischenmenschliche Verwicklung führen
zum Tode. Jurij Lotman sieht Puschkins Biographie in einem ähnlichen Lichte. Zu Puschkins
Lebensende ist der Dichter von gesellschaftlichen Intrigen verfolgt. Dabei ist die Stellung am
Hofe und in der Petersburger Gesellschaft – die in subtiler Weise ineinander übergehen – in
den letzten Lebensjahren der Ausgangspunkt für die tödliche Entwicklung33. Lotman
beschreibt, wie Stadtund Hofgesellschaft sich zu einer Gruppe verbinden, die die Ansprüche
und Erwartungen des Publikums an den Petersburger Künstler formulieren. Der Künstler ist in
der Situation, zugleich abhängig von der Gesellschaft zu sein und sich von dieser lösen zu
wollen. Dieser Zwiespalt lässt die persönliche Unabhängigkeit zum höchsten künstlerischen
Gut werden, um das immer wieder gekämpft wird. Puschkin stellt diesen Kampf bereits in
seiner Erzählung „Ägyptische Nächte“ dar. Die Darstellung des hochmütigen, sich etwas
unbeholfen in der Gesellschaft bewegenden Dichters macht die künstlerische Entfaltung
innerhalb eines engen geistigen Klimas in Petersburg zum Thema. Tscharskij sagt zum armen
italienischen Künstler: „[…] die Hauptsache ist – dass Sie in Mode kommen.“34 Der Künstler
beginnt, sich der Ge- 18. (30.) März 1837. In Nikolai Gogol: Gesammelte Werke in
Einzelbänden. Aufsätze und Briefe. Hrsg: Michael Wegner. Berlin: Aufbau 1977. S. 522ff. 33
Siehe Lotmans Schilderung, wie Puschkin Ende 1833 von Zar Nikolaus I. zum
Kammerjunker ernannt wird. Puschkin schreibt am 1. Januar 1834 in sein Tagebuch:
„Vorgestern wurde ich zum Kammerjunker ernannt (was in meinen Jahren ziemlich deplaciert
ist).“ Lotman schreibt dazu: „Diese ‘Beförderung’ trug dem Dichter viele
Unannehmlichkeiten ein und wurde später zu einer Ursache für sein tragisches Ende.“
Lotman: Alexander Puschkin. Leipzig: Reclam 1989. S. 284ff. 34 Alexander Puschkin:
Ägyptische Nächte. In Ders.: Die Erzählungen einschließlich der Fragmente, Varianten,
Skizzen und Entwürfe. Herausgegeben u. übersetzt von Peter Urban. Berlin: Friedenauer
Presse 1999. S. 235. 165 sellschaft anzubiedern und zeigt wenig von seinem eigentlichen
Können. Puschkin liefert hierdurch das Stichwort für eine ganze Generation und beeinflusst in
besonders starkem Maße Gogol. Nicht nur Das Porträt sondern auch die „Petersburger
Skizzen“, in denen das Bild der Petersburger Gesellschaft von der Sphäre wahrer Kunst
abgehoben wird, zeigen das Verhängnis des in der modernen urbanen Gesellschaft lebenden
Künstlers. Den entscheidenden erzählerischen Bezugspunkt für Gogol liefert Puschkin
allerdings bereits Mitte der 20er Jahre mit dem Motiv des Dämons. Mit nichts lässt sich das
Thema Künstler und urbane Gesellschaft besser poetisch verbinden als mit dieser mythischen
Gestalt. In seinem Gedicht „Der Dämon“(1824) stellt Puschkin die gesellschaftliche
Implikation der teuflischen Macht dar. In einer selbst angefertigten Besprechung seines
Werkes legt er die Verbindung dar: „Über das Gedicht »Der Dämon«“35 . In der Besprechung
verweist Puschkin auf das Vorbild Faust von Goethe und den verführerischen Charakter des
Teufels der in seinem Gedicht durch den Geist der Verneinung die „poetischen Illusionen“36
einer jungen Seele vernichtet hat. (Puschkin redet hier von sich selber in der 3. Person:) „Und
vielleicht wollte Puschkin in seinem Dämon diesen Geist der Verneinung oder des Zweifels
verkörpern und in knappem Bild seine kennzeichnenden Züge und seinen traurigen Einfluss
auf die Moral unseres Zeitalters darstellen.“37 Der Einfluss des Dämons auf die Moral des
Zeitalters ist ein wiederkehrendes Thema und wird auch in Gogols Erzählung poetisch
ausgebreitet. Der Zusammenhang von Dämon und Stadt, die sich über die Gesellschaft und in
ihr ausbreitende und in sie drängende teuflische Kraft, ist als beherrschendes Thema schnell
erkennbar. Gogol benennt sein Vorbild in der Erzählung und stellt die Beziehung zwischen
Puschkin und dem Dämonenporträt her. In der Beschreibung des wahnsinnig gewordenen
Tschartkow heißt es: „Die beständige Wut verlieh seinem Gesicht einen galligen Ausdruck.
Widerwille und Weltverneinung malten sich in seinen Zügen. Man hätte meinen können, er
sei eine Inkarnation jenes furchtbaren Dämons, den Puschkin auf so unübertreffliche Weise
gestaltet hat.“38 Die Beschreibung mit Hilfe des Gedichtes von Puschkin stellt heraus, dass
die Verführung nicht nur eine Angelegenheit zwischen Tschartkow und dem Porträt ist,
sondern sich aus der besonderen gesellschaftlichen Situation heraus entwickelt; der Einfluss
des Dämons auf das Zeitalter bedingt die gesellschaftliche Situation, mit der der Künstler zu
kämpfen hat. So wie das Mond- 35 Alexander Puschkin: „Über das Gedicht ‚Der Dämon’“.
In: Gesammelte Werke in 6 Bänden. Hrsg.: Harald Raab. Band 5. Berlin: Aufbau 1984. S. 26.
36 Ebd. 37 Ebd. 38 Nikolai Gogol: Das Porträt. Übersetzung Reissner. S. 245. 166 licht die
Augen belebt, so legt sich das selbe Licht über die ganze Stadt und versetzt Tschartkows
Umwelt in eine diabolische Sphäre. Tschartkows Handlungen werden so über den gesamten
Verlauf der Geschichte verständlich, da er einem stetigen, fremden Einfluss von Außen folgt.
Der Vorgang der Verführung findet somit nicht nur in der nächtlichen Szene seiner Wohnung
– örtlich und zeitlich festgelegt – statt, sondern ist vielmehr ein stetiger Prozess der
Verführung durch eine unmoralische und dem Künstler feindliche Umwelt. Die Verbindungen
zwischen dem Werk von Puschkin und Gogol führen noch weiter. Die Verschränkung des
Dämonischen mit der Stadtsymbolik findet sich in Das Porträt in einer dem Werk Der Eherne
Reiter analogen poetischen Verfahrensweise wieder. Der eherne Reiter verkörpert den
Machtanspruch über die Stadt und die Beherrschung eines mythischen Raumes. Kein Mensch
hat unmittelbaren Zutritt zu der Sphäre des Reiters, damit beherbergt die Stadt einen Bereich
der unkontrollierbaren Machtentfaltung dämonischer Kräfte, die für den einfachen Bewohner
unerreichbar sind. Die für Puschkins Poem interessante Frage ist die nach dem
Zusammenhang von Naturgewalten und Stadtgewalten, von zivilisierter-kontrollierbarer und
unkontrollierbarer Gewalt. Der eherne Reiter zeigt, dass die Idee unkontrollierter, von der
Zivilisation losgelöster Mächte in der Stadt auf Puschkin zurückgeht. Wie auch Peter der
Große durch sein Abbild seine Umwelt beherrscht, drückt sich die Macht und der Einfluss des
Wucherers allein über sein Abbild aus, das für ihn ein Nachleben führt. Das heißt, die
Personifizierung der diabolischen Mächte sind von ebenso großer Bedeutung wie die
Lichtverhältnisse und andere poetische Mittel, die zusammen eine Atmosphäre der
Verführung entstehen lassen. Im Newskij-Prospekt sucht Piskarjew die Flucht in den
Traumzustand. Er versucht hier der Wirklichkeit zu entkommen. Die schöne Frau verspricht
ihm Geborgenheit, Liebe und Wärme inmitten der Kälte der Petersburger Welt. Der Künstler
Tschartkow im Porträt sucht nicht so sehr den Erfolg in der künstlerischen, als in der
gesellschaftlichen Anerkennung. Die Stadt kann ihm das bieten, wenn auch nur für kurze Zeit.
Er verwechselt gesellschaftliche und künstlerische Anerkennung und kann diese beiden
Bereiche ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr auseinanderhalten. Die Stadt bietet
Möglichkeiten, denen beide Künstler nachgehen, ohne wirkliche Erfüllung für ihre Wünsche
zu erlangen. Sie verlieren die Orientierung und können die unterschiedliche Qualität der
natürlichen und ständig präsenten urbanen Angebote nicht unterscheiden. Das Angebot
entpuppt sich aber als bloßer Schein dessen, was es verspricht und beide finden ihre Wünsche
– nach wirklicher Liebe und Erfolg in der künstleri167 schen Arbeit – nicht erfüllt. Sie
erkennen während des Vorgangs der Verführung nicht die existentielle Bedrohung, die sich
hinter den Scheinwelten versteckt. In den drei Werken Der eherne Reiter, Der NewskijProspekt und Das Porträt stehen Peter der Große, die Prostituierte und der Wucherer in
besonderer Verbindung mit der Stadt St. Petersburg. Sie verkörpern zentrale und wichtige
Eigenschaften der Stadt. In ihnen symbolisieren sich Hoffnungen und Befürchtungen der
Stadtbewohner. Mit Peter dem Großen verbindet sich Schutz und Ordnung. Der Gründer der
Stadt, der in dem Falconet-Denkmal so dargestellt ist, als stehe er jederzeit bereit, als sei er –
bildlich direkt übertragen – auf dem Sprung, bei Unrecht und Bedrohung einzuschreiten,
beherrscht die Stadt von zentralem Ort mit diesem mächtigen, von Kraft strotzenden
Versprechen. Inmitten der urbanen Unordnung, Bedrohung und Ungerechtigkeit, die von der
Stadt ausgehen, scheint der Imperator der Garant von Ordnung und Gerechtigkeit. Die
Prostituierte verspricht, mitten in der Kälte und Anonymität der Stadt Zuneigung, Wärme und
Liebe zu gewähren. Und der Geldverleiher erweckt den Schein von schnellem Reichtum und
finanzieller Unabhängigkeit inmitten der Armut und Ausbeutung. Die Symbolisierung der
Stadt durch Personen verstärkt das verführerische Moment, das sich mit den jeweiligen
Versprechen verbindet. Dabei ist von großer Bedeutung, dass die beiden Figuren Prostituierte
und Wucherer aus dem urbanen Milieu selber hervortreten und zum gesellschaftlichen
Ensemble einer großen Stadt gehören. Dadurch, dass die Prostituierte und der Wucherer
wichtige Aspekte des großstädtischen Lebens verkörpern, sind es urbane Ereignisse, mit
denen die beiden Künstler ihre Erfahrung sammeln. Die symbolische Personifizierung dunkler
Mächte liefert Figuren oder Abbilder, in deren Macht es nicht steht, direkt in das persönliche
Schicksal der Protagonisten einzugreifen. Die Figuren stehen vielmehr am Rande des
Geschehens, sehen auf den Lauf des Lebens herunter, so wie Peter der Große auf den Lauf der
Newa. Sie greifen aber nicht wirklich in die Entwicklung der Geschichten ein. Sie bleiben
passive Begleitfiguren, die selbst in ihrer Tätigkeit des Verführens keine individuellen Züge
tragen. Sie lösen die Wende im Geschehen aus. Sie verhindern nicht die Bedrohung oder das
Verderben, und das Verhängnis wird nicht von ihnen, sondern von den handelnden Personen
vorangetrieben. Die zweite Version des Porträts führt den Bedeutungsverlust der aktiven
Handlung des Wucherers vor. Während er in der ersten Version noch durch seine Rede die
Verführung direkt betreibt, bleibt er in der zweiten Version stumm und wirkt allein durch
seine Augen und sein Wesen. Seine Person tritt gar nicht mehr in Erscheinung. Dadurch wird
deutlich, dass Gogol daran gelegen ist, seinen indi168 rekt wirkenden Einfluss
hervorzuheben, d.h. die dämonischen Kräfte des Gemäldes versteckt, um unsichtbar und auf
indirektem Wege die Macht wirken zu lassen. Vor allem nutzt Gogol das Ausbleiben direkter
Handlungen der beiden Verführerfiguren, um die Beteiligung der Umwelt an dem Schicksal
von Tschartkow und Piskarjew deutlich zu machen. Die gesamte poetische Vorgehensweise
von Gogol ist darauf ausgerichtet, die Stadt selbst in dem Gewand der Verführerin erscheinen
zu lassen. Der Organismus Stadt hält die Verlockungen bereit, denen der Maler Tschartkow
folgt. Obwohl er zunächst die vernünftige Idee hat, sich von den Goldmünzen Farben,
Arbeitsmaterial und Stiche berühmter Bilder – die als Vorlage für das Studium dienen sollen
– zu kaufen, und er das Geld dazu nutzen will, sich für drei Jahre in die Abgeschiedenheit
zurückzuziehen, um sich so auszubilden – „ohne [s]ich zu beeilen, ohne an den Verkauf zu
denken“39 –, gibt er den Reizen und Versuchungen des umfassenden, überflüssigen und für
ihn als Künstler nutzlosen Angebotes in Petersburg nach: „Jetzt endlich war es ihm möglich
geworden, alles zu bekommen, wonach er bisher mit scheelen Augen geblickt hatte, woran er
sich nur aus der Ferne ergötzen durfte, wonach ihm das Wasser im Munde zusammengelaufen
war. […] Einen modischen Frack anziehen, nach dem langen Fasten wieder einmal nach
Herzenslust schmausen, eine nette Wohnung mieten, ins Theater gehen, in eine Konditorei
usw.“40 Die Verführung Tschartkows zum ‘Modekünstler’ vollzieht sich so in dem Gefüge
der Stadt, die ihr reiches Angebot vor den Augen des Künstlers ausbreitet. Sein Streben nach
ernsthafter Kunst findet damit ein Ende und Tschartkow wird zu einem Modekünstler, der
sich mehr dem äußeren Schein hingibt als den wahren Werten der bildenden Kunst. Dadurch
wird klar, dass das dämonische Porträt eine Entwicklung angestoßen hat, die erst in der
entsprechenden Umgebung ihren verhängnisvollen Lauf nehmen kann. Es sind die Lockstoffe
der Stadt, die den Maler dazu bewegen, sein Talent zu verpfänden. Der Künstler gibt sich von
nun an mit schnellen Belohnungen zufrieden, die jenseits harter Arbeit liegen und nichts mit
der Belohnung für wirkliche Kunst gemeinsam haben: „Der Maler wurde reichlich belohnt:
mit einem Lächeln, mit Geld, einem Kompliment, einem warmen Händedruck und der
Einladung, öfters zum Essen zu kommen; kurz, er empfing eine Unmenge schmeichelhafter
Belohnungen.“ 41 Die Auftraggeber speisen den Künstler mit Gaben ab, deren Einfachheit
und 39 Ebd. S. 221ff 40 Ebd.. 41 Ebd. S. 232. 169 Wertlosigkeit Tschartkow nicht
durchschaut. Was die beiden Idealkünstler in Form von wirklichen Kunstwerken entlohnt
bekommen, ist für ihn nur eine flüchtige und vergängliche Bezahlung, die ihren Wert
außerhalb der philisterhaften und kunstunsensiblen städtischen Gesellschaftsschicht sofort
verliert. Gogol zeigt, wie die Stadt und die diabolische Macht miteinander verwachsen sind.
Das dämonische Moment erwächst aus der Mitte der Stadt, aus ihren reichen, aber auch aus
ihren ärmlichen Quartieren heraus. So wie Dostojewski später in Schuld und Sühne und
anderen Werken die detailgetreue Milieubeschreibung dazu einsetzt, menschliche Handlungen
zu motivieren, so leitet Gogol das Verhängnis für Tschartkow und sein grausames Ende aus
der sozialen Geographie von Petersburg her. Die Herkunft des Wucherers und dessen in
einem ärmlichen Stadtviertel von Petersburg verwurzelte Geschäftsgrundlage beschreibt er in
einer ausführlichen, kritischen und fast der Karikatur angenäherten Milieustudie von
Kolomna, dem armen und dichtbesiedelten Stadtteil im Westen von Petersburg. Die Tätigkeit
des Wucherers ist örtlich festgelegt und mit den sozialen Bedingungen dieses Stadtteils
verbunden. So wie in Der Newskij-Prospekt die Dirne ihre Verwurzelung an bestimmtem Ort
(und bestimmter Zeit) in der Petersburger Topographie hat und dieser Ort, der Boulevard,
zunächst ausführlich vorgestellt wird, wird das Tätigkeitsfeld des Geldverleihers umfassend
beschrieben. Die Begründung für die ausführliche Beschreibung liefert der Erzähler im
Anschluss: „Ich habe ihnen diese Leute geschildert, damit Sie verstehen, dass sie nicht selten
gezwungen sind, kurzfristig eine finanzielle Überbrückungshilfe zu finden, ein Darlehen
aufzunehmen; im Hinblick darauf lassen sich in diesem Milieu Wucherer eines besonderen
Typs nieder, die gegen Pfand und hohe Zinsen minimale Summen ausleihen. Diese kleinen
Wucherer sind gewöhnlich wesentlich mitleidloser als alle großen, weil sie ihr Gewerbe
inmitten der Armut und der offen zur Schau gestellten Lumpen betreiben […].“42 Der Verfall
des Viertels und die Altersschwäche ihrer Bewohner drückt sich auch in dem Zustand des
Wucherers aus, der im Sterben liegt. Der Tod ist in dem Viertel so präsent, wie im Gesicht
des Geldverleihers. Er wird als lebendes Skelett beschrieben, in Todesbleiche, Attribute, die
auch auf Kolomna in der Beschreibung übertragen werden. Das Viertel ächzt unter seiner
Altersschwäche und seinem Verfall. Das Viertel bringt den Wucherer hervor, hält ihn am
Leben und ist dabei, als er aus dem Leben scheidet. Auf dem Sterbebett ruft der Geldverleiher
einen Maler, der ihn porträtieren soll, weil er glaubt, eine Hälfte seines Lebens bleibt im
Porträt in der Welt, wenn das Bild von einem begabten Maler gemalt wird. Außerdem hofft
42 Ebd. S. 251ff. 170 der Geldverleiher so der Bestrafung im Jenseits zu entgehen, da ein Teil
von ihm weiterleben würde. Von dem Gesicht und der künstlerischen Aufgabe fasziniert,
macht sich der Maler an die Arbeit, die er gewissenhaft vorantreibt. „Das Gesicht des
Wucherers war von jener Art, dass es für einen Künstler einen Schatz darstellte.“43 Das
Interesse an dem Wucherer und sein Mitwirken am Weiterleben machen den Künstler zum
Verbündeten des Dämonischen. So wird deutlich, dass der Künstler für Gogol nicht nur für
die Verbreitung von Heiligkeit verantwortlich ist, sondern auch für die Vermittlung des
Teuflischen. Aber nur dem älteren Künstler gelingt es, den Dämon über das Bild am Leben zu
erhalten. Der junge und unerfahrene Tschartkow ist dazu nicht in der Lage. Auch über die
Lichtsymbolik verbindet Gogol die Erscheinungen des Wucherers und der Stadt St.
Petersburg. Werden im Newskij-Prospekt noch die Laternen dazu benutzt, die Atmosphäre
des Betruges und der Täuschung zu evozieren und mit ihrem Anzünden einen wichtigen
erzähltechnischen Wendepunkt zu markieren, bekommt in dieser Erzählung das Mondlicht die
Funktion, den Anfangspunkt für ein unheimliches Geschehen zu setzen und die verführerische
und diabolische Macht des Porträts anzukündigen. Auf dem Heimweg bemerkt Tschartkow,
wie sich der Himmel über Petersburg wandelt: Noch breitete sich die Abendröte über den
halben Himmel aus, noch übergoß sie die ihr zugewandten Seiten der Häuser mit ihrem
warmen Licht; doch gleichzeitig gewann das kalte bläuliche Leuchten des Mondes an Kraft.
Die Häuser und die Beine der Passanten warfen leichte, fast durchsichtige Schatten. Der
Maler war drauf und dran, sich der Betrachtung des Himmels hinzugeben, der von einem
feinen, transparenten, unbestimmten Licht überhaucht war; und nahezu gleichzeitig entfuhren
seinen Lippen die Worte: »Wie schön – dieser zarte Ton!« und der Ausruf: »Fatal! Hol’s der
Teufel!« Und das Porträt zurechtrückend, das ihm ständig unter dem Arm hervorzurutschen
drohte, legte er einen Schritt zu.44 Das warme Licht, in das die Stadt getaucht ist, wird durch
das kalte Licht des Mondes abgelöst. Nicht nur die Farbe des Lichtes verändert sich, auch die
Umrisse werden undeutlicher, die Schärfe der Konturen nimmt ab, und die Unbestimmtheit
nimmt zu. Das Mondlicht bewirkt die Auflösung der durch das Sonnenlicht deutlich
gezeichneten Schatten. Die Schatten der Häuser und Passanten werden durch eine zweite, aus
anderer Richtung einfallenden Lichtquelle ‘durchsichtig’. Der später mit dem Mondlicht in
Verbindung gebrachte Dämon drückt 43 Übersetzung des Verfassers dieser Arbeit. Im
Original Gogol: Gesammelte Werke in 9 Bänden. Band 7. S. 294. Französische Übersetzung
von Backès: „Le visage de l’usurier était de ceux qui représentent pour l’artiste un trésor.“
Nikolai Gogol: Nouvelles de Pétersbourg. S. 328. 44 Nikolai Gogol: Das Porträt. Reissner. S.
204. 171 sich hier bereits in seiner symbolischen Bedeutung der Lichtbeschreibung folgend,
in einer Körper durchdringenden und durchleuchtenden Kraft aus. Der Mond und der Fluch
„Hol’s der Teufel“ kündigen die dämonische Kraft des unter seinem Arm getragenen Porträts
an. Die Lichtverhältnisse legen sich über die Stadt und verbinden sich zu einer einheitlichen
Stimmung, der Tschartkow zunächst zu widerstehen scheint. Im Vergleich zu Piskarjew setzt
die Verführung nicht unmittelbar ein, sondern geschieht langsam in mehreren Etappen.
Tschartkow ist nicht in der nächsten Sekunde in Rausch versetzt, wie noch der vom
Laternenlicht verwandelte Piskarjew. Erst in der folgenden Nacht erweckt das Mondlicht die
Augen des Bildes zu einer solchen Lebendigkeit, dass sich der Maler der beeinflussenden
Wirkung des Mondlichtes nicht mehr zu entziehen vermag. „Das Licht des Mondes , das sein
Zimmer erhellte, fiel auch auf das Bild und verlieh ihm eine eigenartige Lebendigkeit.“45 In
Das Porträt begleitet das Mondlicht die Verführung und die Wende in Tschartkows innerem
persönlichen Wandel, so wie in Der Newskij-Prospekt das künstliche Laternenlicht die
Wandlung von Piskarjew begleitet. Die ursprünglichen Fragmente „Fonar umiral“ (Die
Laterne erlosch) und „Straschnaja ruka“ (Die geheimnisvolle Hand46) geben trotz ihrer Kürze
einen deutlichen Einblick in die Funktion der Lichtgestaltung. Der Beginn des Fragmentes
„Fonar umiral“ zeigt bereits die Bedeutung des Laternenlichtes. Danach ist der Blick durch
das Fenster von der Lichtgestaltung des Raumes abhängig. Selbst die Anzeige für eine neue
Art von Talglichtern über dem Artikel, in dem Tschartkows künstlerische Fähigkeiten
vorteilhaft beschrieben werden 47, ist ein Hinweis auf den ausführlichen Einsatz der
Lichtsymbolik, genauso wie das Fehlen der Kerzen in seinem Haus, als er noch ein
unbekannter Maler ist. Wie Puschkin in seiner Erzählung Pique Dame setzt auch Gogol das
Licht ein, um bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse und Unterschiede metaphorisch zu
untermauern. So hat das Wort swet im Russischen die beiden Bedeutungen ‘Licht’ und
‘höhere Gesellschaft’. Diese Verbindung wird für die Szene der Vorfahrt beim Haus der
Gräfin am Ende des zweiten Kapitels von Puschkin verwendet. Die helle Beleuchtung des
Eingangs und der eintreffenden Kutschen weist auf die Besonderheit des Festes hin. Die mit
dem Licht semantisch verbundenen Wörter bilden eine stilistische Besonderheit der
Erzählung. So wird zum Beispiel die Bewegung der Menschen von der Kutsche in das Haus
mit dem russischen Verb melkat’ (schim- 45 Ebd. S. 209. 46 Nikolai W. Gogol: Sobranie
Sotschinenij w dewjati tomach. [Gesammelte Werke in 9 Bänden.] Band 7. Seite116. 47 Siehe
Ebd. S. 223. 172 mern) belegt, von Peter Urban mit „blinken“ übersetzt: „Alle Augenblicke
wurde aus dem Wagen mal das schlanke Bein einer Schönen gestreckt, mal ein gestreifter
Strumpf im Diplomatenschuh. Pelze und Mantillen blinkten an dem majestätischen Portier
vorüber.“48 Die der puschkinschen verwandte symbolische Lichtgestaltung findet sich
ebenfalls in Gogols Werk, z.B. in Die toten Seelen und in Der Mantel. Auch dort setzt Gogol
das Licht zu Unterscheidung der Lebenswelt von Akakij Akakjewitsch und seinen Kollegen
ein. In dem Werk Die toten Seelen wird die Einführung Tschitschikows in die Gesellschaft
der Kleinstadt von der ausführlichen Beschreibung des Lichtes begleitet. Im Gegenzug deutet
das Fehlen von Licht auf die Bedrohung und die Gefahr hin. In „Der Mantel“ wird die Szene
des Mantelraubes von der ausführlichen Beschreibung abnehmender Lichtkraft vorbereitet.
Auf die helle Wohnung des Beamten, mit Laternen im Treppenhaus und blendendem Licht in
der Wohnung, folgt die Abnahme der Zahl der in den unterschiedlichen Vierteln aufgestellten
Laternen. Je weiter sich Akajewitsch auf dem Heimweg von der Abendgesellschaft entfernt
und seiner Wohnung nähert, desto mehr nimmt das Laternenlicht ab. Auf dem weiten Platz,
wo ihm der Mantel gestohlen wird, ist es vollkommen dunkel, und nur noch ein kleines Licht
am Ende des Platzes ist wahrnehmbar. Die Machtlosigkeit des kleinen Beamten wird so durch
die Darstellung der Lichtverhältnisse dramatisch gesteigert. Auf diese Weise führt Gogol vor,
wie sich das Licht eignet, urbane Lebenswelten zu gestalten. Das künstliche Licht ist in
seinem Werk auf das engste mit der Stadt und der sich nur dort ergebenden Einblicke und
Perspektiven verbunden. Das künstliche Licht dient Gogol zur Akzentuierung und zum
Hervorheben für die Handlung besonders wichtiger Szenen. In Der Newskij-Prospekt wird die
„schöne Frau“ auf der Straße auf diese Weise eingeführt und zu einer Hauptfigur erhoben. In
dem Fragment „Fonar umiral“ wird die Szene in einem unbekannten Haus durch das Licht
hervorgehoben. Das Fragment beginnt mit dem Satz: „Die Laterne erlosch auf einer der
entfernt gelegenen Linien der Wasilewskij Insel.“49 Der Student setzt seinen Weg durch das
dunkle Viertel fort, bis er auf dem Bolschoj-Bouleward vor einem Haus stehen bleibt, das
seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. „Ein dünner Spalt im Fensterladen, durch den der
Schein eines Feuers drang, zog ihn unwillkürlich an und verlockte ihn hindurchzuschauen. Er
näherte sich dem Fensterladen und platzierte seine Augen an die Stelle, an der der Spalt am
breitesten war, und versank 48 Alexander Puschkin: „Pique Dame.“ In: Die Erzählungen.
Übersetzt von Peter Urban. Berlin: Friedenauer Presse 1999. S. 197. 49 Nikolai W. Gogol:
Gesammelte Werke in 9 Bänden. Band 7. Seite116. Übersetzung vom Verfasser. 173 in der
Betrachtung. Eine Lampe leuchtete hell in einem blauen Zimmer. Das ganze Zimmer war von
verstreut herumliegenden Dingen überfüllt.“50 In den beiden Beispielen wird Gogols
Umgang mit dem Licht deutlich. Die hervorhebende Wirkung des Lichtes wird als
erzählerisches Mittel eingesetzt. Nur der Ausschnitt, der aus dem Dunkel der Stadt durch das
Licht herausgelöst wird, bestimmt die Erzählperspektive. Das Licht kann aber nicht nur
hervorheben, sondernauch undeutlich machen. Die Möglichkeiten der Verfremdung werden
von Gogol besonders häufig im Zusammenhang der Lichterscheinungen eingesetzt. Die
Antastbarkeit der Natürlichkeit des Lichtes zeigt die Macht des Menschen im Umgang mit
Licht. Die Künstlichkeit der urbanen Umwelt, die Entfernung von der Natur wird durch das
Licht deutlich. Der menschliche Umgang mit Licht birgt für Gogol etwas Teuflisches, weil
die natürliche Kraft des Tageslichtes umgangen werden kann. Der Vergleich des
Laternenwächters mit dem Teufel am Ende der Erzählung Der Newskij-Prospekt zeigt die
Möglichkeiten der Dämonisierung von Stadt, da der Laternenwächter die Macht über Licht
und Dunkelheit hat. Das Anzünden von Licht im Dunkeln bedeutet insbesondere die
Herstellung einer Perspektive und damit auch die erzählerische Konstruktion eines
Bildausschnittes. Hieraus entsteht die Affinität des Lichtes zu den erzählerischen und
poetischen Darstellungsmethoden. Das Erzählen hat die poetische Aufgabe, aus dem Dunkel
des Unbekannten Gegenstände, Menschen und Ereignisse herauszuholen und sichtbar zu
machen. Dieser Vorgang des poetischen Sichtbarmachens führt den Erzähler in die Nähe der
übernatürlichen Kräfte und macht dadurch deutlich, dass der künstlerische Prozess den
Erzähler oder einen Maler in die Nähe der teuflischen Mächte rückt. Der Künstler macht also
nicht nur in der Erzählung Das Porträt die Bekanntschaft mit den dämonischen Kräften,
sondern auch in Der Newskij-Prospekt wird im Erzählvorgang die teuflische Kraft des
Erzählens verdeutlicht. Weiteres wichtiges Zubehör dämonischer Mächte ist der Spiegel.
Dieser Gegenstand hat seine besondere Bedeutung als Symbol für die Darlegung der
psychologischen Verflechtung von Außenwelt und Innenwelt der handelnden Personen. In
diesem poetisch deutbaren Zubehör wird das Spannungsverhältnis zwischen äußerer urbaner
Umwelt und innerer künstlerischer Entwicklung versinnbildlicht. Diese Bedeutung des
Spiegels sieht auch Wladimir Nabokow in Gogols Werk belegt. Er hatte ursprünglich die
Absicht, sein Buch über Gogol nicht allein mit dem Namen des Schriftstellers zu betiteln,
sondern es Gogol in der Spiegelwelt zu nen- 50 Ebd. S. 117. Übersetzung vom Verfasser. 174
nen. Vieles an erzählerischem und künstlerischem Verfahren drückt sich in diesem einfachen
Gebrauchsgegenstand aus. Das slawische Brauchtum misst dem Spiegel eine komplexe
Bedeutung zu51. Gogol setzt ihn in erster Linie als Symbol ein. Wenn Tschartkow seine neue
Wohnung bezieht und dort inmitten von Spiegelwänden lebt, dann verdeutlicht sich an dieser
Stelle die Ichbezogenheit und die künstlerische Egozentrik des Malers. Die Selbstbetrachtung,
die hier – wohl bemerkt – zunächst nur die zurückgeworfene äußerliche Erscheinung
einschließt, führt zur Abhängigkeit von dem Selbstbild: „ständig in die Spiegel blickend“
bewegt sich Tschartkow von nun an durch Petersburg. Die Spiegel, die überall in seiner
Wohnung aufgehängt sind52, symbolisieren neben der Egozentrik den Verlust der
Verbindung zur Außenwelt. Nicht die Fenster öffnen Tschartkow das Gesichtsfeld auf seine
Umwelt, sondern eine Fläche, die seine Blicke zurück auf sich selber lenkt. Gogol macht
durch den Spiegel kenntlich, in welche Art der Isolation sich Tschartkow hineinbegibt; hinter
dem gesellschaftlichen Erfolg und seiner modischen Erscheinung verbirgt sich weder eine
künstlerische noch eine persönliche Substanz. Das Bild, das er von sich wahrnimmt, wird von
einer Oberfläche zurückgeworfen, hinter der sich nicht das Gesehene verbirgt, sondern nichts,
oder allenfalls Ziegelsteine. Die Spiegel sind mit der Petersburger Gesellschaft
gleichzusetzen, da auch diese von ihrem bloßen äußeren Widerschein lebt. Das Spiegelmotiv
wiederholt Gogol in ähnlicher Weise in seinem Werk Rom. Hier wird die Stadt Paris mit
ihren vielen Spiegeln beschrieben. Die vielen Reflexionen sind für Gogol Sinnbild für die
Vanité, die die gesamte Stadtbevölkerung beherrscht und damit eine ganze Gesellschaft in der
Verirrung versinken lassen kann. Aber die Spiegel symbolisieren noch ein Drittes: Sie stehen
für den Prozess der Selbsterkenntnis, dem Tschartkow in der Erzählung unterliegt. Denn wie
in den Toten Seelen verbindet sich mit der Selbstbetrachtung auch die Selbsterkenntnis. So
wie Tschitschikow im Verlaufe des Romans wiederholt vor den Spiegel tritt, um festzustellen,
dass er weder schöner noch schlanker wird und damit seine für den Roman entworfene und
sein Schicksal bestimmende Verhüllung entblättert, so ist auch Tschartkow gezwungen, sich
am Ende seiner Erzählung zu demaskieren. Tschitschikow stellt den Verlust des Gesichtes mit
Erstaunen vor dem Spiegel fest und ruft aus: „O du heilige Mutter Gottes! wie ich garstig
geworden bin!“53 Der für den 51 Im ostslawischen Raum ist das Volksbewusstsein besonders
stark, dass das Spiegelbild des Menschen mit seiner Seele gleichsetzt. Dies führt zum Beispiel
zum Verhängen der Spiegel im gesamten Haus, in dem eine Person gestorben ist. Dieser
Glauben hat auch nach Zentraleuropa seinen Weg gefunden und fand in der romantischen
Vampirliteratur häufig Verwendung. Siehe. F. Haase: Volksglaube und Brauchtum der
Ostslaven. Hildesheim: 1980. S. 128. 52 Siehe Nikolai Gogol: Das Porträt. Übersetzung
Reissner. S. 222ff. 53 Nikolai Gogol: Tote Seelen oder Tschitschikoffs Abenteuer. Ein Poem.
Mit Zeichnungen von Alexander 175 Roman entworfene Stich von Alexander Agin (Abb. 6)
zeigt Tschitschikow mit gefalteten Händen vor seinem Spiegelbild stehend. Agin betont durch
die demütige Körperhaltung die Folgen der Selbsterkenntnis. Wie vor einem Votivbild scheint
Tschitschikow um Gnade und Läuterung zu bitten, für das, was er getan hat. Der Spiegel
zerreißt den Schleier der Täuschung und der Selbsttäuschung und beendet für den Helden des
Romans die Möglichkeit, sich in einer Rolle zu bewegen wie ein Schauspieler. Agin gibt
Tschitschikow die Jacke in die Hand, die er gerade noch getragen hat, so wie sie auch ein
Schauspieler halten könnte, der nach einem Theaterstück von der Bühne in die Garderobe
getreten ist. Damit unterstreicht Agin, dass Tschitschikows Schauspiel beendet ist und ihm
allein als letzte Tat das Abschminken bevorsteht. Die Selbsttäuschung hat auch für
Tschartkow nur so lange Bestand, wie er an seine eingebildete Künstlerschaft glaubt. Als der
aufrichtig arbeitende Künstler aus Italien zurückkehrt und eine Kunst zeigt, die den
eigentlichen Charakter tiefgründiger künstlerischer Arbeit zu zeigen vermag, wird ihm seine
Selbsttäuschung bewusst und die Spiegel werfen ihm ungebrochen das Bild seiner falschen
Künstlerexistenz zurück. Damit unterstützen die Spiegel die Aufrechterhaltung eines Scheins
vom erfolgreichen Künstler, bis sie durch die Ereignisse der Außenwelt und die
Selbsterkenntnis den Schein zerbrechen und damit den Verlust der Künstlerschaft und den
anschließenden Fall noch beschleunigen54. Der Spiegel ist ein vielfältig eingesetztes,
symbolisch beladenes Instrument in der Literatur. In E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die
Abenteuer der Silvester-Nacht dient der Spiegel zur Verklärung der Existenz des „Kleinen“,
der kein Spiegelbild besitzt55. In Anlehnung an diese Erzählung von Hoffmann und die
Erzählung Der Artushof, in der eine Figur aus dem Bild heraussteigt, kann das Porträt des
dämonischen Wucherers ebenfalls als gestohlenes Spiegelbild verstanden werden, das seine
Existenz unabhängig von dem Porträtierten führt. Die Erweckung aus dem Bild zeigt die
diabolischen Fähigkeiten des Vaterkünstlers, der in der Spiegelwelt eine ihm eigene Macht
verliehen bekommt. Das Licht und der Spiegel dienen deswegen auch immer als Insignien des
Künstlers. Agin. Übersetzt von Sigismund von Radecki. Berlin: Rowohlt 1938. S. 367. 54
Vgl. Dudeks These. In G. Dudek: „Die typologische Opposition von Dichterbildern als
Ausdrucksform des gesellschaftlich ästhetischen Ideals in der klassischen russischen
Literatur.“ In: Zeitschrift für Slawistik. Band 8. (1963). S. 407-423. 55 „»Es ist so ganz
wahr«, sprach ich, »man möchte sagen, wie aus dem Spiegel gestohlen.«“ Der Kleine springt
auf : „Das ist albern, das ist toll, wer vermag aus dem Spiegel Bilder zu stehlen?“ E.T.A.
Hoffmann: „Die Abenteuer der Silvester-Nacht“. In: Hoffmanns Werke. Band 1. Frankfurt
a.M.: Insel 19, S. 213. 176 Die Spiegelwelt stellt aber – dies auch die Meinung von Wladimir
Nabokow in dem oben genannten Werk – in besonderem Maße inneres Sein und Befinden in
der Außenwelt dar. Dieses von Gogol permanent und virtuos als poetisches Verfahren
umgesetzt, beruht darauf, die psychologische Entwicklung und die seelische Verfassung der
Figuren in der sie umgebenden Außenwelt sichtbar werden und den dargestellten Raum
immer im Verhältnis zu der Innenwelt ihrer Figuren erstehen zu lassen. Allein von den
Protagonisten und weniger von den Erzählern abhängig, konstruiert er sich als eine Äußerung
personengebundener Schicksale und Lebensläufe. Die genaue geographische Festlegung auf
bestimmte Stadträume erhält hier ihre Begründung, da sie erst die Grundlage zu einer
Orientierung im mehrdeutigen Raum ermöglicht, einer Orientierung, die sich auf das Finden
von psychischen Spuren genau so wie von physischen Spuren verlässt. Die Konstruktion des
Raumes in Das Porträt folgt den Bauplänen einer Spiegelwelt, in der sich zwei Sphären,
äußere und innere, durchdringen. „Kein Wunder, dass die Stadt St. Petersburg ihre
Wunderlichkeit preisgab, als Rußlands wunderlichster Russe durch ihre Straßen ging. Denn
St. Petersburg war eben das: eine Reflexion in einem trüben Spiegel, ein gruseliges
Durcheinander von Gegenständen, von denen falscher Gebrauch gemacht wurde, Dingen die
rückwärts gingen, je schneller sie vorwärts liefen, hellgrauen Nächten anstatt der
gewöhnlichen schwarzen Tage – der «schwarze Tag» eines schäbigen Kanzelisten.“56 Der
Spiegel ist demzufolge nicht nur symbolisches Attribut für die Eitelkeit, die Selbstsucht, die
Egozentrik oder die Isolation einzelner Figuren – wie zum Beispiel Tschartkow in Das Porträt
– sondern auch das Sinnbild für die Erscheinungsform einer ganzen Stadt. Durch das
ausgeprägte Beschreiben des Erlebens der Personen wird St. Petersburg nicht direkt in Gogols
Werk dargestellt, sondern spiegelt sich in der Wahrnehmungswelt der Figuren. Die Stadt wird
auf diese Weise insbesondere in den Bereichen zugänglich und in den Teilen sichtbar, die
sonst im Verborgenen bleiben würden. In der Spiegelung, die das Gogolsche Erzählverfahren
beinhaltet, werden die eigentlich interessanten Aspekte der Stadt unter einer belanglosen
Schicht der Allgemeingültigkeit geborgen. Denn die individuelle Erfahrungswelt, die sich
abseits der offensichtlichen und allgemeingültigen Erscheinungen verbirgt, wird erst im
literarischen Verfahren der individuellen Reflexion wahrnehmbar. Gogol macht immer wieder
auf diesen Umstand aufmerksam (siehe das Ende der Erzählung Der Newskij-Prospekt). 56
Wladimir Nabokow: Nikolaj Gogol. In: Gesammelte Werke. Hrsg: Dieter E. Zimmer. Band
16. Hamburg: Rowohlt 1990. S. 22. 177 Der Spiegel ist seit der Antike ein wichtiges Motiv.
Max Milner hat auf die Verwendung in der antiken Mythologie hingewiesen57. Der böse
Blick der Medusa kann von Perseus durch die glänzend polierte Fläche seines Schildes
umgangen werden. Der Spiegel beweist sich dadurch als Schutz vor der dämonischen Macht
der Medusa. Die Bedeutung der Spiegels für die Gestaltung des Stadtraumes und die
vielfältige Verwendung dieses Motivs zieht sich durch die Literatur des gesamten 19. und
verliert seine Auswirkung auch nicht im 20. Jahrhundert. 3. Mythos Großstadt: Dostojewskis
Übernahme der Motive von Gogol Auch Dostojewskis Roman Der Doppelgänger führt das
poetische Verfahren der Verschränkung von Außenwelt und Innenwelt im Sinne Gogols fort.
Hier bekommt der Spiegel ebenfalls eine die Geschichte leitmotivisch begleitende Aufgabe.
Der Roman beginnt mit dem Blick des Protagonisten Goljadkin in den Spiegel. Die ganze
psychologische Verwicklung um Selbsterkenntnis und Erlangen der Selbstbestätigung durch
die Umwelt drückt sich durch die Benutzung des Spiegels mit der Reflexion des Selbst aus.
Dostojewski bezieht sich in der Komposition und Verwendung dieses Motivs auf Die Nase
und die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen von Gogol. Dostojewskis Geschichte wird von
einem Erzähler vorgestellt, der nicht eine objektive Seite der Handlung wiedergibt, von der
aus die Handlungen des Protagonisten beurteilt werden könnten. Die Vorkommnisse werden
aus der Sicht des Protagonisten beschrieben. Daraus entsteht die Konfusion zwischen Ich und
Er, Außenwelt und Innenwelt. Der Doppelgänger ist auch ein Beispiel für Dostojewskis
unterschiedlichen Umgang mit dem Stadtmotiv im Laufe seine schriftstellerischen Tätigkeit.
Am Anfang unter dem Einfluss von Gogol stehend, verändert sich Dostojewskis poetischer
Umgang mit Petersburg von dem Werk Arme Leute (1846) bis zu den großen Romanen der
60er und 70er Jahre. Anhand des Werkes von Dostojewski wird der Wandel von Petersburg
zur Großstadt nachvollziehbar. Die meisten russischen Künstlererzählungen in der Mitte des
19. Jahrhunderts haben ihren Handlungsort noch in der Provinz58. Dennoch beginnen auch in
Russland die großen Städte bevorzugte Handlungsorte zu werden, wie z. B. in Wsewolod
Garschins Novelle Die Künstler und Tolstois Erzählung Albert. In Garschins Werk von 1879
wird das Leben des Malers Rjabinin in der ganzen Zerrissenheit dargestellt, die aus der
Unverträglichkeit der modernen Zeit mit der 57 Siehe das Kapitel „Le miroir de Persée“ in
Max Milner: On est prié de fermer les yeux. Le regard interdit. Paris: Gallimard 1991. S. 29f.
58 Siehe Elisabeth Cheauré: Die Künstlererzählung im russischen Realismus. Frankfurt a. M./
Bern/ New York: Lang 1986. S. 296. 178 künstlerischen Tätigkeit herrührt. Die in Petersburg
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit vorangeschrittene Industrialisierung
beschäftigt den jungen Porträtisten, der in seiner Kunst versucht, einen Arbeiter in seiner
schweren und verschleißenden Tätigkeit darzustellen. Der Künstler scheitert an der Aufgabe,
das reale Leben in der Kunst wiederzugeben, und verlässt enttäuscht die Stadt für eine Stelle
als Provinzlehrer. Dass hier das proletarische Petersburg mit den schlechten Arbeits- und
Wohnverhältnissen als Bild für die moderne Stadt dient, darf nicht darüber hinwegtäuschen,
dass andere urbane Motive bereits vorher die Großstadt Petersburg ankündigen und sich als
bevorzugte Großstadtelemente etablieren. Inwieweit Gogols Erzählungen die modernen
Aspekte des Großstadtlebens zeigen und dadurch neue urbane Gegenwärtigkeit hervorrufen,
wird deutlich, wenn einzelne Motive mit denen verglichen werden, die 20 oder 30 Jahre
später die Literatur noch in der selben Form beschäftigen. Neben dem bereits erwähnten
Spiegel werden andere Merkmale der Großstadt in den Mittelpunkt gerückt; eines davon ist
die Prostitution. Gogol macht in seiner Erzählung Der Newskij-Prospekt die käufliche Liebe
zu einem der zentralen Erzählgegenstände. Die unbekannte Prostituierte wird zur Auslöserin
der schicksalhaften Verkettung, die am Ende den Maler Piskarjew ins Verderben führt. Der
Maler wird durch die abendliche Begegnung mit der unbekannten Frau aus seiner Welt
gerissen und beginnt seine Reise in das Reich der Träume und der Rauschmittel. Die
Darstellung der Prostitution in der Literatur ist an sich nichts Neues. Das 18. Jahrhundert
kennt die Schilderung der freien und käuflichen Liebe bereits, allerdings nur in der häuslichen
Form, d. h. in dem Erzählen des erotischen Lebens in Freudenhäusern, verlassenen
Landhäusern oder den Boudoirs. Im 19. Jahrhundert wird der vorherrschende Ort für die
Darstellung der Prostitution hingegen die Straße59. Der Hinweis von Walter Benjamin, die
Prostitution in den Großstädten mache die Frau nicht nur zur Ware, sondern zum
Massenartikel, erklärt diesen Ortswechsel innerhalb der Stadt. Benjamins Interesse an dem
Werden der Großstädte, insbesondere dem von Paris, und seine Suche nach Spuren der
literarischen Vermittlung dieses Entwicklungsprozesses, wofür er sich insbesondere das Werk
Baudelaires vornimmt, führt bei ihm zu einer 59 Siehe hierzu Baudelaire und die
Ausführungen von Walter Benjamin in Zentralpark: „In der Gestalt, die die Prostitution in den
großen Städten angenommen hat, erscheint die Frau nicht nur als Ware sondern im
prägnanten Sinne als Massenartikel. Durch die artifizielle Verkleidung des individuellen
Ausdrucks zugunsten eines professionellen, wie er als Werk der Schminke zustande kommt,
wird das angedeutet. Dass es dieser Aspekt der Hure war, der sexuell bestimmend für
Baudelaire wurde, dafür spricht nicht zuletzt dass in seinen vielfältigen Evokationen der Hure
nie das Bordell den Hintergrund bildet, dagegen oft die Straße.“ Walter Benjamin:
Zentralpark. In: Gesammelte Werke. Band I. Abt. 2. S. 686. 179 Fokussierung auf eben jene
Motive, die zur Schaffung des Mythos von der modernen Stadt beigetragen haben. Dass auch
Gogol das Gespür für den urbanen zeittypischen Veränderungsprozess besaß, wird deutlich,
wenn die Form und die Schwerpunkte seiner Stadtdarstellung untersucht werden. In den
Petersburger Erzählungen werden die urbanen Motive gerade in der Form geschildert, dass
nicht der Bezug zur Vergangenheit hergestellt wird, sondern das Neue in den Vordergrund
rückt. Benjamins Behauptung, in der Großstadt sei die sich auf der Straße prostituierende Frau
zu einem Massenartikel geworden, trifft auch für die Erzählung Der Newskij-Prospekt zu, da
Gogol geschickt die Kommerzialisierung des Boulevards in den Vordergrund rückt. Die
Einleitung führt das vielfältige Warenangebot auf der Straße vor, das auf Ladenschildern
angekündigt und hinter Schaufenstern dargeboten wird. Am Abend wandelt sich das Bild: Die
Schaufenster werden in der Nacht nicht beleuchtet und so tritt eine andere Ware in den
Vordergrund, die sich vor den Glasscheiben im Laternenlicht anbietet. Gogol macht den
Bezug durch den schnellen Übergang von der Beschreibung der Schaufenster zu der auf dem
Boulevard stehenden Frauen offensichtlich und bildet die Frauen somit als Massenartikel ab.
Der Austausch des täglichen und nächtlichen Warenangebots führt bei Gogol bereits zu einer
Intensivierung des Verhältnisses des Passanten zu dem Angebot. Die Ware Mensch rückt den
über den Boulevard spazierenden Menschen näher und ist frei von Abgrenzung durch die
Glasscheiben. Wenn, wie in diesem Beispiel gezeigt, bereits Mitte der 30er Jahre Motive in
ihrer neuen urbanen Form entstehen, die in dieser Form Eingang in die Ausstattung der
modernen Großstadt gefunden haben, macht dies deutlich, dass der Prozess der Verstädterung
ein kontinuierlicher Prozess ist, und die Unterscheidung zwischen Großstadt und Stadt in
dieser Zeit nicht an Hand gefestigter Merkmale vorgenommen werden kann. Die Entstehung
der Großstadt, wie sie geschichtlich oder soziologisch betrachtet und beschrieben werden
muss, wird von einer literarischen Abbildung begleitet, die schon früh besondere Merkmale
ihrer Veränderung festhält, ohne brauchbare Hinweise für die Kategorisierung in Groß und
Klein zu liefern. Die Literatur geht vielmehr in dieser Zeit auf das Uneindeutige, auf die
Anzeichen des Übergangs und der Veränderung ein, als sich auf bereits erreichte Konstanten
und festgeschriebene urbane Äußerlichkeiten festzulegen, die zu einem einheitlichen Bild der
großen Stadt führen würden. Die Definition von Großstadt wird in der Literatur vielmehr eine
Frage des Verhältnisses der Figuren zu ihrer Umwelt. Das Moderne und das Großstädtische
ist zu Beginn mehr eine Frage des „wie nehme ich die veränderte Umwelt auf“ als „wie ist die
Stadt“. Erst die Begeg180 nung Piskarjews mit der Prostituierten und die Verfolgung in ihre
Wohnung macht es möglich, das Schicksal der Frau so darzustellen, dass es einer Mythologie
der Großstadt entspricht. Hierbei eignet sich die Figur des Künstlers besonders gut für die
Darstellung des Mythos Großstadt. In seiner Ausstattung (teilweise aus der Romantik
herrührend) ist er ein Träumer, ein Idealist, ein Ästhet, jemand der dem Schönen zugeneigt
ist, ein Gestalter von fremder und jenseitiger Welt, der in der Konfrontation mit der Realität
an existentielle Grenzen stößt. Gerade die neue Welt muss ihn schnell an die Grenzen seiner
Integrationsfähigkeit führen, da er durch seine persönliche Prägung und Denkweise nicht mit
dem ausgestattet ist, was ihn in der modernen Welt bestehen lässt. Der Mythos der großen,
unheimlichen Stadt baut sich in der Literatur gerade über diesen Gegensatz auf, da die mit der
Person zusammenhängende Wahrnehmung zu einem Bild der Stadt führt, das alles ins
Unermessliche und Unbegreifbare steigert. Dabei wird in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts nicht die Bewältigung zu dem vorherrschenden Thema, sondern die Flucht in
eine andere Wirklichkeit. So führt die Flucht vor dem Fremden, das die Stadt in ihrem großen
Reichtum birgt, zu einer Verstärkung dieser Mächte und verbindet sich unauflösbar mit
diesen. Die Dämonisierung ist dabei eine der Grundlagen für die Schaffung des Mythos
Großstadt. Die Veränderung der Stadt Petersburg zwischen der Zeit, in der Gogol sie
beschreibt, und der Zeit, in der sie den Status einer Großstadt erlangt, ist besonders deutlich
im Werk von Dostojewski zu verfolgen. Sein literarischer Umgang mit dem urbanen Mythos
wandelt sich in dem Maße, wie das Bewusstsein von Stadt wächst. Eine besonders wichtige
Rolle spielen auch in dieser Entwicklung die Künstlerfiguren. Auch wenn in Arme Leute die
Protagonisten keine Künstler sind, so trägt der Held in Helle Nächte (1848) deutliche Züge
dieses Types60. In den Hellen Nächten wird der junge Mann ohne Namen, der sich in seinen
Träumen eine eigene Welt erschafft, durch die Traumwelt zum „Künstler seines Lebens“61.
Dass er davon träumt, Dichter zu werden, unterstützt die künstlerähnliche Verhaltens- und
Denkweise. Das wichtigste Indiz für die Nähe des Helden zur Künstlerfigur ist allerdings der
Umgang mit der Stadt und die Entwicklung neuer Abbildmethoden für die Darstellung dieser
Umwelt. Hieraus ergibt 60 Der junge Mann träumt davon, Dichter zu sein und später berühmt
zu werden. Auf die Frage, wovon der junge Mann träumt, folgt die Antwort: „Was soll diese
Frage? Von allem möglichen: von der Rolle eines Dichters, der zuerst keine Anerkennung
findet dann aber mit dem Lorbeer bekränzt wird; von der Freundschaft mit E.T.A. Hoffmann,
[…]“. Dostojewski: Helle Nächte. S. 33. Siehe auch Cheauré: „In Dostoevskijs Werk findet
sich keine Künstlererzählung im engeren terminologischen Verständnis. Dennoch erinnern
einige der romantisch-schwärmerischen Helden in Dostoevskijs frühen Werken (Weiße
Nächte) an Künstlerfiguren.“ Cheauré: Die Künstlererzählung im russischen Realismus. S. 53.
61 Dostojewski: Helle Nächte. S. 34. 181 sich auch die Nähe seiner Geschichten zu denen
von Gogol. Nicht nur die Figuren der beiden Schriftsteller sind miteinander verwandt,
sondern auch die Art, wie sie in den erzählerischen Aufbau integriert werden und über sie die
Stadtwirklichkeit literarisch zugänglich gemacht wird. Dostojewski hat selber auf den
Einfluss des Werkes von Gogol hingewiesen und diesen persönlich zu seinem Vorbild erklärt.
So ist es nicht verwunderlich, dass sich seine Verbundenheit mit dem Werk von Gogol auch
in dem Umgang mit dem Großstadtmotiv zeigt und bereits in seinem frühen Werk der Mythos
Großstadt entsteht. Die Abbildung der dunklen und unergründlichen Seiten Petersburgs, die in
Dostojewskis Gesamtwerk wiederholt auf der genauen Schilderung der Topographie der Stadt
aufbauen, führen zu einer typischen inneren Epik. Wie in Gogols Werk wird erst über das
Schicksal der Figuren die Umwelt in ihrer Tiefe sichtbar, und wird im Erzählen Petersburg zu
einem zusammengesetzten Bild von individueller Wahrnehmung und äußerer Objektwelt.
Dostojewskis Helle Nächte, mit den Untertiteln „Ein empfindsamer Roman, aus den
Erinnerungen eines Träumers“, zeigen deutlich die Fortsetzung dieses von Gogols
Künstlerfiguren herrührenden Persönlichkeitsbildes, das für die Erzählung der modernen
Stadt und die Entstehung ihres Mythos von großer Bedeutung ist. Die Ähnlichkeit zu dem
Maler Piskarjew aus Gogols Erzählung Der Newskij-Prospekt ist dabei so groß, dass die
Ausrufe Piskarjews dem Erzähler in Dostojewskis Werk als Vorlage zur Charakterisierung
des jungen Mannes dienen: „Seine Einbildungskraft ist von neuem geweckt und angeregt, und
auf einmal blitzt wieder eine neue Welt, ein neues bezauberndes Leben mit einer glänzenden
Perspektive vor seinem geistigen Blicke auf. Ein neuer Traum, ein neues Glück! Eine neue
Dosis eines raffinierten, süßen Giftes! Oh, was soll er in unserm realen Leben!“62 Der
Antagonismus zwischen Traumwelt und Realität dient als Grundlage der
Persönlichkeitsbeschreibung, und durch die Konstruktion des Gegensatzes wird festgelegt,
wie sich die Erzählperspektive entfaltet. Die Parallelität in der Charakterisierung von
Piskarjew und dem unbekannten Jüngling in Helle Nächte setzt sich auch in der Handlung
fort. Der junge Mann begegnet wie Piskarjew einer fremden Frau, die ihn aus der Einsamkeit
erlöst. So wird der Anonymität der Stadt – zunächst einmal – die Aussicht auf eine
Bekanntschaft entgegen gesetzt. Das Motiv der anonymen Begegnung wird am Anfang des
Werkes aufgegriffen. Hier entsteht die Vertrautheit und eine Form der losen Bekanntschaft
dadurch, dass sich die beiden 62 Ebd. S. 33. Bei Gogol heißt es: „Du großer Gott, was ist das
Leben! Ewiger Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Traum.“ Gogol: Der Newskij-Prospekt.
Holm. S. 38. 182 wiederholt zu gleicher Zeit und am gleichen Ort auf der Straße treffen und
eine Übereinstimmung ihrer Situation erkennen. Der junge Mann bleibt jedoch seiner
bisherigen Lebensweise verhaftet. Er findet keinen Weg aus seiner Versunkenheit und so
bleibt die Frau, ähnlich wie die Frau in Gogols Der Newskij-Prospekt, schemenhaft und für
ihn die Möglichkeit einer Annäherung versperrt. Dass die Begegnung mit der Frau in der
Nacht stattfindet, in einer der hellen Petersburger Sommernächte, verstärkt den Grad seiner
träumerischen Entrückung. Bestärkt durch einen Ausflug auf das Land, wo er zwischen
Feldern und Wiesen spazieren geht, kehrt er in die Stadt zurück. Die unauflösbare Verbindung
seines Schicksals mit der Stadt zeigt sich in diesem Ausflug, der zunächst wie eine Befreiung
von den Fesseln der Stadt empfunden wird. Das Stadttor hinter sich lassend, empfindet er die
Freiheit der Natur: „Und ich war so froh, wie ich es noch in meinem ganzen Leben nicht
gewesen war. Gerade wie wenn ich plötzlich nach Italien versetzt wäre, so stark wirkte die
Natur auf mich, den halbkranken Städter, der in den Mauern der Stadt beinah erstickt war.“63
Die Rückkehr in die Stadt und die Begegnung mit der unbekannten Frau lassen den jungen
Mann in sein gewohntes Verhaltensmuster verfallen. Das Gespräch und die flüchtige
Bekanntschaft führen bei ihm zu der Hoffnung, nicht durch das Ereignis glücklich zu werden,
sondern durch die Erinnerung daran: „Ich bin ein Träumer; mein Leben ermangelt dermaßen
der Realität, dass solche Augenblicke wie dieser, wie der jetzige, für mich die größte
Seltenheit sind und es mir ein zwingendes Bedürfnis ist, mir diese Augenblicke in meinen
Träumen immer wieder vorzuführen. Ich werde mir von Ihnen eine ganze Nacht, eine ganze
Woche, ein ganzes Jahr lang etwas vorphantasieren. Ich werde unter allen Umständen morgen
hierher kommen, gerade hierher an diese Stelle, gerade zu dieser Stunde, und ich werde in der
Erinnerung an unsere heutige Begegnung glücklich sein.“64 So zeigt sich wie bereits bei
Gogols Figur Piskarjew die Neigung, die Realität zu Gunsten des Traumes zu verlassen, um
das den Protagonisten in der Wirklichkeit versagte Glück zu finden. Vielmehr noch lässt sich
in der Traumwelt – in der durch Visionen und Phantasie entrückten Gedankenwelt – eine
neue, viel bessere Realität erschaffen, die alles andere übertreffen kann. Hier liegt die
eigentliche Motivation des jungen Mannes; sein Anliegen ist nicht nur die Flucht, sondern die
Erschaffung einer schöneren Welt durch die Einbildungskraft, die die Wirklichkeit ersetzen
soll: 63 Dostojewski: Helle Nächte. S. 13.f. 64 Ebd. S. 20f. 183 „[…] er wünscht nichts, weil
er über allen Wünschen steht, weil er selbst der Künstler seines Lebens ist und es sich in jeder
Stunde nach neuem Belieben gestaltet. Und so leicht, so natürlich lässt sich diese
märchenhafte, phantastische Welt erschaffen! Als ob das alles keine bloße Vision wäre!
Wirklich, zu manchen Zeiten ist er nahe daran, zu glauben, dass dieses ganze Leben nicht die
Wirkung eines gereizten Gefühls, nicht eine Luftspiegelung, nicht eine Täuschung der
Einbildungskraft, sondern geradezu etwas Wirkliches, Wahres, Existierendes sei!“65
Dostojewski erschafft hier einen Charakter, der überzeugt davon ist, in der geträumten Welt
noch mehr zu Hause sein zu können als in der wirklichen Umgebung. Der junge Mann setzt
sich das Träumen der Wirklichkeit sogar zum Ziel und macht das Verwischen der
Unterscheidungsspuren zwischen Traum und Wirklichkeit zum Zweck seiner Handlungen. Er
ist sich seiner schöpferischen Kraft, den dieser Verschleierungsprozess verlangt, bewusst und
bezeichnet sich gar als „Künstler seines Lebens“. Dass er sich in einem bewussten Umgang
mit sich selber sieht, macht die wiederkehrende Reflexion deutlich, die ihn seiner
Selbstbetrachtung aussetzt. So erkennt der versunkene Held auch, dass er nicht ein
Einzelschicksal besitzt, sondern stellt – nicht ohne Ironie – fest: „Ich bin ein Typus.“66 Dass
dieser weltabgewandte Typus, der aus der romantischen Literatur hinlänglich bekannt ist, sich
der urbanen Welt Petersburgs aussetzt, macht den spannenden Teil des Romans aus. Wie in
Gogols Novellen setzt sich auch hier ein Charakter der Stadt aus, der am wenigsten in der
Lage scheint, sich seiner Umgebungswelt annähern oder anpassen zu können. In dem Verweis
auf den Typus und den „Künstler seines Lebens“ wird deutlich, dass hier eine bestimmte
Figur als Vermittler eingesetzt wird, eine Figur, die sich den ästhetischen Möglichkeiten der
Abbildung der Außenwelt nicht versagt und den Prozess der Vermittlung offen hält, da sie
sich selber frei von allgemeiner Empfindung und Wahrnehmung macht. So wird eine
literarische Figur in das Werk eingebunden, die den Weg der Abbildung offenlegt. Auf diese
Weise wird auch die literarische Wirkung des Dämonischen gesteigert. Das Halbdunkel der
Petersburger Nacht ist besonders gut dazu geeignet, das Reich zwischen Traum und Wachen,
eine Sphäre der Undeutlichkeit entstehen zu lassen. Und der Träumertypus verwebt sich
besonders leicht in dieses poetische Geflecht, da er Schöpfer von Visionen ist, die ihren
Ursprung in der Zwielichtigkeit der hellen Nächte haben. 65 Ebd. S. 34. 66 Ebd. S. 25. 184 In
dem Roman Schuld und Sühne stellt der Erzähler fest, dass in der „künstlichste[n] aller
Städte“ auch das Klima seine Wirkung auf die Menschen zeigt: „Es gibt wenige Orte, wo sich
so viele trübe, starke, seltsame Momente, die auf die menschliche Seele wirken, vereinigt
finden wie in Petersburg. Wie mächtig sind allein schon die Einwirkungen des Klimas!“67
Dostojewski stellt auf diese Weise den Bezug zwischen seinen Protagonisten und ihrem
Aufenthaltsort Petersburg immer wieder her. Petersburg und seine schroffen Seiten, die Stadt
voller unerklärlicher Phänomene wird zu einem unheimlichen Anstifter von
außergewöhnlichen Lebensschicksalen. 4. Der Teufel als Erzähler von Paris Das tableau des
18. Jahrhunderts betrachtet die Stadt als einen lebenden Organismus. Die Beobachter des
tableaus sind fasziniert von dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Teile und Aspekte der
Stadt, die sich in ihren Vorstellungen zu einem zusammenhängenden und klassifizierbaren
Ganzen zusammensetzen. Sébastien Mercier versteht sich in seinen Tableau de Paris noch als
Entdecker der französischen Hauptstadt, und er will sie von unten nach oben, von Süden nach
Westen und von Osten nach Westen erforschen und vermessen. Geleitet wird er von der
Überzeugung, seine Beschreibungen dienen der Erhellung und dem Verständnis der
unterschiedlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in der
französischen Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts. Der homme de lettre des 18.
Jahrhunderts, dem Wissenschaftler noch näher als dem von seinen Empfindungen geleiteten
Schriftsteller späterer Prägung, geht von einem rationalen Hintergrund für die Schilderungen
seiner Erlebnisse und Wahrnehmungen aus. Der Beschreibungsstil der Parisdarstellung,
obwohl oft weiterhin die Bezeichnung tableau tragend, ändert sich in den folgenden
Jahrzehnten allerdings vollkommen. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, nachdem drei
System- und Machtwechsel das politische und gesellschaftliche Gefüge in Paris
durcheinandergebracht haben und der nächste Machtwechsel kurz bevorsteht, hält auch in
Frankreich die Romantik Einzug. Unter dem Einfluss von Lord Byron – und dessen
Verehrung für das Jenseitige und den Satanismus – , nach dem Bekanntwerden der deutschen
Romantiker, vor allem der Erfolg der Erzählungen von E.T.A. Hoffmann und des Faust von
Goethe, erhält das diabolische Moment einen unverrückbaren Platz in dem neuen
Selbstverständnis französischer Schriftsteller und Künstler. 67 Dostojewski: Schuld und
Sühne. S. 680. 185 In Paris legt sich eine dämonische Stimmung über die Stadt. Die
Darstellung des städtischen Raumes verbindet sich insbesondere in den Stichen von Charles
Meyryon mit einer dunklen Atmosphäre. Unerklärliche Wesen, die am Himmel über die Stadt
ziehen, sind nicht näher identifizierbar und von unbestimmter Herkunft. Die mit einfachen
Mitteln geschaffene phantastische Welt überträgt sich in dem Bild auf die Stadt und ihre
Gebäude. Durch den Kontrast zwischen hellem Himmel und dunkler Zeichnung der Gebäude
entsteht der Eindruck der Verbindung von jenseitigen Wesen und Pariser Welt. Dieser
Kontrast wird um so deutlicher, je bekannter und repräsentativer die Gebäude auf den Stichen
sind; die dunklen Mächte ziehen unbeeindruckt über die Dächer der Gebäude staatlicher
Gewalten. Den Höhepunkt dieser Gegenüberstellung von verschiedenen Mächten bildet das
Bild mit der Schar der an römische Kampfwagen erinnernde Gefährte über dem
Marineministerium (Abb. 7). Aber auch Darstellungen der Morgue deuten die ständige
Präsenz jenseitiger Mächte in der Stadt an, über die ihre Bewohner keine Gewalt besitzen. In
der Literatur bildet Victor Hugos Roman Nôtre Dame de Paris (1832) einen wichtigen
Wendepunkt in der Stadtdarstellung und ein wichtiges Beispiel für die Verschiebung in der
Wahrnehmung von Paris. In seinem Roman wird das mittelalterliche Paris auferweckt, um der
Stadt ein neues Gesicht zu verleihen. Die Stadt Paris wird nach der Veränderung der 20er
Jahre des 19. Jahrhunderts aus einem neuen Betrachterwinkel beschrieben. Wie schon bei
Mercier wird in den bekannten Chroniken der 30er bis 50er Jahre des 19. Jahrhunderts, Livre
des Centet- Un, Les Français peints par eux-mêmes, Le Diable à Paris(1845-46), Paris et les
Parisiens au dixneuvième siècle(1856) und den Tableau de Paris von E. Texier (1852/53) die
Erzählsituation, zumeist am Anfang der Texte, ausführlich dargelegt. So wird z. B. am
Anfang der Stadtchronik Livre des Cent-et-Un die Aufgabe des Werkes mit der des Teufels
aus Lesages Roman Le Diable boiteux verglichen. Die diabolischen Kräfte des hinkenden
Teufels, die Asmodée auf seiner Reise über die Dächer von Madrid den Blick in die
Wohnungen unter ihm ermöglicht, werden von Jules Janin auf die Erzählsituation der
Stadtchronik übertragen: „Asmodée n’est plus quelqu’un, Asmodée, c’est tout le monde.“68
Der Blick durch die Hauswände in die Wohnungen der Bewohner von Paris soll jedermann,
der das Buch liest, durch die Konstruktion der Erzählperspektive des Livre des Cent-et-Un
ermöglicht werden. Das Privileg, das Asmodée noch besaß, wird in der Literatur der
Romantik zu einem allgemeinen Betrachterstandort. Der Titel 68 Livre des Cent-et-Un. Band
1. Paris: 1831. S. 14. 186 der Stadtchronik Les Français peints par eux-mêmes69 macht dieses
Programm deutlich. Der gleiche Vorgang wiederholt sich noch ausführlicher in der Chronik
Le Diable à Paris. In den Jahren 1845 und 1846 erscheint Der Teufel in Paris, eine Anthologie
von zahlreichen Autoren, darunter Charles Nodier, George Sand, Honoré de Balzac, Gérard
de Nerval, Arsène Houssaye, Théophile Gautier und Alfred de Musset70. In einer
Rahmengeschichte wird eine Begründung für den Titel geliefert. Der Teufel wünscht, einen
Bericht von der Lage auf der Erde zu erhalten. Er will aber nicht selber dorthin reisen,
deswegen schickt er einen Gesandten, den er in Anlehnung an Lesages Le diable boiteux
Flammèche tauft. Der Auftrag ist klar und deutlich formuliert: „Tu y seras, sous la forme qu’il
te plaira de choisir, mon correspondant et mon ambassadeur, et tu auras soin, si tu tiens à mes
bonnes grâces, de m’écrire toutes les semaines pour m’en donner des nouvelles. Je prétends
apprendre de toi tout ce qui s’y passe, et qu’une fois tes notes envoyées, on sache ici de Paris
tout ce qu’il est bon, tout ce qu’il est, diaboliquement parlant, possible d’en savoir.“71
Hieraus ergibt sich für die Geschichten die besondere Erzählsituation, da für den Teufel
geschrieben wird, der die Erde nicht selber betreten will (siehe das Frontispiz von Le Diable à
Paris von Gavarni, Abb. 8). Es entsteht eine Betrachtersituation, in der alles neu beschrieben
und entdeckt werden muss. Denn die zentrale Frage, die sich der Teufel stellt, „Qu’est-ce que
Paris?“72, kann Flammèche nur beantworten, wenn er sich der ausführlichen Betrachtung der
Stadt verschreibt und sich dabei der vom Teufel verliehenen Fähigkeiten bedient. Der
diabolische Betrachter, der für die Schublade des Teufels (Le tiroir du diable) schreibt,
interessiert sich, wie schon Lesages Beobachter Asmodée, für das Alltägliche und
Gewöhnliche am Aufenthaltsort. Nicht die philosophische Betrachtung des Entfernten oder
Abstrakten beherrscht den Beobachter, sondern das gewöhnliche Geschehen in ihrer
unmittelbaren Nähe: „Car, il faut oser le dire, le pays le moins exploré aujourd’hui c’est Paris
lui-même. Un poëte a dit aux philosophes: N’allez pas vous perdre dans les mers lointaines de
la métaphysique, ô vous qui mourez sans avoir fait le tour de vous-mêmes! Ne pourrait-on pas
dire aux Parisiens qui voyagent: Pourquoi faites-vous tant de chemin avant de voyager 69 Les
Français peints par eux-mêmes, La grande ville. Paris: Hetzel (mit Zeichnungen von
Daumier.) 70 Le Diable à Paris. Paris et les Parisiens. Moeurs et coutumes, caractères et
portraits des habitants de Paris, tableau complet de leur vie privée, publique, politique,
artistique, littéraire, industrielle, etc, etc. Illustrations Gavarni. 2 Bände. Paris: Hetzel 18451846. 71 Ebd. S. 23. 72 Ebd. S. 375. 187 dans Paris? L’Orient n’est plus qu’à Paris, à Paris
seul sont les forêts vierges; rien de nouveau sous le soleil, si ce n’est sous le soleil de
Paris.“73 Wegen der Alltäglichkeit verschließt sich die Stadt jedoch zunächst ihrer
Betrachtung. Was schon Mercier festgestellt hat, gilt auch für die nachfolgende
Beobachtergeneration: das Sehen muss gelernt werden. Denn erst hinter dem Gewöhnlichen
tritt das für den Teufel Interessante hervor. Hier liegt der Grund für das Erzählen der
Rahmengeschichte mit dem Auftritt des Teufels und seines Gehilfen. Durch das Schreiben für
den Teufel wird die Stellung des Erzählers hervorgehoben, der die Schublade des Teufels
füllen soll. Der Erzählvorgang wird nicht einfach als eine Selbstverständlichkeit des Werkes
angesehen, sondern die ganze Macht und Möglichkeit des Erzählvorganges werden durch den
Auftrag des Teufels unterstrichen. Der diabolische Auftrag macht erst deutlich, was das
Wesen der Kunst ist: „Paris est un théâtre dont la toile est incessamment levée, dit l’illustre
écrivain qui avait conclu contre les méthodes, et il y a autant de manières de considérer les
innombrables comédies qui s’y jouent qu’il y a de places dans son immense enceinte. Que
chacun de nous le voie donc comme il pourra, celui-ci du parterre, celui-là des loges, tel autre
de l’amphithéâtre: il faudra bien que la vérité se trouve au milieu de ces jugements divers.
D’ailleurs, souvent un beau désordre… - Est un effet de l’art! cria l’assemblée tout entière;
ceci est connu, foin des méthodes!–“74 Die Betrachtung des Theaterstücks „Pariser
Wirklichkeit“ hält für jeden Betrachter, abhängig von seinem Betrachterstandort, andere
Eindrücke bereit. Weil aber der Teufel allein an der einzig wahren Geschichte von Paris
interessiert ist, muss Flammèche ausziehen, um diese zu finden. Seine Aufgabe ist daher nicht
die eines Philosophen oder Wissenschaftlers, sondern vielmehr die eines Künstlers, der auf
seinem Weg durch Paris die eigene Welt erschaffen soll. Der Bund mit dem Teufel, der
Flammèche diese Freiheit verleiht, ist damit eine den Künstler bestärkende Kraft. Charles
Nodier stellt den Bezug zwischen künstlerischer Ausdrucksweise und diabolischer Macht in
seiner kurzen Analyse „A quoi on reconnait un homme de lettres à Paris, et ce qu’on y entend
par ce mot: un livre“ her75. In der Umkehrung, durch die Darstellung der
Scheinkünstlerschaft, macht er deutlich, was den wahren Künstler auszeichnet. Er warnt vor
der Beliebigkeit und der Durchschnittlichkeit der Massenware Buch: „[…] il est sage pourtant
de se méfier d’un pays où les grand écrivains se comptent par centaines, et d’une littérature où
les li- 73 Ebd. S. 304. 74 Ebd. S. 28. 75 Ebd. S. 121-122. 188 vres célèbres sont si nombreux
qu’on ne saurait les compter.“76 Die Ursache für die Menge an Scheinkünstlern, sieht er
darin, dass es ausreicht, einen interessanten Titel zu finden, um dann die Seiten mit beliebigen
Stoff zu füllen. Um ein Schriftsteller in Paris zu sein, bräuchte man keine vernünftige Zeile
geschrieben zu haben77, so sein bitteres Resümee. Auch in der Künstlergeschichte „Feuillets
de l’album d’un jeune Rapin.“78 von Théophile Gautier ist das Jenseitige dafür
verantwortlich, dass ein junger Mann es schafft, sich aus den bürgerlichen Kreisen seiner
Herkunft zu befreien und ein erfolgreicher Maler zu werden. Er fühlt sich berufen Maler zu
werden. Doch zunächst versucht er sich gegen seinen Vater durchzusetzen, der den
Anwaltsberuf für ihn vorgesehen hat. Er findet zwar Einlass in Künstlerkreise, er muss aber
von Aufträgen für Porträts aus der „bürgerlichen Welt“ leben. In einem Traum erhält er die
Eingebung richtiger Farbgestaltung für sein Werk. Trotz einem Streit mit seinem Lehrer über
das erschaffene Gemälde, schickt er das Bildnis der Madonna mit Kind an den Salon und hat
damit einen so großen Erfolg, dass er danach Aufträge zur Ausstattung einer Kirche erhält
und der Vater sein Drängen, Anwalt zu werden, einstellt. Der Pakt mit dem Teufel, der in Le
Diable à Paris geschlossen wird, hat vorwiegend ästhetische Gründe. Die Kunst verbrüdert
sich mit der Unterwelt zu einer Zeit, in der die klassischen Ideale und Maßstäbe für das
Kunstwerk verloren gehen oder umformuliert werden. Die Kunst sucht ihre Wertmaßstäbe
besonders häufig in den Umkehrungen der bisher gültigen Lehren. Der gesellschaftliche
Umbruch, der nach 1789 einsetzt, gibt der Religion und der daraus abgeleiteten Morallehre
anderen gesellschaftlichen Stellenwert. Für die ästhetischen Maßstäbe der Kunstwelt hat dies
eine weitreichende Umorientierung zur Folge. Von der Kirche unterdrückte, verfolgte oder
kontrollierte geistige Strömungen geraten in Mode. Zum Teil aus dem Ausland nach
Frankreich gebracht, entwickelt sich im Laufe der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts ein Geist
der Gegenkultur. Satanismus, Okkultismus, Atheismus werden zur Beschäftigung in den
Pariser Salons. Victor Hugos berühmt gewordenes Vorwort zu seinem Theaterstück Cromwell
(1827) kommt schnell in Mode, da es auf prägnante Weise die Stimmung einer Epoche in
ästhetische Kategorien zu übersetzen weiß. Der stilistische und künstlerische Geschmack der
hier Ausdruck findet, wird zum Wertmaßstab der folgenden Künstlergeneration. Es entwickelt
sich schnell der „culte de Hugo“, der festschreibt, dass ‘es neben der offiziellen Kultur, eine
andere Kultur gibt, eine der Unterwelt, begehrt, lebendig, die Gegenkultur des 76 Ebd. S. 121.
77 „Pour être homme de lettres à Paris, il faut n’avoir jamais rien écrit“. Ebd. S. 122. 78 Ebd.
S. 311-322. 189 Karneval und der Groteske’79. Hugos Referenz auf Chateaubriand und
dessen Werk Le Génie du christianisme (1802) im Préface de Cromwell macht den Konflikt
zwischen dem alten und dem neuen Kulturverständnis deutlich80. Chateaubriands These, das
Christentum hat der antiken Körperlichkeit die Seele zur Seite gestellt, wird von Hugo zur
Schau gestellt, bevor er es für die Gegenthese benutzt und schließlich den religiösen
Gedanken dahinter entweiht. Das Streben der Kunst nach Darstellung der höheren Sphären
wird von Hugo in ihr Gegenteil verkehrt. Der Künstler stellt sich nicht als Mittler zwischen
den Himmel und die Welt, sondern zwischen die Unterwelt und das Diesseits. Dabei wird die
Gesellschaft mit ihren schlechten Eigenschaften zu einem Spiegelbild der Unterwelt erklärt.
Die Aufgabe des Künstlers ist es, der Gesellschaft dieses Spiegelbild vorzuführen. Ein
weiteres Werk, das die Rolle des Künstlers als Bindeglied zwischen Unterwelt und Diesseits
sieht, ist Philotée O’Neddys Feu et Flamme (1833). O'Neddy erklärt in seinem Werk die
Pariser Gesellschaft im gegenwärtigen Zustand zu seinem Gegner, der bekämpft werden
muss. Seiner Meinung nach stehe Paris wegen seiner philisterhaften und unbeweglichen
Strukturen vor einer ähnlichen Katastrophe wie die antiken Städte Herculaneum und Pompeji
am Vorabend des Vesuvausbruches. Die Bewohner der antiken Städte seien Ignoranten
gewesen, die gleich den heutigen Bewohnern von Paris, nicht die Gefahr des Unterganges in
ihrer unmittelbaren Nähe wahrgenommen hätten: „Qu’ils se souviennent donc que, la veille
même de la fameuse éruption du Vésuve, qui enterra toutes vives deux cités, Herculaneum et
Pompéï, d’ignorantes naturalistes, étant à se promener non loin des bords du cratère, se
demandaient l’un à l’autre s’il étaient bien réel que les entrailles de la montagne
renfermassent un volcan!“ 81 Die Bedrohung für Paris wird in seinem Werk immer wieder
mit dem Ausbruch eines Vulkans verglichen. Neben dem Bezug zu den untergegangenen
antiken Städten bildet Babylon das eigentliche Vorbild für Paris. Paris als modernes Babylon
darzustellen, ist das eigentliche Ziel von O’Neddy. Am Anfang seines Werkes betrachtet er
das Schicksal von Babylon als geeignetes Vorbild. Die Künstler seiner Generation seien dazu
aufgerufen, eine neue Gesellschaft aufzubauen, so wie es die Babylonier versucht haben. Wie
Gautier in dem Vorwort der Jeunes-France, will O’Neddy eine Opposition zu der
philisterhaften unbeweglichen Gesellschaft 79 „[…] cette affirmation décisive qu’à côté de la
culture officielle il y a une culture autre, souterraine, populaire, vivante, la contre-culture du
Carnaval, du grotesque;...“ Zitat von Anne Uebersfeld: Gautier. Paris: S. 22. 80 Siehe Victor
Hugo: Le Préface de Cromwell. S. 5. 81 Philotée O’Neddy: Feu et Flamme. S. 3. 190 seiner
Zeit gründen. Als Vorreiter und zentrale Stütze dieser Bewegung, die er mit dem Namen
‘Babel’ belegt, sieht er die Künstler an. Sie sollen den Turm („l’édifice“) errichten, der die
verstaubten Verhältnisse beiseite fegt und eine neue Ära freier Gedankenäußerungen und
künstlerischer Tätigkeit einläutet. In dem Vorwort seines Werkes Feu et Flamme hebt
O’Neddy die Künstler seiner Generation von der Gesellschaft ab. Dazu erfindet er einen
Wunschort, der ihm als Künstler angemessenen Schutz vor der Öffentlichkeit bietet. Nach
O’Neddys Meinung haben die Künstler seiner Umgebung die Errichtung dieses Ortes bereits
begonnen. Dieser abgelegene Platz ermöglicht es ihnen, in ausreichender Entfernung von der
Öffentlichkeit, ihrer Begabung nachzugehen und ihre künstlerischen Kräfte zu entwickeln.
Das moderne Babylon setzt sich in O’Neddys Vorstellung hauptsächlich aus zwei Aspekten
zusammen, es ist ein Ort der Inspiration und ein Ort der höheren Moral. Das skizzierte
Babylon soll ein moralischer Ort werden, damit die junge Literatur die Möglichkeit bekommt,
einen Kampf gegen die Gesellschaft und ihre konservativen Institutionen zu führen. O’Neddy
spricht seine ganze Abneigung gegenüber dem aus, das er als soziale Lüge („mensonge
social“82) bezeichnet: «Comme vous [die anderen Erbauer von Babel, d. V.], je méprise de
toute la hauteur de mon âme l’ordre social et surtout l’ordre politique qui en est l’excrément; comme vous, je me moque des anciennistes et de l’académie; - comme vous, je me pose
incrédule et froid devant la magniloquence et les oripeaux des religions de la terre». 83 Neben
der konstruktiven Kraft, die sich mit dem Namen der Stadt Babylon verbindet, wird jedoch
auch die zerstörerische Kraft nicht verschwiegen, die ebenfalls mit dem Schicksal der Stadt
verbunden ist. Die Opposition gegenüber der Pariser Gesellschaft weckt Erinnerungen an die
Hybris der Babylonischen Bewohner. Der Turmbau als Ausdruck eigener Stärke, findet sich
in O’Neddys Werk als das Konzept einer Kunstopposition wieder. Dass auch dieser
Widerstand der Künstler und Intellektuellen scheitern muß, wie der Turmbau, stellt O’Neddy
nicht in Abrede; gerade in dieser Ausweglosigkeit erfährt das Schicksal der Künstler seine
gesellschaftliche Hervorhebung. Der Kampf, der von Babylon aus geführt werden soll, ist
umso ehrenvoller, je mächtiger und größer die Institutionen sind, gegen die vorgegangen
wird. Der ‘metaphysische Kreuzzug gegen die Gesellschaft’84 findet insbesondere in dem
blasphemischen Unterton seinen Ausdruck, der sich durch das ganze Werk zieht. 82 Ebd. S. 3.
83 Ebd. S. 2. 84 „croisade métaphysique contre la société“, Ebd. S. 3. 191 Die von O’Neddy
gewollte babylonische Bewegung solle eine eigene spirituelle Kraft entfalten. Der Kampf
muss sich durch ein ‘inneres Leben’ („une vie intérieure“85), durch ein „vie romanesque et
métaphysique“86 auszeichnen, so O’Neddy weiter. Dieser Kampf stellt die intellektuellen
Kräfte in den Mittelpunkt seiner Bewegung. Die Seele des Künstlers, die schon von Jules
Janin in seinem Manifest in der ersten Ausgabe der Zeitschrift L’Artiste von 1831 zum
Mittelpunkt der Kunst gemacht wurde, soll die Überlegenheit im Gefecht mit dem Gegner
deutlich machen. Deshalb wird immer wieder der Künstler zum Mittelpunkt des imaginären
Reiches erklärt. Die künstliche Welt, die sich zu einem neuen Babylon zusammensetzt, ist ein
Ort der Metaphysik. An diesem Ort der Poesie, der sich von der monotonen ‘abenteuerlosen’
Außenwelt unterscheidet, können Kunst und Leidenschaft entstehen.87 Es herrscht eine
„sphère artistique“, die es den Künstlern ermöglicht, sich auf die Herstellung wirklicher Kunst
einzulassen. Ihre Schaffenskraft stemmt sich gegen das monotone Leben außerhalb ihres
Ateliers. Sie benutzen ihre Phantasie, ihre Imagination und ihre Erfindungskraft als Waffen
gegen die ungerechte und langweilige Umwelt: „Les arsenaux de l’âme et de l’intelligence/
Peuvent splendidement servir notre vengeance.“88 Der Hauptunterschied zu Paris ist, dass
Babylon kein existenter Ort ist. Babylon ist das Reich wohin der Geist strebt; ein erdachter
und idealer Ort. Der Traum ist nicht in die Wirklichkeit übertragbar, genauso wenig, wie der
Kampf gegen die verankerten Institutionen ein Gefecht mit wirklichen Schwertern ist. Er will
keine Anhänger finden, die seine Entwürfe in tatsächliche Entwicklung umsetzen. Die
Entrücktheit und das Traumhafte an seinem Babylon hält O’Neddy hoch. Er zelebriert den
utopischen Charakter seiner Idealstadt. Deutlich wird dies in den Beschreibungen des
Künstlerlebens in dem Atelier von Jehan Du Seigneur. Im ersten Kapitel, „Nuit première“,
versammeln sich die Künstler in dem Atelier des Freundes. Der Hauptteil der nächtlichen
Geschehnisse sind vorgestellte Ereignisse. Ihre Phantasie durch den Punch angeregt, träumen
sich die Teilnehmer in weit entfernte phantastische Welten. Durch die Einnahme von Alkohol
und Drogen kommen sie ihrem Babylon näher: „Et le sombre atelier n’a pour tout éclairage /
Que la gerbe du punch, spiritueux mirage.“89 O’Neddy schildert die einzelnen Schritte, wie
sich die Künstler in die Welt der Täuschung hineinsteigern. Aus ei- 85 Ebd. 86 Ebd. 87 „La
Poésie possède enfin une cité, un royaume où elle peut déployer à l'aise ses deux natures: – sa
nature humaine qui est l'art, – sa nature divine qui est la passion.“ Ebd. S. 2. 88 Ebd. S. 14. 89
Ebd. S. 6. 192 nigen undeutlichen Lichtstrahlen auf der Atelierwand entwickeln sich
phantastische Schatten, aus denen sich am Ende ein Gespenst aus Kunstgegenständen
herausbildet: „A travers les anneaux du groupe des viveurs, Glissent quelques rayons vagues,
douteux, rêveurs, Qui s’en vont détacher des ombres fantastiques Le spectre vacillant des
objets artistiques, Pêle-mêle en saillie à la paroi des murs.“90 Mehrere fremdartige
Gegenstände gehören zu der Ausstattung des nächtlichen Ateliers; gelbartige Skelette,
gepuderte Puppen, Teile einer mittelalterlichen Ritterrüstung, die quietschend an der Wand
hängen91. All dies ist Stoff für einen ‘trügerischen Geist, der der Dunkelheit vorsteht’92. Die
Künstler werden von diesem Geist heimgesucht und in einen Zustand der Halluzination
versetzt. Die ganze phantastische Welt um die Künstler herum, die auf ihre Köpfe ‘herunter
tropft wie Tränen’, hat ihren Grund in der Einbildung: „Et tous, énamourés de cette poésie/
Qui pleuvait sur leurs sens en larmes d’ambroisie,/ Se livraient de plein coeur à l’oscillation/
D’une vertigineuse hallucination.“93 Die Verschränkung von diesseitiger Welt und
imaginierter Welt im Künstleratelier wird in ein Bild gegossen. Einige Verse reichen dazu
aus, das Bild ineinander übergreifender Realitätsebenen poetisch festzuhalten: «Tous, les
crins vagabonds, l’oeil sauvage et torride, Pareils à des chevaux sans mors ni cavalier, Tous
hurlant et dansant dans le fauve atelier, Ainsi que des pensers d’audace et d’ironie Dans le
crâne orageux d’un homme de génie !…»94 Die Vereinigung von Innen- und Außenwelt
findet in diesem Vergleich ihren bildlichen Ausdruck. Die Grenzen der Atelierwelt werden zu
den Grenzen einer inneren Gedankenwelt; die Loslösung von der Welt außerhalb des Ateliers
ermöglicht es, sich von neuen Gesetzen der Grenzziehung leiten zu lassen. Das Leben
innerhalb der Atelierwände wird zu einem individuellen Erlebnisraum, auf das sich das ganze
mentale Auffassungsvermögen der Personen stützt. Das Geschehen, die wild tanzende
Künstlerschar, findet eine Analogie in den tanzen- 90 Ebd. S. 6. 91 Einen Eindruck von der
Fülle der Objekte, die ein typisches Atelier im 19. Jahrhundert ausstaffieren, vermittelt ein
Bild von dem Atelier des Bildhauers Auguste Clésinger, Abb. 5. In dem Atelier von Clésinger
trafen sich Houssaye, Gautier, Ourliac. Nerval ist in der Mitte des Bildes mit einer Pfeife auf
dem Sofa sitzend zu sehen. 92 L’esprit «fallacieux qui préside aux ténèbres». Ebd. S. 7. 93
Ebd. S. 11. 94 Ebd. S. 16. 193 den Gedanken im Kopf des Denkenden. Damit zeigt O’Neddy,
wie nahe beieinander die reale und die mentale Welt in seinem metaphysischen Babylon
liegen, und in welcher Weise sie sich miteinander verschränken95. O’Neddy will auf diese
Weise ein Programm der Befreiung von den konservativen, unbeweglichen Strukturen der in
Paris vorwiegend verbreiteten Kunstwelt formulieren. Der dem neuen Babel angehörende
Künstler spielt eine hervorgehobene Rolle, weil vor allem er die Begeisterung und den
Enthusiasmus besitzt, sich eine eigene metaphysische Welt aufzubauen. Nur so kann laut
O’Neddy vom Künstler eine Begeisterung auf das Volk übergehen und eine Bewegung in
Gang gesetzt werden, die eine Veränderung in gesellschaftlichen Fragen bewirkt. Zentral für
ihn ist dabei die Frage nach der Religion. Die bisher gültigen religiösen Grundsätze sieht er
als überholt an. Seine sich auf Babylon berufende Bewegung soll ein eigenes spirituelles
Ganzes schaffen. Im zweiten Kapitel „Deuxième Nuit“ und den folgenden Kapiteln nimmt er
den Kampf mit den religiösen Institutionen auf. Er entwirft eine unterirdische Welt, in der er
seine Ideen verwirklicht sieht. In der mit Nécropolis betitelten Nacht zitiert er Petrus Borel
mit dem Satz: „Sur la terre on est mal: sous la terre on est bien.“96 Orpheus gleich fordert er
die Götter der Unterwelt heraus. Das Leitmotiv der Feu et Flamme, der Vulkan, bekommt hier
die symbolische Ausdruckskraft. Aus den Urelementen und aus den Naturkräften soll die
eigentliche Stärke des gesellschaftlichen Umbruchs herrühren. Die Elementarkräfte sind
Ausdruck der wirklichen Schöpfungskraft und er bedient sich der bereits von Victor Hugo in
seinem Préface de Cromwell97 geäußerten Ansicht, dass der Aberglaube die
ausschlaggebende gestalterische Kraft in der Kunst der Zukunft sei. Das erregte Aufsehen und
die Reaktionen der Zeit auf die religionsverachtenden Passagen in O’Neddys Werk lassen
sich unter anderem in einem Brief des die christliche Morallehre verteidigenden
Chateaubriand erkennen98. Dass aber O’Neddy diese Art der Aufmerksamkeit gesucht hat, ist
an den vielen Ausrufen abzulesen, die er in sein Werk streut: „Va, que la mort 95 Gesteigert
wird das Empfinden der Entgrenzung und der Verschmelzung von jenseitiger und diesseitiger
Welt durch den Rausch. Das Opium bekommt hier seine Bedeutung: „Jusques à mon chevet
me poursuit mon idée/ Fixe: toutes les nuits j’en ai l’âme obsédée./ Pour noyer au sommeil ce
démon flétrissant,/ Des sucs de l’opium le charme est impuissant.“ Ebd. S. 17. 96 O'Neddy:
Feu et Flamme. S. 22. 97 Victor Hugo: Préface de Cromwell. S. 10ff. 98 Chateaubriand
schreibt nach Erscheinen der Feu et Flamme einen Brief an O’Neddy, in dem er sich über den
blasphemischen Charakter des Werkes besorgt zeigt: „[…] j'ai le malheur et la faiblesse d'être
chrétien; je ne suis point frappé de la grandeur de cette Babel que vous célébrez.“ Zitat aus
dem Vorwort von O'Neddy: Feu et Flamme. Ebd. S. XXXIII. 194 soit ton refuge !“99 oder
„Certes, l’on est heureux dans les villas des morts !“100 Dieser blasphemische Ton gehört zu
einer Inszenierung, die den Künstler von der religiös motivierten Schaffenskraft abtrennen
will. Die dunkle, mysteriöse, den Urelementen zugekehrte Seite des Schaffensprozesses ist für
O’Neddy die Grundlage der modernen Kunst. Er glaubt, dass der Künstler in seinem Pakt mit
der Unterwelt und der Finsternis mehr Künstler ist als Gott selbst. Das gegen den christlichen
Glauben gewandte Gedankengebäude Babylon findet hier sein Fundament und gipfelt in dem
Ausruf „Etre plus artiste que Dieu !!!…“101 In dem Vorsatz, mehr Künstler sein zu können
als Gott selbst, drückt sich der Anspruch diese Generation aus. Der blasphemische Ton des
Werkes wird von O’Neddy für die diabolische Wirkung eingesetzt. Desweiteren ist er davon
überzeugt, dass die soziale Ordnung der Gesellschaft nur verändert werden kann, wenn die
Macht der Kirchen gebrochen wird. Dieses Ziel verfolgt O’Neddy auch mit der Hilfe einer
Anleihe bei Gottfried August Bürger. Dessen in Frankreich durch Madame de Staël bekannt
gewordene Ballade Leonore ist ein Beispiel der literarisch dargestellten Gotteslästerung. Aber
noch vielmehr ist dieses Werk ein Motivschatz, aus dem der französische Romantiker große
Teile in ihr Werk überführen102. Nicht nur der Totentanz und die vulkanähnliche Öffnung
am Ende der Reise der Leonore, auch die Ritterrüstung des geheimnisvollen Reiters findet
sich in O’Neddys Werk wieder. Die diabolische Stimmung und die Atmosphäre der
Dunkelheit, die an die jenseitige Welt erinnert, erzeugt auf diese Weise den Bezug zur
Unterwelt, für den Babylon steht103. 99 Ebd. S. 23. 100 Ebd. S. 24. 101 Ebd. S. 21. 102
Davon dass O'Neddy Bürgers Ballade Leonore bekannt ist, kann ausgegangen werden. Nicht
nur, das die Romantiker beeinflussende Werk De l’Allemagne von Madame de Staël ist zu
nennen, sondern auch die Teilnehmer an den Treffen bei Du Seigneur, die sich in dieser Zeit
mit Bürgers Werk auf verschiedene Art auseinandersetzen, werden O’Neddy auf Bürgers
Ballade aufmerksam gemacht haben. In der Zeit der Zusammentreffen übersetzt Gérard de
Nerval die Ballade, während Célestin Nanteuil und Camille Rogier eine Partitur, Lénore
betitelt, von Hyppolite Monpou mit Lithographien ausstatten. Célestin Nanteuil liefert
ebenfalls das Frontispiz für diese Partitur, genauso wie für das Werk Feu et Flamme und Les
Jeunes-France, die alle drei im selben Jahr (1833) erscheinen. Weitere Erwähnungen findet
die Ballade z. B. bei Nodier (Histoire du Roi de Bohême) und bei George Sand (Consuelo).
103 Der Vergleich zwischen Babylon und Paris wird immer wieder hergestellt, so auch in
Ponson du Terrails Les Drames de Paris (1865): „O Paris! Paris! tu es la vraie Babylone, le
vrai champ de bataille des intelligences, le vrai temple où le mal a son culte et ses pontifes, et
je crois que le souffle de l’archange des ténèbres passe éternellement sur toi comme les brises
sur l’infini des mers.“ Ponson du Terrail: Les Drames de Paris. Bd. 1. Paris: 1866. S. 53. 195
5. Die Begegnung mit dem Selbst: Das Zimmer und die Schatten Das Jahrhundert, in dem die
Wahrnehmung eine neue Bedeutung für europäische Kunstauffassung erlangt und in dem sich
der Impressionismus als einer der wichtigen künstlerischen Bewegungen durchsetzen soll,
beginnt mit Nodiers Ruf nach dem Kloster: „Cette génération se lève, et vous demande des
cloîtres."104 Der Künstler soll zu Beginn des Jahrhunderts nicht auf der Straße, nicht in der
Volksmenge, weder auf einer Hoffestlichkeit noch auf einem privaten Fest seinen
Aufenthaltsort suchen, sondern in der Abgeschiedenheit. In der Rolle des Einsiedlers sieht
Nodier die Künstler vornehmlich am Anfang des Jahrhunderts und drückt dies mit dem
Ausruf in seinem 1803 erschienenen Roman Le peintre de Salzbourg aus. Aber der geforderte
Rückzug aus der Gesellschaft, der in der Romantik von vielen Künstlern befolgt wird, muss
nicht im Widerspruch zu einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der eindrücklichen und
ausdrucksstarken Außenwelt und deren Abbildung im Kunstwerk stehen. Der geschützte und
ruhige Rückzugsort wird in diesem Jahrhundert vielmehr der Ausgangspunkt für die
künstlerische Spiegelung und als solcher in die urbane Darstellung integriert105. In Analogie
zu Mercier, der in seinem Tableau de Paris den Ort der Dachkammer als einen geschützten
Raum der Reflexion beschreibt und diesen als Gegensatz zu den Straßen von Paris versteht,
wird der geschlossene Raum zu einem wiederkehrenden Bezugspunkt für die Darstellung der
Stadt. Das Verhältnis der Straße zu dem abgeschlossenen Raum der Wohnung oder des
Zimmers ist durch die Gegensätzlichkeit von Offenheit und Geschlossenheit gekennzeichnet.
Durch die Spannung dieses Gegensatzes bekommt der sich zurückziehende Dichter oder
Maler seine hervorgehobene Stellung. Er wird zur unersetzlichen Grundlage für die
künstlerische Wiedergabe und erkennbar als Gestalter in die Stadtbilder aufgenommen. Denn
die Außenwelt wird durch ihre Kennzeichnung als Wahrnehmung und Erinnerung erst dann
zum Kunstwerk, wenn die darstellerischen Möglichkeiten die Selbstreflexion
miteingeschlossen werden. Das geschlossene Zimmer ist damit ein Raum der
Wiederherstellung und 104 Charles Nodier: Le peintre de Saltzbourg. In: OEuvres complètes.
Band 11. Brüssel: Meline 1832. [Reprint Genf: Slatkine 1968.] 105 Siehe hierzu auch die
These von Philippe Hamon in dem Kapitel “L’image fabriquée. Chambres noires” aus seiner
Arbeit Imageries: „Toute chambre, dans la littérature du XIXe siècle, tend à devenir chambre
de réflexion, chambre à images, à tous les sens du terme. Ainsi de nombreuses chambres
(d'appartements), décrites dans le roman naturaliste comme dans le poème lyrique, prennent
spontanément la structure (une boîte, on objectif, une plaque sensible, un obturateur, une
source lumineuse, un trajet) et la chronologie (ouvrir, fermer, tirer l'image) de l'apparei et de
l'acte photographique. De nombreux romans et poèmes fondent leur système des lieux sur une
combinaison de «chambres», où se conservent «images», «impressions» et «empreintes» de
tout ordre [...]". Philippe Hamon: Imageries. Littérature et image au XIXe siècle. Paris: José
Corti 2001. S. 50. 196 der Neuordnung der Welt von Draußen. In dieser Funktion wird der
geschlossene Raum, in dem sich der Künstler aufhält und arbeitet, wiederholt dargestellt. Die
Verbreitung des Bildes vom Dichter in der Dachkammer oder des Malers in seinem einfach
eingerichteten Atelier nimmt in dem selben Maße zu, wie sich die Auseinandersetzung mit
der Außenwelt verdichtet und nach neuen Ausdrucksformen sucht. Am direktesten wird die
Rolle des Künstlers in dem Zusammenspiel von Außenwelt und abgeschlossenen Raum
sichtbar, wenn er am Fenster stehend dargestellt wird. Die Erfahrung des Außen durch das
Fenster wird bei Hoffmann in der Erzählung „Des Vetters Eckfenster" ausführlich dargestellt,
und in der Verwirrung des Dichters, als er auf den Marktplatz hinaustritt, wird die
Gegensätzlichkeit der beiden Orte - Innen und Aussein - deutlich. Hoffmann führt auf diese
Weise vor, wie wichtig die Darstellung des Betrachterstandortes für die
Beschreibungssituation ist. Es wird bei Hoffmann auch deutlich, dass in der Wohnung des
Dichters im Überschneiden von den äußeren realen und den persönlichen vorgestellten
Bildern ein neues Geflecht an Eindrücken entsteht. Dadurch kann die Außenwelt als Objekt,
das Fenster als Okular, die Vorstellungskraft des Dichters als die Fokussierung und das Papier
oder die Leinwand als die Photographieplatte verstanden werden106. Auch Nerval stellt sich
am Anfang der Oktobernächte als Vermittler dar und beschreibt seine Aufgabe als Dichter mit
dieser Übertragungs- und Aufzeichnungsfähigkeit, die das Zimmer mit seinen vier Wänden
zur Voraussetzung hat. Das Zimmer hat für das gesamte 19. Jahrhundert eine besondere
Qualität, das immer wieder in der Beschreibung der Künstlerexistenz und für die Darlegung
des Darstellungsvorgangs eine wichtige Aufgabe übernimmt107. Die Begegnung mit einer
anderen Realität im Zimmer ist dabei einer der am häufigsten wiederkehrenden Momente in
der Literatur des 19. Jahrhunderts. In der Zurückgezogenheit entsteht das Zusammenspiel von
in der Erinnerung festgehaltenen Bildern und der Vorstellungskraft, aus denen das neue
Abbild der Außenwelt zusammengesetzt wird. Der direkte Bezug des Künstlers zur
Außenwelt kann dabei bestehen bleiben. Er braucht die Stadt nicht zu verlassen, sondern kann
aus seiner Kammer heraus seine Umwelt erschaffen. Die Beobach- 106 Siehe die oben zitierte
These von Hamon. 107 Siehe auch die Beschreibungssituation des Johannes Wacholder in
Wilhelm Raabes: Die Chronik der Sperlingsgasse (1857), die allein von dem Zimmer des
Gelehrten abhängt. Später nimmt das Zimmer in August Strindberg autobiographisch
gefärbtem Werk Inferno (1897) einen ebenso bedeutenden Platz ein. Paris wird von
Strindberg nicht direkt erfahren, sondern durch unheimliche Erscheinungen. Für die
Wahrnehmungen braucht Strindberg das Zimmer des Hotels Orfila nicht zu verlassen, wo er
seine okkultisch beeinflussten Experimente unternimmt. Die Welt draußen nimmt er durch ein
bei Swedenborg abgeschautes System der Korrespondenzen wahr. Die Beschreibungssituation
der Außenwelt wird hierdurch sogar von den Zimmerfenstern unabhängig. 197 tung der
Straße kann sich auf diese Weise in der fiktiven Welt der künstlerischen Darstellung
fortsetzen. Die von Künstlern bewohnten Zimmer werden auf diese Weise Quellen neuer
Bilder und neuer Vorstellungswelten der urbanen Außenwelt. Eine Gegenwelt entsteht hier,
die das gesamte Jahrhundert hindurch lebendig bleiben soll. In seiner Arbeit „Paris, die
Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" bemerkt Walter Benjamin, wie diese Gegenwelt bereits in
den zahlreichen Reklamewänden, in den Schaufenstern und in den Spiegeln, die sich über die
Stadt verteilen, vorgezeichnet ist. Die Stadt besitzt die Möglichkeit, sich in anderen Objekten
widerzuspiegeln und da diese Objekte Teil der Stadt selbst sind, verzweigt sich der Weg der
Blickachsen in eine Unendlichkeit von möglichen Bezügen. Zu der Erweiterung des
Spiegelvorgangs gehört natürlich auch die Photographie108. Der Dichter oder der Maler
nehmen folglich nur Teil an einem unzusammenhängenden Beziehungsgeflecht von Bezügen
und sich verdoppelnden Gegenständen, wo zu jedem Original eine Verdopplung an anderem
Ort und zu anderer Zeit auftauchen kann. Die Verdopplung der visuellen Welt wird mit
Interesse in einer Zeit wahrgenommen, in der die Entwicklung neuer technischer
Möglichkeiten einen vielfältigeren Umgang mit dem Licht ermöglichen. Bereits Restif de la
Bretonne macht in seinem Werk Les Nuits de Paris das Spiel der Lichter zu einem die
poetische Tiefe seines Werkes bestimmenden Stadtmotiv: „Hibou! combien de fois tes cris
funèbres ne m’ont-ils pas fait tressaillir, dans l’ombre de la nuit ! Triste ét solitaire, comme
toi, j’errais seul, au-milieu des tenèbres, dans cette Capitale immense: la lueur des reverbères,
tranchant avec les ombres, ne les detruit pas, elle les rend plûs saillantes: c’est le clair-obscur
des grands Peintres!“109 Zu Restifs de la Bretonnes Zeit erst am Beginn der technischen
Möglichkeiten der städtischen Beleuchtung stehend, wartet auf den urbanen Schauplatz die
Entfaltung neuer, noch unbekannter Effekte. So erstaunt es nicht, dass das Zusammenspiel
von Schatten und Licht eine literarische Aufmerksamkeit im 19. Jahrhundert erlangt, die über
die symbolische Wirkung hinaus geht110. 108 Hierzu ist die Ausführung von Philippe
Hamon wichtig: „Les chambres du XIXe siècle sont donc à la fois des iconothèques et des
fabriques d'images, des lieux d'impressions de traces ou d'exposition de tableaux, des lieux de
production de fantasmes et de rêves, des magasins ou se stockent des souvenirs, des lieux
particulièrement encombrés de bibelots figuratifs et d'images accrochées aux murs, mais aussi
et surtout, W. Benjamin en avait fait la remarque, saturés de ces contre-images en creux (le
XIXe siècle est le siècle de la peluche), images «négatives» qui ressemblent donc aux images
de la plaque sensible photographique, des empreintes." Philippe Hamon: Imageries. S. 54 109
Nicolas-Edme Restif de la Bretonne: Les Nuits de Paris. S. 3. 110 Siehe hierzu auch
Wolfgang Schievelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19.
Jahrhundert. München/Wien: Hanser 1983. 198 Kierkegaards Berlinbesuch: Die
Wiederholung Das Zusammenspiel von Draußen und Drinnen, das Spiel des Lichtes und der
Schatten und der Betrachterstandort Zimmer spielt auch im Werk Sören Kierkegaards eine
große Rolle. Seine frühe autobiographische Erzählung Johannes Climacus oder De omnibus
dubitatum est beginnt mit den Zeilen „In der Stadt H... lebte vor einer Reihe von Jahren ein
junger Student, namens Johannes Climacus, den es in keiner Weise danach verlangte in der
Welt Aufmerksamkeit zu erregen, im Gegenteil es war seine Freude, versteckt und in Stille
dahin zu leben.“111 Kierkegaard erzählt in diesem Werk von den Erlebnissen seiner Jugend.
Hier wird bereits deutlich, welche Möglichkeiten der geistigen Öffnung der Aufenthalt im
geschlossenen Raum bereit hält. „Sein Zuhause bot nicht viele Zerstreuungen, und da er so
gut wie niemals herauskam, wurde er es früh gewohnt, sich mit sich selber zu beschäftigen
und mit seinen eigenen Gedanken. Sein Vater war ein sehr strenger Mann, dem Anschein
nach trocken und prosaisch, indessen er unter dieser Friesjacke eine glühende
Einbildungskraft verbarg, die auch sein hohes Alter nicht abzustumpfen vermochte. Wenn
Johannes zuweilen um Erlaubnis bat, ausgehen zu dürfen, wurde er zumeist abschlägig
beschieden; wohingegen der Vater gelegentlich zum Entgelt ihm vorschlug, an seiner Hand
die Diele auf und ab zu spazieren. Dies war beim ersten Augenschein ein dürftiger Ersatz, und
doch ging es damit ebenso wie mit der Friesjacke, er barg etwas ganz anderes in sich. Der
Vorschlag wurde angenommen, und es wurde Johannes ganz überlassen zu bestimmen, wo es
hingehen sollte. Sie gingen dann aus dem Tore, zu einem naheliegenden Lustschlößchen, oder
hinaus zum Uferstrand, oder umher in den Straßen, alles gemäß dem, wie Johannes es wollte;
denn der Vater vermochte alles. Während sie so die Diele auf und ab gingen, erzählte der
Vater alles, was sie sahen; sie grüßten die Vorübergehenden, Wagen ratterten an ihnen
vorüber und übertäubten die Stimme des Vaters; die Früchte der Kuchenfrau waren
einladender denn je. Er erzählte alles so genau, so lebendig, so gegenwärtig bis zur
unbedeutendsten Einzelheit, die Johannes bekannt war, so ausführlich und anschaulich, was
ihm unbekannt war, dass er, wenn er eine halbe Stunde mit dem Vater spaziert war, so
überwältigt und müde geworden war, als wenn er einen ganzen Tag aus gewesen wäre."112
Dieses frühe Erlebnis ist prägend für Kierkegaard, der den Aufenthalt im Zimmer zu einem
grundlegenden Bestandteil der Welt und Stadtbetrachtung in seinem Werk Die Wiederholung
(1843) macht. Die Darlegung seines zweiten Berlin-Besuches von 1843 entwickelt ein
Denken, in dem die Stadt Ausgangspunkt geistiger Spuren wird. Das Denken Kierkegaards,
das sich in dieser Zeit von der metaphysischen Philosophie löst und immer weiter in Richtung
111 Sören Kierkegaard: Johannes Climacus oder De omnibus dubitatum est. In: Gesammelte
Werke. Hrsg.: E. Hirsch u. H. Gerdes. Abt. 10. Düsseldorf/Köln: E. Diederichs 1952. S. 111.
112 Ebd. S. 113. 199 einer Analyse des Menschen selbst verlagert, konzentriert sich auf den
Besucher der Stadt und seine Eindrücke. Das mit dem Untertitel „Ein Versuch in der
experimentierenden Psychologie" versehene Werk Die Wiederholung macht die Wirklichkeit
und die Situation des Berlinbesuchers Constantin zur Grundlage der theoretischen
Betrachtung über die Gedanken des Individuums. Dabei spielt die Besuchssituation eine
wichtige Rolle; Constantin ist fremd in der Stadt und sucht nach Orientierungsmerkmalen.
Beobachtungen, die sich auf den späteren Reisen wiederholen, haben einen hohen
Orientierungswert, wohingegen die neuen Ereignisse nach einer Zuordnung im persönlichen
Erlebnissystem suchen. Dabei geht der Reisende wie ein Forscher vor, der sich sein
Untersuchungsgelände Schritt für Schritt erschließen muss. Parallel zur Bewegung durch die
Stadt Berlin wird auf diese Weise die Gedankenwelt des Reisenden erschlossen. Die seelische
Parallelwelt baut sich wie eine Spiegelung der äußeren Berliner Welt auf; das Zimmer
übernimmt wiederum die Rolle des geschützten, innersten Kreises einer in verschiedenen
Ebenen sich abstufenden Umwelt. Die Straße ist das Neue und Unbekannte, während das
Zimmer sich von dieser Sphäre absetzen kann. Dennoch kommt es zu einer Verbindung der
unterschiedlichen Welten im Betrachter: „In Berlin kam ich denn an. Unverzüglich eilte ich
zu meinem alten Logis, um mich zu vergewissern, wie weit eine Wiederholung möglich sei.
Ich darf jeden teilnehmenden Leser versichern, dass es mir das vorige Mal gelungen war, eine
der behaglichsten Gelegenheiten in Berlin in Besitz zu nehmen, dies darf ich jetzt noch
bestimmter versichern, da ich ihrer mehr gesehen habe. Der Gendarmenmarkt ist wohl der
schönste Platz in Berlin; das Schauspielhaus, die zwei Kirchen nehmen sich vortrefflich aus,
besonders bei Mondenschein, von einem Fenster her gesehen. Die Erinnerung hieran trug viel
dazu bei, dass ich von der Stelle kam. Man steigt zum ersten Stock empor in einem mit Gas
erleuchteten Hause, man öffnet eine kleine Tür, man steht im Entrée. [...] Das innerste
Zimmer ist geschmackvoll erleuchtet. Ein Armleuchter steht auf einem Arbeitstisch, ein
zierlicher Lehnstuhl, mit rotem Samt bezogen, steht am Tische. Das vordere Zimmer ist nicht
erleuchtet. Hier mischt sich des Mondes bleiches Licht mit dem helleren Lichtschein aus dem
inneren Zimmer. Man setzt sich auf einen Stuhl am Fenster, man betrachtet den großen Platz,
man sieht die Schatten der Vorübergehenden über die Mauern huschen, alles wandelt sich zu
einer Bühnendekoration. Eine traumhafte Wirklichkeit dämmert im Hintergrund der Seele
auf. Man spürt ein Verlangen, den Mantel überzuwerfen, sich leise an der Mauer hin zu
schleichen mit spähendem Blicken, auf jeden Laut merkend. Man tut es nicht, man sieht
lediglich sich es tun in verjüngter Gestalt. Die Zauberkunst des Vaters lernte Johannes ihm
bald ab."113 Der Blick aus dem Fenster eröffnet dem Betrachter den Blick nach innen und
weckt die Erinnerung an Vergangenes. Die Reise nach Berlin im Mai 1843 ist die zweite
Reise Kierke- 113 Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. Ein Versuch in der
experimentierenden Psychologie. Von Constantin Constantinus. Kopenhagen: 1843. Hier
Sören Kierkegaard: Gesammelte Werke. Op. cit. S. 24f.. 200 gaards nach der ersten im Jahre
1841/42. Durch die Wiederholung der Reise wird der Betrachter in die Lage versetzt, zwei
zeitlich versetzte Erlebnisse miteinander zu vergleichen und die Erinnerung an die erste Reise
wachzurufen: „Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in
entgegengesetzter Richtung;"114 die Wiederholung weist in die Zukunft, die Erinnerung in
die Vergangenheit, erklärt er am Anfang seines Werkes. Jedoch kommt es rasch zu einer
Verstörung des Reisenden. In sein Tagebuch notiert Kierkegaard am 10. Mai 1843: „In
Stralsund wäre ich beinahe davon verrückt geworden, ein junges Mädchen obendrüber
Klavier spielen zu hören, unter anderem auch Webers letzten Walzer. Als ich das vorige Mal
in Berlin war, war es das erste Stück, das mich im Tiergarten empfing, vorgetragen von einem
blinden Mann, der Harfe spielte. Es ist, als ob alles nur wäre, um mich zu erinnern [...]."115
Die Dominanz eines der beiden Ereignisse fehlt in der Betrachtungsweise Constantins. Die
Wiederholung wird zu seiner Existenzbestimmung; sein Bewusstsein wird von der Reflexion
der Wiederholung und den Spuren der Erinnerung geleitet. Auf diese Weise wird die
Perspektive auf die Stadt, auf dieser zweiten Reise, bereits durch die erste vorgegeben. Die
Wiederholung ermöglicht den Blick zurück auf den ersten Besuch in Berlin und öffnet den
Blick auf das gegenwärtige Geschehen, das sich wiederholt oder von dem Bisherigen
abweicht. Die Überlagerung von zwei Zeitebenen macht die ganze Schwierigkeit der
Wahrnehmung deutlich. Die auf diese Weise offengelegte Perspektive zeigt den Betrachter in
seiner ganzen Assoziationswelt. Die öffentlichen Begebenheiten, das auf der Straße visuell
Aufgenommene, bekommt seine Bedeutung für die psychologische Erklärung der Innenwelt
des Reisenden. Dazu gehört auch, dass sich die Objektwelt als Metapher in der Gedankenwelt
des Berlinbesuchers widerspiegelt. Die Schatten auf der Hauswand stehen für die Erinnerung,
die sich in der Gedankenwelt des Betrachters vorüberziehen. Dass eine Übereinstimmung
zwischen Außenwelt und Innenwelt hergestellt werden kann, macht der Fensterblick deutlich.
Er steht symbolisch für die Spiegelung des Draußen ins Innere. Die so zustandekommende
Objektivität macht aus dem Zimmer den Ort der Gesamtschau der Stadt: “Wenn man sich in
seiner Wohnung bequem und gemütlich eingerichtet hat, wenn man somit einen festen Punkt
hat, von dem aus man vorbrechen kann, ein sicheres Versteck, in das man sich zurückziehen
kann, um in Einsamkeit seine Beute zu verzehren, etwas, darauf ich besonderen Wert lege, da
ich gleich gewissen Raubtieren nicht essen kann, wenn jemand zusieht - so macht man sich
bekannt mit dem, was die Stadt etwa an Sehenswürdigkeiten hat. Ist man ein Reisender von
Profession, ein Kurier, welcher reist, 114 Ebd. S. 3. 115 Sören Kierkegaard: Berliner
Tagebücher. Aus dem Dänischen u. hrsg. v. Tim Hegemann. Berlin/ Wien: Philo 2000. S. 38.
201 um an allem zu riechen, was andere berochen haben, oder um Namen von
Merkwürdigkeiten in sein Tagebuch zu schreiben um zum Entgelt seinen eigenen Namen in
das große Gästebuch, dann mietet man einen Lohndiener und kauft ‘das ganze Berlin’* für
vier Groschen. Bei diesem Verfahren wird man ein unparteiischer Beobachter, dessen
Aussagen als glaubwürdig gelten müssen in jedem Polizeiprotokoll.”116 Der zurückgezogene
Beobachter kontrolliert von seiner Position aus nur scheinbar das urbane Treiben. Er glaubt
sich in der Situation des Raubtiers, das seine Beute erledigen und in Ruhe verzehren kann.
Die Herrschaft über den Prozess der genauen Wiedergabe und Darstellung bleibt ein Ziel, das
aber verloren geht. Das Festhalten des Gesehenen, das Aufschreiben der Beobachtung aus der
geschützten Stellung heraus soll den „unparteiischen" Blick ermöglichen, der die
„Glaubwürdigkeit" erhöht. Der Aufenthalt im Versteck führt aber dazu, dass der Beobachter
eine „Schattenexistenz" führt. Die Schattenexistenz bedeutet für Kierkegaard die Möglichkeit
der Selbstbetrachtung, denn die Reflexion der Außenwelt setzt die Phantasiewelt des
Betrachters in Bewegung, der dadurch mit einer zweiten Welt in die äußere Wirklichkeit
vordringt. Dadurch kommt die Doppelexistenz zu Stande, die Betrachtung und
Selbstbetrachtung gleichermaßen beinhaltet: „Es gibt wohl keinen jungen Menschen mit
einiger Phantasie, der sich nicht einmal vom Zauber des Theaters bestrickt gefühlt und
gewünscht hätte, er wäre selber mit hineingerissen in jene künstliche Wirklichkeit, um als ein
Doppelgänger sich selber zu sehen und zu hören, sich selbst zu zerteilen in aller seiner
möglichen Verschiedenheit von sich selbst, jedoch dergestalt, dass jede Verschiedenheit
wiederum man selbst ist. Natürlich ist es ein sehr frühes Alter, in dem solch ein Gelüste sich
äußert. Einzig die Phantasie ist erwacht zu ihrem Traum von Persönlichkeit, alles andere liegt
noch in sicherem Schlummer. In solch einer phantastischen Selbstanschauung ist das
Individuum keine wirkliche Gestalt, sondern bloß ein Schatten, oder richtiger, die wirkliche
Gestalt ist unsichtbar zugegen und begnügt sich daher nicht damit, nur einen Schatten zu
werfen, sondern das Individuum hat eine Vielfalt von Schatten, die sämtlich ihm gleichen,
und für Augenblicke gleiches Recht haben es selber zu sein."117 Doppelgänger zu sein, sich
durch seine Schattenexistenz in jemand anderen verwandeln zu können, das ist die
grundlegende Versuchung des Protagonisten Constantin. Das Spiel mit den verschiedenen
Identitäten wird ermöglicht durch die Auflösung der gewohnten Umgebung. Durch die
Anpassung der Schattenexistenz an die Schattenwelt der Umgebung kommt die
Scheinwirklichkeit mit ihren Phantasiegestalten zustande: „Das verborgene Individuum glaubt
ebenso wenig an die großen lärmenden Gefühle wie an der Bosheit listiges Raunen, ebenso
wenig an der Freude seligen Jubel wie an das 116 [*auch im Orginal Deutsch, d.V.] Sören
Kierkegaard: Die Wiederholung. S. 26. 117 Ebd. S. 27f. 202 unendliche Seufzen des Leides;
das Individuum will lediglich pathetisch sehen und hören, indes wohl zu merken sich selbst.
Jedoch es will nicht wirklich sich selber hören, das geht nicht an. Im gleichen Nu kräht der
Hahn, und des Zwielichts Gestalten flüchten, die nächtlichen Stimmen werden stumm.
Verharren sie, so sind wir in einem ganz anderen Bereiche, in dem dies alles unter dem
ängstigenden Blick der Verantwortung vor sich geht, so sind wir beim Dämonischen. Um also
nicht von seinem wirklichen Selbst einen Eindruck zu empfangen, verlangt das verborgene
Individuum, die Umgebung solle leicht und flüchtig sein wie die Gestalten es sind, wie der
Worte schäumendes Brausen es ist, das hallt ohne Widerhall. Solch eine Umgebung ist die
bühnenmäßige, die eben darum sich eignet für des verborgenen Individuums „Schattenspiel".
Unter den Schatten, in denen es sich selber entdeckt, deren Stimme seine eigene Stimme ist,
findet sich etwa ein Räuberhauptmann. Er muß sich in diesem Spiegelbild
wiedererkennen."118 Die Glaubwürdigkeit des Beobachters bleibt in der Beschreibung durch
die Herstellung von Authentizität und Unmittelbarkeit erhalten und wird nicht einer neuen
Erzählsituation geopfert. Die Verbindung zu Gogol besteht in dem Umgang mit dem Licht.
Der symbolische Umgang mit dem Licht in dem im Entwurfsstadium gebliebenen Text
„Fonar umiral" lässt die selbe erzählerische Grundhaltung erstehen. Der erzählende Betrachter
geht durch die nächtlichen Straßen Petersburgs. Als eine Laterne vor ihm erlischt, hüllt sich
die Straße in ein vollkommenes Dunkel. Der Betrachter erblickt ein erleuchtetes Fenster und
wird durch dieses angezogen. Er schaut in das erleuchtete Zimmer. In Gogols Erzählentwurf
wird der traditionelle Fensterblick umgekehrt; der Blick ist nicht von Innen nach Außen
gerichtet, sondern von Außen nach Innen. Für die Erzählhaltung und die Einbeziehung des
Betrachters in den Vorgang der Wahrnehmung ist die Grundsituation die selbe wie beim
Fensterblick von Innen nach Außen; der Betrachter öffnet sich einer neuen Welt, in der er sich
nicht aufhält, in der er physisch nicht anwesend ist. Verbindungsglied zwischen den beiden
Welten ist das Fenster, das symbolisch für die Augen und den Prozess der menschlichen
Wahrnehmung steht. Durch die Wahrnehmung ist die Überwindung zwischen den beiden
getrennten Welten möglich; dem Fehlen der physischen Präsenz in der einen Welt wird durch
die Betrachtung entgegnet. Hierdurch wird die Abwesenheit kompensiert. Da die Fiktion, also
die Kunst und die Literatur, auf der Präsenz von Menschen in abgelegenen Räumen aufbaut,
entsteht hier der Berührungspunkt zwischen Fensterblick und Erzählen. 118 Ebd. S. 29. 203 6.
Die Stadt bei Nacht: Das Unsichtbare sichtbar machen. Gérard de Nerval und Nathaniel
Hawthorne Gérard de Nervals Die Oktobernächte und Aurélia Das Zimmer rückt auch in
Gérard de Nervals Werk Die Oktobernächte (Les Nuits d'octobre) in den Mittelpunkt der
Erzählsituation. Zum Ausgangspunkt von Nervals Stadtwanderung wird nicht die Stadt selber
gemacht, sondern der Arbeitsplatz des Erzählers. Am Anfang des Berichtes seiner Wanderung
durch Paris und Umgebung, macht der Erzähler auf seine Schreibsituation aufmerksam. Er
erklärt, dass sich die Distanz zwischen dem Ziel seiner Reise und eigener Stube im Laufe
seines Schaffens immer weiter verringert hat. Der Kreis, in dem die Reiseziele Nervals liegen
- am Anfang der Mittlere Osten, später Deutschland und die Benelux- Länder -, zieht sich auf
diese Weise immer weiter zusammen: „Le cercle se rétrécit de plus en plus, se rapprochant
peu à peu du foyer."119 Am Ende dieser Entwicklung bleibt allein der Abstand zwischen den
Wänden des eigenen Zimmers übrig. Die Ausgangssituation des Erzählers wird dadurch
bestimmend für das gesamte Werk. Der Erzähler hat sich im Zuge seiner schriftstellerischen
Entwicklung immer weiter in die eigenen vier Wände zurückgezogen. Die Besuchsziele der
Oktobernächte liegen zwar in der Umgebung von Paris, Mittelpunkt des sich
zusammenziehenden Kreises bleibt aber die eigene Wohnung. Für die Erzählsituation
bedeutet dies: das Schreibzimmer ist der eigentliche, im Verlauf des Erzählens nicht weiter
genannte, aber alles bestimmende und beeinflussende Betrachterstandort. Inwiefern dies die
Betrachtung beeinflusst, wird im folgenden deutlich. Mit dem Bild des sich
zusammenziehenden Kreises erschließt Nerval einen zweiten wichtigen Motivkomplex: den
der Unterwelt. Das Bild der sich verjüngenden Kreise ist ein Bezug auf Dantes Divina
Comedia. Der Abstieg in die Hölle, im ersten Teil des Werkes, vollzieht sich über die
spiralförmig zusammenlaufenden Ebenen der Unterwelt. In den Oktobernächten bilden die
Bezüge auf Dantes und Vergils Höllenwanderung einen wiederkehrendes Leitmotiv. Nach
dem Verlassen des Café des Aveugles, ruft der Erzähler zur Fortsetzung des Abstiegs in die
Unterwelt von Paris auf: „Et maintenant, plongeons-nous plus profondément encore dans les
cercles inextricables de l'enfer parisien."120 An die Parallelen zwischen der Reise des
Erzählers und dem Weg der Divina Comedia wird hier erinnert. Das Inferno bildet dabei eine
Pariser Unterwelt, die sich langsam aus den Bildern von Paris und der Umgebung entwickelt.
Auch auf 119 Gérard de Nerval: Les Nuits d'octobre. In: OEuvres complètes. Band III. Paris:
Gallimard 1993. S. 313. 120 Ebd. S. 321. 204 der Zugreise von Paris nach Meaux erinnert
sich der Erzähler an einen Dante gewidmeten Vers121. Die Entrückung des Erzählers durch
diese Bezüge auf Dantes Höllenwanderung, machen seine Verwandtschaft mit dem
Icherzähler aus der Divina Comedia deutlich. Der Erzähler sieht sich nicht so sehr an die
Pariser Topographie gebunden, sondern viel mehr an die Wege der von fremden Mächten
beherrschten Unterwelt122. Typisch für den Erzähler der Oktobernächte ist, dass er versucht,
keinen Widerspruch zwischen seiner entrückten Erzählhaltung und einem objektiven
Beschreibungsstil aufkommen zu lassen. Er ist von Anfang an darum bemüht, das diabolische
und dunkle seiner Erzählhaltung mit einem realistischen Bild seiner Umgebung zu verbinden.
Obwohl der Erzähler die Tiefen der dunklen Stadt durchmißt, versucht er das Bild eines
bekannten und wiederkennbaren Paris entstehen zu lassen. Nervals Erzähler ist nicht primär
auf der Suche nach dem Abenteuer, dem gesellschaftlich Abseitigen oder dem
Ungewöhnlichen. Die von Eugène Sue zelebrierte Dunkelheit in den Mystères de Paris, die
auf den unterschiedlichen Lebensverhältnissen beruht, ist eine grundsätzlich andere als die
von Nerval hervorgerufene Entrückung. Wo Sue in das Zwielicht und die Unterwelt abtaucht,
bleibt Nerval auf der Oberfläche und setzt sich mit Vierteln von Paris auseinander, die nicht
zu den unbekannten Quartieren gehören: Les Halles, die großen Boulevards, das zu jener Zeit
noch überwiegend durch Landwirtschaft (Weinanbau und Schafzucht) geprägte Montmartre.
Die Verdunkelung der Pariser Welt beginnt in diesem Werk an einem anderen Punkt; hinter
dem am Anfang des Werkes geäußerten Vorsatz, der Realität möglichst nahe zu kommen,
verbirgt sich der eigentliche Wunsch nach Überwindung der gewohnten
Wirklichkeitsauffassung. Dreh- und Angelpunkt der veränderten Wahrnehmungsprozesse ist
der Betrachter selber. Nicht vom Objekt geht der Erzähler in den Oktobernächten aus, sondern
von dem was er als Beobachter wahrnimmt. Das Sehen versteht Nerval, wie schon E.T.A.
Hoffmann, als einen Vorgang, der erlernt werden muss: „Nous l'avons dit, le théâtre des
Folies-Dramatiques s'adresse à un puplic qui peut tout entendre, comme il sait tout lire."123
Die Fähigkeit etwas zu sehen, die hier auf die Situation am Theater übertragen wird, hängt mit
dem Bewusstsein des Betrachters zusammen. So kann es bei der Betrachtung ein und der
selben Stadt zu zwei un- 121 „Voilà, voilà, celui qui revient de l’enfer!“ Vers von Auguste
Barbier. Ebd. S. 336. 122 Siehe auch die Höllenvision, die wie Stierle bemerkt, an die Stiche
von den Kerkern von Piranesi erinnern: „Des corridors, – des corridors sans fin! Des escaliers,
– des escaliers où l’on monte, où l’on descend, où l’on remonte, et dont le bas trempe toujours
dans un eau noire agitée par des roues, sous d’immenses arches de pont... à travers des
chapentes inextricables!" Ebd. S. 337. 123 Nerval: Poésies et théâtre. Hrsg: Henri Clouard.
Paris: 1928. S. 381. (1843 in L'Artiste zuerst veröffentlicht.) 205 terschiedlichen Ergebnissen
kommen: „Les nuits de Londres sont délicieuses; c'est une série de paradis ou une série
d'enfers selon les moyens qu'on possède."124 Der Betrachter ist für den Umgang mit seiner
Umwelt selbst verantwortlich; er hat es in der Hand, je nachdem welche künstlerischen Mittel
er besitzt, ob er durch ein Paradies oder durch eine Hölle wandert. Der von Nerval auf den
Weg geschickte Betrachter setzt sich nicht in Bewegung, um eine einzige Realität zu
entdecken, sondern unter mehreren einer nahe zu kommen. Aus verschiedenen Realitäten lässt
sich so durch den Erzähler eine neue Wahrheit zusammensetzen. Der nächtliche
Spaziergänger hat zum Ziel, diese Wahrheit zu finden und wie auf einer Photoplatte
festzuhalten. Nerval nennt dieses Verfahren „daguerréotyper la vérité"125. Um dem Ziel der
Abbildung einer poetischen Wahrheit näher zu kommen, lässt Nerval seinen Erzähler in den
Oktobernächten zwischen zwei Schreibformen wechseln. Sowohl die écriture fantaisiste als
auch die écriture réaliste126 versuchen die Erzählsituation zu bestimmen. Der Wechsel
zwischen den beiden Schreibformen stellen dem bisher bekannten Realismus einen
erweiterten Begriff von Wirklichkeit gegenüber. Zunächst, von der Erzählsituation
unabhängig, mischen sich Traumerscheinungen und Sinnesverwirrungen unter die
realistischen Bilder. Der Verweis auf Charles Dickens und Réstif de la Bretonne führt zwei
Autoren an, die sich schon mit der künstlerischen Vereinbarung von Subjektivismus und
Wirklichkeitserfahrung auseinandergesetzt haben. Auch Nervals Freund Champfleury, der
stärkste Vertreter des Realismus, sieht eine realistische Darstellung allein auf der Grundlage
subjektiver Eindrücke aufgebaut: „Ce que je vois entre dans ma tête, descend dans ma plume,
et devient ce que j’ai vu."127 Hinter dieser verschränkten Erzählsituation wird die Aufgabe
des Erzählers sichtbar. Er wird als Individuum mit einem Bewusstsein und als aktiver
Gestalter des Wahrnehmungs- und Erzählprozesses tätig. Nur der von der Objektwelt
Gezeichnete kann diese auch in einer realistischen Weise wiedergeben. Der Weg der
Außenwelt durch das Bewusstsein eines Menschen wird zum wesentlichen Bestandteil des
Erzählvorgangs. Mit diesen Möglichkeiten der Einflussnahme des individuellen Charakters
bekommt der Künstler neue Freiräume. Durch die deutlichere Identifizierung des
Dargestellten mit dem Vermittler entsteht ein künstlerisches Selbstbewusstsein, das auf alle,
mit der Beschreibung zusammenhängende Faktoren Einfluss nehmen kann. Denn erst der
künstlerische Akt enthebt 124 Nerval: Les Nuits d'Octobre. S. 319. 125 Ebd. S. 335. 126
Begriffe von Stierle. Siehe Der Mythos von Paris. 127 Champfleury: Contes domestiques.
Paris: Lecou 1852. o. Seite, Zitat aus dem Vorwort. [Hervorhebungen von Champfleury]. 206
das geschaffene Werk der Objektwelt und verleiht ihm einen neuen Status von Wahrheit. Das
Aufkommen dieses künstlerischen Selbstbewusstsein fällt in eine Zeit, in der die europäische
Geistesgeschichte mehr vom Individuum bestimmte Handlungs- und
Betrachtungsmöglichkeiten zu formulieren sucht. Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Hegel und
Sören Kierkegaard sind Vertreter dieser vom Subjekt ausgehenden Philosophie. Fichtes
Wissenschaftslehre von 1810 macht den Standpunkt der Zeit deutlich: „Diese Freiheit der
Einbildungskraft ist nun wirklich eine reale Befreiung und Losbindung des geistigen Lebens.
Unser äußerer Sinn wird ja, wenigstens so lange wir wachen, immerfort durch die dermalen
uns noch unbekannte Kraft bestimmt und afficirt.. Die Einbildungskraft allein ist es, welche
uns über diese Affektion durch den Sinn hinweg setzt, und uns fähig macht, uns den
Eindrücken desselben zu verschließen, indem wir unsre Wahrnehmung davon abziehen, um
allein dem Schaffen durch Einbildungskraft uns zu überlassen und dadurch eine ganz andre
Zeitreihe, die von der Zeitreihe des Fortgangs der sinnlichen Entwicklung durchaus frei ist, zu
erschaffen.“128 Die Einbildungskraft wird zum entscheidenden Erkennungsmerkmal des
Künstlers. Sie ermöglicht die Loslösung von der ‘Affektion der Sinne‘, die sich aus der
Wahrnehmung der primären Wirklichkeit ergibt. Für Nervals Beschreibstil des 'schwebenden
Erzählens' bedeutet dies, dass der Erzähler die Freiheit besitzen muss, zwischen der primären
Wirklichkeitsebene und der eingebildeten hin und her zu wechseln. Der Wechsel zwischen
Vorstellung und Realität ist bei E.T.A. Hoffmann noch ein Spiel des aus dem Fenster
Schauenden Dichters. Nerval macht aus dem Wechsel und der Gegenüberstellung eine
Vorführung der künstlerischen Möglichkeiten des Erzählens selber und stellt auf diese Weise
den künstlerischen Schaffensakt zur Schau. Nerval ist sich darüber bewusst, dass sein
Erzähler eine Instanz ist, die über die Wirklichkeit des Erzählten verfügen kann. Der Leitsatz
von Champfleury, das erst das was er zu Papier gebracht hat, zum Gesehenen wird, gilt in
dieser Form auch für Nerval. So erlangt das Aufgezeichnete – das auf Papier, in Stein oder
auf Leinwand Festgehaltene – eine eigene, über dem betrachteten Vorbild stehende Präsenz
und Wirklichkeit. Nerval macht die Unterscheidung von Wirklichkeitsebenen an einem
Beispiel deutlich. Der Erzähler sieht ein Plakat mit einer merkwürdigen Abbildung:
Dargestellt ist eine Frau mit Merinohaaren. Der Erzähler will beweisen, dass alles in seinem
Bericht wahr ist, auch die unglaubwürdigen Stellen seiner Reisebeschreibung. Die auch in den
Augen des Erzählers merkwürdig erscheinende Ge- 128 Johann Gottlieb Fichte: Die
Thatsachen des Bewusstseyns. Vorlesungen, gehalten an der Universität zu Berlin im
Winterhalbjahre 1810-11. [zuerst veröffentlicht Stuttgart/Tübingen: Cottasche Buchhandlung
1817.] Hier Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der bayrischen Akademie der
Wissenschaften. Hrsg.: Reinhard Lauth, Erich Fuchs, Hans Gliwitzky. Abt. 2. Band 12.
Stuttgart/Bad Cannstatt: F. Fromm 1999. S. 31. 207 schichte der Frau mit den Merinohaaren
will er dadurch belegen, dass er das Plakat mit der Beschreibung der Frau in der Redaktion
von L'Illustration – die seine Geschichte veröffentlicht – hinterlegt, wo es jedem Leser
zugänglich sei129. Auf diese Weise einmal aus der Realität der Geschichte in die des Lesers
hinausgetreten, macht der Erzähler noch einmal explizit auf die Wirklichkeitsunterschiede
deutlich, wenn er sagt: das Plakat existiert, die Frau müsse deswegen aber nicht
notwendigerweise vorhanden sein: „L'affiche existe, mais la femme pourrait ne pas
exister..."130. Allein die Beschreibung ihres Abbildes bedeutet eine Wirklichkeit, die auf der
Ebene des Erzählten ihre eigene Präsenz entwickelt und sich so in das Gefüge der erzählten
und abgebildeten Wirklichkeiten einordnen lässt. Der Erzähler stellt mit diesem Beispiel seine
eigene erzählerische Verfahrensweise zur Schau. An dieser Stele wird auch sichtbar, dass es
Nerval nicht um das Aufspüren von zufälligen Erscheinungen geht. Die Frau mit den
Merinohaaren ist ein typisches Beispiel für die Suche nach einer poetischen Wahrheit. Die
phantastischen Bilder innerhalb des eine reale Reise darstellenden Textes machen nur darauf
aufmerksam, dass der Erzähler seine Erfahrungen in das Gewand eines anonymen
Reiseberichtes kleidet. Der Wechsel zwischen der phantastischen und der realistischen
Schreibweise führt den Erzähler nicht nur an die Orte, die er beschreibt, sondern auch zu sich
selbst. Die sich zusammenziehenden Kreise, auf die Nerval am Anfang verweist, sind die
sinnbildliche Entsprechung dieser Bewegung. Gleichzeitig stellt Nerval den Prozess einer
Entwicklung zum Künstler in diesem Wechsel zwischen Irrealen und Realem dar. In dem
Werk Aurélia (1855) ist dies erkennbar131. Der Streit zwischen Traum und Wirklichkeit ist
sinnbildlich an der Person der Aurélia zu erkennen; sie gehört weder der einen noch der
anderen Welt an. Ihr Schrei, den das Traum- Ich zu hören glaubt, ist der Schrei einer Frau in
der Dunkelheit der Pariser Nacht am Ende des ersten Teils der Erzählung. Das erzählte Ich,
das so aus dem Traum in die Wirklichkeit der Stadt zurückgerissen wird, glaubt dennoch an
die innere Übereinstimmung von Traum und Wirklichkeit: „Elle n'appartenait pas au rêve;
c'était la voix d'une personne vivante, et pourtant c'était pour moi la voix et l'accent
d'Aurélia."132 Der Gang des Erzählers durch Paris wird von diesem Widerstreit begleitet; die
Orientierung ist verloren gegangen, die noch in den Oktobernächten erkennbaren Grenzen
zwischen dem Phantastischen und dem Wirklichen sind in dem 129 Siehe Nerval: Les Nuits
d'Octobres. S. 337. 130 Ebd. S. 342. 131 Aurélia erscheint in der Revue de Paris in zwei
Lieferungen: die Erste am 1. Januar 1855, die zweite am 15. Februar 1855. 132 Nerval:
Aurélia ou le rêveet la vie. In: OEuvres complètes. Band III. Paris: Gallimard 1993. S. 720.
208 Werk Aurélia nur noch schwer auszumachen133. Die Dunkelheit der Nacht hält Visionen
und Traumbilder bereit, die den Wanderer an jedem Ort von Paris unvorbereitet überfallen
können. Erinnerungen an die Apokalypse des Johannes werden wach: „Je croyais voir un
soleil noir dans le ciel désert et un globe rouge de sang au-dessus des Tuileries."134 Die
Bilder entwerfen eine poetische Gegenwelt. Der Erzähler lässt die Flut der Bilder über sich
ergehen und wandelt zwischen Traum und Wirklichkeit durch die Stadt. Ohne ein Ziel vor
Augen, spielen sich immer neue unerklärliche Szenen vor ihm ab. Der willenlose und passive
Betrachter fängt an nach einer Ordnung zu suchen. Für ihn muss ein Zusammenhang
zwischen den phantastischen Erscheinungen am Himmel und dem Paris, in dem er sich
bewegt, bestehen. Swedenborgs Korrespondenzlehre und den neuen Mystikern folgend, sucht
er nach einer Theorie der Entsprechungen: „Mais, selon ma pensée, les événements terrestres
étaient liés à ceux du monde invisible. C'est un de ces rapports étranges dont je ne me rends
pas compte moi-même et qu'il est plus aisé d'indiquer que de définir"135 Ohne den Vorgang
der Entsprechungen zu verstehen oder erklären zu können, bleibt er von den dunklen und
mythischen Erscheinungen verfolgt und kann sich der übermächtigen Ersatzwirklichkeit136
nicht entziehen. So glaubt er, ein göttliches Gesetz gebrochen zu haben, als er versucht hinter
die Geheimnisse zu sehen und wartet auf die Bestrafung, wie auf einen Sturm. „Les ombres
irritées fuyaient en jetant des cris et traçant dans l'air des cercles fatals, comme les oiseaux à
l'approche d'un orage."137 Die Dominanz dieser phantastischen Gegenwelt, die das reale
Geschehen nur noch von Weitem an den Erzähler herankommen lässt, führt zunächst zur
Orientierungsunfähigkeit und am Ende zur Katastrophe des geistigen Zusammenbruchs. Der
Erzähler muss die geistige Ordnung, die er nicht mehr selber erlangen kann, mit fremder Hilfe
herzustellen versuchen. Der Gang in die Nervenheilanstalt ist die einzige Möglichkeit, die
Herrschaft über sich und die eigene Wahrnehmung der Außenwelt wiederzuerlangen. Hier
entschließt sich Nervals Erzähler seine Erlebnisse aufzuschreiben, um sie auf dem Weg der
schriftlichen Fixierung zu bändigen: 133 Der Ich-Erzähler beschreibt selber seinen Übergang
in das Reich zwischen Traum und Realität, Rationalität und Irrationalität am Anfang des
dritten Kapitels: „Ici a commencé pour moi ce que j’appellerai l’épanchement du songe dans
la vie réelle. À dater de ce moment, tout prenait parfois un aspect double, – et cela, sans que le
raisonnement manquât jamais de logique, sans que la mémoire perdît les plus légers détails de
ce qui m’arrivait. Seulement mes actions, insensées en apparence, étaient soumises à ce que
l’on appelle illusion, selon la raison humaine...“ Ebd. S. 699. 134 Ebd. S. 734. 135 Ebd. S.
721. S. 136 Begriff von Stierle: Der Mythos von Paris. S. 691. 137 Nerval: Aurélia. S. 721.
209 „C'est ainsi que je m'encourageais à une audacieuse entreprise. Je résolus de fixer le rêve
et d'en connaître le secret. »Pourquoi, me dis-je, ne point enfin forcer ces portes mystiques,
armé de toute ma volonté, et dominer mes sensations au lieu de les subir ? N'est-il pas
possible de dompter cette chimère attrayante et redoutable, d'imposer une règle à ces esprits
des nuits qui se jouent de notre raison?«"138 Was hier von Nerval geschildert wird, ist die
Geburt der eigenen Künstlerexistenz. Der Künstler, so die Hoffnung des Protagonisten, ist in
der Lage die Ersatzwirklichkeit in dem Aufschreiben als eigenständige Realität zu isolieren.
So erscheint am Horizont die künstlerische Existenz als die Erlösung aus dem Zwiespalt
zwischen Traum und Wirklichkeit. Dass Nerval das Zurückerlangen der Orientierung durch
das Schreiben als Therapie in der Klinik von Doktor Blanchet empfohlen bekommt,
verschweigt er in seinem Werk Aurélia. Hier ist es der Erzähler, der den Entschluss selbst
fasst. Ein Indiz dafür, wie sehr die eigene künstlerische Produktion am Ende von Nervals
Leben an seine Krankheit gebunden war, und wie wenig er dies öffentlich werden lassen
wollte. Nathaniel Hawthornes The Marble Faun Hawthornes Roman ist aus den
Tagebuchaufzeichnungen eines längeren Italienaufenthaltes entstanden. Im Roman kommt der
Hauptstadt Italiens eine besondere Bedeutung zu. Rom stellt fast ausschließlich den
Handlungsort dieses Werkes dar. Die ausführlichen, aus den persönlichen Aufzeichnungen
übernommenen Beschreibungen Roms machen die Stadt zu einem fest in das Werk
eingebundenen poetischen Raum. Die Handlung um die drei amerikanischen Künstler und
ihren italienischen Freund Donatello, fügt sich zwischen die Stadtbeschreibungen ein und
wird durch die gewählte Erzählhaltung mit dem literarischen Abbild der Stadt eng verbunden.
Diese die ästhetischen Grenzen auflösende Erzählhaltung beruht auf mehreren Grundlagen. Es
gehört zum epischen Verfahren von Hawthorne, in The Marble Faun die ästhetischen Grenzen
zwischen Figuren, Erzähler und Autor verschwimmen zur lassen. Der Zweck der
Verschränkung besteht darin, einen poetischen Zusammenhang zwischen äußerer Umgebung
und Innerem der Protagonisten herzustellen. Die Stadt Rom eignet sich in den Augen des
Autors in besonderem Maße für dieses poetische Verfahren. Der Autor erklärt in seinem
Vorwort: „Yet these things fill the mind, everywhere in Italy, and especially in Rome, and
cannot easily be kept from flowing out upon the page, when one writes freely, and with 138
Ebd. S. 749. 210 selfenjoyment."139 Die Erzählsituation in Hawthornes Werk geht von einer
Identifizierung des Erzählers mit dem Schriftsteller aus; wie Nervals Erzähler versteht sich
der Erzähler von Hawthorne ebenfalls als in den künstlerischen Gesamtablauf der
Wahrnehmung, der Verarbeitung und der Aufzeichnung eingebunden. Der freie Fluss dieses
Prozesses soll ermöglichen, dass Gedanken und Eindrücke unverändert auf das Papier
gelangen und die Grundstimmung des Erzählten bestimmen. Hierdurch können die
ästhetischen Grenzen zwischen dargestellter Fiktion und angeschauter wirklicher Welt
verwischt werden. Der beschriebene Handlungsort Rom macht diesen Übergang nach Ansicht
des Autors besonders leicht. Hier gibt es im Unterschied zu der hellen, aufgeräumten und
fortschrittlichen Heimat Nordamerikas noch Geheimnisse und Märchen: „Italy, as the site of
his Romance, was chiefly valuable to him as affording a sort of poetic or fairy precinct, where
actualities would not be so terribly insisted upon, as they are, and must needs be, in America.
No author, without a trial, can conceive of the difficulty of writing a Romance about a country
where there is no shadow, no antiquity but a common-place prosperity, in broad and simple
daylight, as is happily the case with my dear native land. [...] Romance and poetry, like ivy,
lichens, and wall-flowers, need Ruin to make them grow."140 Rom bildet eine Konzentration
von Geschichte, Kunst und vergangenem Leben, das das gegenwärtige Leben an die Seite
drängt. Es stellt auf diese Weise mit den Ruinen und den historischen Hinterlassenschaften
einen eigenen poetischen und märchenhaften Ort dar. Dieses düster romantische Rom
beeinflusst nicht nur den Ablauf der Handlung im Roman, sondern auch den Erzählaufbau.
Die Stadt, die bereits in zahlreichen Werken zu einem Ort der dichterischen Klage und
Anschauung von Vergänglichkeit gemacht wurde, setzt die Protagonisten wie den Erzähler
des Romans einer besonderen Situation aus. „Wie die ganze Stadt wird es ihm [dem Dichter]
Sinnbild »erregten Städten eines großen Verfalls«, in der Stadt der Gräber und der Toten das
Grab auch des eigenen verlorenen Glaubens sucht und es erschüttert oder verzweifelt auch
findet, »città dolente« in einem neuen, düsteren Sinn, den die Rom-Dichtung, am Ende eines
langen Weges durch Jahrhunderte, Menschen und Dichter, in sich aufnimmt und
bewahrt."141 Da Hilda, Kenyon und Miriam selber Künstler sind, sind sie von dem
besonderen Einfluss, der von Rom ausgeht, ebenfalls betroffen und schließen im Verlauf des
Romans die düstere Stimmung Roms in sich ein. Das in der Literatur bereits erfolgreich
verbreitete Bild der 139 Hawthorne: The Marble Faun. In: Collected Novels. New York:
Library of America 1983. S. 855. 140 Hawthorne: The Marble Faun. S. 854. 141 Walter
Rehm: Europaeische Romdichtung. S. 18. 211 „città dolente", das verstärkt durch einen neuen
europäischen Sentimentalismus, in einer Poesie der Einsamkeit, der Nacht, des Grabes und
des Todes Ausdruck findet, beherrscht den Roman. Es verwundert also nicht, dass die
Schlüsselszenen des Romans zur Nachtzeit spielen: „Die Nacht, nicht der Tag, war die der
alten Weltstadt allein gemäße Zeit, die Mondnacht im Colosseum."142 Die Tradition der
Nachtwanderungen, die die klassischen Beschreibungen der Romreisenden begonnen
haben143, setzt sich in Hawthornes Werk fort. Die vier Hauptfiguren, werden mit dem
traumhaften Zustand, den Rom vermittelt, nicht nur bei ihrer Einführung in der Szene in den
Vatikanischen Museen in Verbindung gebracht, sondern bekommen die Präsenz von
Unwirklichem (unrealities) und von Schattenwesen während ihren nächtlichen Spaziergängen
zu sehen und zu spüren. Es ist aber das Besondere des Romans, zwei verschiedene Ebenen
miteinander zu verbinden; sowohl die dunklen Bilder eines in romantischer Versunkenheit
verharrenden Roms als auch die Gegenwart einer sich in alltäglichen Abläufen befindlichen
Stadt mit Gewohnheiten und festen Bezugspunkten finden sich im Roman dargestellt. Es ist
ein ständiges Verbinden und Verknüpfen dieser beiden Gegensätze, dem phantastischen mit
dem gewöhnlichen Geschehen. Dass der Autor keinen Widerspruch in dieser Allianz sieht,
macht er in seinem Nachwort deutlich: „There comes to the Author, from many readers of the
foregoing pages, a demand for further elucidations respecting the mysteries of the story."144
Dem Wunsch nach Erklärung der undurchsichtigen Stellen begegnet Hawthorne mit dem
Hinweis, dass seine Figuren den beiden Bereichen, dem realen und dem phantastischen
zugeordnet werden müssen: „He [der Autor] designed the story and the characters to bear, of
course, a certain relation to human nature and human life, but still to be so artfully and airly
removed from our mundane sphere, that some laws and proprieties of their own should be
implicitly and insensibly acknowledged."145 Durch die Entrückung der Charaktere aus dem
gewöhnlichen Leben des Alltags erhält Hawthornes Erzählen die Möglichkeit der
phantastischen Entrückung. Dieses 'Entrücken in kunstreiche Höhen' führt zu einer
besonderen Poetik der Entsprechungen und des Entwurfes eines literarischen Bereichs
zwischen dem Realen und dem Phantastischen. Am stärksten ausgeprägt ist die erzählerische
Ambiguität, das Hin- und Herpendeln zwischen den realistischen und den unwirklichen
Teilen der Geschichte bei der Figur des Donatello. In dieser Person verschränkt sich die
Kunstwelt, sowie mythische Sagenwelt, und die 142 Ebd. S. 220. 143 Ebd. S. 218f. 144
Hawthorne: The Marble Faun. S. 1239. 145 Ebd. 212 Gegenwart bereits in der Anspielung
auf seine Ähnlichkeit mit dem Faun von Praxiteles am Anfang des Romans. In dem Faun,
dieser schlauen, verführerischen und gewitzten Figur der antiken Sagenwelt, symbolisiert sich
Hawthornes Erzählstil. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Donatello in der Erklärung
des Nachwortes als Beispiel für die poetische Entrückung angeführt wird: „The idea of the
modern Faun, for example, loses all the poetry and beauty which the Author fancied in it, and
becomes nothing better than a grotesque absurdity, if we bring it into the actual light of day.
He had hoped to mystify this anomalous creature between the Real and the Fantastic, in such
a manner that the reader's sympathies might be exited to a certain pleasurable degree, without
impelling him to ask how Cuvier would have classified poor Donatello, or to insist upon
being told, in so many words, whether he had furry ears or no. As respects all who ask such
questions, the book is, to that extent, a failure."146 Die Abgrenzung eines epischen Bereichs
zwischen „the Real and the Fantastic" gehört zu den ästhetischen Grundlagen des Romans.
Der Erzähler stellt sich selber in dieses Zwischenreich und verteidigt damit seine
Ahnungslosigkeit in Bezug auf vorgefallene Mysterien. Mögliche Aufklärung, die von den
Lesern gefordert wird, kann er aus diesem Grund nicht geben. Als endgültigen Beweis seiner
Ahnungslosigkeit führt er im Nachwort die epische Nivellierung durch, indem er seine
Freundschaft mit Hilda und Kenyon bekannt gibt und sich mit ihnen auf das Dach des
Petersdoms setzt um den Blick über Rom streifen zu lassen. In der Unterhaltung mit den
Romancharakteren wird sowohl das Herauslösen der Charaktere aus der Fiktion bewirkt als
auch die Eingliederung des Erzählers in das Romangeschehen. Die Annäherung hilft
Hawthorne ein letztes Mal die Lücke zwischen Realem und der Fiktion zu schließen, bevor er
den Roman mit dem Hinweis beschließt, dass der Erzähler auch von Kenyon nicht erfahren
hat, ob Donatellos Ohren wie die des Fauns von Praxiteles tatsächlich mit Fell überzogen und
nach oben spitz zulaufend sind. Hawthornes schlichter Kommentar: ein Erzähler könne nicht
alles wissen. Das Spiel mit den verschiedenen Erzählebenen und das erzählerische
Wechselspiel zwischen Unwirklichem und Wirklichem, das tief in dem Roman verankert ist,
gibt auch der Kunst einen besonderen Stellenwert. Rom wird immer wieder von neuem aus
einem Blickwinkel betrachtet, der die unwirklichen Momente und das Geschehen direkt aus
einem Kunstwerk heraustreten lässt. Die Romanwirklichkeit setzt sich für Hawthorne aus
zwei Bereichen zusammen, den der Kunst und den des realen Lebens. Dabei tritt im Verlauf
der Geschichte Hawthornes Philosophie immer deutlicher hervor. Der Übergang von der
Kunst in 146 Hawthorne: The Marble Faun. S. 1239. 213 das reale Leben spiegelt eine höhere
Wirklichkeit, die sich von dem Kunstwerk lösen kann. Zwei Beispiele auf der nächtlichen
Wanderung geben ein Beispiel für die Überlegenheit des römischen Kunstwerkes gegenüber
der realen römischen Welt. Zunächst wird der Besuch der Künstlergruppe im Kolosseum
beschrieben. Die Hauptattraktion nächtlicher Romspaziergänge breitet sich in der ganzen
Größe und Masse vor den Augen der Künstler aus. Der Erzähler stellt seiner Betrachtung des
mondbeschienenen Bauwerks Lord Byrons Beschreibung aus dem Poem „Childe Harold's
Pilgrimage" gegenüber und erklärt, dass er keine Möglichkeit sehe, wie seine Beschreibung
an Byrons Kunstwerk heranreichen könne: „The splendour of the relevation took away that
inestimable effect of dimness to build a grander structure than the Coliseum, and to shatter it
with a more picturesque decay. Byron's celebrated description is better than the reality. He
beheld the scene in his mind's eye, through the witchery of many intervening years, and
faintly illuminated it, as if with starlight, instead of this broad glow of moonshine."147 Das
Kunstwerk, insbesondere das aus der Erinnerung geschaffene Werk, besitzt für den Erzähler
mehr Präsenz als die Wirklichkeit. Die Enttäuschung über das reale Bauwerk, das sich in
seiner ganzen Macht vor ihm ausbreitet, lässt sich nicht verbergen. Nur in Byrons Kunstwerk
tritt die wahre Größe des Kolosseums hervor, die sich erst durch die poetische Inszenierung
des Verfalls und der Lichtverhältnisse in das Unermessliche steigert. Die höhere
Ausdruckskraft des Kunstwerkes gegenüber der Wirklichkeit wird nur wenig später ein
zweites mal exemplifiziert. Nach dem Verlassen des Kolosseums stellt sich die Gruppe neben
den Titus- Bogen, um dessen historische Reliefdarstellungen zu betrachten. Der Gegensatz
zwischen dargestellter Vergangenheit und wirklicher Gegenwart verschwindet im Angesicht
der Größe der Kunstwelt und stellt eine Hierarchie auf, die die Helden der Vergangenheit
wieder zu ihrer alten Größe finden lässt: „It is politic, however, to make few allusions to such
a Past; nor, if we would create an interest in the characters of our story, is it wise to suggest
how Cicero's foot may have stept on yonder stone, nor how Horace was wont to stroll near by,
making his footsteps chime with the measure of the ode that was ringing in his mind. The
very ghosts of that massive and stately epoch have so much density, that the actual people of
to-day seem the thinner of the two, and stand more ghostlike by the arches and columns,
letting the rich sculpture be discerned through their ill-compacted substance."148 Die reiche
Vergangenheit der römischen Kultur tritt im Kunstwerk den Betrachtern vor Augen. Die
amerikanischen Künstler müssen der Größe und dem Reichtum dieser Kultur Re- 147
Hawthorne: The Marble Faun. S. 980. 148 Ebd. S. 985f. 214 spekt zollen und ihren
berühmten Vorfahren Cicero und Horaz den Vortritt lassen. Die Verstorbenen erlangen so
eine höhere Erscheinungskraft als die noch Lebenden. Nicht die römischen Vorbilder treten
als 'Geister' auf, sondern die vor dem Titus-Bogen stehende Gruppe verliert vor dem
Kunstwerk ihre Präsenz und wird 'durchsichtig'. Mit diesem Beispiel stellt Hawthorne seine
schriftstellerische Überzeugung dar, dass das Kunstwerk mit seiner höheren Dichte und
Präsenz das reale Geschehen überstrahlen kann. Da der Künstler mit seinem Kunstwerk
genauso verbunden ist, wie mit der wirklichen Welt, hat das Überstrahlen der realen Welt
durch die Kunstwelt zur Konsequenz, dass er sich in einer Sonderstellung zwischen den
beiden Sphären wiederfindet. Über die Wahrnehmung und seine Arbeit vermag er die beiden
Realitäten zu einander in Bezug zu setzen. Darüber hinaus versteht er es, durch seine sublime
Wahrnehmungsgabe die der Realität enthobene Sphäre bereits vor der Übertragung in das
Kunstwerk vor seinem inneren Auge festzuhalten. Hawthorne weist auf diese Gabe des
Künstlers mit folgenden Worten hin: „Artists, indeed, are lifted by the ideality of their
pursuits a little way off the earth, and are therefore able to catch the evanescent fragrance that
floats in the atmosphere of life, above the heads of the ordinary crowd. Even if they seem
endowed with little imagination, individually, yet there is a property, a gift, a talisman,
common to their class, entitling them to partake, somewhat more bountifully than other
people, in the thin delights of moonshine and romance."149 Durch diese Festlegung der
künstlerischen Fähigkeiten wird deutlich, wie sehr sich Hilda, Kenyon und Miriam mit der
besonderen Umwelt Roms im Gegensatz zu der 'gewöhnlichen Masse' identifizieren müssen.
Der Übergang zwischen Realem und Phantastischem ist für die Protagonisten ein kurzer Weg.
Wie leicht sie den Schritt aus einer Sphäre in die andere vollziehen, wird von Hawthorne
wiederholt zum Gegenstand des Geschehens gemacht und immer wieder von Neuem
beschrieben. Besonders in den Schlüsselszenen des Romans, die Kapitel im und auf dem Weg
zum Kolosseum, „A Moonlight Ramble" und „Miriam's Trouble", sowie das Kapitel, das auf
dem Capitolshügel spielt „On the Edge of a precipice", führen dieses Verweben von dunkler
Gegenwelt mit der beschriebenen römischen Gegenwart vor. In diesen drei Kapiteln steht die
Begegnung von Miriam mit einer unheimlichen Gestalt im Vordergrund. Miriam sieht diesen
unbekannten Mann an verschiedenen Orten in Rom und wird von ihm in große Angst versetzt.
Die Gestalt ist in eine dunkle lange Kutte gekleidet und verbirgt ihr Gesicht unter einer 149
Hawthorne: The Marble Faun. S. 982. 215 Kapuze. Es gibt keine Anhaltspunkte für die
Identität dieser Person, noch für die Zugehörigkeit zu einer phantastischen oder realen Sphäre.
Sie erscheint aus dem Nichts und wird immer als erstes von Miriam wahrgenommen, auch
wenn ihre Freunde neben ihr stehen. Diese Gestalt wird von der Künstlerin das erste mal
'Dämon' genannt, als sie diese – mit Donatello zusammen am Trevi-Brunnen stehend –
plötzlich neben sich bemerkt. Als sie in den Brunnen blickend einen dritten Schatten im
Wasser wahrnimmt, sagt sie: „Three shadows! [...] Three separate shadows, all so black and
heavy that they sink in the water! There they lie on the bottom, as if all three were drowned
together."150 Die seelische Verwandtschaft, die sie in der Gegenwart der unheimlichen
Gestalt verspürt, kann sie nur als einen Fluch verstehen, der auf ihr lastet und in ihrer
Vergangenheit begründet liegt. Während der Rest der spazierenden Gesellschaft nur einen
unscheinbaren Mann von unbestimmter Herkunft in dem Fremden sieht, fühlt sich Miriam
von einer dunklen Macht verfolgt und ihr Leben bedroht: „In the name of the Saints [...]
vanish, Demon, and let me be free of you, now and forever!"151 ruft sie im Anblick der
Schatten entsetzt aus. Das Bild der im Wasser vereinigten Schatten erfüllt sie mit Schrecken
und führt ihre Verbundenheit mit einer mystischen Unterwelt vor Augen. Die drei Schatten
auf dem Brunnengrund zeigen aber auch die Verknüpfung von Miriams Schicksal mit dem
von Donatello. Dieser versteht die Bedrohung seiner Freundin und nimmt sie als einziger der
spazierenden Gruppe ernst. Er bittet sie, im Angesicht des Fremden und seiner bedrohlichen
Ausstrahlung, ihr helfen zu dürfen, indem er die mysteriöse Gestalt tötet: „Bid me drown
him!"152 Die Verfolgung durch den mysteriösen Unbekannten setzt sich auf dem weiteren
gemeinsamen Spaziergang fort. Im Kolosseum von Rom schaut sich die Gruppe die gewaltige
Kulisse des antiken Bauwerks an. Kenyon erinnert an die grausamen Wettkämpfe, die hier in
römischer Zeit stattgefunden haben und an die vielen Märtyrer, für die ein Kreuz aufgestellt
worden ist. Seine Imagination lässt die toten Kämpfer als Geister wieder auferstehen und ein
Schauer läuft durch die Gruppe. Hilda unterbricht Kenyons Rede: „You bring a Gothic
horrour into this peaceful, moonlight scene."153 Ohne diese Unterhaltung verfolgen zu
können, steht Miriam abseits und sieht sich einem neuen Angriff der Angst ausgesetzt. Der
erneute Angstschauer wird diesmal mit präzisen Angaben im Detail beschrieben, der einem
medizinischen Bericht mit Krankheitssymptomen gleicht: 150 Hawthorne: The Marble Faun.
S. 975. 151 Ebd. 152 Ebd. S. 976. 153 Ebd. S. 982. 216 „Unaware of his [des Unbekannten]
presence, and fancying herself wholly unseen, the beautiful Miriam began to gesticulate
extravagantly, gnashing her teeth, flinging her arms wildly abroad, stamping with her foot. It
was as if she had stept aside, for an instant, solely to snatch the relief of a brief fit of madness.
Persons in acute trouble, or labouring under strong excitement with a necessity for concealing
it, are prone to relieve the nerves in this wild way; although, when practicable, they find a
more effectual solace in shrieking aloud. Thus, as soon as she threw off her self-controul,
under the dusky arches of the Coliseum, we may consider Miriam as a mad woman,
concentrating the elements of a long insanity into that instant."154 Dass hier das Wissen jener
Zeit über das Krankheitsgebiet der Melancholie plötzlich rational und kühl vorgetragen wird,
steht im Kontrast zu dem bisher von Hawthorne gewählten umschreibenden Umgang mit
diesem Thema. Die Szene am Trevi-Brunnen drückt noch in allegorischen Bildern aus, wofür
es nach allgemeinen Wissen noch wenig Erklärungen gibt. Der Blick in das Wasser, in das
eigene Spiegelbild, führt einen Prozess der Selbsterkenntnis vor. Aber nicht ihr eigenes
Abbild, sondern ihr, Donatellos und des Unbekannten Schatten auf dem Brunnenboden ziehen
Miriams Aufmerksamkeit auf sich. Auf diese Weise drückt sich eine Störung dieses
psychologischen Vorgangs in Miriam durch die Anwesenheit des Unbekannten aus. In der
Szene im Kolosseum ist der Vorgang anders. Der Unbekannte tritt nicht an Miriam heran und
bleibt von ihr unbemerkt. Er hält sich zwar in dem Moment eines neuen Angstanfalls in der
Nähe von Miriam auf, wird aber nur von den Freunden wahrgenommen. In dieser Szene wird
deutlich, dass es im Roman nicht darum geht, nur die eine Möglichkeit darzustellen; die
dunkle Gestalt ist sowohl in der Rolle des aktiven Auslösers und als auch in der Rolle der
Allegorie für eine unerklärliche Krankheit zu verstehen. Die Verschränkung dieser beiden
Aufgaben - einer rational und wissenschaftlich begründeten auf der einen Seite und einer
volkstümlichen und mystischen auf der anderen Seite - ist das poetische Ziel der wechselnden
Verwendung der dämonischen Figur. Miriams seelischer Zustand wird allerdings nur in der
Kollosseumszene unter dem veränderten Licht eines medizinischen Betrachterstandpunktes
beleuchtet und von den Einflüssen übernatürlicher Kräfte losgelöst. Im weiteren Verlauf des
Romans bleibt der aufgebaute Zusammenhang zwischen der symbolischen Darstellung einer
finsteren Macht und dem melancholischen Zustand von Miriam gewahrt. Miriams Befreiung
von der Angst wird ebenfalls in einem symbolischen Akt ausgedrückt. Auf dem Tarpejischen
Felsen stehend, von dem in römischer Zeit politische Gegner und Verräter herabgestürzt
wurden, blicken sie hinab auf die Stadt. Als sich aus einer dunklen Nische, die für eine Statue
vorgesehen ist, eine Gestalt löst 154 S. 983. 217 und auf sie zuläuft, stürzt Donatello diese in
die Tiefe. „In the basement-wall of the palace, shaded from the moon, there was a deep,
empty niche, that had probably once contained a statue; not empty, neither; for a figure now
came forth from it, and approached Miriam."155 Donatellos anfängliche Schrecken weicht
schnell der Einsicht, dass er auf die Bitte von Miriam hin gehandelt hat. Ihre gemeinsame Tat
rechtfertigen sie mit dem Ausmaß der Bedrohung und der Ausweglosigkeit ihrer Situation.
Tatsächlich fühlt sich Miriam von der unerklärlichen Bedrohung befreit; als Begründung für
die Erlösung von der dunklen Macht, führt sie den Beweggrund der alten Römer für die
Hinrichtung an: „Innocent persons were saved by the destruction of a guilty one, who
deserved his doom."156 Der Unbekannte ist das Menschenopfer zum Zwecke der Vertreibung
von Miriams Dämon. Während nach der Tat aus Donatello ein ernster Mann wird, stellt sich
Miriam Fragen zu den Hintergründen ihrer Erlebnisse. Die Reflexion darüber lässt Hawthorne
durch die Betrachtung eines Bildes geschehen. Guido Renis Bild (von etwa 1632) in der
Kapuziner-Kirche S. Maria della Concezione, das den Triumph des Erzengel Michael über
das Böse in Gestalt eines Drachen darstellt, ist Anlass für eine gemeinsame Erörterung. In
Miriams Beurteilung des Bildes kommt ihre Meinung zum Ausdruck, dass die Spuren des
Kampfes nicht ausreichend dargestellt seien: „A full third of the Archangel's feathers should
have been torn from his wings; the rest all ruffled, till they looked like Satan's own! His sword
should be streaming with blood, and perhaps broken half-way to the hilt; his armour crushed,
his robes rent, his breast gory; a bleeding gash on his brow, cutting right across the stern
scowl of battle!"157 Für Miriam wiederholt sich in dem Bild das eigene Schicksal. Ihr Urteil
ist durch die Erlebnisse der letzten Tage geprägt. Sie vermisst die Spuren eines grausamen
Kampfes, den sie am eigenen Leibe durch die Verfolgung des Dämonen erlebt hat. Die
Funktion der Kunst im Roman wird auch an diesem Beispiel deutlich. Hier wird durch die
Betrachtung und die Beurteilung eines Kunstwerkes dem Befinden und dem Denken Miriams
Ausdruck verliehen. Wie wenig die Protagonisten die beiden Welten auseinander halten,
darauf ist bereits hingewiesen worden. Die Folgen für die Erzählperspektive sind ebenfalls
von großer Bedeutung. In dem Kapitel „The dead capuchin" führt der Streit der Kunstwelt mit
der erzählten Welt zu neuen Handlungssträngen. Als die Gruppe die Kirche betritt, fällt ihr
Blick auf einen aufgebahrten Mönch. Dieser Er- 155 Hawthorne: The Marble Faun. S. 995.
156 Ebd. S. 994. 157 Hawthorne: The Marble Faun. S. 1006. 218 scheinung wird zunächst
mit der einer Skulptur verglichen. Das Abbild eines toten Mönches scheint auf der Bahre
seinen festen Platz in der Kirche gefunden zu haben. Das Abbild des Mönchs sei aus Wachs
oder Ton geschaffen, hier kann sich der Erzähler nicht festlegen. Erst im Verlauf des Kapitels
wird der Körper zu einem kürzlich Verstorbenen gemacht, der auf die Beisetzung wartet. Ein
anwesender Mönch berichtet dies den Künstlern. Die Erscheinung des toten Mönches
bekommt immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt, besonders von Miriam und Donatello, die
in der Gestalt den unbekannten nächtlichen Begleiter wiederzuerkennen glauben. Bei weiterer
Betrachtung, hier muss der Erzähler auf die Wirklichkeit des Ereignisses aufmerksam
machen158, tropft Blut aus der Nase des Toten. Miriam von diesem Anblick erschreckt, stellt
sich die Frage in welcher Realität sie sich befindet. Über den toten Mönch gebeugt fragt sie:
„But art thou real, or a vision?"159 Der nächtliche Verfolger, der aus der Nische einer Statue
hervorgetreten war, wird so zu einem Dämonen halb aus der Kunstwelt, halb aus der realen
Welt gemacht. Die tatsächliche Zugehörigkeit ist nicht erkennbar und bedeutet für die
Protagonisten besondere Anstrengungen der Orientierung. Diese Anstrengungen sind Teil des
gesamten Romanaufbaus, denn wie der Autor in seinem Vorwort erklärt, ist auch er auf der
Suche nach einer schlüssigen Darstellung der römischen Welt. Der Versuch an die
Wirklichkeit heranzukommen, führt dazu, in der Fiktion eine poetische Wirklichkeit zu
erschaffen und in dieser einen neuen Wahrheitsgehalt zu finden. Die Verschränkung führt den
Erzähler und seine Figuren näher an etwas heran, das „innere Wahrheit" genannt werden
kann. Die Verabschiedung von der „äußeren Wahrheit" ermöglicht es den Künstler in ganz
neuem Licht zu sehen. Seine Rolle wird die des Vermittlers zwischen Erzähler und „äußerer
Wahrheit". So dient das Verweben von Stadtgeschichte und Stadtsehenswürdigkeiten mit der
Romanhandlung dazu, ein Ganzes von individueller und allgemein gültiger Wahrheit
darzustellen. Das Geschehen, das sich zu einer Handlung zusammensetzt, entwickelt sich
deshalb aus den Aufenthaltsorten Tarpejischer-Felsen, Kapuziner Kirche und Trevi-Brunnen
heraus, da diese zu einer äußeren Dichte führen, die innere Dichte provoziert. Hawthornes
Methode, dass sich die Handlung von der Kulisse ableitet und die beschriebene Umwelt den
Stoff für die Entwicklung der Geschichte und der Figuren liefert, ist besonders der
Künstlerfigur verpflichtet. Mit ihr lässt sich in der Tradition des Bildungsromans am besten
das Zusammenspiel der äußeren mit der inneren Welt darstellen. 158 „And now occured a
circumstance that would seem too fantastic to be told, if it had not actually happened,
precisely as we set it down." Ebd. S. 1009. 159 Ebd. S. 1011. 219 EXKURS Die Aufgabe des
modernen Künstlers. Von den Wahrnehmungsformen zu den Darstellungsformen – John
Ruskin und Charles Baudelaire E.T.A. Hoffmann hat in der Erzählung Des Vetters Eckfenster
auf den trügerischen Charakter des Stadtbildes hingewiesen. Hinter der Oberfläche der
Erscheinungen verbirgt sich nicht immer der vermutete Gehalt. So kann sich leicht eine
zweite Wirklichkeit über die erst-geschaute legen und, ohne mit dieser allzu deutlich zu
kollidieren, eine neue Welt der bloßen Möglichkeiten entstehen. Für die Stadtdarstellung birgt
die Welt der Erscheinungen das poetische Material, dessen sich die modernen
Erzählverfahren gerne bedienen. Die hieraus entstehende Hülle der Referenzen160 erweitert
das Stadtbild. Auch in Gogols Künstlernovelle Der Newskij-Prospekt kommt es zu einem
Hinterfragen der geschauten Wirklichkeit. Der Erzähler führt seinem Publikum vor, wie leicht
sich mehrere Geschichten aus einer kurzen auf der Straße stattfindenden und leicht zu
beobachtenden Handlung ableiten lassen. Diese Varianten sollen nur die These von dem
täuschenden Charakter Petersburgs, insbesondere seiner Hauptstraße, unterstreichen. Aber sie
machen vor allen Dingen darauf Aufmerksam, welchen Gefahren sich jeder Spaziergänger
aussetzt, der hinter einfachen Erscheinungen unzweideutige Ursachen wähnt. Die urbane
Lebenswelt spaltet sich vielmehr in eine Unzahl von Möglichkeiten auf, die sie mit jedem
kleinen oder großen zu sehenden Ereignis verbinden lassen. Diese zweite, potentielle
Wirklichkeit birgt einen besonders hohen Grad an poetischem Gehalt. Die Erscheinungswelt
besitzt ihre größte Entfaltungsmöglichkeit in der Nacht. Darauf machen nicht nur Dostojewski
und Kierkegaard aufmerksam. Ihr Weg durch das nächtliche Berlin oder St. Petersburg wird
von einer Aufmerksamkeit für das Schemenhafte und Flüchtige begleitet. Die Schatten und
die unscharfen Konturen bilden die Grundlagen ihrer Erscheinungswelt. Auf diesen äußeren
Erscheinungen bauen sich die inneren Erscheinungen auf. Die Phantasie und die Träumerei
wird durch die besondere Außenwelt begünstigt. Davon gehen beide Schriftsteller aus. Dass
dieses Streben nach der Nachtseite der Stadt nicht eine Distanzierung von der realen
Darstellung zur Folge haben muss, beweist Gogol, der bereits ein hohes Maß an Sehschärfe
mit in seine phantastische Welt einfließen lässt und bei aller Reali- 160 Siehe Jurij M.
Lotman: „Simvolika Peterburga i problemy semiotiki goroda.“ [Die Symbolik von St.
Petersburg und die Probleme der Semiotik der Stadt.] In: Isbrannye stati w trech tomach.
Band 2. Tallinn: o.V. 1992. 220 tätsflucht gleichzeitig für die Details und Kleinigkeiten
großes Interesse zeigt. Castex161 macht an dem Beispiel von Balzac deutlich, dass sich das
Streben um den Zugriff auf eine jenseitige Welt durchaus mit dem Anspruch auf eine
Realitätsnahe Darstellung verbinden lässt: „On ne peut séparer, chez Balzac, l’expérience
externe de l’expérience interne. Il se flattait de posséder ce ‚don de seconde vue‘ qui, selon
lui, est le trésor commun à tous les poètes et à tous les vrais philosophes. De propos délibéré,
il a fait figurer dans La Comédie humaine ses études philosophiques sur le même rang que ses
études de moeurs. Il rêva de peindre l’homme, non seulement dans les relations qu’il
entretient avec ses semblables, mais dans ses relations avec les démons et les anges, à la quête
de l’Absolu; parallèlement à une vérité psychologique, il a recherché une vérité mystique;
aussi haut que Le Père Goriot, il a placé Séraphita.“162 Die mystische Welt des Romans
Séraphita gliedert sich mit dem selben Anspruch in die Comédie humaine ein wie der Roman
Le père Goriot, weil sich für den Schriftsteller erst in der Beziehung zu den Dämonen die
ganze Breite des menschlichen Lebens erschliesst. So öffnet die unheimliche Gestalt
Séraphita mit ihren seherischen Kräften einen Bereich, der in der einfachen Sittenschilderung
unbeachtet bleiben würde, der aber die Aspekte birgt, die für die umfassende Darstellung des
Lebens notwendig sind. Die Konzentration auf Erscheinung und flüchtige Eindrücke bereitet
für viele Schriftsteller in der Zeit nach 1830 den Weg zum Realismus. Dabei werden die
Fähigkeiten des Künstlers immer mehr herausgestellt. Er erlangt durch seinen Anspruch,
eigene Darstellungsräume zu entwickeln, eine Autonomie, die es ihm erlaubt, mit seiner
eigenen Wahrheit die Realität zu übertreffen. In seinen Contes domestiques stellt
Champfleury die neue Philosophie vor. Grundlage des neuen Realismus ist die Einfachheit
der Darstellung, d. h. die Fortsetzung der Wahrnehmung in der Darstellung ohne verändernde
Bearbeitung durch den Betrachter: „Les moeurs de la famille, les maladies de l’esprit la
peinture du monde, les curiosités de la rue, les scènes de campagne, l’observation des
passions, appartiennent également au réalisme, puisque le mot est à la mode. Mais cela sert de
thème à quelques ignorants, que délayent là-dessus leur prose insipide sans se douter combien
le vrai public reste étranger à ces querelles. Je cherche avant tout à rendre sincèrement dans la
langue la plus simple mes impressions. Ce que je vois entre dans ma tête, descend dans ma
plume, et devient ce que j’ai vu. La méthode est simple, à la portée de tout le monde. Mais
que de temps il faut pour se débarrasser des souvenirs, des imitations, du milieu où l’on vit, et
retrouver sa propre nature!“163 161 Pierre-Georges Castex: Le conte fantastique en France.
De Nodier à Maupassant. Paris: Corti 1951. 162 Ebd. S. 169. 163 Champfleury: Contes
domestiques. Paris: Lecou 1852. o. Seite, Zitat aus dem Vorwort. [Hervorhebungen von
Champfleury]. 221 Champfleury macht deutlich, dass sich der Schriftsteller nur auf seine
Wahrnehmung verlassen darf, die er so einfach und schnell wie möglich in das Werk
übertragen muss. Der Realismus entsteht durch Verzicht auf den nachträglichen
Gestaltungswillens und wird geleitet von dem ursprünglichen Wahrnehmungsereignis. Die
‚Eindrücke‘ sollen nach dem Willen von Champfleury so unvermittelt wie möglich in einer
Abbildung zu erkennen sein und ihren Wahrnehmungscharakter behalten. Dadurch dass der
Moment der Wahrnehmung in der Kunst aufgewertet wird, entfaltet sich in der Kunst eine
breite Diskussion um den Betrachtungvorgang und die ästhetische Rolle des Betrachters.
Diese Diskussion beginnt in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts und überträgt sich auf neue
Darstellungsformen. Roman Jakobson sieht die zentrale Aufgabe im Realismus darin, der
„Wahrnehmung eine neue Form zu geben“ 164. Neben Champfleury machen John Ruskin
und Charles Baudelaire die Wahrnehmungsform zur Grundlage ihrer ästhetischen Diskussion.
Während Ruskin von einer Theorie der modernen Malerei ausgeht, die
Wahrnehmungsverhalten in das Gemälde übernehmen soll, geht Baudelaire von einer
mystischen Einheit der Welt aus, die sich im Kunstwerk manifestiert. Wie er 1861 in seinem
Wagner-Aufsatz darlegt, sind die vom Betrachter aufgenommenen Erscheinungen bereits Teil
eines undividierbaren Ganzen165. Die Wahrnehmung der äußerlichen Erscheinungen ist
folglich bereits der entscheidende Zugang zu der endgültigen Realität. Für Harold Bloom ist
Ruskins Interesse an den „apperances“ darin begründet, diese Erscheinungen als „final
realities“166 zu verstehen. Der Künstler besitzt nach Ruskins Verständnis die Möglichkeit,
die Realität hinter den Erscheinungen zu sehen. „Ruskin, like Blake, celebrated the pulsation
of an artery, the flash of apprehension in which the poet’s work is done. And, again like
Blake, Ruskin placed his emphasis on seeing as the special mark of imagination.“167 Die
seherischen Kräfte des Künstlers beschäftigen Ruskin bereits in seiner ersten großen
Untersuchung, dem Werk Modern Painters, das er 1843 beginnt und 1860 abschliesst.
Zentrale These des ersten Buches der Modern Painters ist, dass hinter der Oberfläche der 164
„Je nach dem Akkumulationsgrad von Tradition wird ein gemaltes Bild zu einem Ideogramm,
zu einer Formel, mit der unverzüglich aufgrund der Korrespondenz ein Gegenstand
verbunden wird. Das Wiedererkennen vollzieht sich in Sekundenschnelle. Wir hören auf, ein
Bild zu sehen. Das Ideogramm muß deformiert werden. Der Maler als Neuerer muß an den
Dingen sehen, was man gestern nicht sah, muß der Wahrnehmung eine neue Form geben.“
Roman Jakobson: „Über den Realismus in der Kunst.“ In: Russischer Formalismus. Texte zur
allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hrsg.: Jurij Striedter. München: Fink
1969. S. 377. 165 „Les choses s’étant toujours exprimées par une analogie réciproque, depuis
le jour où Dieu a proféré le monde comme une complexe et indivisible totalité.“ Charles
Baudelaire: „Richard Wagner et Tannhäuser à Paris“. In: OEuvres complètes. Hrsg.: Claude
Pichois. Band 2. Paris: Gallimard 1976. S. 784. 166 Harold Bloom: The literary criticism of
John Ruskin. New York: Doubleday 1965. S. XX. 167 Ebd. S. XXI. 222 Wirklichkeit noch
eine weitere Realität besteht, die entdeckt oder aufgedeckt werden muß. Hierzu ist nur der
Künstler befähigt. Der Zerfall der einheitlichen Vorstellung von Wirklichkeit führt zu einer
konstruierten Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die weitaus mehr auf den Wert der Erfahrung
setzt und von einer individuellen Wahrnehmung abgeleitet wird. Mit dem ‚neuen‘ Künstler
wird von Ruskin eine Instanz geschaffen, die sich der Erfahrung von Außenwelt aussetzt und
für diese eine Form in der bildlichen Darstellung sucht. Ruskin stellt auf diese Weise einen
direkten Zusammenhang zwischen der Perzeption von Landschaft und ihrer bildlichen
Wiedergabe her. In den Kapiteln IV und V der 2. Abteilung seines Werkes, mit der
Überschrift „Of Truth of Space“, beschreibt er zunächst die physiologische Funktionsweise
des menschlichen Auges, um daraus Regeln für die wahrheitsgemäße Wiedergabe des
Raumes im Bild abzuleiten. Für Ruskin ist die Repräsentation einer Landschaft dann
gelungen, wenn die physiologischen Fähigkeiten des Auges einzelne Teile der Landschaft zu
erkennen und zu fokussieren berücksichtigt werden. So fordert er den Vordergrund eines
Landschaftsbildes nicht genau auszumalen, sondern diesen verschwimmen zu lassen, weil das
Auge beim Betrachten eines sich in die Ferne erstreckenden Raumes nicht weit entfernte und
nahe Gegenstände gleichzeitig scharf stellen kann. Der undeutlich gehaltene Vordergrund,
den er in den Bildern von William Turner umgesetzt sieht, entspricht so der visuellen
Wahrnehmung einer Person in der betrachtenden Position vor der Landschaft. Die Wahrheit
des Raumes definiert sich für Ruskin über die der nachgebildeten tatsächlichen Wahrnehmung
und der damit verbundenen menschlichen Empfindung des Raumes. Die Darstellung der
Landschaft muß deshalb entsprechend des „Truth of space“ von der allgemeinen Sehkraft –
„dependent on the power of the eye“168 –und der Fokussierfähigkeit des menschlichen Auges
– „dependent on the focus of the eye“ 169 – abhängig gemacht werden. Die Suche nach
‘truth’ in der bildenden Kunst macht Ruskin zur Hauptaufgabe seiner Abhandlung über die
modernen Maler: "I shall pay no regard whatsoever to what may be thought beautiful, or
sublime, or imaginative. I shall look only for truth; bare, clear, downright statement of facts;
showing in each particular, as far as I am able, what the truth of nature is and then seeking for
the plain expression of it, and for that alone."170 Für Ruskin versteht es der Maler erst
‘truthfull’ zu malen, wenn er diesen rezeptiven Zusammenhang mit ins Bild übernimmt.
‘Truthfullness’ ist eine entscheidende Fähigkeit des ‘modern painter’, sie bedeutet für 168
John Ruskin: Modern Painters. Vol. 1. In: The works of John Ruskin. Edited by E. T. Cook/
A. Wedderburn. Vol III. London: G. Allen 1903. S. 319ff. 169 Ebd. 170 Ebd. S. 138ff. 223
Ruskin nicht, die Gegenstände einem Naturalismus huldigend im Bild zu kopieren. In der
Einleitung seines Buches mit der Überschrift „Of general principles“ führt er aus, was ‘truth’
von ‘imitation’ unterscheidet und erklärt diese beiden Begriffe, die zur Grundlage seiner
ästhetischen Argumentation gehören. Imitation bedeutet für Ruskin die Wiedergabe der Natur
auf einem Bild mit Hilfe einer auf Täuschung zielenden Genauigkeit, die eine geschickte und
geübte Malfertigkeit voraussetzt. Der Gegenstand erscheint dreidimensional vor dem Auge
des Betrachters, obwohl er nur in zwei Dimensionen auf einem flachen Gegenstand gemalt ist.
Der Betrachter wird insofern getäuscht, als er versucht ist, nach dem Gegenstand zu greifen
und dabei feststellen muß, dass seine Hand etwas anderes fühlt als sein Auge ihm vermittelt.
Die Imitation gehört für Ruskin nicht zu der vorherrschenden Qualität in der Malerei,
wichtiger ist für ihn die Wiedergabe von Wahrheit im Bild. Wahrheit bedeutet für ihn das
Gegenteil der Imitation, da nicht die wirklichkeitsgetreue Repräsentation der Natur, sondern
die Wiedergabe einer wahren Idee im Bild Bedingung für „truthfullness“ ist. Nicht ein
Gegenstand ist Mittelpunkt des Bildes, sondern eine Idee. Die Repräsentation der Idee ist
nicht von den materiellen und handwerklichen Bedingungen der Imitation abhängig, sondern
von einem bildlichen Begriff, das über das Bild auf etwas anderes hinausweist. Für die
Darstellung einer Idee fordert Ruskin den Maler als „Man of Mind“, der sich über die
einfache Imitation eines Gegenstandes hinwegsetzt und das Ziel verfolgt, seine eigene
Anschauung deutlich zu machen und damit seinen eigenen Standpunkt zu vertreten171.
Während die Imitation die Sinne anspricht, richtet sich ‚truth‘ an den Geist, an die
Vorstellungskraft des Betrachters: "Imitation, therefore, appeals only to the senses; truth often
only to the mind."172 Die Darstellung der Idee geht über die äußerliche Wahrnehmung des
gemalten Gegenstandes hinaus und spricht nicht die sinnlichen und äußerlichen Reize des
Menschen an, sondern die innerlichen, die des Geistes. Die Betrachtung eines gemalten
Gegenstandes soll den Betrachter zu einer inneren Vorstellung von etwas führen. Diese
Unterscheidung ist sehr wichtig für das Verständnis von Ruskins Kunsttheorie und seines
Anspruches an den modernen Künstler. Sie manifestiert sich in der unterschiedlichen
Bedeutung der beiden englischen Wörter perception und conception: "But ideas of imitation,
of course, require the likeness of the object. They speak to the perceptive faculties only: truth
to the conceptive."173 Über die unterschiedliche Bedeutung dieser beiden Begriffe schreibt
Isaac Watts in seiner 171 Ebd. S. 89. 172 Ebd. S. 105. 173 Ebd. 224 Arbeit Logic, or the
Right Use of Reason in the Enquiry After Truth von 1725: „If I were to distinguish them, I
would say, perception is the consciousness of an object when present; conception is the
forming an idea of the object whether present or absent.“174 Wahrnehmung ist das deutsche
Wort für ‘Perception‘; ‘Conception‘ bedeutet hingegen die Vorstellung von etwas, also das
Begreifen einer Sache oder das Verstehen, ohne den direkten sinnlichen Reizen dieser Sache
ausgesetzt zu sein – wenn diese nicht von vorne herein ausgeschlossen sind, handelt es sich
um etwas Abstraktes. Die „conceptive faculties“ des Menschen, die im Bild angesprochen
werden sollen, bilden demnach für Ruskin den Ausgangspunkt für das Verstehen der
modernen Kunst, die mehr Gedanken und Ideen vermittelt, als den sinnlichen Eindruck einer
Sache: "But I say that the art is greatest which conveys to the mind of the spectator, by any
means whatsoever, the greatest number of the greatest ideas“175. Ein Gemälde, das durch die
schöne Abbildung eines Gegenstandes charakterisiert ist, besitzt nicht den selben Stellenwert,
wie ein Bild, das es versteht Gedanken zu vermitteln: „The picture which has the nobler and
more numerous ideas, however awkwardly expressed, is a greater and a better picture than
that which has the less noble and less numerous ideas, however beautifully expressed. No
weight, nor mass nor beauty of execution, can outweigh one grain or fragment of
thought."176 Für Ruskin ist es undenkbar, in der Malerei etwas Großartiges zu imitieren:
"[…] it is impossible to imitate anything really great."177 Als Beispiel führt er die Motive des
Regenbogens, des Ozeans und der Alpen an. Dennoch kann der Maler in einem Bild das
‚truthfull‘ ist, durch die Vermittlung einer Idee zu einer bildlichen Annäherung an diese
Gegenstände der ‘greatness’ finden. Hierzu ist es notwendig, auch Falsches (falsehood)
abzubilden178. Ein Maler muß bereit sein, Teile eines Bildes falsch zu malen und sich von
der Wahrheit (fact) zu lösen. Nur so kommt er auch zu einer richtigen Darstellung von
Gegenständen, die nicht imitiert werden können: „To paint mist rightly, space rightly, and
light rightly, it may be often necessary to paint nothing else rightly“179. Daraus folgt, dass
die Darstellung der ‚Idee‘ der Alpen, des Oze- 174 Isaac Watts: Logick, or the right use of
reason in the einquiry after truth. 1725. [Nachdruck Chiswick: Whittingham 1822.] S. 10.
Siehe auch Thomas Reids (1710-1796) Essays on the Intellectual Powers of Man (1785):
„Conception is often employed about objects that neither do, nor did, nor will exist.“ (Essays
on the Intellectual Powers of Man. Band IV. S. 368) Sowie Dugald Stewarts (1753-1828)
Elements of the Philosophy of the Human Mind. 3 Bände. (1792, 1814, and 1827): „By
Conception, I mean that power of the mind which enables it to form a notion of an absent
object of perception, or of a sensation which it has formerly felt.“ (Elements of the Philosophy
of the Human Mind. Band 3. S. 144.) 175 John Ruskin: Modern Painters. Vol I. S. 92. 176
Ebd. S. 91. 177 Ebd. S. 102. 178 Ebd. S. 139. 179 Ebd. S. 178. 225 ans oder des Nebels für
Ruskin ‚realistischer‘ ist als der Versuch, diese zu imitieren. Dies führt im Denken von
Ruskin zu der Bekräftigung der Vorstellungskraft als wichtigster Qualifikation des Künstlers.
Die Vorstellungskraft wird aber nicht eingesetzt, Unwirkliches darzustellen, sondern stellt für
Ruskin einen Aspekt der „truthfulness“ dar, einen Aspekt, der eine der Wirklichkeit
immanente Wahrheit zeigen kann. Damit gehört „truth“ zu einem zentralen Moment, das das
Poetische aus dem Leben und der Vielfalt der individuellen Eindrücke herausfiltern und eine
eigene in den Motiven bereits enthaltene Qualität herausstellt. Die entscheidende Rolle des
Künstlers besteht darin, sich mit seinem Kunstwerk dieser ursprünglichen Wahrheit der
Erscheinungen zu nähern und diese für Dritte sichtbar zu machen. Denn auch für Ruskin sind
die wahren Inhalte der Umwelt unsichtbar und werden erst durch einen wahrnehmenden und
reproduzierenden Geist erkennbar. In seinen eigenen Worten lautet Ruskins Kommentar
lapidar: „Men usually see little of what is before their eyes“180. Der Künstler setzt sich von
den gewöhnlichen Menschen durch seine Gabe ab, hinter den Erscheinungen die wahren
Dinge zu erkennen. Das Unwichtige bekommt in der Philosophie von Ruskin einen hohen
Stellenwert zugewiesen. Der Künstler muss nach Ruskin einzig dazu in der Lage sein, seinen
Gedanken einen genügend klaren Ausdruck zu verschaffen: "He who has learned what is
commonly considered the whole art of painting, that is, the art of representing any natural
object faithfully, has as yet only learned the language by which his thoughts are to be
expressed."181 Für Ruskin sind die Gedanken und die Sprache der entscheidende Teil des
Kunstwerkes, auch für den Maler. Er nennt den wahren Künstler „Man of Mind"182. Das
Gemälde muss ohne Worte einen Gedanken vermitteln können. Erst wenn dies erreicht ist, hat
der Maler seine Arbeit getan. Es spielt in den Augen von Ruskin keine Rolle ob dieser
Gedanke mit einem großformatigen Ölgemälde ausgedrückt wird, oder mit einer kleinen
Skizze. Entscheidend ist, dass die Mittel richtig eingesetzt werden, die der Maler gebraucht.
Für Ruskin steht der Maler William Turner der modernen Bewegung voran, weil er am
weitesten die Kriterien erfüllt, die Ruskin für die moderne Malerei aufstellt. Das enge geistige
Verhältnis, das beide miteinander verbindet, führt dazu, dass Ruskin seine Theorien an der
Malerei von Turner erst entwickeln kann. Turner erlaubt es Ruskin für seinen Theorien,
praktische Beispiele anzuführen, und er macht davon in seinen Ausführungen umfassenden
Gebrauch. Die Malerei von Turner hält für Ruskin genau die ‘Falschheit‘ und gegenläufige
180 Ebd. S. 89. 181 Ebd. S. 87. 182 Ebd. S. 89. 226 Sehgewohnheit bereit, die es ihm erlaubt,
eine Maltheorie für den ‘Man of Mind‘ zu entwickeln. Turners Gemälde geben in ihrer
unpräzisen Darstellung oft einen umso genauer gefassten Eindruck von Gegenständen wieder.
Dass Ruskin diesen Zusammenhang erkannte und sprachlich festhielt, machte ihn für seine
Zeitgenossen zum gefeierten Kunstkritiker. Denn die Ungenauigkeit und die ungefähre
Darstellung von Objekten stößt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch auf viel
Unverständnis. Das „skizzenhafte“183 der Kunst von Turner bringt viele Menschen gegen ihn
auf. Aber genau hierin liegen die Möglichkeiten einer ganzen Generation begründet, die in der
Wiedergabe der Erscheinung der Außenwelt ihre eigentliche Aufgabe findet und die
entstehenden ästhetischen Möglichkeiten für sich nutzt. Baudelaires Vorstellung vom
modernen Künstler: Le peintre de la vie moderne Baudelaire beschreibt in seiner 1859
erschienen Abhandlung Le peintre de la vie moderne die Kunst des Zeichners und Malers
Contatin Guys. Dessen Kunst übt auf Baudelaire eine große Faszination aus und gibt
wesentliche ästhetische Kriterien für das eigene Werk vor. Wenn es eine Übereinstimmung im
Denken von Baudelaire und Ruskin gibt, ist es ihre Überzeugung, dass die Vorstellungskraft
der wichtigste Bestandteil der modernen Kunst ist. Während Ruskin von den ‘conceptive
faculties’ spricht, die der Maler in seinem Bild ausdrücken soll, ist für Baudelaire der Begriff
der „art mnémonique“ ein Schlüssel zu seiner ästhetischen Denkweise. Diese bedeutet das
Malen der Bilder nach einem Motiv, das dem Künstler nicht direkt vor Augen steht, sondern
das er aus der Erinnerung nachbildet. Für Baudelaire gibt es einen Maler, der es versteht
mittels dieser Technik das moderne Leben in der Kunst darzustellen. Constantin Guys ist für
Baudelaire die Schlüsselfigur dieser Kunst, die es versteht aus der schnellen Bewegung des
Lebens einzelne Bilder herauszulösen und in skizzenartigen Zeichnungen festzuhalten. Guys
ist in erster Linie ein Zeichner, der die Begabung besitzt, Situationen und Menschen in
wenigen Strichen abbilden zu können. Dennoch enthalten seine Zeichnungen, obwohl oft in
fragmentarischem und unfertigen Zustand, die Atmosphäre und den tieferen Charakter einer
Situation oder Umgebung. Einige der Zeichnungen sind von ihm nachträglich mit
Wasserfarben kolloriert, aber der wesentliche Ausdruck spricht aus den Bleistiftstrichen.
Constatin Guys ist in vielen Aspekten die Musterfigur eines Künstler seiner Epoche. Sein
zeichnerisches Talent entwickelt er aus den aktuellen visuellen Bedürfnissen der Zeit und dem
183 Diesen Begriff verwendet der Brockhaus in seiner Ausgabe von 1886. Brockhaus:
Konservationslexikon Eintrag zu William Turner. Band 15. Leipzig: 1886. S. 925. 227
eigenen Weg durch verschiedene Länder Europas. Das Wesen seiner Kunst entspringt zu
einem beträchtlichen Teil seinem Lebenswandel. 1802 in den Niederlanden geboren, wo sein
Vater als französischer Beamter während der napoleonischen Okkupation arbeitet, wächst er
dort, später in Calais und ab 1815 in Paris auf184. Mit 19 Jahren beginnt Guys das Leben
eines reisenden Abenteurers zu führen, eines „Homme du monde“, wie Baudelaire es
nennt185, ohne festen Wohnsitz und ohne festen Arbeitsplatz, das er sein ganzes Leben lang
fortführt. Nach einem Streit mit seinem Vater geht er 1822 nach Griechenland um am
Unabhängigkeitskrieg teilzunehmen. Wahrscheinlich von Byron angezogen, kehrt er nach
Byrons Tod 1824 wieder nach Frankreich zurück, wo er in die Armee eintritt. Über die Zeit
zwischen 1830, dem Zeitpunkt des Austritts aus der Armee, und 1842 ist wenig bekannt. Er
reist in Frankreich, England, Spanien, und wahrscheinlich in Italien und in Deutschland
umher. 1842 gründet der Druckereiinhaber und Zeitungshändler Herbert Ingram in London
die Wochenzeitschrift The Illustrated London News. Die bereits bestehenden Zeitschriften,
die Ingram als Zeitungsverkäufer ausreichend lange studieren konnte, fügen Illustrationen
sporadisch zwischen den Artikeln ein. Ingram begreift, dass Authentizität, spektakulärer
Inhalt, und die Anzahl und die Größe der eingefügten Illustrationen entscheidend den Absatz
beeinflussen. In seiner neugegründeten Zeitschrift erhöht er den Anteil der Bilder beträchtlich
im Vergleich zum bisher Üblichen und hat damit großen Erfolg. Die erste Ausgabe erscheint
am 14. Mai 1842 mit einem Stich vom Brand in Hamburg. Diese Katastrophe ist keine 10
Tage her und Ingram kann mit allen Details die verheerende Zerstörung beschreiben. Die
Illustration ist symptomatisch für die Vorgehensweise der Zeitung und ihres Chefillustrators
John Gilbert. Das Bild zeigt nicht nur die Stadt in Flammen, sondern im Vordergrund auch
die zuschauenden, entsetzten Menschen am Ufer und in Booten, was die Vermittlung des
Schreckens an den Leser vereinfacht. Die Stadt erscheint im Hintergrund, unter einem
Flammenmeer begraben. Hamburg dient mehr als Kulisse, als das es wirklich
Hauptgegenstand der Abbildung ist. Dies erklärt sich auch daraus, dass niemand der
Illustratoren den Brand wirklich gesehen hat, sondern das Bild nach der mündlichen
Überlieferung des Geschehens in London gestochen wird. Um die Authentizität der Bilder in
der folgenden Zeit zu steigern, entwickelt die Zeitung 184 Zu Guys Biographie siehe: Pierre
Duflo: Constantin Guys. Fou de dessin, Grand reporter. 1802-1892. Paris: A. Seydoux 1988.
S. 38ff. und Karen W. Smith: Constantin Guys. Crimean War Drawings 1854-1856. Katalog
Ausstellung 18. Juli bis 20 August 1978. The Cleveland Museum of Art. 1978. 185 „M. G.
[…] est par nature, très voyageur et très cosmopolite. […] Lorsque enfin je le trouvai, je vis
tout d’abord que je n’avais pas affaire précisément à un artiste, mais plutôt à un homme du
monde.“ Charles Baudelaire: „Le Peintre de la vie moderne“. In: OEuvres complètes. Hrsg.:
C. Pichois. Bd. 2. Paris: Gallimard 1976. S. 689. 228 ihre eigene publizistische Methode. Die
Redaktion beginnt außer den fest angestellten Graphikern, die die Druckvorlagen in Form von
Holzstichen herstellen, Zeichner zu beschäftigen, die sich an den Ort des Geschehens begeben
und von dort Skizzen nach London übermitteln. Die Holzstecher in der Londoner Redaktion
benutzen diese Skizzen als Vorlagen für ihre Stiche, die dann nach den Anforderungen der
Redaktion ausgearbeitet werden. In dieser Funktion des reisenden Bildjournalisten wird
Constatin Guys 1843 bei der Illustrated London News angestellt. Guys setzt sein
vagabundierendes Dasein fort und bereist für die Zeitschrift Spanien, die Türkei und dann die
Krim, als dort der Konflikt zwischen Rußland und den Alliierten Mächten Frankreich und
England ausbricht. Es ist nicht bekannt, wie Guys genau arbeitet186, aber die Skizzen, die auf
der Krim entstehen, geben das Leben der Soldaten in Festungen, in Lagern und in Lazaretten,
und das Geschehen auf den Schlachtfeldern sehr ausführlich wieder. Zu den Skizzen gehören
die genauen Aufstellungen, die Belagerungssituation und Bewegungsabläufe auf den
Schlachtfeldern. In einer sehr detaillierten und unmittelbaren Weise ist aus den Skizzen sehr
viel von dem militärischen Geschehen auf der Krim zu erkennen. Die Zeichnungen sind mit
Kommentaren beschriftet, die Personen benennen oder weiter Beschreibungen und
Erklärungen an den Stellen geben, wo die Zeichnung nicht detailliert genug ist. Die
Unmittelbarkeit der Skizzen läßt vermuten, dass Guys die ersten Striche auf dem Schlachtfeld
oder im Lazarett selbst anfertigt, bevor er später an ihnen weiter arbeitet. Die Vollständigkeit
ist nicht das erste Gebot in Guys Arbeit, sondern die Konzentration auf ein zentrales Ereignis,
auf die eigentliche Handlung. Landschaften, Volksmengen und Städte, kurz alles, was zur
Umgebung einer Szene gehört, werden nur angedeutet. Detaillierter zeichnet er den
Mittelpunkt, das primäre Geschehen. Die Graphiker in London können später von seinen
Skizzen und Notizen ausgehen, um die Stiche anzufertigen, die publiziert werden und in
diesen das Ausgelassene ergänzen. In dieser Etappe werden die sekundären Elemente des
Bildes ausgearbeitet, die Guys nur angedeutet hat. Zum Teil wird in London mehrere
Zeichnungen zu einem Bild ausgearbeitet. Die Vorlage von Guys wird stets im Grundsatz
beibehalten. Baudelaire bespricht in Le peintre de la vie moderne Guys‘ Dokumentation des
Krimkrieges des Jahres 1855. Weiterer Schwerpunkt sind die Arbeiten von Guys der
folgenden Jahre, die in Paris entstehen. Baudelaire und Nadar beginnen Ende der 50er Jahre,
diese Zeichnungen zu sammeln. Die Zeichentechnik, die Guys für The Illustrated London
News entwickelt hat, prägen auch sein weiteres Schaffen. Ob Straßenszenen aus Istanbul oder
kolorierte Zeichnungen von 186 Pierre Duflo leitet in seiner Monographie nicht die exakte
Arbeitsweise von Guys her. 229 Abendgesellschaften der Pariser Bourgeoisie, alle tragen die
unverkennbaren Merkmale seiner skizzenhaften Zeichentechnik. Schnelle Ausführung,
Konzentration auf die wesentlichen Motive und eine Spontanität, die auch das
Ungewöhnliche festhält. Baudelaire begeistert sich für diesen Zeichenstil, der für ihn die
einzige angemessene Wiedergabe des modernen Lebens ist. Für ihn repräsentiert Guys eine
Ästhetik, die allein fähig ist, das Typische des modernen Lebens festzuhalten, welches die
Veränderlichkeit ist, weil sie selber die Schnelligkeit und Beweglichkeit enthält: „il y a dans
la vie triviale, dans la métamorphose journalière des choses extérieures, un mouvement rapide
qui commande à l’artiste une égale vélocité d’exécution.“187 Wie Ruskin sieht es Baudelaire
als vornehmliches Ziel des Malers an, den eigenen Eindruck, den er aus einer nur einen
Bruchteil einer Sekunde dauernden sinnlichen Begegnung mitnimmt, in dem Bild
auszudrücken. Für Baudelaire erhöht sich lediglich die Geschwindigkeit, mit der der Eindruck
festgehalten und wiedergegeben werden soll. Baudelaire versucht einer Ästhetik zu Ruhm zu
verhelfen, die trotz der Schnelligkeit des modernen Lebens einen augenblicklichen Eindruck
festzuhalten vermag, diesen fixiert und es versteht, diesen momentanen Eindruck in ein Bild
zu übersetzen. Baudelaire wendet Guys‘ bildliches Verfahren auch auf die Literatur an. Seine
Poesie verdankt der Kunst von Guys wesentliche Aspekte ihrer Methode. Der Eindruck wird
zum Ausgangspunkt des poetischen Textes gemacht. Das Poetische wird durch das Wesen der
Erscheinungswelt und den Umgang des Künstlers mit dieser Welt geprägt. Der Umgang mit
der Wirklichkeit geht auch in die Form und die Darstellungsmuster des Textes über. Der
Künstler wird dabei zum entscheidenden Vermittler der Außenwelt. In seiner Kritik zum
Salon von 1859 fordert Baudelaire die Kunst an dem auszurichten, das der Künstler oder der
Poet sehen und fühlen kann: „L’artiste, le vrai artiste, le vrai poète, ne doit peindre que selon
qu’il voit et qu’il sent.“188 Der sich dem Einzelnen bietende Eindruck wird zur
bestimmenden Größe für das künstlerische Schaffen und über das eigentliche Motiv gestellt.
Nur so lässt sich eine Realität darstellen. Würde der Künstler diese nicht berücksichtigen,
würde er nur ‚Lügen‘ wiedergeben. Der Augenblick, in dem sich eine Person etwas
wahrnimmt, soll als Erlebnis dieser Prägung dargestellt werden. Das Bild soll den Augenblick
des Betrachtens, den flüchtigen Blick in dem Motiv verankern und mit der Darstellungsweise
verschmelzen. In diesem Prozeß ist Guys besonders hervorzuheben, da er in seinen Skizzen
den ruhelosen Blick, das Aufnehmen einer Situation in einem kurzen Moment als 187
Baudelaire: „Le Peintre de la vie moderne“. S. 687. 188 Ebd. S. 620. 230 solchen inszeniert.
Es wird in seinen Skizzen deutlich, dass er nur einen kurzen Moment seine Motive betrachtet
hat, da sie sich in Bewegung oder in einer Transformation befinden. Die Bewegung und die
Transformation werden so zu einem zentralen Bestandteil der Abbildung. Das Fixieren der
Situation, der sich zufällig bietenden Konstellation von Figuren und Schauplatz gehört zu dem
außergewöhnlichen Gelingen seiner bildnerischen Bestrebungen. Für Baudelaire wird in
seinen Zeichnungen deshalb etwas erkennbar, das über das Dargestellte hinausgeht, eine
Verfassung des Malers, der sich für das Wahrnehmen der Bilder in einen unberührten
unschuldigen Zustand versetzt. Nach Baudelaire befindet sich Guys in einem ständigen
Zustand der Erkenntnis und der Aufnahme der Umwelt. Das Besondere, das die dargestellte
Wahrnehmung in den Bildern von Guys prägt, ist nach Ansicht von Baudelaire der
unverbrauchte Blick, der das Geschehen wie bei einer Erstbetrachtung darzustellen weiß. Der
von Guys geprägte Betrachter stellt sich in einen Rezeptionszusammenhang, in dem er sein
Erlebnis wiedergibt, als ob es zum ersten mal von ihm wahrgenommen werden würde.
Baudelaire macht den Vergleich mit einer genesenden Person, die sich nach einer Krankheit
erholt: „Supposez un artiste qui serait toujours, spirituellement, à l’état du convalescent, et
vous aurez la clef du caractère de M. G.“189 Wenn Baudelaire das Hauptmerkmal im
Charakter des Künstlers Guys darin sieht, dass dieser in der Position des Genesenden ist – in
einem auf den Geist übertragenem Sinne, dann hebt er nichts anderes hervor als den Prozeß
des geistigen Bewußtwerdens und dessen Schlüsselbedeutung für den Künstler190. Das Sehen
gehört demnach zu einem Entdecken, zu einer ersten, ursprünglichen Erfahrung mit einem
Gegenstand der Betrachtung. Eine Erfahrung, die auf ein unerfahrenes Bewußtsein mehr
Eindruck hat, als auf ein bereits durch viele Eindrücke an die visuelle Erfahrung gewöhntes
und gesättigtes Bewußtsein, eignet sich besser für die künstlerische Darbietung. Guys
verkörpert demnach eine Neugierde und Lust am Sehen, die stets die jugendliche Kraft
hervorhebt und die bereit ist, zu entdecken und neue und unbekannte Aspekte zu sammeln.
Hier knüpft Baudelaire an die Ausführungen von Ruskin und seiner Behauptung, „Men
usually see little of what is before their eyes“ an. Auch Charles Dickens in seinem Werk
Sketches by Boz. Illustration of every-day Life and every-day people Londoner Skizzen geht
er davon aus, dass das alltägliche Geschehen dem uninteressierten Blick nichts mitzuteilen
hat. Die Weg durch die Stadt London kann für den interessierten 189 Ebd. S. 690. 190
Ähnlich auch Walter Bejamin, der das Stadium des Erwachens als entscheidendes Moment
für die Abbildung der Stadt Paris ansieht. 231 Blick aber die Stadt erschließen. Dickens
nimmt Ruskins Postulat von der fehlenden Beobachtungsgabe des gewöhnlichen Menschen
wieder auf. Für Dickens sind die verschleiernden Momente des altäglichen Lebens in London
ein Umstand, gegen die er mit seinen Beobachtungen anschreiben will. Zu Beginn der
Londoner Skizzen erklärt er: „What inexhaustible food for speculation do the streets of
London afford! We never were able to agree with Sterne in pitying the man who could travel
from Dan to Beersheba, and say that all was barren; we have not the slightest commiseration
for the man who can take up his hat and stick, and walk from Covent Garden to St. Paul’s
Churchyard, and back into the bargain, without deriving some amusement – we had almost
said instruction – from his perambulation. And yet there are such beings: we meet them every
day. Large black stocks and light waistcoats, jet canes and discontented countenances, are the
characteristics of the race; other people brush quickly by you, steadily plodding on to
business, or cheerfully running after pleasure. These men linger listlessly past, looking as
happy and animated as a policeman on duty. Nothing seems to make an impression on their
minds; nothing short of being knocked down by a porter, or run over by a cab, will disturb
their equanimity.“191 Dickens übernimmt hier die Vorstellung von Diderot, dass das wahre
Geschehen einer Stadt auf der Straße stattfindet. Aber Dickens macht auch deutlich, dass die
Stadt ein neues Betrachtungsverhalten verlangt. Dass ein Betrachter nichtsahnend an den
Gegenständen vorbeigehen kann, die kleine Wunder bergen, liegt nicht an den Gegenständen
sondern am Betrachter selber. Eine ähnliche Meinung vertritt auch Honoré de Balzac in
seinem Werk Monographie du rentier: „Otez le Rentier, vous supprimez en quelque sorte
l'ombre dans le tableau social, la Physionomie de Paris y perd ses traits caractéristiques.
L'Observateur, cette variété de la Tribu des Gâte-Papier, ne verrait plus, défilant sur les
boulevards, ces curiosités humaines qui marchent sans mouvement, qui regardent sans voir,
qui se parlent à elles-mêmes en remuant leurs lèvres sans qu'ils se produisent [sic] de son, qui
sont trois minutes à ouvrir et à fermer l'opercule de leur tabatière, et dont les profils bizarres
justifient les délicieuses extravagances des Callot, des Monnier, des Hoffmann, des Gavarni,
des Grandville.“192 Guys öffnet Baudelaires Meinung nach für die Kunst die moderne
Sehweise, die für das urbane Leben angemessen ist. Guys ist ein Künstler, der durch seinen
vagabundierenden Lebensstil, durch das häufige Eintauchen in die Menge der Menschen,
durch die Vertrautheit mit der Bewegung und dem Flüchtigen einen Prozeß des
darstellerischen Erkennens durchlaufen 191 Charles Dickens: Sketches by Boz. Illustration of
every-day Life and every-day people. Oxford: Oxford University Press 1957. S. 59. 192
Honoré de Balzac: Les Français peints par eux-mêmes. Monographie du rentier. In:. OEuvres
complètes. Hrsg.: Jean A. Ducourneau. Band 26. Paris: Delta 1976. S. 163. 232 ist. Ständig
im Bestreben Neues zu betrachten, ständig auf der Suche nach dem, was Baudelaire ‚la
modernité‘ nennt, stellt sich Guys gegen die Blindheit des überwiegenden Teils der
Stadtbevölkerung. „Pour le plupart d’entre nous, surtout pour les gens d’affaires, aux yeux de
qui la nature n’existe pas, si ce n’est dans ses rapports d’utilité avec leurs affaires, le
fantastique réel de la vie est singulièrement émoussé. M. G. l’absorbe sans cesse; il en a la
mémoire et les yeux pleins.“193 Der ‘convalescent’, der Genesende, wird sich in seiner
Sammelleidenschaft der Außergewöhnlichkeit seiner Fundstücke bewußt und beginnt,
verstärkt nach diesen zu greifen. Alles was in seinem Gedächtnis hängen bleibt, stellt bereits
etwas Besonderes dar. Die Kunst aus der Erinnerung, von Baudelaire „l’art mnémonique“
genannt, stellt Bilder zur Verfügung, so wie sie sich dem Künstler als Eindruck darstellen.
Der Künstler gibt sein Wahrnehmungsverhalten und die Spontanität der Betrachtungssituation
im Bild wieder. Der Rezeptionszusammenhang, in dem sich der Künstler befunden hat, wird
dadurch auf das Kunstwerk übertragen. Die Stadt bekommt an dieser Stelle die entscheidende
Bedeutung als Ursache für das Entstehen einer neuen Ästhetik. Der Gegenstand der
Beschreibung gibt die formalen Parameter vor, nach denen die Abbildung vollzogen wird. Die
urbane Lebensform überträgt sich in künstlerische Kategorien. Der Künstler besitzt nach
Baudelaires Meinung diese Aufgabe, diese Übertragung zu gestalten. Er steht zwischen dem
Gegenstand der Beschreibung und dem Abbild und vermittelt dem Betrachter des
Kunstwerkes seinen eigenen Eindruck. Für Baudelaire kommt es dadurch zu einer zweifachen
Übertragung der Wirklichkeit: „l’imagination du spectateur, subissant à son tour cette
mnémonique si despotique, voit avec netteté l’impression produite par les choses sur l’esprit
de M. G. Le spectateur est ici le traducteur d’une traduction toujours claire et enivrante.“194
Der Künstler muss sich mit seinem ganzen Körper und seiner ganzen Seele den Eindrücken
aussetzen, damit sich die Übertragung in ein realistisches Bild verwandelt. Die Stadt verlangt
vom Künstler ein besonders hohes Maß an Aufmerksamkeit. Der ‚romantische Künstler‘ kann
aber gar nicht anders, als sich den in der Stadt hervorgerufenen Eindrücken auszusetzen: „[…]
nous retrouvons ces paysages familiers et intimes qui font la parure circulaire d’une grande
ville, et où la lumière jette des effets qu’un artiste vraiment romantique ne peut pas
dédaigner.“195 Die städtische Landschaft enthält die Reize, die sich in der neuen Kunst der
Romantik besonders gut zu Bilden verwerten lassen. Das urbane Ge- 193 Baudelaire: „Peintre
de la vie moderne“. S. 697. 194 Ebd. S. 698. 195 Ebd. S. 723. 233 schehen versetzt den
Künstler in die Lage, sich denjenigen Motiven zu widmen, die ihn dem Ziel einer modernen
Kunst näher bringen. Für Baudelaire stellt aus diesem Grund Guys die auf den Straßen von
Paris verkehrenden Wagen besonders authentisch dar. Guys versteht es nicht nur detailgetreu
die einzelnen Modelle abzubilden, sondern auch ihre Bewegung auf den Straßen und ihre
Geschwindigkeit als wesentliches Merkmal ihrer Erscheinungen in der städtischen Welt mit
abzubilden: „Un autre mérite qu’il n’est pas inutile d’observer en ce lieu, c’est la
connaissance remarquable du harnais et de la carrosserie. M. G. dessine et peint une voiture,
et toutes les espèces de voitures, avec le même soin et la même aisance qu’un peintre de
marines consommé tous les genres de navires. Toute sa carrosserie est parfaitement
orthodoxe; chaque partie est à sa place et rien n’est à reprendre. Dans quelque attitude qu’elle
soit jetée, avec quelque allure qu’elle soit lancée, une voiture, comme un vaisseau, emprunte
au mouvement une grâce mystérieuse et complexe très difficile à sténographier. Le plaisir que
l’oeil de l’artiste en reçoit est tiré, ce semble, de la série de figures géométriques que cet objet,
déjà si compliqué, navire ou carrosse, engendre successivement et rapidement dans
l’espace.“196 Mit der Darstellung der Wagen und Fuhrwerke entwirft Guys in Baudelaires
Augen einen zentralen Aspekt seiner Ästhetik. Denn die Skizze ermöglicht es, den
momentanen Eindruck festzuhalten. Die Gegenstände, die vorübereilen und rasch hinter der
nächsten Ecke verschwinden, werden so zu den bevorzugten Objekten der Betrachtung und
Darstellung. Guys versucht gerade in diesen Gegenständen die Flüchtigkeit bildlich
festzuhalten. Hierin besteht für Baudelaire der eigentliche Grund für die moderne Kunst, in
der Stadt nach ihren Darstellungsobjekten zu suchen. „Il a cherché partout la beauté
passagère, fugace, de la vie présente, le caractère de ce que le lecteur nous a permis d’appeler
la modernité. Souvent bizarre, violent, excessif, mais toujours poétique, il a su concentrer
dans ses dessins la saveur amère ou capiteuse du vin de la Vie.“197 Seele und Leib werden
die zentralen Aufzeicheninstrumente des modernen Künstlers. Es beginnt die Suche nach dem
unmittelbaren Eindruck der Außenwelt auf Körper und Seele und der Künstler wird in ein
Spannungsverhältnis zwischen Außenwelt und Innenwelt versetzt. Die Menschenmenge bildet
das eigentliche Arbeitsgebiet für den modernen Künstler: „La foule est son domaine, comme
l’air est celui de l’oiseau, comme l’eau celui du poisson. Sa passion et sa profession, c’est
d’épouser la foule. Pour le parfait flâneur, pour l’observateur passionné, c’est une immense
jouissance que d’élire domicile dans le nombre, dans l’ondoyant, 196 Ebd. S. 723f. 197 Ebd.
S. 724. 234 dans le mouvement, dans le fugitif et l’infini.“198 Die Veränderlichkeit und die
Flüchtigkeit bilden die Voraussetzung für Guys‘ Kunst. Bereits in seiner Kunstkritik Salon de
1846 beschreibt Baudelaire das Moderne an der Kunst als dasjenige, das ‚gefühlt‘ wird: „Le
romantisme n’est précisément ni dans le choix des sujets ni dans la vérité exacte, mais dans la
manière de sentir. Ils l’ont cherché en dehors, et c’est en dedans qu’il était seulement possible
de le trouver. Pour moi, le romantisme est l’expression la plus récente, la plus actuelle du
beau.“199 Die Innenwelt wird mit der selben Berechtigung der Außenwelt gegenübergestellt.
Die Moderne zeichnet sich für Baudelaire in seiner Besprechung des Salon de 1846 durch das
spirituelle Streben nach dem Unendlichen aus. „Qui dit romantisme dit art moderne, – c’est-àdire intimité, spiritualité, couleur, aspiration vers l’infini, exprimées par tous les moyens que
contiennent les arts.“200 Die Kunst soll die Verwirklichung dieser geistigen Welt
ermöglichen. Auch in seiner Abhandlung Le peintre de la vie moderne sieht Baudelaire die
spirituelle Seite, die die Kunst von Guys vermittelt: „Il cherche ce quelque chose qu’on nous
permettra d’appeler la modernité; car il ne se présente pas de meilleur mot pour exprimer
l’idée en question. Il s’agit, pour lui, de dégager de la mode ce qu’elle peut contenir de
poétique dans l’historique, de tirer l’éternel du transitoire.“ 201 Das Darstellen der
Flüchtigkeit und des Vergehens öffnet den Zugang zu einer Welt der Poesie und der geistigen
Entfaltung. Der Künstler muss sich mit den jenseitigen Elementen des Lebens
auseinandersetzen, um an die realistischen Abbilder der Welt zu gelangen. Ruskin und
Baudelaire stellen ähnliche Forderungen an die Kunst ihrer Zeit. Sie betrachten beide den
Maler als eine Person mit persönlichen Erfahrungen und entwickeln ihre Kritik und ihr
Denken nicht so sehr aus den Bildern heraus, sondern beziehen das Bewußtsein des Malers
mit in ihr Urteil ein. Die Denk- und Lebensweise, die Umstände der Entstehung von Kunst,
die Bedingungen und die Situation, in der ein Bild entsteht, werden als ausschlaggebend für
das Werk selber angesehen. Sie verfolgen diese Spuren der Entstehung in den Bildern.
Dadurch wird die Kunst mehr und mehr als die Einheit eines Prozesses von der Kreation bis
zum abgeschlossenen Werk verstanden und analysiert. Diese Öffnung des Bildes in eine
weitere Dimension erklärt das Interesse an dem Maler selber, an seiner Produktionsweise und
an seinem Standpunkt gegenüber dem Motiv. Nicht nur das Motiv selber, sondern auch die
Beziehung des Malers zu diesem Motiv rückt in den Mittelpunkt des Kunstwerkes. Bau- 198
Ebd. S. 691. 199 Charles Baudelaire: Salon de 1846. In: OEuvres complètes. Hrsg.: C.
Pichois. Bd. 2. Paris: Gallimard 1976. S. 420. 200 Ebd. S. 421. 201 Ebd. S. 694. 235 delaire
und Ruskin gehen nicht mehr von einer akademischen Vorstellung aus, die den Maler direkt
gegenüber dem Gegenstand plaziert, den er malt, sondern beschreiben weitere Möglichkeiten
der Produktion. Die Auflösung der strengen mimetischen Arbeitsweise führt zu einer neuen
Konstante für die Malerei, der Malerei aus der Vorstellung. Mehrere Gründe führen nach
Ruskin und Baudelaire zu dem Ende der traditionell abbildenden Kunst. Zum einen verändert
sich der grundlegende Charakter der Gegenstände, die abgebildet werden. In der Kunst
erwächst ein Interesse, gerade das Vergängliche, Zufällige und Flüchtige des Lebens in seiner
ganzen Bewegung festzuhalten und den Stil der Malerei danach auszurichten. Für Baudelaire
besteht die Modernität aus der Essenz dieser drei Begriffe: „le transitoire“, „le fugitif“ und „le
contingent“ – das Vorüberziehende, das Flüchtige, das Zufällige. Zum anderen zerfällt die
einheitliche Vorstellung von Realität. Das Individuum nimmt in seiner Wahrnehmung eine
Selektion vor, die zu einer Interpretation der Wirklichkeit führt. Damit kann die Literatur die
Wirklichkeitstreue einer Abbildung nicht mehr behaupten, oder anders ausgedrückt: die
Literatur kann in der von ihr gezeigten Welt nicht mehrere Gesichtspunkte vertreten, d. h. der
Anspruch ist verloren gegangen, aus der Erfahrung eines jeden sprechen zu wollen. John
Ruskin und Charles Baudelaire verwenden beide das Wort ‘modern’, um Qualitäten
zeitgenössischer Malerei zu besprechen und die Maler hervorzuheben, die ihrer Meinung nach
etwas Neues und für ihre Zeit Charakteristisches abbilden. Beide drücken in Bezug auf diesen
Begriff ihre Präferenz unter den gegenwärtigen Künstlern aus. Für Ruskin verkörpert
vornehmlich der Maler William Turner die moderne Kunst und für Baudelaire steht Constatin
Guys an erster Stelle der Maler, die es verstehen, das moderne Leben in Bilder zu übersetzen.
Ruskin und Baudelaire sind beide in ihrer Zeit hervorstechende Beobachter der Kunst und sie
dokumentieren beide auf ihre Art den Stil der Malerei jenseits der zeitgenössischen
Kategorien von Romantik und Realismus. In diesem Zusammenhang soll die Frage gestellt
werden, welche Aufgaben sie dem Maler in der visuellen Übersetzung der Umwelt in ein
Kunstwerk zuschreiben. Ihre Ästhetik geht nicht so sehr von den technischen Bedingungen
der Malerei selber aus, die auf den traditionellen Regeln einer akademischen Ausbildung
beruhend die Arbeit an der Leinwand in den Mittelpunkt der Untersuchungen stellen, sondern
beziehen darüber hinaus – die Grenzen des Kunstwerkes überschreitend – den gesamten Malund Repräsentationszusammenhang mit ein. Das bedeutet, der Maler wird in noch
unbekannten Maße in seiner umfassenden Situation untersucht, die seine Umwelt, sein Werk
und ihn selber in dem artistischen Zusammenspiel 236 dieser drei Elemente betrachtet.
Besonders die Person des Malers und seine Ausgangssituation, die den Zusammenhang von
Rezeption und Reproduktion deutlich macht, wird dadurch in den Mittelpunkt gerückt und
weniger das Bild, das die Wirkung zeigt. Der Rezeptionszusammenhang, der den
Ausgangspunkt für das Bild darstellt, wird als wichtiger Bestandteil der Malerei in der
Analyse berücksichtigt und die Spuren dieses Rezeptionszusammenhanges werden in den
Gemälden gesucht und zu den eigentlichen modernen Elementen der Kunst erklärt. Die
Moderne wird auch von Karlheinz Stierle unter diesem Aspekt gesehen. Er sieht die
Bewußtwerdung des Betrachterstandortes im künstlerischen Schaffensprozeß verankert und
zur Anschauung gebracht: "Das Werk, in dem die Moderne zur Darstellung kommen soll,
setzt die Zusammenstimmung dreier Momente voraus: des Gegenstands der Wahrnehmung,
der Weise der Wahrnehmung und der Reproduktion der Wahrnehmung im Medium der
Kunst."202 Die geistige Aufnahme und Verarbeitung der urbanen Erscheinungen ist
Ausgangspunkt für die ästhetische Konstruktion. Für Baudelaire, wie er in seinem Essay „De
l'essence du rire“ schreibt, hat das Lachen die Aufgabe der Befreiung und der Verarbeitung
des durch die Erscheinung ausgelösten Schocks. Im Lachen befreit sich das betrachetende
Subjekt von der ihn befallenen Schock-Erfahrung. Auslöser des Lachens sind das Komische
und das Pathetische, als zwei Erscheinungsweisen, die sich in ihrer Vermengung nicht
unbedingt auflösen lassen müssen. In Baudelaires "Tableaux parisiens" sieht Stierle gerade in
der "Ambiguität des Pathetischen und des Lächerlichen" – genauer in der "Bindung des
Lächerlichen durch das Pathetische" 203 – die Möglichkeiten der Befreiung von dem Schock
der Erscheinung. Als Instanz der Verarbeitung sieht Stierle eine "Einheit von
Vergegenwärtigung, Emotion und Reflexion, die dem Ingenium des melancholischen
Subjekts entspringt."204 Wichtig für die ästhetische Perspektive der Gedichte ist Baudelaires
Gestaltung und Festhalten der Einheit, ohne die sich weder das Komische noch der Schock
darstellen lassen würde. Denn die Gegenstände der Erscheinungswelt sind nicht in sich
komisch, sondern erst das betrachtende Bewußtsein entwickelt die Komik: "Le comique, la
puissance du rire est dans le rieur et nullement dans l'objet du rire."205 So weist Baudelaire
selber auf den entscheidenden Wechsel hin. Das Gewicht in der Betrachtung wandert von
dem betrachteten Objekt hin zum Betrachter. In ihm konzentriert sich die ganze
Aufmerksamkeit des gestalteten Betrachtungsvorgangs. 202 Stierle: „Baudelaires ‚Tableux
Parisiens‘ und die Tradition des ‚Tableau de Paris‘.“ S. 302. 203 Ebd. S. 315. 204 Ebd. 205
Ebd. 237 Für Baudelaire kommt vor der Schockabwehr das Duell zwischen Künstler und
Gegenstand der Betrachtung. Walter Benjamin bezeichnet dies als den eigentlichen Auslöser
des Schocks und als Grundlage des künstlerischen Schaffens: „Diesen Befund hat Baudelaire
in einem grellen Bild festgehalten. Er spricht von einem Duell, in dem der Künstler, ehe er
besiegt wird, vor Schrecken aufschreit. Dieses Duell ist der Vorgang des Schaffens selbst.
Baudelaire hat also die Schockerfahrung ins Herz seiner artistischen Arbeit
hineingestellt.“206 Benjamin verweist auf das Prosagedicht Le confiteor de l’artiste von
Baudelaire, in dem die Auseinandersetzung gestaltet ist. Dabei ist das Studium des Schönen
ein Duell, bei dem der Künstler vor Entsetzen aufschreit, ehe er besiegt wird. Baudelaire
äussert sich in seinen „Journaux intimes“ folgendermaßen: „Qu’est-ce que les périls de la
forêt et de la prairie auprès des Schocks et des conflits quotidiens de la civilisation?“207
Demnach wäre die Stadt als Auslöserin des Schocks zu betrachten. Andrea Gnam meldet aber
Zweifel an, was die Verwendung und Übersetzung des choc-Begriffs durch Benjamin
anbelangt208. Für diese Untersuchung ist es wichtig zu zeigen, dass die Überwindung der
‘zivilisatorischen Gefahren’, wie Baudelaire sie nennt, zu der zentralen Herausforderung des
Künstlers wird. Die poetische Eroberung schließt die Auseinandersetzung des Künstlers mit
seinem Abbildungsgegenstand, so wie Baudelaire es im Duell ausgedrückt hat, mit ein. Die
Widerspenstigkeit des Beschriebenen wird schon bei Mercier gesehen. In der Fortsetzung
wird sie aber zum zentralen Anknüpfungspunkt für die Auseinandersetzung des Künstlers mit
seinem Gegenstand. Stierle zeigt, wie der Übergang von den traditionellen Form des tableau
zu den Gedichten der „Tableaux parisiens“ die Entstehung eines erkennenden und
reflektierenden Bewußtseins entwickelt, das die Objekte, die es in der Stadt findet, in eine
poetische Beziehung zu sich selber setzt. Poetisch in dem Sinne, das sich der Aufbau der
lyrischen Bilder nicht an den Gegenständen orientiert, sondern von der betrachtenden Stimme
abhängig gemacht wird. Die Struktur der „Tableaux parisiens“, ihre innere Logik, ist frei von
dem Zwang zur Darbietung objektbezogener Bilder und dehnt sich in neue Räume aus, die der
ästhetischen Überlegung zum Vorgang des Betrachtens Platz bietet. 206 Walter Benjamin:
Gesammelte Schriften. Band 1. Abt. 2. Frankfurt/M: Suhrkamp 1982ff. S. 615ff. 207 Zitiert
nach Benjamin. Ebd. S. 541ff. 208 Andrea Gnam untersucht die Verwendung des chocBegriffs durch Walter Benjamin. Siehe Andrea Gnam: Die Bewältigung der Geschwindigkeit,
dargestellt an Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ und Walter Benjamins
Spätwerk. 1998. Siehe ebenfalls die Untersuchung des choc- Begriffs bei Karin Westerwelle:
Ästhetisches Interesse und nervöse Krankheit. Balzac, Baudelaire, Flaubert. Stuttgart: Metzler
1993. S. 329ff. Und Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur
Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt: 1977. 238 Auf diesem
Weg lässt sich ein Zusammenhang zwischen den "gegebenen historischen Erfahrungen" und
den "gegebenen historischen Möglichkeiten poetischer Artikulation"209 herstellen und
dadurch das Neue und Spezifische der tradierten Form am deutlichsten zeigen. In der
Absetzung von bestehenden Mustern poetischer Ausdrucksweise erwächst die neue Struktur,
die sich ihrer Ablösung bewußt ist, den Ablösungsprozeß reflektiert und so für die
Ausbildung ihrer eigenen Merkmale nutzt. Auf diese Weise bleibt das Bewußtsein um die
innere poetische Mechanik der Vermittlung der 'gegebenen historischen Erfahrungen' erhalten
und spiegelt sich in der Form wider. Der Künstler stellt sich in den Mittelpunkt dieser
Entwicklung. Er eignet sich in besonderem Maße, den Prozeß Modernisierung und der
Öffnung des Betrachterbewußtseins zu verkörpern. Stierle macht darauf aufmerksam, wie sich
beim Dichter die verschiedenen Sphären, die vorher getrennt oder noch nicht in den
Vordergrund gerückt waren, miteinander zusammenhängen: "Der Dichter als flâneur
durchwandert die Stadt, wie er die Sprache durchwandert, und er durchwandert sein Ich, wie
er Sprache und Stadt durchwandert. Sprache, Stadt und eigenes Ich sind metaphorisch
ineinander überführbar." 210 Der bei Mercier geborene flâneur bekommt in den Augen der
Forschung immer mehr die Züge des modernen Künstlers. Eckhardt Köhn macht auf die
besondere Funktion des Flaneurs aufmerksam, der im Endpunkt seiner Entwicklung ein
Künstler werden muss: "Hatte Baudelaire in seinem Aufsatz über Guys erklärt, der Künstler
der Moderne müsse notwendigerweise Flaneur sein, so erscheint der Flaneur als darstellendes
Ich der poèmes en prose immer auch als Künstler. Er vermag seine großstädtische Existenz
nicht mehr als allgemein menschliche, sondern nur noch in ihrer Besonderheit als die eines
Künstlers zu begreifen."211 So steht bei Baudelaire am Ende der Entwicklung des flâneurs
der moderne Künstler, der den flâneur als Vorstufe seiner selbst erscheinen läßt: "Das Leiden
des Menschen korrespondiert mit dem Glück des Künstlers, die Kunst allein macht das Leben
erträglich: »Malheureux peut-être l'homme, mais heureux l'artiste que le désir déchire!«"212
Die Festlegung des Künstlers auf die Stadt sieht Köhn in Baudelaires Werk als eine
grundlegende ästhetische Bedingung an: "Die Identität des imaginierenden und
reflektierenden Ichs als die eines künstlerischen Subjekts verbindet sich unlösbar mit dem
Selbstverständnis, existentiell auf die Großstadt verwiesen zu sein."213 Auf diese Weise sieht
Köhn in dem Wandel von Merciers tableau zu 209 Stierle: „Baudelaires ‚Tableux Parisiens‘
und die Tradition des ‚Tableau de Paris‘.“ S. 316. 210 Ebd. S. 320ff. 211 Eckhardt Köhn:
Straßenrausch. S. 70. 212 Ebd. 213 Ebd. S. 71. 239 Baudelaires Werk den entscheidenden
Schritt hin zu einer Kunst, die das empfindende Subjekt zum Mittelpunkt der
Stadtbetrachtung macht und nicht die Betrachtung und Abbildung einer anonymen Stimme
überlassen will. Die Aufgabe des Künstlers entwickelt sich in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts immer mehr in Richtung einer Instanz, die sich gegenüber der Masse der
Menschen und der anonymen Allgemeingültigkeit behaupten muss. Der Künstler entspricht
gerade an den Orten seiner neuen Rolle, wo eine große Menge an Menschen
zusammenkommen. Sein Kampf gegen die Gleichgültigkeit und Stagnation werden zu den
hervortretenden Eigenschaften. Er setzt sich mit seiner individuellen Stimme von der
Massenkultur und der technisierten Nützlichkeitsdenken ab. Die Konfrontation mit der Stadt
bedeutet aus diesem Grund eine besondere Herausforderung für den Künstler, die er mit
unterschiedlichen ästhetischen Mitteln zu bewältigen versucht. Sein Einsatz erfordert aber
seine ganze Person und dies wird von Ruskin und Baudelaire in ihren Traktaten deutlich
gemacht. Erst die vollständige Begegnung von Künstler und Umwelt, die Öffnung seines
Bewusstseins machen die Darstellung der Stadt glaubwürdig. IV – DIE STADTFLUCHT
„Adieu donc Paris, ville célèbre, ville de bruit, de fumée et de boüe, où les femmes ne croient
plus à l’honneur ni les hommes à la vertu.“ Rousseau: Emile. 1. Die klassische Stadtflucht:
Der Künstler auf der Suche nach Melancholie und Einsamkeit Die eingeschränkte
künstlerische Bewegungsfreiheit in der Stadt, die in den bisherigen Kapiteln beschrieben
wurde, führt zu einer Sehnsucht nach einem Ort der ungehemmten Kunstentfaltung. Der
Künstler sieht sich in der Stadt dergestalt eingeengt, dass eine angemessene Ausübung seiner
Kunst nicht möglich ist. Erst die Befreiung aus den Zwängen der urbanen
Lebensgewohnheiten ermöglichen die freie und unbehinderte Kunstschöpfung. Dieser bereits
in der Antike herrschende Glaube lebt in der Renaissance wieder auf, setzt sich im 18.
Jahrhundert fort und bekommt zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Romantik neuen
Auftrieb. Die Sehnsucht nach unbehinderter künstlerischer Betätigung verbindet sich mit der
Sehnsucht nach einem Ort fern der dichtgedrängten, gesellschaftlich geordneten urbanen
Welt. Die Darstellung der Lebenswelt in der freien Natur – im weiteren Sinne des klassischen
locus amoenus – nimmt deshalb in der hier untersuchten Epoche einen breiten Raum ein. Der
Gegensatz von Stadt und Land, der sich als Motiv durch die bukolische Dichtung zieht, hebt
immer wieder die Freiheiten der Lebensweise in der arkadischen Landschaft hervor. Diese
Freiheiten allgemeiner Lebensweise, die fern der Schwierigkeiten einer zivilen Gesellschaft
gegeben sind, beinhalten als wesentlichen Bestandteil immer auch die freie Kunstausübung.
Die pastorale Lebensweise in der Natur ist seit dem Beginn ihrer Beschreibung ein besonders
beliebter Ort unter den Künstlern und deswegen für diese Untersuchung von Bedeutung. Die
Verbindung von freier Natur und unbeschwerter künstlerischer Betätigung macht in der Zeit
um 1840 kein anderer so deutlich wie Alfred de Vigny in seinem Gedicht La Maison 241 du
berger. De Vigny veröffentlicht dieses zeittypische Werk im Juli 1844 in der Revue des Deux
Mondes. In diesem Gedicht sucht das Ich die von ihm angebetete Eva davon zu überzeugen,
zusammen aus der Enge ihres gegenwärtigen Lebens auszubrechen und in der freien Natur ein
neues Leben anzufangen. Vigny führt die verschiedenen Lebensbereiche der beiden im Laufe
der Geschichte auf einander zu, bis sie sich am Ende des Poems in einer Vision zu einer
Einheit von Kunst, Leben und Freiheit verbinden. Das Gedicht beginnt mit der Klage über die
Kälte und die Teilnahmslosigkeit der Umwelt, in der sie leben. Von Beginn an steht dieser
menschlichen Einöde die ungeheure Leidenschaft Evas entgegen. Die Flucht soll genauso der
eigenen, wie der Rettung der Geliebten dienen. Das Gedicht beginnt mit folgenden Versen,
die den Weltschmerz des Protagonisten ausdrücken: Si ton coeur, gémissant du poids de notre
vie, Se traîne et se débat comme un aigle blessé, Portant comme le mien, sur son aile asservie,
Tout un monde fatal, écrasant et glacé; S’il ne bat qu’en saignant par sa plaie immortelle, S’il
ne voit plus l’amour, son étoile fidèle, Eclairer pour lui seul l’horizon effacé; Si ton âme
enchaînée, ainsi que l’est mon âme, Lasse de son boulet et de son pain amer, Sur sa galère en
deuil laisse tomber la rame, Penche sa tête pâle et pleure sur la mer, Et, cherchant dans les
flots une route inconnue, Y voit, en frissonnant, sur son épaule nue, La lettre sociale écrite
avec le fer; Si ton corps, frémissant des passions secrètes, S’indigne des regards, timide et
palpitant; S’il cherche à sa beauté de profondes retraites Pour la mieux dérober au profane
insultant; Si ta lèvre se sèche au poison des mensonges, Si ton beau front rougit de passer
dans les songes D’un impur inconnu qui te voit et t’entend, Pars courageusement, laisse toutes
les villes; Ne ternis plus tes pieds aux poudres du chemin, Du haut de nos pensers vois les
cités serviles Comme les rocs fatals de l’esclavage humain. Les grands bois et les champs sont
des vastes asiles, Libres comme la mer autour des sombres îles. Marche à travers les champs
une fleur à la main. La Nature t’attend dans un silence austère; L’herbe élève à tes pieds son
nuage des soirs, Et le soupir d’adieu du soleil à la terre Balance les beaux lis comme des
encensoirs. 242 La forêt a voilé ses colonnes profondes, La montagne se cache, et sur les
pâles ondes Le saule a suspendu ses chastes reposoirs.1 Eva kann der Kälte und der
Beliebigkeit der Welt entkommen, wenn sie sich in die Natur zurückzieht. Nur hier kann sie
sich und ihre Leidenschaften retten. In der Zurückgezogenheit der friedlichen Natur kann sie
sich ihren geheimen Wünschen widmen, ohne Nachstellungen ausgesetzt zu sein. Das Ich
richtet die eindringliche Aufforderung an Eva, mutig zu sein, die Gesellschaft und damit alle
Städte zu verlassen („Pars courageusement, laisse toutes les villes“). Diese Aufforderung
richtet das Ich aber gleichzeitig an sich selbst. Das menschliche Unglück, das Eva hier
empfindet, ist im gleichen Maße das Leiden der poetischen Stimme. Eva, selber eine ideale
Wunschvorstellung des Ich, wird zur Projektionsfläche für die Gefühle und das Befinden des
im poetischen Zentrum stehenden Ich. Die gemeinsame Flucht in die Einsamkeit ist der
Ausgangspunkt für die Suche des Ich nach den eigentlichen Wertgegenständen der
Menschheit, und diese offenbaren sich auf der gemeinsamen Reise. Denn das Haus des
Schäfers steht nicht in der Natur, sondern ist ein rollender Wohnwagen, in den das Ich
gemeinsam mit Eva einziehen will. Gemeinsam will er mit ihr ein Zigeunerleben führen und
durch die Welt ziehen. Jenseits der gewöhnlichen Wege wollen sie neue technische
Verkehrsmittel meiden, die die Welt immer kleiner und die Reise immer langweiliger werden
lassen. Die Eisenbahn, so das Ich, lässt alle auf einer festgelegten Bahn an ihr Ziel gelangen,
ohne den Reisenden die Möglichkeit einer genaueren Betrachtung von vorbeiziehenden
Gegenständen zu geben. Das Ich will sich am Wegesrand in den Anblick der Dinge vertiefen
können, denn jedes Objekt verlangt für seine Wahrnehmung längere Zeit („Car il faut que ses
yeux sur chaque objet visible/Versent un long regard“2). Der zweite Teil des Gedichtes
beginnt mit den Versen: Poésie ! ô trésor! perle de la pensée! Les tumultes du coeur, comme
ceux de la mer, Ne sauraient empêcher ta robe nuancée D’amasser les couleurs qui doivent te
former.3 Hier wird die eigentliche Bedeutung der Flucht aus der Welt und aus der Stadt
ersichtlich. 1 Alfred de Vigny: „La Maison du berger“. In: Les destinées. Poèmes
philosophiques. Paris : Michel Lévry frères, Librairie nouvelle 1864. S. 17f. 2 Ebd. S. 26. 3
Ebd. S. 27. 243 Das Ich ist auf der Suche nach der wahren poetischen Kunst. Erst auf der
Reise durch die Freiheit der Natur kann es diese und damit sich selber finden. Das Ich sucht
nach einer Kunst, die reiner und präziser als jeder Diamant und schöner als jede Perle ist. Der
Gegensatz zwischen technisierter, kommerzialisierter und rationaler Welt und der freien Welt
des Schäfers macht auch den Gegensatz zwischen der kunstlosen und der kunstvollen Welt
deutlich. Vigny zeigt im zweiten Teil des Gedichtes die Möglichkeiten, die der Rückzug in
die freie Natur und in das eigene Ich für das lyrische Schaffen birgt. Hier verschmelzen die
poésie, Natur und das eigene Ich – in der Gestalt des Schäfers – zu einem Ort der
uneingeschränkten Kunstentfaltung. Das Unsichtbare wird hier wirklich („L’invisible est
réel“4), und jeder kann hier nach den tief verborgenen Schätzen der eigenen Seele forschen.
Die Diamanten, Allegorie für die poésie, sollen dem Schäfer dazu dienen das Dach seines
Wagens zu schmücken. Sie symbolisieren damit die Grenzenlosigkeit der Behausung, Dach
und Sternenhimmel sind eins. Die Stadt ist im Gegensatz zur Natur, das Reich, das es Eva und
dem Ich nicht ermöglicht, sich von der Welt der schwachen Seelen loszusagen und zu ihren
eigenen Kräften zu finden. Die Stadt erscheint in dem Gedicht immer wieder als die
Gegenwelt, die die Kunst erstickt: „Tu n’irais pas ainsi, d’une voix étouffée,/ Chanter aux
carrefours impurs de la cité.“5 So wie die Stadt seit alters her als Ort der Anziehung, der
Faszination und der lebendigen Kultur in der Literatur beschrieben wird, wird von ihr auch
das gegenteilige Bild gezeichnet, als stilisierter Ort des Unglücks, des Schreckens, der
Einsamkeit und des Selbstverlustes. Das letztere Bild eignet sich insbesondere, wie Vigny und
andere zeigen, als Gegenpol und Ausgangspunkt einer idealen Fluchtwelt in der Natur. Der
pastorale Roman Arcadia, in den Jahren 1480 bis 1485 von Jacopo Sannazaro verfasst, der als
Urform der Arkadienromane der Neuzeit gelten kann, beginnt desgleichen in der Stadt, aus
der der Held fliehen muss, weil er hier unglücklich ist. Die am Anfang und am Ende des
Romans gezeigte urbane Welt, in der die damals größte Stadt Italiens und Sannazaros eigene
Heimatstadt Neapel zu erkennen ist, dienen der poetischen Absetzung der idyllischen Welt
Arkadiens, in das der Ich-Erzähler flieht. Die Bilder Neapels unterstützen dabei den
bukolischen und friedlichen Charakter des pastoralen Aufenthaltsortes außerhalb der Stadt
umso mehr, je düsterer sie gezeichnet sind. Da in Sannazaros Roman fast ausschließlich die
harmonische Hirtenwelt dargestellt wird, reichen wenige Worte über die Stadt am Anfang und
Ende des Romans aus, um aus dem Gegensatz das Ausmaß des urbanen Schreckens zu
begreifen. Die feindliche Lebenswelt Stadt fordert auf 4 Ebd. S. 33. 5 Ebd. S. 29. 244 diese
Weise ihre Bewohner auf, nach alternativen Lebensformen zu suchen. In der Literatur findet
diese Suche durch die Erschaffung der bukolischen Hirtenwelt ihren Ausdruck. Ohne das
Empfinden von urbaner Lebensfeindlichkeit würde die bukolische Dichtung wesentlich an
Ausdruckskraft verlieren: „Hirtenszenen und Bilder aus dem Landleben aber ergeben noch
keine bukolische Dichtung; zu dieser gehört vor allem der latente Gegensatz von Stadt und
Land und das Gefühl des Unbehagens in der Kultur.“6 Die urbane Lebenswelt kann damit als
abschreckendes Gegenteil einer Idealwelt verstanden werden, und die Flucht aus der Stadt
motiviert sich aus dem Streben nach einem besseren Lebensort. Insbesondere die Leichtigkeit,
mit der die Menschen zusammenfinden, Feste und Spiele begehen, sich uneingeschränkt mit
einander austauschen und in fröhlichen Liebschaften zusammenfinden, führt vor Augen,
welche Mängel außerhalb Arkadiens wahrgenommen werden. Die Verherrlichung der
bukolischen Lebensverhältnisse mit ihrer stark ländlichen Ausprägung führt auf der
Gegenseite immer wieder zur Verteufelung des Gegenpols Stadt. Der Antagonismus zwischen
„Weltlust und Weltschmerz, aus Freude und Überdruß an der Gegenwart“ 7 lässt aus der Stadt
einen der pastoralen Welt entgegenstehenden Ort der Enge, der Bedrohlichkeit, der
Dunkelheit, der Abhängigkeiten, der Eingeschlossenheit und der Unterdrückung – einen Ort
ohne Liebe – werden. In Sannazaros Vorwort wird der Gegensatz von Natur und Zivilisation
etabliert. Hier werden die Pflanzen in der freien Natur von denen der angelegten Gärten
abgesetzt und die natürlichen Wasserfälle den Springbrunnen gegenübergestellt: „L’oreille est
plus flattée du ramage naturel des oiseaux qui volent en liberté dans les bois, que du chant
étudié des oiseaux qui sont au sein des Villes renfermés dans des cages magnifiques.“8
Wiederholt setzt Sannazaro das Leben der freien Natur von dem der eingeschränkten urbanen
und feudalen Kultur ab. Die Musik der Schäfer, die draußen auf den Feldern zu hören ist,
klingt angenehmer als die Musik, die aus den Palästen schallt: „[L]e chalumeau dont le Berger
fait retenir les prairies émaillées, rend des sons peut-être plus agréables, que ces instruments
recherchés, dont retentissent les Palais des Grands.“9 Die Hirtenflöte wird zum Symbol der
freien und uneingeschränkten Kunstausübung. Sie verkörpert wie kein anderer Gegenstand
das freie Hirtenleben mit den Möglichkeiten der un- 6 Arnold Hauser: Sozialgeschichte der
Kunst und Literatur. München: Beck 1953. S. 18. 7 Ebd. S. 16. 8 Jacopo Sannazarro: Arcadia.
Übersetzung ins Französische von Secquet. Paris: Chez Nyon fils 1737. S. 1. 9 Ebd. S. 2. 245
zensierten künstlerischen Äußerung. Das Spiel der Flöte ermöglicht die weitest mögliche
Entfernung von der Zivilisation und der unnatürlichen Kultur der Stadt. In dem Nachwort des
Romans Arcadia „Sannazar a son chalmeau“ beklagt Sincero die unvermeidbare Rückkehr
nach Neapel. Der Gegensatz Stadt-Land tritt hier wieder in den Mittelpunkt. Sincero erklärt
auf dem Weg in die Stadt, warum die Hirtenflöte verstummen muss. Noch bevor er richtig
gelernt hat die Flöte zu spielen, verstummen die Klänge, da sie für die Natur geeigneter sind
als für die unwürdigen Bewohner der Stadt („les difficiles Habitants des Villes“10). Wieder
sind es die Paläste der Städte, die sich von den einfachen Hütten der Schäfer absetzen und für
den Gegensatz der beiden Welten stehen: „Il ne te convient point d’aller dans les Palais des
Grands, ni dans les Places superbes des grandes Villes, mendier de frivoles applaudissements,
& solliciter de vaines faveurs: faux & dangereux appas, par lesquels le perfide vulgaire
cherche à nous séduire, & à nous enyvrer. Tes foibles sons ne feroient point entendus parmi
les hautbois ou les trompettes.“ 11 Die Stadt steht für die laute und unreine Kultur, in der sich
die Töne der Hirtenflöte kein Gehör mehr verschaffen können. Je größer die Entfernung von
der Stadt, desto besser die Möglichkeiten des Spielens auf der Flöte: „Aussi tiens pour chose
indubitable, que plus tu resteras éloigné tu tumulte, plus tu seras en sureté.“12 Mit der
Annäherung an die Stadt beklagt Sincero die Zerstörung der künstlerischen Sphäre und den
Verlust der gewonnenen Muse: „Notre Parnasse est détruit.“13 Die Stadt Neapel erreicht
Sincero über ein System von Tunneln und Höhlen14. Das Flüsschen Sebeto kündet von der
Ankunft in der Stadt am Vesuv15. Doch bevor Sincero wieder ans Tageslicht tritt und die
Stadt Neapel erreicht, passiert er die untergegangene Stadt Pompeji: „La Ville que nous
voions vis-à-vis, & qui fut sans doute la celebre Pompeia, arrosée des froides eaux du Sarno,
vit tout-à-coup manquer ses fondations, & fut engloutie toute 10 Sannazarro: Arcadia. S. 221.
11 Ebd. S. 222 12 Ebd. S. 226. 13 Ebd. S. 223. 14 Ebd. S. 188ff. 15 „Nous commençâmes
donc peu à peu à voir les tranquilles eaux du Sebete.“ Ebd. S. 195. Das Flüsschen Sebeto
ergießt sich am Ostrand Neapels ins Meer. Es ist ein sehr kleiner Fluss, der heute noch durch
die Fontana del Sebeto in der Via Mergellina gewürdigt wird. Zu Ehren kam das Flüsschen
durch Vergils Aeneis (Kap. VII) Von den Humanisten wurde es lange Zeit verehrt. Siehe
Christof Thoenes: Neapel. Stuttgart: Reclam 1983. S. 354. 246 entiere. Etrange & horrible
destinée; que de passer subitement dans les tenebres de la mort! mais enfin il y a un terme à
tout, & la mort est le dernier.“16 Noch einmal leuchtet das Verderben und die Katastrophe
auf, die mit der urbanen Lebensform verbunden ist. Die Erwähnung Pompejis und seines
Untergangs ist die Erinnerung an die Endlichkeit und Zerstörbarkeit urbaner Lebensform, die
sich auch in diesem Aspekt von der zeitlosen, mythischen und unbedrohten Lebensform
Arkadiens absetzt17. Der Schäferroman beinhaltet aber nicht nur den Stadt-Land-Gegensatz,
sondern beleuchtet auch das Schicksal der Künstler, genauer gesagt das der Dichter.
Bestimmte Aspekte hervorhebend, kann der pastorale Roman als Vorläufer des
Künstlerromans betrachtet werden. Mehrere klassische Schäferromane beschreiben den Weg
eines Poeten nach Arkadien und stellen seine Entwicklung während und nach dem Aufenthalt
dort vor. Ruhelos und ohne Schöpferkraft flieht er zu den Hirten, um sich dort in der
Abgeschiedenheit in ihr einfaches Leben einzugliedern. Im Umgang mit ihnen lernt er das
Flötenspiel und den einfachen Umgang mit Menschen. Auf diese Weise wieder zu neuen
Kräften gekommen, widmet er sich von neuem seiner ursprünglichen Kunst. Der Mythos der
Landschaften Arkadiens und des Berges Parnassos nähern sich in diesen Geschichten, so wie
in Sannazaros Arcadia, an. Der Rückzug des Dichters in die Abgeschiedenheit der Natur wird
besonders im 18. Jahrhundert zum beliebten Motiv. Der Geniegedanke und die besondere
Empfindsamkeit, die dem Künstler in dieser Zeit zugeschrieben wird, bringen es mit sich,
dass die Vorstellung vorherrscht, der schöpferisch und geistig tätige Mensch müsse sich von
den Einflüssen der umtriebigen Gesellschaft frei machen und bedürfe des besonderen
Schutzes. 1784 schreibt Johann Zimmermann in seinem Werk Über die Einsamkeit, dem
Schriftsteller werde empfohlen, sich „von den Menschen ab[zu]sondern, Wälder und Schatten
[zu] suchen, ganz in sich hinein[ zu]gehen.“18 Nur in der freien Natur könne der Dichter zu
sich selber finden und so das Werk aus seinem eigenen Geist schöpfen, so Zimmermann. Die
großen Städte, so rät er weiter, seien zu meiden. Hier bestehe nicht die Möglichkeit, sich von
den Einflüssen der Umwelt frei zu machen: „Kleine Städte haben einen unläugbaren Vorzug
vor großen Städten, in Absicht auf Umgang mit sich selbst. Welchen Gewinn macht man da
von Zeit und Musse, Frey- 16 Sannazarro: Arcadia. S. 194. 17 Die Bedeutung des Stadt-LandGegensatz für die arkadische Tradition wird auch in der Kunstgeschichte erkennbar. Auf dem
Gemälde Ideale Landschaft mit Apollo von Jakob Philipp Hackert (1805, Alte
Nationalgalerie, Berlin, Abb. 9) ist im Hintergrund eine antike Stadt zu erkennen. Ins Zentrum
des Bildes und zugleich in die Ferne gerückt, bildet die Stadt die Erinnerung an einen
Gegenpol zu der idyllischen Landschaft der Schäferwelt. 18 Johann G. Zimmermann: Über
die Einsamkeit. Band 3. S. 353. 247 heit und Ruhe; und wie fliehet solches Glück von großen
Städten, wo unter dem Unkraut das uns jeder zuwirft, jeder Gedancke ersticket“19 Die Stadt
gehört damit auch im 18. Jahrhundert, also noch vor ihren eigentlichen großen
geschichtlichen und sozialen Entwicklungsschüben, zu einem Ort der Ablenkung und der
fehlenden Möglichkeiten der Reflexion. Wie Wolf Lepenies darlegt, ist der Stadt-LandGegensatz wichtiger Bestandteil der generellen „Melancholie- Neigung“ des Bürgertums im
18. Jahrhundert: „In seiner Einsamkeits-Neigung schafft sich das Bürgertum des 18.
Jahrhunderts die Vorbedingung für die Wertschätzung der Melancholie. Ohnmächtig
angesichts der Herrschaft des Adels wird Natur der Gesellschaft vorgezogen, die KleinstadtIdylle der Residenz, die oft genug selbst Kleinstadt ist, gegenübergestellt. In der
Einsamkeitsauffassung sind aber noch weitere Ingredienzien der Melancholie-Neigung
enthalten: Freundschaftsund Briefkult, vor allem aber das Zurückwenden aufs eigene Ich und
die Wertschätzung der Affekte. Hier schafft sich die praktische Psychologie der Zeit ein
Ventil, um in der erzwungenen Untätigkeit und Machtlosigkeit eine Quelle des Eigenwertes
zu finden. Die Innerlichkeit, die die deutsche bürgerliche Literatur zu einem großen Teil im
18. Jahrhundert propagiert, wird erst möglich durch das Ausspielen von Einsamkeit gegen
Gesellschaft, Genie gegen Weltling, Muße gegen (adelige) Langeweile, Land gegen Stadt,
Kleinstadt gegen Residenz, Natur gegen Sozietät und innerlicher Freiheit gegen äußeren
Zwang.“20 Das Streben nach Innerlichkeit führt den geistig tätigen Menschen zwangsläufig
aus der Stadt heraus auf das Land, so die Überzeugung jener Zeit. Dieses Unbehagen an der
Stadt läuft parallel zu der in den vorherigen Kapiteln beschriebenen urbanen Anziehungskraft
und Faszination, die z.B. Sébastien Mercier und andere ausdrücken. Im 19. Jahrhundert lösen
sich die unterschiedlichen Betrachtungsweisen nicht auf, sondern verschränken sich
ineinander und bilden in ihrer Komplexität ein Pendant zum Künstlertyp dieser Zeit. Das
Beispiel Alfred de Vigny zeigt, wie die klassische Einsamkeitsauffassung im 19. Jahrhundert
fortdauert und zum Ideal des Künstlers erklärt wird. Im Künstlerbild von Théophile Gautier,
George Sand und Gérard de Nerval vermischen sich allerdings Einsamkeitsneigung, in
Verbindung mit dem Streben nach dem locus amoenus, und moderne urbane Formen der
Künstlerexistenz. Der klassische Stadt-Land-Gegensatz bleibt dabei wichtiger Bezugspunkt
für die Erzählbarkeit des Künstlerschicksals, wie das Beispiel der Bohême galante von Nerval
zeigt. Bei Gogol wird der Idealort für den Künstler, die Stadt Rom, eine Verbindung aus Stadt
und Natur, eine stehengebliebene Welt der Kunst und der Geschichte, die sich von der Stadt
der Gegenwart, St. Petersburg, absetzt. 19 Ebd. S. 228. 20 Lepenies: Melancholie und
Gesellschaft. S. 89f. 248 2. Das Eldorado. Die Fluchtwelten von Théophile Gautier Théophile
Gautier nutzt wie viele Schriftsteller seiner Generation die Melancholie und das
Innerlichkeitsstreben des 18. Jahrhunderts, um aus diesen Gefühlen seine Traumwelten zu
entwickeln. Typisch für sein Vorgehen sind die poetischen Verfremdungsmöglichkeiten der
Traumwelt, die zum Ausgangspunkt seiner Flucht gehören. Die Stadt wird dagegen der realen
Sphäre zugeordnet. Auf diese Weise entsteht ein Abgrund zwischen den imaginären Welten
und den wirklichen, in denen eine künstlerische Existenz unmöglich zu sein scheint.
Gemeinsam ist Gautiers Künstlerfiguren, ob sie nach außen oder nach innen streben, ob sie
zurückgezogen oder in der Öffentlichkeit leben, eine Ablehnung der gegenwärtigen
gesellschaftlichen Verhältnisse. Es ist die Banalität, die Einfachheit des Spießbürgertums und
der Philisterwelt, die sie ablehnen und die sie vertreibt. Gautier versteht die Enge aber nicht
zuletzt auch als ein künstlerisches und philosophisches Problem. Er schlägt den Bogen zu den
ästhetischen Fragen, die im Zusammenhang mit diesen beiden Fluchtbewegungen stehen. Zu
Beginn seines Künstlerromans Mademoiselle de Maupin (1835) lässt er seinen Helden, den
Dichter d‘Albert sagen: „Pour moi, le tour du monde est le tour de la ville où je suis; je touche
mon horizon de tous les côtés; je me coudoie avec le réel. Ma vie est celle du coquillage sur le
banc de sable […].“21 ‘Ich stoße mich an dem Realen’, dies heißt für einen Künstler des
Jahres 1835, die reale Welt bietet nicht genügend Raum für den geistigen und imaginären
Entwurf ihrer schöpferischen Arbeit. Ähnlich ihrem großen Vorbild aus Deutschland, E.T.A.
Hoffmann, behauptet die Generation um Gautier und Nerval, dass die Kunstfeindlichkeit in
ihrer Umgebung vorherrschend sei. Das künstlerische Manifest dieser Generation schreibt vor
– und Werke und Biographien müssen gleichermaßen dieser Prämisse folgen –, die Enge und
Bürgerlichkeit dieser restaurativen Phase französischer Geschichte zu überwinden. Das
konservative Moment drückt sich insbesondere in der Kunst aus. Die herrschende
Kunstauffassung der Juli-Monarchie wird verkörpert von dem von Louis Philippe
hochgeschätzten Baumeister und Kunsttheoretiker Viollet-le-Duc und von den Klassizisten
der Comédie Française. Die Bewegungen die um 1830 in der jungen Künstlerschaft in Paris
entsteht ist von Anfang an eine Opposition gegen diese Kunstvorherrschaft und drückt sich in
den vielen öffentlich ausgetragenen Kunstdiskussionen aus. 21 Gautier: Mademoiselle de
Maupin. S. 206. 249 In der Literatur wird dieser Kampf nicht so offen ausgetragen wie in der
Realität. Hier ist die Stadt ein Raum der Langeweile und der Ignoranz. Der Versuch der
Künstler, aus diesem Lebensumfeld auszubrechen, wird von Gautier im Roman Mademoiselle
de Maupin (1835f.) geschildert. Gleich mehrere Wunsch- und Traumländer entstehen hier. So
entflieht der Dichter d’Albert gleich mehrmals an verschiedene Orte, an denen allein Kunst
und Schönheit herrschen. In dem Roman Fortunio wird diese Scheinwelt in ein Extrem
gesteigert, in eine selbst angelegte und geschaffene Kunstwelt inmitten der Stadt mit der
Bezeichnung Eldorado. Die Flucht aus Paris in Mademoiselle de Maupin hat ihren Ursprung
in der Abneigung der Künstler gegen die Gesellschaft. Der Roman bleibt das Werk des
Autors, der im Vorwort von Les Jeunes- France den Ausstieg aus der Gesellschaft propagiert
hatte22. D’Albert ist von einer ausgedehnten Langeweile berührt, die sich in dem Satz
ausdrückt: „Je ne désire rien, car je désire tout.“23 Die normale Welt liefert ihm keine
Abenteuer. Er ist auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen, nach etwas, das ‘die
gewöhnlichen Grenzen überschreitet’ („[…] ce qui dépasse les bornes ordinaires.“24). In
Paris muss diese Suche ergebnislos bleiben. Ihm gelingt es nicht, das Objekt seiner Begierden
zu finden. So bekommt er die Idee von einem Ort, der jenseits der Grenzen der nie
verlassenen Stadt liegt. Die Suche nach einer Geliebten verwandelt sich in die Suche nach
einem Ort, an dem ihm sämtliche seiner Wünsche erfüllt werden. So wartet er auf den
Hippogryph, der ihn packt und in die unbekannten Regionen der Dichtkunst mitnimmt25. Der
am Anfang des Romans geäußerte Wunsch erfüllt sich im weiteren Verlauf der Geschichte.
D’Albert findet sich in außergewöhnlichen Landschaften wieder, die noch kein gewöhnlicher
Stadtbewohner vor ihm gesehen hat. Die Beschreibungen dieser Orte setzen sich allerdings
nicht zu einem homogenen Bild zusammen. Verschiedene Orte werden von Gautier
vorgestellt, ohne dass eine exakte Definition angeboten würde. Die Orte müssen zunächst aus
ihren Verstecken befreit werden. Der erste Kontakt mit so einem wunderbaren Ort wird von
Gautier wie folgt beschrieben: „Nous nous sommes assis comme Adam au pied des murs du
paradis terrestre, sur les marches de l'escalier qui mène au monde que vous [les poètes, d.V.]
avez créé, voyant étinceler à travers les fentes de la porte une lumière plus vive que le soleil,
entendant confusément quelques notes éparses d'une harmonie séraphique. Toutes les fois
qu'un élu entre ou sort au milieu d'un flot de splendeur, nous tendons le cou pour tâcher de
voir 22 Siehe Gautier: Les Jeunes-France. S. 28f. 23 Gautier: Mademoiselle de Maupin. S.
208. 24 Ebd. S. 216. 25 Ebd. S. 208. 250 quelque chose par le battant ouvert. C'est une
architecture féerique qui n'a son égale que dans les contes arabes.“26 Die Beschreibung wird
fortgesetzt, indem das Orientalische an der Architektur hervorgehoben wird. Kostbare Steine
schmücken die reichverzierte Fassade, die vor lauter luxuriösem und ausgefallenem
Geschmack glänzt. Besonders sticht die Unzugänglichkeit des Ortes ins Auge. Der
phantastische Charakter des Gebäudes führt zu einer Entrückung, die samt der Flüchtigkeit
und der Geschwindigkeit des Verlustes d’Albert im Verlauf des Romans immer wieder zu
neuer Suche antreibt. Gautier stellt mit der Entrückung der phantastischen Orte die
Künstlichkeit ihrer Erscheinungen heraus. Er versteckt nicht den Vorwurf, hinter der
Künstlichkeit der poetisch geschaffenen Welt den Erfindungsreichtum eines Dichters
aufzudecken. Er verzahnt die poetischen Erfindungen mit denen der Realität auf der Ebene
der Geschichte. Er lässt den Erzähler immer wieder hervorheben, dass es in der Kraft der
Dichter steht, etwas wie das Eldorado zu erfinden. Dies wirft auch ein Licht auf den Dichter
d’Albert, der mit seinen künstlerischen Fähigkeiten einem Eldorado von allen Menschen am
nächsten kommen kann. Nachdem die Tür zum Eldorado zugefallen ist und d’Albert keine
Sicht auf die wunderbare Welt hinter den Mauern mehr besitzt, sagt der Erzähler ein paar
bewundernde Worte über die Dichter. Sie verstünden es mit ihren Werken sich der Realität zu
widersetzen und so ‘einen Kampf gegen die allgemeine Wirklichkeit zu führen’ („[…] ont
amené une lutte terrible contre nos réalités !“27). Um die Schönheit und die Einzigartigkeit
der Phantasiewelt hervorzuheben und sie der trostlosen Wirklichkeit gegenüber zu stellen,
folgt auf das Schließen der Türen die ernüchternde Beschreibung der Enttäuschung: „Le
battant retombe; vous ne voyez plus rien, - et vos yeux se baissent, pleins de larmes
corrosives, sur cette pauvre terre décharnée et pâle, sur ces masures en ruine, sur ce peuple en
haillons, sur votre âme, rocher aride où rien ne germe, sur toutes les misères et toutes les
infortunes de la réalité.“28 Das Verwehren des Zugangs zum Eldorado hat seinen Grund in
der himmlischen Anlage dieses Ortes. So wie der Himmel den Engeln vorbehalten bleibt,
kann auch das Eldorado nur höheren Wesen zugänglich sein. Das Hinaufsteigen der
Jakobsleiter wird von dem Erzähler mit den Möglichkeiten des Künstlers verglichen. „Ah! du
moins, si nous pouvions voler jusque- là, si les degrés de cet escalier de feu ne nous brûlaient
pas les pieds; mais, hélas! l'échelle 26 Ebd. S. 222. 27 Ebd. 28 Ebd. 251 de Jacob ne peut être
montée que par les anges!“29 Das Erreichen der obersten Stufe gilt für die Engel das, was für
den Kühnster die Erschaffung eines eigenen Paradieses bedeutet. Im Folgenden kommt
d’Albert diesem Paradies näher. Der Bezug zu dem christlichen Paradies wird hier ersichtlich.
Das zweite Eldorado, im 9. Kapitel beschrieben, ist ein Gebäude mit einem ausgeschmückten
Innenhof. Diesmal ist der Blick von der Innenseite des Bauwerks möglich, auch wenn das
Ganze eine Idee bleibt: „Voici comme je me représente le bonheur suprême: - c'est un grand
bâtiment carré sans fenêtre au dehors: une grande cour entourée d'une colonnade de marbre
blanc, au milieu une fontaine de cristal avec un jet de vif-argent à la manière arabe, des
caisses d'orangers et de grenadiers posées alternativement; par là-dessus un ciel très bleu et un
soleil très jaune; - de grands lévriers au museau de brochet dormiraient çà et là; de temps en
temps des nègres pieds nus avec des cercles d'or aux jambes, de belles servantes blanches et
sveltes, habillées de vêtements riches et capricieux, passeraient entre les arcades évidées,
quelque corbeille au bras, ou quelque amphore sur la tête.“30 Hier wird bereits die Hauptidee
des Eldorado aus dem Roman Fortunio ersichtlich; ein geschlossenes Gebäude mit einem
großen Innenhof, der von draußen nicht einsehbar ist. Diese Form der Anlage, die an ein
Kloster erinnert, lässt bereits das Hauptanliegen der Künstler erkennen, das der Separation
und des Rückzugs. Das von d’Albert geäußerte Motto ‘Ich verhalte mich wie ein Öltropfen im
Wasserglas’ („Je suis comme une goutte d'huile dans un verre d'eau“31) stellt den isolierten
Standpunkt des Künstlers gegenüber der Stadt und ihrer Gesellschaft dar. Jedoch muss der
Erzähler den Konjunktiv verwenden; er ist noch nicht in diesem Eldorado angekommen.
„Moi, je serais là, […]“32. Er muss am Ende seiner Beschreibung zugeben, dass es sich
hierbei um einen Traum gehandelt hat, der ihn zwar näher an das Eldorado heran, aber noch
nicht bis dorthin geführt hat. In seinen Glauben an das Traumreich hat ihn diese Begegnung
noch bestärkt, und seine Suche setzt er mit noch mehr Kraft fort: „Tu vois bien qu'avec des
idées semblables je ne puis rester ni dans ce temps ni dans ce monde-ci; car on ne peut
subsister ainsi à côté du temps et de l'espace. Il faut que je trouve autre chose.“33 Die Lösung
von der urbanen Welt verbindet sich so mit der Suche nach einem Raum, der von den Realität
konstituierenden Komponenten frei ist. In dem Roman Fortunio (zuerst 1837 unter dem Titel
L’Eldorado im Figaro erschienen) fin- 29 Ebd. S. 223. 30 Ebd. S. 313. 31 Ebd. S. 241. 32
Ebd. S. 313. 33 Ebd. S. 314. 252 det sich Gautiers Idee eines Eldorado abermals abgebildet.
In diesem Werk gelingt es Gautier sogar, zwei Bereiche miteinander zu verbinden, die in
Mademoiselle de Maupin noch voneinander getrennt sind. Abermals entwirft er ein großes
Gebäude mit einem Innenhof, der so groß ist, dass darin ein Park Platz findet. So verbindet
sich die Idee vom Atriumhaus mit der einer idyllischen Landschaft. Fortunios hoher
ästhetischer Anspruch wird bereits im ersten von ihm eingerichteten Haus sichtbar: „Au
milieu du plafond, dans une espèce d'oeil-de-boeuf, s'enchâssait un globe de verre rempli
d'une eau claire et splendide où sautelaient des poissons bleus à nageoires d'or; leur
mouvement perpétuel faisait miroiter la chambre de reflets changeants et prismatiques de
l'effet le plus bizarre.“34 In diese Unterkunft dürfen noch Freunde von ihm eintreten. Aber die
Abgrenzung von der Außenwelt findet auch hier statt; Fortunios Heim besteht aus einem Haus
mit glatter Fassade, die alles nach draußen abschließt und dem von Arkaden gesäumten
Innenhof35. Das Dekor spricht für den Ästheten, der ein Vorläufer von Joris Karl Huysmans
Protagonisten aus À Rebours (1884) ist36. Für ihn ist es umso schöner, desto reicher die
Ausstattung ist. Ein Haus mit einer Fassade in dorischer Ordnung wird von ihm
niedergebrannt, weil es zu schlicht ist37. Aber das wahre Eldorado entsteht erst gegen Ende
des Romans. Fortunio hat hinter den Fassaden eines ganzen Wohnblocks sein eigenes Reich
aufbauen lassen. Indem er alle Gebäude abgerissen und nur die Fassaden stehen gelassen hat,
ist ein großer Garten entstanden. In der Mitte des Gartens hat er einen Palast aus Marmor,
Gold und Edelsteinen errichten lassen. Der Garten ist mit exotischen Bäumen und Pflanzen
ausgestattet. Um das richtige Klima zu erhalten, hat er den Garten mit einem Glasdach
überdeckt, das von einem Gerüst aus Röhren getragen wird. Die Röhren führen Wasser und
können auf diese Weise einen künstlichen Regen erzeugen38. Gautier versucht mit genauen
Beschreibungen der Details und der technischen und organisatorischen Hintergründe, seinem
Einfallsreichtum einen Ton der Authentizität zu geben. Jeder einzelne Bestandteil seines
außergewöhnlichen Reiches besitzt eine einfa- 34 Gautier: Fortunio. S. 543. 35 Siehe Ebd. S.
542f.. 36 Die Fische im durchschienenen Wasserbecken werden auch bei Joris-Karl
Huysmans dargestellt. Der einzige Unterschied: in À Rebours sind die Fische mechanisch.
Siehe Joris Karl Huysmans: À Rebours. Paris: Garnier-Flammarion 1978. S. 77-78. 37 „[L']
ordre dorique, ce qui m'est spécialement odieux“. Gautier: Fortunio. S. 565. 38 Die
Faszination des 19. Jahrhunderts für Glasarchitektur entsteht mit dem Fortschritt im
eisenverarbeitenden Gewerbe. Die Trägerkonstruktionen der Glasdächer wurden dabei mit
jedem Gebäude weiter vergrößert. Höhepunkte dieses Strebens waren der 1850 in London
errichtete Kristallpalast und der als Gegenstück 1855 an der Champs-Éllysées errichtete Palais
de l’Industrie, der 200 Meter in der Länge, 47 Meter in der Breite und 35 Meter in der Höhe
maß. Siehe Abb. 10. 253 che Erklärung. So erklärt er Fortunios Geschmack damit, dass er
seine Kindheit bei einem reichen Onkel in Indien verbracht hat. Es gelingt ihm, sein Reich zu
verbergen, weil er alle am Bau beteiligten Arbeiter nach Fertigstellung in die Ferne geschickt
hat. Weder seine Mätressen noch seine Sklaven kommen aus dem Gebäude heraus; sie wissen
nicht einmal in welchem Land sie sich befinden. Fortunio benutzt verschiedene Zugänge, um
seinen Wohnsitz geheim zu halten. Die Illusion in freier Landschaft zu wohnen, verschafft
sich Fortunio mit Hilfe von großen Projektionen. Diese ermöglichen ihm einen fiktiven Blick
nach draußen, der ihm wegen der Geheimhaltung verwehrt ist. Das 'diorama' erlaubt ihm, an
einem Tag Neapel und an einem anderen Tag die Schweiz durch die Fenster des Palastes zu
betrachten. Sein "nid de poésie", diese Welt aus Springbrunnen, Satinkleidern,
Schmetterlingen, exotischen Früchten, Seidenschals, Musselin, Opalen, Fasanenfedern,
Wasserpfeifen, die über alles einen Opiumrauch verbreiten, ist nichts weiter als der 'Traum
eines Poeten, ausgeführt von einem Millionär'39. Einem Freund in Indien klagt Fortunio
jedoch sein Leid; in einem Brief findet sich Fortunios Ansicht über seine Mitwelt. Er
beschreibt alle Nachteile seines Lebens in Paris und sieht die Stadt und ihre Einwohner in
'einer vollständigen Antithese' mit seinem 'verwirklichten Traum aus Tausend und einer
Nacht'40. Paris sei eine schmutzige Stadt, wo die Bäume zu kleine Blätter hätten, und diese
nur drei Monate im Jahr tragen würden. Die Cafés und die Restaurants würden weder
extravagante Speisen anbieten, noch erlesene Weine in ihren Kellern besitzen. Die Oper
spiele keine besonderen Stücke, und die Abende könnten nur als langweilig bezeichnet
werden. Es bleibt ihm nur übrig, sich nach Indien einzuschiffen und sein Eldorado in die Luft
zu sprengen: ‚ein oder zwei Fass Pulver werden die Angelegenheit schon regeln’41. Während
sich die Fluchtwelt des Romans Fortunio aus einer realen Topographie inmitten der Stadt
zusammensetzt, entwickelt Gautier in seinem Roman Mademoiselle de Maupin eine
Seelenlandschaft („monde de l'âme“42), in die sich der Dichter d’Albert flüchtet. Der
Fluchtort besteht aus einer Kunstwelt, die dem Theater entspringt. D’Albert schließt sich nach
dem Verlassen der Stadt einer Theatergruppe an, die das Stück Wie es euch gefällt von
Shakespeare spielen. Das Stück zeigt d’Albert das poetische Reich des Ardenner Waldes. Für
d’Albert, der auf der Suche nach der aus der Realität entrückten Welt ist, erfüllen sich hier
zum ersten Mal die Vorstellungen, die er sich von seinem idealen Fluchtort fern der Stadt
gemacht hat. Eine mythische Landschaft, die von den Persönlichkeiten aus Shakespeares
Theaterwelt bevölkert wird, 39 Ebd. S. 570. 40 Ebd. 41 „[…] un ou deux barils de poudre
feront l'affaire“. Ebd. S. 580. 42 Gautier: Mademoiselle de Maupin. S. 340. 254 bedeutet für
ihn den Einstieg in ein Reich, das fern von seiner bisherigen Lebensweise liegt. „Ô la belle
famille ! - jeunes amoureux romanesques, demoiselles vagabondes, serviables suivantes,
bouffons caustiques, valets et paysans naïfs, rois débonnaires, dont le nom est ignoré de
l'historien, et le royaume du géographe; […] je vous aime et je vous adore entre tous et sur
tous: - Perdita, Rosalinde, Célie, Pandarus, Parolles, Silvio, Léandre et les autres, tous ces
types charmants, si faux et si vrais, qui, sur les ailes bigarrées de la folie, s'élèvent au-dessus
de la grossière réalité […].“43 Die pastorale Stimmung im Ardenner Wald überträgt sich
schnell auf das Empfinden von d’Albert. Die Freiheiten der von Shakespeare beschriebenen
Lebensweise an diesem Ort, an dem es keine Uhren gibt, werden zur Erlösung für den
Protagonisten. Er erlebt hier sein „système champêtre“44, das auf dem Antagonismus zu der
urbanen Lebenswelt beruht. Unter dem Einfluss des Theaterstücks stehend, verwandelt sich
die Natur um ihn herum in ein Stück Arkadien: „N'as-tu jamais remarqué comme l'ombre des
bois, le murmure des fontaines, le chant des oiseaux, les riantes perspectives, l'odeur du
feuillage et des fleurs, tout ce bagage de l'églogue et de la description, dont nous sommes
convenus de nous moquer, n'en conserve pas moins sur nous, si dépravés que nous soyons,
une puissance occulte à laquelle il est impossible de résister ? ....“45 D’Albert kann sich
diesem Einfluss nicht entziehen und verfällt in einen Zustand der Verliebtheit. In der
Verschmelzung mit der Natur wird Rosette zur Geliebten von d’Albert: „Je ne pensais pas, je
ne rêvais pas, j'étais confondu avec la nature qui m'environnait, je me sentais frissonner avec
le feuillage, miroiter avec l'eau, reluire avec le rayon, m'épanouir avec la fleur; je n'étais pas
plus moi que l'arbre, l'eau ou la belle-de-nuit.“46 Die Kunstwelt, in die d’Albert immer tiefer
eintaucht, löst die Grenzen zwischen Realem und Geträumten immer weiter auf. Die
Erzählhaltung des Romans unterstützt das übergangslose Fließen, den nicht wahrnehmbaren
Wechsel zwischen verschiedenen Welten. So finden auf einem Ausflug in die Natur d’Albert
und Rosette ein im Wald verstecktes Schloss. Die Unwirklichkeit des sich ihm bietenden
Anblicks vergleicht d’Albert mit einer Theaterdekoration: „On dirait […] un paysage
composé des coulisses d'une décoration de théâtre.“47 Der Übergang zwischen
Theaterdekoration und Wald ist nicht mehr nachzuvollziehen. Schwierigkeiten, die
verschiedenen sich im 43 Ebd. S. 339. 44 Ebd. S. 254. 45 Ebd. S. 255. 46 Ebd. S. 256. 47
Ebd. S. 260. 255 Roman bietenden Realitätsebenen auseinanderzuhalten, hat auch d’Albert.
Dies wird deutlich, als er kurze Zeit später im Schloss die Orientierung verliert. Traum, Kunst
und Wunschvorstellungen begegnen sich in kurzer Folge, so dass er zu einer Differenzierung
nicht mehr fähig ist. „Aussi mon regard satisfait et nonchalant allait, avec un plaisir égal, d'un
magnifique pot tout semé de dragons et de mandarins à la pantoufle de Rosette, et de là au
coin de son épaule qui luisait sous la batiste; il se suspendait aux tremblantes étoiles du jasmin
et aux blonds cheveux des saules du rivage, passait l'eau et se promenait sur la colline, et puis
revenait dans la chambre se fixer aux noeuds couleur de rose du long corset de quelque
bergère.“48 Für d’Albert verschmelzen die unterschiedlichen Realitäten zu einer, in der er
sich frei bewegen kann. Die Bilder an der Wand, die pastorale Szenen darstellen, die
Landschaft vor dem Fenster und das Geschehen in dem Zimmer werden von ihm nicht
unterschieden. In der Stimmung, in der er sich befindet, ist die Unterscheidung nicht möglich.
Einzelne Gegenstände reichen aus der einen Szene in die nächste herein, wie z. B. die Haare
von Rosette, die in die langen Äste der Weiden übergehen, obwohl diese in größerer
Entfernung stehen. Diese Episode wird noch um ein weiteres entrückt, als Rosette nach der
Rückkehr von dem Ausflug berichtet, d’Albert verhext zu haben, um ihm die Erlebnisse im
Traum vorzuführen49. Die Verzauberung bekommt eine weitere Entsprechung. Denn sie
entspricht der Tätigkeit, die d’Albert in der Theatergruppe aufgenommen hat. Er ist
Schauspieler geworden und spielt die Rolle Orlandos aus dem Stück von Shakespeare. Da
Rosette Rosalie, die Geliebte des Orlando, spielt, wird d’Alberts Liebesgeschichte ein zweites
Mal in der Kunstwelt wiederholt. Die Unterscheidung der Gefühle für Rosette, die ihm die
Kunstwelt vorspielen, und den echten wird zu einer unlösbaren Aufgabe. Am Ende des
Romans tröstet Mademoiselle de Maupin d’Albert für die ganzen Verirrungen der Scheinwelt
damit, dass nicht die Erfüllung der Träume im Mittelpunkt stehen könne, sondern allein ihr
Kennenlernen: „Combien sont morts qui, moins heureux que vous, n'ont pas même donné un
seul baiser à leur chimère!“50 Spätestens jetzt wird deutlich, dass d’Albert sein Ziel nicht
erreicht hat und seine Fluchtwelt hinter der Künstlichkeit von Bildern, Träumen und Theater
verborgen geblieben ist. Der Weg aus Paris heraus hat d’Albert nicht in die wirkliche Freiheit
geführt – der Welt der Kultur eine Welt der Natur gegenübergestellt –, sondern vielmehr
durch die Künstlichkeit der Orte, durch 48 Ebd. S. 261f.49 Vgl. Ebd. S. 284. 50 Ebd. S. 432.
256 den Schein von arkadischer Unberührtheit und Verlassenheit eine auf den Sinnen und der
Vorstellung aufgebauten Raum geschaffen. Die Unerreichbarkeit, die am Ende des Romans
erkennbar wird, zeigt, dass die Stadtflucht im Wesen ein Wunsch bleiben muss und die
Rückkehr in die Stadt so unausweichlich wie schon für Sincero in Sannazaros
Arkadiendarstellung ist. 3. George Sands Vorstellungen vom idealen Ort für den Künstler
George Sands Gebrauch des Bohemebegriffs ist deswegen interessant, weil von ihr die
frühesten Zeugnisse existieren, die einen Zusammenhang zwischen diesem Begriff und den
Künstlern herstellen. Noch bevor sich der Ausdruck „vie de bohème“ als Bezeichnung von
Künstlerleben zu verbreiten beginnt, benutzt die Autorin das Land Böhmen als
Projektionsfläche für ihre ideale Anschauung des Künstlerdaseins. Dabei sieht sie wie Nerval
in Böhmen einen besonderen Ort, der für die Künstler von Bedeutung ist. Sie erwähnt als
erstes das Land Böhmen in diesem Kontext und nicht die Redewendung „vie de bohème“. Für
George Sand verbindet sich mit dem Land Böhmen der Traum von einem freien, von sozialen
Zwängen ungebundenen und der Pariser Gegenwart entrückten Leben. Dabei spielen die
Zigeuner eine Vorbildrolle, die aber nur einen Teil der Entwicklung ihres persönlichen
Böhmenmythos ausmachen. Sand, die lebenslang mit einer vermeintlichen
Zigeunerabstammung kokettiert hat, sieht in diesem Volk ein Vorbild für ihre und die
allgemeine Existenz, die sich mit den Fragen des Künstlerseins verbinden. Die
Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Vorstellungen ihrer Zeit, die Unabhängigkeit von
einem festen Wohnort sowie eine Loslösung aus der sozialen Hierarchie führen zu der
Bewunderung des Zigeunerlebens. Das Land Böhmen verbindet sich aber nicht nur mit der in
dieser Zeit bereits widerlegten Vorstellung vom Herkunftsland der Zigeuner, sondern besetzt
in Georg Sands Vorstellungswelt den besonderen Platz eines mythischen Ortes. Hier spielt die
literarische Tradition genauso eine Rolle, wie Sands Beschäftigung mit der böhmischen
Geschichte, insbesondere die der Reformisten des 15. Jahrhunderts. Sand kennt die über
Nodier vermittelte Tradition des entrückten, geheimnisumwitterten, arkadischen Böhmen51.
Deutlich ist der literarische Einfluss in ihrem Brief an Éverard vom 29. April 1835 zu spüren:
51 Charles Nodiers Roman L’histoire du Roi de Bohême et de ses sept chateaux ist
Bestandteil ihrer Bibliothek. Siehe George Sand: Lettres d'un voyageur. In: OEuvres
autobiographiques. Band 2. Hg.: Georges Lubin. Paris: 1970. S. 27. 257 «Ô verte Bohême!
patrie fantastique des âmes sans ambition et sans entraves, je vais donc te revoir! J’ai erré
souvent dans tes montagnes et voltigé sur la cime de tes sapins; je m’en souviens fort bien,
quoique je ne fusse pas encore né parmi les hommes, et mon malheur est venu de n’avoir pu
t’oublier en vivant ici.»52 George Sands tiefe Verbundenheit mit Böhmen kommt hier zum
Ausdruck. Es wird deutlich, dass es sich dabei um eine geistige Verbindung handelt, die sie
sich wünscht. Ohne das Land je besucht zu haben, stellt sie sich vor, dort schon vor ihrer
Geburt gewesen zu sein. Das Land, das sich mit dem Schicksal und dem Lebensstil der
Zigeuner verbindet („âmes sans ambition et sans entraves“) wird im nächsten Brief an Franz
Liszt, gleich zu Anfang, Sitz einer Künstlerkolonie: „Je présume que vous allez fonder, dans
la belle Helvétie ou dans la verte Bohême, une colonie d’artistes.“53 Diesen Brief, den sie im
Sommer 1835 veröffentlicht, ist der Beginn eines Entwurfes eines Böhmenbildes, das George
Sand in weiteren Werken noch ausbauen wird und immer stärker mit dem Schicksal des
Künstlers verbindet. Der Glaube an eine böhmische Herkunft der Zigeuner ist Teil der
Böhmen-Emphase von George Sand. Ein weiterer Grund für die Begeisterung liegt in ihrer
Beschäftigung mit dem böhmischen Humanismus, der Reformbewegung um Jan Hus (13721415) und Jan Ziska (1376-1424). Die politischen Wirren des 15. Jahrhunderts und der Kampf
der Reformer gegen den Staat sieht George Sand als Vorbild für die gegenwärtige Lage in
Frankreich. Ihre Beschäftigung mit der böhmischen Geschichte geht zurück auf das durch die
Saint-Simonisten54 ausgelöste Interesse für die Rechte der Arbeiterklasse. Für das politische
Bemühen ihrer Zeit sieht sie die Vorläufer in den vor 400 Jahren gefundenen Entwicklungen
in der böhmischen Geschichte. In verschiedenen Romanen lässt sie immer wieder
Zusammenhänge dieser böhmischen geschichtlichen Entwicklung einfließen. Ihre politischen
und gesellschaftlichen Überlegungen, wie sie in einem breiten Kreis von Schriftstellern,
Gelehrten und Künstlern in Paris diskutiert werden, befassen sich in diesen Jahren ebenfalls
mit der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft. Die beiden Briefe vom Sommer 1835 an
Franz Liszt sind als direkte Erwiderung auf dessen Äußerungen zu diesem Thema zu
verstehen. Franz Liszt hatte am 10. und am 17. Mai 1835 zur Situation des Künstlers Stellung
bezogen. In seinem von Bitterkeit unterlegten, „De la situation des artistes et de leur condition
dans la société“ betitelten Aufsatz prangert er die Geringschätzung der Künstler, insbesondere
der Musiker an. Hier stellt Liszt fest, dass der Respekt der Gesellschaft ge- 52 Op. cit.. S. 817.
53 Op. cit.. S. 818. 54 Siehe Marguerite Thibert: Le Rôle social de l’art d’après les saintsimoniens. 258 genüber den Künstlern und Musikern abgenommen habe und nicht ihren
Verdiensten entspricht. Ihre Behandlung durch die Öffentlichkeit, vom politischen, sozialen
oder religiösen Standpunkt aus betrachtet, spiegele ihr Untergeordnetsein wider. Liszt hält die
wahre Rolle des Künstlers dagegen für die eines Apostels. Für ihn sind die Künstler
Verkünder einer Religion „[…] ineffable, mystérieuse, éternelle, qui germe et grandit
incessamment dans tout les coeurs…“55. George Sand schließt sich in ihrem Brief diesen
Gedanken an und führt in Analogie zu Liszt ihre eigenen Ideen zur Musik und der Rolle des
Künstlers aus. Im Anschluss an den Vorschlag, in Böhmen eine Künstlerkolonie zu gründen,
schreibt sie der Musik die Aufgabe zu, die Menschen zu versammeln und ihnen als eine
universelle Sprache und Grenzen überschreitendes Kommunikationsmittel zu dienen. „Oui, la
musique, c’est la prière, c’est la foi, c’est l’amitié, c’est l’association par excellence.“56 Sand
benutzt ebenfalls den von Liszt aufgeworfenen Vergleich zwischen dem Musiker und dem
Apostel. Sie erzählt die Geschichte der zwölf Apostel in Hinblick auf die Funktion, die die
Musik in ihrer Entwicklung genommen hat. Sand beschreibt, wie die Apostel während ihrer
geheimen Treffen gesungen haben. Der heilige Geist habe ihnen über die Feuerzungen die
Musik gebracht. Für Sand ist die Musik eine heilige Macht, die nur auserwählte Personen
erlangen können. Den Aposteln war es mit der Musik möglich, das Christentum in der Welt
zu verbreiten. Und hierin sieht Sand die wahre Funktion der Musik. Ihre Möglichkeit ist es,
die Gesellschaft zu verändern: „L’homme, redivinisé, sortira de cette assemblée, un beau
matin de printemps, avec une flamme au front, avec les secrets de la vie et de la mort dans sa
main, avec le pouvoir de faire sortir des larmes de charité des entrailles du roc, avec la
révélation des langues que parlent les peuples encore inconnus chez nous, mais surtout avec le
don de la langue divine perfectionnée, de la musique, veux-je dire, portée à son plus haut
degré d’éloquence et de persuasion.“57 Eine grenzüberschreitende Sprache, eine göttliche
Sprache sei die Musik, verkündet Sand, sie diene den Künstlern dazu, eine neue Religion zu
etablieren. Diese neue Bewegung soll von Böhmen ausgehen. Sie stellt sich in dem Brief vor,
Liszt gründe eine Künstlerkolonie in Böhmen und erziehe seine Schüler in diesem von ihr
ausgeführten Sinne. In ihrem Roman Consuelo, La Comtesse de Rodolstadt, der das Schicksal
der Titelheldin als 55 Franz Liszt: „De la situation des artistes et de leur condition dans la
société.“ In: Revue et Gazette musicale de Paris. 1. livraison. 10. und 17. Mai 1835. S. 38. 56
George Sand: Lettres d'un voyageur. S. 818. 57 Ebd. S. 819. 259 Sängerin schildert, wird
Böhmen Handlungsort. Consuelo flüchtet vor einer unglücklichen Liebesbeziehung aus
Venedig nach Böhmen und lernt dort ihren neuen Liebhaber kennen. Das Land wird als wild
und ursprünglich beschrieben, mit dichten Wäldern und unheimlichen Schlössern, die von
Sagen umgeben sind. Die Geschichte der Reformisten wird ebenso in die Handlung integriert
wie Sands Vorstellungen zur Musik. Die Musik ist im Roman ein Mittel der Kommunikation
von Gefühlen und innerer Stimmung. „La musique dit tout ce que l’âme rêve et pressent de
plus mystérieux et de plus élevé. C’est la manifestation d’un ordre d’idées et de sentiments
supérieurs à ce que la parole humaine pourrait exprimer. C’est la révélation de l’infini.“58 In
der ländlichen Bevölkerung Böhmens findet die Sängerin Consuelo den Ursprung dieser der
Sprache überlegenen Kraft der Musik. Die nationalen und religiösen Gesänge, die auf den
Feldern und in den Dörfern gesungen werden, hätten eine Kraft, die sie ihrer Unberührtheit
verdanken. Weil sie fern der Zivilisation und nah an der Natur leben, haben diese Gesänge
ihre Bedeutung für George Sand: „Il y a une musique qu’on pourrait appeler naturelle, parce
qu’elle n’est point le produit de la science et de la réflexion, mais celui d’une inspiration qui
échappe à la rigueur des règles et des conventions. C’est la musique populaire : c’est celle des
paysans particulièrement. […] D’ailleurs le génie du peuple est d’une fécondité sans limite. Il
n’a pas besoin d’enregistrer ses productions; il produit sans se reposer, comme la terre qu’il
cultive; il crée à toute heure, comme la nature qui l’inspire.“ 59 In ihrem Künstlerroman La
dernière Aldini (1840) bekommt dieses Böhmenbild seine Fortsetzung. Der Sänger Lélio ruft
seinen Künstlerfreunden zu: „L’artiste a pour patrie le monde entier, la grande Bohême,
comme nous disons.“60 Sand sieht das Künstlerdasein in einem Land beheimatet, das nicht
geographisch gebunden ist, sondern vielmehr die Identität stiftet. Die Künstler sollen sich
nicht durch ihre Gebundenheit an einen Ort auszeichnen, sondern im Gegenteil durch ihre
Ungebundenheit auffallen. Diese Ungebundenheit erhebt sie zu einem künstlerischen
Daseinsprogramm: „Mais les temps sont venus où l’inspiration divine n’est plus arrêtée aux
frontières des États par la couleur des uniformes et la bigarrure des bannières. Il y a dans l’air
je ne sais quels anges ou quels sylphes, messagers invisibles du progrès, qui nous apportent
l’harmonie et la poésie de tous les points de l’horizon.“61 Nicht nur das Überschreiten der
Grenzen zwischen Ländern sieht sie als Ziel an, sondern auch das Überschreiten der 58
George Sand: Consuelo. La Comtesse de Rudolstadt. Band 1. S. 384. 59 Op. cit.. S. 415ff. 60
George Sand: La Dernière Aldini. S. 133. 61 Ebd. 260 Grenzen, die die verschiedenen
Klassen einer Gesellschaft von einander trennen. In ihrer Vorstellung der Lebenswelt des
idealisierten Böhmen leben die Menschen dort ohne eine Trennung der Klassen. „Narguons
l’orgueil des grands, rions de leurs sottises, dépensons gaiement la richesse quand nous
l’avons, recevons sans souci la pauvreté si elle vient; sauvons avant tout notre liberté,
jouissons de la vie quand même, et vive la Bohême !“62 Sie wiederholt noch einmal ihren
Ausruf „Vive la Bohême !“ und beendet damit ihren Roman. 4. Gérard de Nervals Flucht aus
Paris Nerval schließt sich dem bereits entstandenen Böhmenmythos an. Sein Bild ist von den
Vorgaben George Sands geprägt. Er sieht ebenfalls ein entlegenes Land, in dem die
verschiedenen Vorstellungen der Literatur ihren Ausdruck finden. Deutlich ist die bereits in
Shakespeares Wintermärchen gebrauchte arkadische Stimmung zu erkennen. Schon der Titel
stellt eine Beziehung zwischen Shakespeares und Watteaus idealisierten und geheimnisvollen
Welten her. Die „fête galantes“ sieht Nerval im Rückblick auf 1835 in ihren eigenen Festen in
der impasse de Doyenné umgesetzt. Das Evozieren der arkadischen Tradition – z. B. das
vorangestellte Zitat aus dem Schäferstücks Il Pastor fido von Giovanni Battista Guarini –
verwundert deshalb nicht. Nerval lässt das Leben der Künstler in dem Abruchviertel wie eine
arkadische Szene erscheinen. Er bezeichnet sich und Houssaye mit dem Ausdruck „Arcades
ambo“63, was in der Übersetzung „wir beiden Arkadier“ heißt und aus Vergils Bukolika
stammt. Die übrigen Teilnehmer des Festes bezeichnet er als „Brüder“. Das Gesamtbild ist
das einer glücklichen Zeit. „Quels temps heureux !“64 Keine Verbindung lässt sich zu den
melancholischen Bohème-Geschichten von Murger oder dem bitter-düsteren
Künstlerschicksal in der Geschichte „Chien- Caillou“ von Champfleury finden. Nerval scheint
sich von diesen Autoren abheben zu wollen und sein mit dem Begriff Boheme in
Zusammenhang stehendes Verständnis aus dem etablierten Kontext herauslösen zu wollen.
Nur so ist der Ausruf zu verstehen: „Nous étions jeunes, toujours gais, souvent riches…“.65
Das Leben ist aus der Realität herausgelöst und den Gesetzen der Künstlichkeit unterworfen.
Die Hindernisse und Schwierigkeiten einer Künstlerlaufbahn werden nicht erwähnt, und 62
Ebd. S. 254. 63 Gérard de Nerval: La Bohême galante. S. 1148. 64 Ebd. S. 236. 65 Ebd. S.
236. 261 die festliche Stimmung grenzt das Leben von den gewohnten Schwierigkeiten des
Alltags ab. Die Stimmung steigert sich, bis ein richtiges Bachanal entstanden ist. Ronsards
Schilderung des Bachanal von 1549 weist Parallelen zu Nervals Werk auf66. Nerval
beschreibt, wie der Wein in Strömen fließt, alle sind so berauscht, dass man sich Sorgen
machen muss, den Kopf an den Ecken der Möbel zu stoßen. Die antiken Götter werden
angerufen, genau so, wie es in der Beschreibung von Ronsard geschieht. Die
Künstlergesellschaft beschließt ebenfalls eine Wanderung zu unternehmen, hinaus aus der
Stadt, in Analogie zu Ronsards Gang: Ziel ist das Café Madrid im Bois de Boulogne. Nerval
beschreibt, wie die Gruppe – „une troupe de masques tapageurs“67 – am folgenden Morgen
lärmend loszieht. In dieser Situation kommt es jedoch zu einem Wendepunkt. In den
Tuileriengärten setzt sich der Ich-Erzähler von der Gruppe seiner gerade gemachten
Bekanntschaft ab. Der Maler Rogier fragt ihn: „Comment ! tu ne nous suis pas; cette dame n’a
plus d’autre cavalier que toi … et elle t’avait choisi pour la reconduire.“68 Der Ich-Erzähler
lässt sich nicht umstimmen und kommentiert seine Entscheidung trocken: „J’avais quitté la
proie pour l’ombre… comme toujours !“69 Mit diesen Worten schließt die Schilderung der
Erlebnisse in der impasse de Doyenné, aber die Erzählung nimmt damit nicht ihr Ende. Das
ganze Ausmaß der Vorstellung der Bohême galante wird erst in den folgenden Kapiteln
erkennbar. Mit dem Begriff Boheme verbindet sich für Nerval nicht das an einen Ort
gebundene Leben der jungen Künstler von Paris. Die idyllische Landschaft, die er in der
Folge in der Umgebung von Paris aufsucht, bedeutet den Anschluss an die arkadische
Stimmung der Anfangskapitel. So bedeutet der Schatten in dem letzten Zitat den in der
Hirtendichtung gemeinten Ort der Ruhe und Zurückgezogenheit. In den Kapiteln „Un jour à
Senlis“, „Visite à Ermenonville“, „Ermenonville“ und „Ver“ beschreibt er die Landschaft des
Valois und stellt es als den persönlichen Rückzugsort dar. Die Verlagerung des
Handlungsortes in ein Gebiet, das nicht mehr innerhalb der Pariser Stadtgrenzen liegt, zeigt
nicht nur eine geographische Opposition zu der ‘Stadtboheme’, sondern auch eine zeitliche
Opposition. Für Nerval repräsentiert die Boheme nicht nur die Jugendzeit eines Künstlers, so
die Definition von Balzac in seinem Werk Un prince de la bohème70, 66 Les Bacchanales ou
le Folastrissisme voyage d'Hercueil pres de Paris, dedié à la joyeuse trouppe de ses
compaignons. Fait l'an 1549 ist der Titel dieses Werkes, das Ronsard in Erinnerung an einen
fröhlichen Ausflug mit seinen Freunden des collège Coqueret schreibt. Der Ausflug wurde
mit seinem Lehrer Jean Dorât und den Freunden am Ende des Schuljahres unternommen. 67
Gérard de Nerval: La Bohême galante. S. 243. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Honoré de Balzac: Un
Prince de la bohème. S. 808. 262 sondern die unterschiedlichen Lebensalter. Die Aufstellung
der drei Alter des Poeten („trois âges du poète“, deren Ursprung in dem Vorwort der
Neuausgabe der Méditations von 1849 von Lamartine zu finden sind71), die mit den drei
Schlössern der Petits châteaux de Bohême korrespondieren, beginnt bereits mit La Bohême
galante. Denn die Verlagerung ins Valois ist eine Rückkehr zu Nervals Geburtsort, an dem er
auch seine Kindheit verbracht hat. In dieser Gegend beschreibt Nerval das ländliche Leben,
das er, flämische Malerei vor Augen, in idyllischen Szenen wiedererstehen lässt. Die
Abgeschiedenheit, die Ruhe und die Entfernung von der urbanen Zivilisation sind hier die
vorherrschenden Elemente der Beschreibung. So findet unter der Überschrift Böhmen,
ähnlich wie George Sand, auch Nerval den Zugang zu einer ursprünglichen, natürlichen
Landschaft, in der er die Sitten und Gebräuche der Landbevölkerung beobachtet. Die wie auf
den griechischen Inseln tanzenden Mädchen, die Stimme des Hirten, des Flussschiffers, des
Kutschers („la langue du berger, du marinier, du charretier“72) wird mit dem gleichen
Respekt einer George Sand aufgenommen und analysiert. Moreau sieht das Valois im Werk
von Nerval als Quelle für klassische Ideen. Das Valois hat Ähnlichkeit mit Italien und
Griechenland. Er stellt fest, dass diese Landschaft als Fluchtort für die Künstler dient, die von
ihrem Bohemeleben in der Stadt ermüdet sind: „Repentir de bohème, qui a senti la folie
germer de son désordre, se venger de ses excès? Peut-être, plus simplement, suprême retour
au Valois, à la sagesse provinciale, mal endormie au coeur des romantiques, – leur classicisme
est plus d’une fois la revanche de la province sur le Paris des bohèmes.“ 73 5. Die Flucht nach
Rom. Nikolai Gogols Entwurf einer idealen Gegenstadt zu St. Petersburg Gogols lebenslang
aufrecht erhaltene Abneigung gegenüber Petersburg kommt in seinem Werk an vielen Stellen
zum Ausdruck. Die gesellschaftliche Kälte, die im Newskij-Prospekt und in anderen
Petersburger Erzählungen im Mittelpunkt steht, wird von ihm wiederholt als zentrales
Petersburger Motiv betrachtet. In den Petersburger Skizzen, 1836, die er 1837 im 6. Band von
Puschkins Zeitschrift Sovremenik (Der Zeitgenosse) veröffentlicht, trägt Gogol seinen kri- 71
Siehe hierzu Stierles Kommentar: „Er zeichnet als ideale Figur seines Lebens den Dreischritt
von subjektiver Dichtung des Jünglings, politischer Tätigkeit des Mannes und objektiver
Dichtung des aus dem Kampf des Tages Entlassenen, der sich am Abend seines Lebens der
Betrachtung des Universellen und Göttlichen hingibt.“ Stierle: Dunkelheit und Form in
Gérard de Nervals „Chimères“. S. 24. 72 Gérard de Nerval: La Bohême galante. S. 284. 73
Pierre Moreau: Le classicisme des romantiques. S. 325. 263 tischen Standpunkt erneut vor:
„In der Tat, wohin hat es die russische Hauptstadt verschlagen – ans Ende der Welt! Ein
merkwürdiges Volk, die Russen: sie hatten ihre Hauptstadt in Kiew, doch da ist es zu warm,
da gibt es zuwenig Kälte; sie zog um, die russische Hauptstadt, nach Moskau – nein, auch da
gibt es zuwenig Kälte. So sei’s mit Gott denn Petersburg!“74 Gogol macht gleich zu Beginn
der Petersburger Skizzen seine tief empfundene Ablehnung gegenüber der russischen
Hauptstadt deutlich. Die tief greifend, in den Petersburger Erzählungen zum Ausdruck
gebrachte Abneigung gegenüber dieser Stadt wird in den Petersburger Skizzen noch einmal
essayistisch aufgearbeitet. Eine Beschreibung der Stadt, insbesondere ihrer Theaterwelt, soll
der Charakterisierung dienen. Gogol stellt fest, dass die eigentlich russische Kultur sich in der
Petersburger Welt nicht widergespiegelt findet. Der Einfluss des Auslandes sei zu stark, als
dass die russische Kultur sich durchsetzen könne. Am deutlichsten sieht er den Einfluss des
Auslandes auf das Theater hervortreten. Hier seien nicht die typischen russischen Charaktere
zu sehen, sondern Rollen, deren Ursprung deutsch oder französisch sind. Die geographische
Verlagerung der russischen Hauptstadt aus dem ursprünglichen slawischen Kernland in den
Norden empfindet Gogol als Entfernung von der russischen Kultur. Die Petersburger Skizzen
sollen zeigen, wie weit sich Petersburg bereits von der ursprünglichen russischen Kultur
entfernt hat. In der Stadt prägen die importierten Moden das Erscheinungsbild der Straße,
sowohl vor, als auch hinter den Schaufenstern. Dazu kommen die vielen Spiegelungen, in
denen sich die Petersburger betrachten können: „Ihn, den Stutzer Petersburg, umgeben von
allen Seiten Spiegel – da ist die Newa, da ist der Finnische Meerbusen.“75 Die Stadt mit ihrer
Lage am Wasser macht die Selbstschau zum Element ihres Wesens. Von dem NewskijProspekt wird, wie schon in der Novelle gleichen Namens, das Bild der sich selbst
darstellenden Masse gezeichnet: „In Petersburg, auf dem Newskij-Prospekt, promenieren um
zwei Uhr Leute, von denen man meinen könnte, sie seien den Modebildern entstiegen, die aus
den Journalen stammen und in die Fenster gestellt werden.“76 Die Petersburger Gesellschaft
ist ständig damit beschäftigt, sich selber in Szene zu setzten und zu betrachten. Dies hat zur
Folge, dass an den Abenden die Theaterbesucher mehr allgemeines Interesse wecken würden,
als die Theateraufführungen selber. In Gogols Gesamtwerk gibt es ein Romanprojekt, das sich
nicht der Schilderung des russi- 74 Nikolai Gogol: „Petersburger Skizzen.“ In: Gesammelte
Werke in Einzelbänden. Aufsätze und Briefe. S. 176. 75 Ebd. S. 177. 76 Ebd. S. 180. 264
schen Lebens widmet und die Möglichkeit einer Russlandflucht, die im wesentlichen eine
Flucht aus der Petersburger Welt ist, andeutet. Die weitgehenden Vorbehalte gegenüber der
russischen Hauptstadt finden ihren literarischen Niederschlag in dem im Jahre 1841 als
Fragment publizierten Werk Rom. Hier erzählt Nikolai Gogol das Leben eines jungen
italienischen Fürsten, der sich insbesondere für die Kunst und die Geschichte interessiert. Er
stammt aus Rom und wird für seine Ausbildung nach Paris geschickt. Die Beschreibung der
französischen Hauptstadt zu Beginn des Werkes wird zunächst von der Bewunderung und der
Anziehungskraft geprägt, die die Stadt auf den jungen Fürsten ausübt. Dieses zunächst die
Erzählperspektive prägende Urteil schlägt im weiteren Verlauf des Parisaufenthaltes um. Am
Ende des Abschnittes werden Skepsis und Abneigung in der Einstellung des Fürsten deutlich.
Auffällig sind die Parallelen zwischen der in Gogols bisherigem Werk geäußerten
Charakterisierung von Petersburg und der hier geäußerten Darstellung von Paris. „Und dann
war er in Paris, ohne Übergang seinem ungeheuerlichen Anblick ausgeliefert. Der Verkehr,
der Glanz der Straßen, das Durcheinander der Dächer verwirrten ihn, das Dickicht der
Schornsteine, die architekturlos zusammengedrängten Massen der Häuser, die ein dichtes
Flickwerk von Läden umgab, die Häßlichkeit der kahlen Brandmauern, die unübersehbare
Zahl der durcheinandergehenden goldenen Buchstaben, die an Wänden, Fenstern und
Dächern, ja selbst an Schornsteinen emporkletterten, die lichte Durchsichtigkeit der untersten,
aus lauter Spiegelscheiben bestehenden Stockwerke. Da war es, dieses Paris, dieser ewig
kochende Krater, dieser Springquell, der einen Funkenregen von Neuigkeiten, Moden,
Aufklärung und erlesenem Geschmack versprühte, kleine, aber strenge Gesetzte aufstellte,
denen sich selbst ihre Tadler nicht zu entziehen vermochten, die große Schau all dessen, was
das Gewerbe, die Kunst und jegliches Talent, das sich in weniger sichtbaren Winkeln Europas
verbarg, hervorbrachten, die Wonne und der Wunschtraum des Zwanzigjährigen, der
Umschlagplatz und Jahrmarkt Europas! Überwältigt, außerstande, zu sich zu kommen,
durchstreifte er die Straßen, die von allerlei Volk wimmelten und in allen Richtungen von
Omnibussen befahren waren, staunte über den Anblick eines Cafés, das mit einer unerhörten,
geradezu fürstlichen Ausstattung prunkte, und über die berühmten Passagen, wo ihn das
dumpfe Geräusch der Schritte einer tausendköpfigen, sich in geschlossenen Zuge bewegenden
Menge betäubte, die fast ausschließlich aus jungen Menschen bestand, und wo ihn der
flimmernde Glanz der durch das Glasdach erhellten Läden blendete, oder er blieb vor bunten
Affichen stehen, die millionenfach in die Augen stachen und von vierundzwanzig
Theatervorstellungen täglich und zahllosen Konzerten kündeten.“77 Paris ist zunächst die
Stadt der Wunder, des überwältigenden Angebots und der tausend Geschmacksrichtungen.
Nach einer Weile setzen jedoch die Gefühle der Entfremdung ein. Der Fürst verliert sich in
der Fülle des oberflächlichen Angebots. Seine anfängliche Begeisterung kühlt ab, und die
Stadt raubt ihm Orientierung und inneren Halt. Besonders deutlich 77 Nikolai Gogol: Rom.
In: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd. 6. S. 276f. 265 wird die Desorientierung am
Abend, wenn durch das künstliche Licht für die Präsentation der Waren in den Schaufenstern
eine Aufhebung der Grenzen zwischen oben und unten, draußen und drinnen stattfindet: „Und
schließlich verlor er vollends den Kopf – als diese ganze wunderbare Welt abends in
feenhaftem Gaslicht erstrahlte: Alle Häuser wurden plötzlich durchsichtig und begannen von
unten her zu leuchten; die Fensterscheiben der Läden schienen verschwunden, einfach nicht
mehr vorhanden, und alles, was dahinter ausgebreitet war, schien, glitzernd und in Spiegeln
vielfach wiederkehrend, unbewacht dazuliegen.“78 Wie bereits in den Beschreibungen von
Petersburg, spielen die Lichter und die Schaufenster eine hervorgehobene Rolle in der Präsens
urbaner Gegenstandswelt. Die alles reflektierenden Spiegel, die den oberflächlichen Schein
vervielfachen, sind auch in Paris das Symbol der Schnelligkeit und der Leichtigkeit, mit der
die Illusion und der Schein entstehen und am Leben gehalten werden. Auch in den
Restaurants findet der Fürst Spiegel vor, die „die zahllosen Damen und Herren zurückwarfen,
die sich geräuschvoll an kleinen, über den Saal verstreuten Tischchen unterhielten.“79 In
diesem Reich der Reflexe und zum Alltag gewordenen Illusionen verliert der Fürst schnell
den Halt. Er vermisst nach kurzer Zeit in Paris die Ernsthaftigkeit und die „erhaben-würdige
Idee“80, die jeder Nation zu Grunde liegen müsse. Auch in der öffentlich ausgetragenen
Politik, die er in den Lesekabinetten verfolgt, findet der Fürst keine Orientierung für seinen
Aufenthalt. Er betritt von der Lektüre der vielen Meldungen schwindelig geworden die Straße
und wartet, bis ihm die vielen einzelnen Ereignisse „den ganzen Ballast im Nu aus seinem
Kopf hinausfegen.“81 Der Fürst vermisst das Bleibende und Beständige an der Pariser Kultur.
Ihm wird die Stadt zu einem komödiantischen Theaterstück, zu einem Vaudeville: „Überall
gab es Andeutungen von Gedanken, aber keine Gedanken an sich, überall halbe
Leidenschaften, keine wirklichen; alles blieb unvollendet, alles war nur skizziert, nur flüchtig
hingeworfen – die ganze Nation war eine blendende Vignette, nicht das Werk eines großen
Meisters.“82 Analog zu den Petersburger Skizzen entwirft Gogol von Paris das Bild einer
künstlichen, oberflächlichen Scheinstadt, die sich nicht auf eine alte und gefestigte Kultur
gründen kann, sondern auf das banale Schauspiel des Alltags angewiesen ist. Zuletzt lebt der
Fürst in einer „ihm tödlich langweilig gewordenen Stadt.“83 Ihn befällt Heimweh, und er 78
Ebd. S. 277. 79 Ebd. S. 280. 80 Ebd. S. 285. 81 Ebd. S. 278. 82 Ebd. S. 285. 83 Ebd. S. 286.
266 kehrt nach Italien zurück84. Die Rückkehr nach Italien wirkt auf den Fürsten wie eine
Befreiung. Das Verlassen von Paris ist die Flucht aus einer urbanen Welt, die den Fürsten
eingeengt und sein inneres Fortkommen verhindert hat. Die Ankunft in Italien empfindet der
Fürst als Erlösung aus einer Welt des Scheins, der Schnelllebigkeit und der Täuschung. Hier
nimmt er als erstes die Kirchen wahr, die er bei seiner Ankunft vom Schiff aus sehen kann:
„In doppelter Schönheit tauchten vor ihm seine bunten Glockentürme, die gestreiften Kirchen
aus weißem und schwarzem Marmor auf[…]. Ihm fiel ein, daß er seit Jahren nicht in der
Kirche gewesen war – in den gescheiten Ländern Europas, in denen er sich aufgehalten hatte,
war ihr reiner, erhabener Sinn verlorengegangen.“85 Die Religion ersetzt ihm die Leere, die
er im Angesicht der Waren- und Modewelt empfunden hat. Der junge Fürst wird sich des
spirituellen Mangels bewusst. Darin besteht der wesentliche Unterschied zu den frühen
Werken von Gogol. Die Erkenntnis, sich in einer Scheinwelt verloren zu haben, fehlt den
Helden der Petersburger Erzählungen. Piskarjew, Tschartkow und die anderen Helden können
die Stadt, die sie in ihr Verderben führt, nicht verlassen, weder physisch noch sich, was viel
bedeutender wäre, in ihrem Bewusstsein von ihren Zwängen befreien. Dem Fürsten gelingt
die Befreiung und er nimmt um so freudiger die Welt seiner Heimatstadt Rom in sich auf, als
er den entscheidenden Unterschied zu der französischen Hauptstadt begreift. Den
Hauptunterschied zwischen Paris und Rom entdeckt er im Mangel an tief im Volk
verwurzelter Kultur. Die ästhetische Sichtweise, die der Fürst, einem Künstler ähnlich,
sogleich mit der Ankunft in Rom wiedererlernt, entsteht allein durch den Aufenthalt in Rom.
Auf dem Spaziergang durch die ‚ewige Stadt’ betrachtet er die Gebäude und Kunstwerke und
sie geben ihm das Gefühl geistiger Kraft und spiritueller Stärke wieder. „Und je weiter ihn die
Straßen führten, desto häufiger wuchsen die Paläste und andere Architekturschöpfungen eines
Bramante, Borromini, Sangallo, della Porta, Vignola und Buonarotti vor ihm auf – und
schließlich erkannte er mit aller Klarheit, daß man nur hier, nur in Italien, das Vorhandensein
einer Architektur und ihre strenge 84 Henry Troyat beschreibt in seiner Biographie den
Aufenthalt von Gogol in Paris im Winter 1840/41 mit dem Hinweis auf das Unwohlsein des
Dichters über diesen Aufenthaltsort: „Dans cet univers de vitesse, de scintillement et de
légèreté, il se sentait plus lourd que partout ailleurs. […]cette existence brillante, sautillante,
fint par éveiller la méfiance de Gogol. Pour que les apparences fussent aussi charmeuses,
c’était , pensait-il, que, derrière la façade, il n’y avait rien. Il n’était pas éloigné de croire que
les Français manquaient d’âme, ou plutôt qu’ils négligeaient de la cultiver pour se livrer à
mille activités superficielles, dont la plus novice était assurément la politique. […] Il n’était
pas venu en France pour se fondre aux Français, mais pour se sentir encore plus russe parmi
eux. De toutes ses forces, il voulait demeurer un étranger […]“. Henry Troyat: Gogol. S. 224228. 85 Nikolai Gogol: Rom. S. 287. 267 künstlerische Größe fühlte.“86 Der Fürst vertieft
sich in Rom in die Betrachtung der wirklichen Kunstwerke und erlangt auf diesem Wege ein
ästhetisches Urteilsvermögen, das zu entwickeln ihm in Paris, in der Welt der Moden und
Kleinkunst, nicht möglich gewesen war: „[Er] fühlte, wie sich sein Geschmack, der in seiner
Seele bereits begründet war, deutlich entwickelte und wie ihm jetzt vor all dieser
majestätischen, strengen Pracht der Prunk des neunzehnten Jahrhunderts niedrig, kleinlich
und völlig belanglos erschien – er taugte nur zur Ausstattung von Läden, rief nur Vergolder,
Möbeltischler, Tapezierer und Scharen von Handwerkern auf den Plan, beraubte die Welt der
Raffaels, Tizians, Michelangelos und drückte die Kunst auf das Niveau des Handwerks
herab.“87 Die Kunst Roms zeigt ihm den Weg zu der wahren Schöpfungskraft des Menschen.
Die Vertiefung in die Kunstwelt bringt dem Fürsten inneren Frieden und Ruhe, die ihm in
Paris verloren gegangen waren. Der Vergleich der beiden Städte macht deutlich, dass sich die
Beschreibung von Rom auf typisch unstädtische Momente konzentriert. Was als typisch
urbanes Treiben verstanden werden kann, fehlt in der Darstellung von Rom. Es überwiegen
die Ruhe und die erhabene Stille der Kunstwerke, die eine Welt der Vergangenheit entstehen
lassen, die sich von der immer neu entstehenden Welt der Moden und Waren im Wesentlichen
unterscheidet. Der Fürst nimmt diese Welt in sich auf, als spaziere er durch die freie Natur.
Die klassische Stadtflucht, in der der Held in der arkadischen Landschaft unter den Hirten zu
innerer Ausgeglichenheit und Ruhe zurückfindet, ermöglicht in Gogols Werk Rom. Der
Erzähler konzentriert sich, der klassischen literarischen Stadtflucht entsprechend, in seinen
Schilderungen des Fluchtortes auf das Verhältnis zwischen Umgebung und Helden. Der
Einfluss der Umgebung auf den Helden wird immer wieder in den Vordergrund des Werkes
gerückt. Es ist dieser Einfluss, der den wesentlichen Unterschied zwischen Paris und Rom
begründet. Nach einem der vielen Spaziergänge, die der Fürst unternimmt, wird berichtet:
„Wie übervoll war jedesmal sein Herz, wenn er nach Hause zurückkehrte! Wie sehr
unterschied sich dieses von ruhiger, friedlicher Stille gekennzeichnete Gefühl von jenen
unruhigen Eindrücken, die in Paris seine Seele so ruhelos erfüllten, wenn er erschöpft und
übermüdet heimkehrte, nur selten imstande, einen Wert in ihnen zu erblicken.“88 Paris wird
im Rückblick zu einer Welt der Mode und der vergänglichen Schöpfungen, wie sie typisch für
das ganze 19. Jahrhundert seien. Die Mode gilt dem Fürsten am Ende gar als die „Verderberin
und Zerstörerin all dessen, was 86 Ebd. S. 293. 87 Ebd. S. 294. 88 Ebd. S. 295f. 268
monumental, erhaben und heilig ist.“89 Für den Künstler bedeutet Paris Verderben und die
Welt Roms die Möglichkeit sich in wahrer Kunst auszubilden. Dass der Künstler in Rom eine
hervorgehobene Stellung besitzt, wird bald deutlich. Die Entwicklung des Fürsten zu einer
Künstler ähnlichen Figur hängt mit seinem neuen Lebensstil zusammen, der durch die
römische Umgebung ermöglicht wird. Rom hat eine so starke schöpferische Ausstrahlung auf
den Menschen, dass sich jeder allein durch die Betrachtung in einen Künstler zu verwandeln
scheint. „Alle die Menschen ringsum schienen zu Künstlern geworden zu sein.“90 Das
öffentliche Leben dreht sich in Rom um die Kunst. Die in Paris öffentlich diskutierten
Themen – „Kapitaleinbußen, Kammerdebatten und den spanischen Angelegenheiten“ – sind
in Rom nicht zu finden. Hier redet jeder von neu entdeckten Statuen, „von der Malweise der
großen Meister“ und über das „Werk eines neuen Malers“. Der Fürst bewundert die tiefe
geistige Versunkenheit der auf den Straßen anzutreffenden Künstler: „Strenge Sammlung und
die Spuren stiller Arbeit spiegelten sich in ihren Zügen.“ 91 Auf die deutsche Künstlergruppe
um Friedrich Overbeck anspielend92, die ihrem religiösen Auftreten und ihrer einfachen,
mönchsähnlichen Kleidung nach die Nazarener genannt werden, wird das Ideal des
Mönchkünstlers, das in der Erzählung „Das Porträt“ bereits ausgeführt wurde,
hochgehalten93. In dem Rom-Fragment wird der Fürst in die Nähe der N a z a r e n e r g e s t
e l l t , u m d e s s e n r eligiöse und künstlerische Verwandlung zu verdeutlichen. 89 Ebd. S.
295. 90 Ebd. S. 312. 91 Ebd. S. 297. 92 Die von der Wiener Akademie abgegangenen Schüler
um den Maler Friedrich Overbeck bilden 1809 nach dem Vorbild religiöser Bruderschaften
des Mittelalters eine Künstlergemeinschaft namens Lukasbund. Sie haben den romantischen
Traum von einer Erneuerung der Kunst auf religiöser Grundlage. 1810 siedeln sie nach Rom
über und beziehen das Kloster San Isodoro. Ihr Hauptwerk werden die Fresken im Palazzo
Zuccari und im Casino Massimo, Für ersteres eteitlt der preußische Generalkonsul Jakob
Salomo Bartholdy 1816 den Auftrag. Friedrich Overbeck, Peter Cornelius, Wilhelm Schadow
und Philipp Veit wählen das Thema der Josephgeschichte aus dem 1. Buch Mose im Alten
Testament. Die Malereien im Palazzo Zuccari entstehen in der Zeit 1816/1817 und im Casino
Massimo in den Jahren von 1819 bis 1830. Die Arbeiten erwecken bald breites Aufsehen,
nicht nur in Rom, wie die spätere Überführung nach Berlin in die Nationalgallerie zeigt. 93
Da die Nazarener schnell Mittelpunkt der Künstlerszene in Rom geworden sind, bekommt
Gogol noch Ende der 30er viel von ihnen zu hören. In Rom ansässig ist nur noch Overbeck.
Da das Kloster San Isodoro am Ende der Via Sistina liegt, in der Gogol im Haus Nr. 126
wohnt, ist die Nähe zu den Nazarenern auch räumlicher Natur. Gogols Interesse an den
Nazarenern geht aber maßgeblich auf den aus Petersburg stammenden Maler Alexander A.
Iwanow zurück. Dieser lebte zu Gogols Ankunft bereits eine Weile in Rom und versuchte in
vielen Beziehungen die Nazarener an religiösem Eifer zu übertreffen. Zwischen Gogol und
ihm setzt sich dieser religiöse Wetteifer und die Diskussion um den richtigen Weg der
künstlerischen Umsetzung der religiösen Überzeugung fort. Das Kolossalgemälde nach Joh.
1.29 „Der Messias erscheint dem Volke“ (heute in der Tretjakow-Galerie Moskau, Abb. 11),
an dem Iwanow mehr als zehn Jahre lang arbeitet, macht nicht nur den Einfluss der Fresken
mit der Josephgeschichte aus der Casa Bartholdy deutlich und den Versuch das religiöse
Thema noch mehr in den Vordergrund zu stellen als es die Nazarener getan haben, sondern
auch die Beziehung der beiden Künstler untereinander. Gogol ist auf dem Bild im Profil zu
erkennnen, und wird Jesus, der im 269 gestellt, um dessen religiöse und künstlerische
Verwandlung zu verdeutlichen. Wie stark diese Verwandlung von der Umgebung abhängt,
macht die Figur der Annunziata deutlich. Im Anfangsabschnitt des Fragments noch als
Kunstwerk beschrieben, trifft der Fürst sie in den Straßen Roms nach seiner Rückkehr als
lebendige Frau. Die Analogie zu der Begegnungsszene der Erzählung Der Newskij-Prospekt,
in der Piskarjew die schöne Unbekannte auf dem nächtlichen Boulevard sieht, ist von großem
Interesse. Auch der Fürst ist von der Schönheit der Unbekannten gefesselt: „Regungslos, mit
angehaltenem Atem, verschlang er sie mit den Augen. Die Schöne sah ihn schließlich voll an,
wurde aber sogleich verlegen und wandte sich ab.“94 In Umkehrung zu der Begegnung auf
dem Newskij-Prospekt treten hier Scham und Passivität in den Vordergrund. Die Schönheit
der Frau stellt sich im Verlauf des Rom-Fragments nicht als Trugbild heraus, sondern bleibt
hier in Rom erhalten. Das Bild der Annunziata stellt sich gegen das Abbild der unbekannten
Frau auf dem Newskij-Prospekt und soll auf diese Weise die wahre Schönheit der Frau
beweisen. So werden die beiden Frauen zu Symbolen der verführerischen und Unheil
bringenden sowie der ehrlichen und heilbringenden Stadt verwendet. Petersburg und Paris, die
Metropolen Europas, als verlogen dämonische Städte stehen der Wahrheit und der Heiligkeit
Roms entgegen. Die Gegensätzlichkeit der Städte Rom und Paris führt in dem Fragment dazu,
zwei unterschiedliche Lebens- und Entwicklungsräume für den Fürsten zu schaffen. Der
Stadt-Land- Gegensatz, Hauptthema der klassischen Stadtflucht, dient Gogol zum Aufbau der
antagonistischen Künstlerwelten. Nur lässt er seinen Künstler nicht in der Natur den
geeigneten Ort für seine Entfaltung finden, sondern in einer anderen Stadt. Der Gegensatz der
beiden Städte stellt das Gleichgewicht allerdings wieder her. Die unterschiedliche
Betrachtungsweise von Städten, die hier mit Paris und Rom zum Ausdruck kommt, findet in
Gogols Werk und seinen Briefen ihre Parallele durch die Opposition von St. Petersburg und
Moskau. Das Rom-Fragment wiederholt die grundlegende Haltung, die Gogol den beiden
russischen Städten gegenüber hegt und die in seinem Werk an vielen Stellen von großer
Bedeutung ist. Moskau rückt für Gogol in die Nähe Roms und nimmt die heilige Sphäre an,
die die Stadt Rom ausstrahlt95. Hintergrund auf die Menge zukommt, am nächsten
dargestellt. Der künstlerischen Beziehung zwischen Gogol und Iwanow widmet
Maschkowzew zwei Kapitel in seinem Werk. N. G. Maschkowzew: Gogol w krugu
chudoshnikow. [Gogol in Künstlerkreisen]. S. 63-131. Gogol und Iwanow in Rom behandeln
außerdem P. W. Annenkow: N.W. Gogol w Rime. Letom 1841 goda. [Gogol in Rom.
Sommer 1841]. In: Literaturaja Wospominanija. [Literarische Erinnerungen]. St. Petersburg:
1909. S. 13f. und Rolf-Dietrich Keil: Nikolai W. Gogol. Hamburg: Rowohlt 1985. S. 83. 94
Nikolai Gogol: Rom. S. 312. 95 Über die Rolle der Stadt Moskau für Russland siehe auch
Jurij M. Lotman/ B. A. Uspenskj: „Otswuki konzepzii ‚Moskwa – tretij Rim‘ w ideologii
Petra Perwogo.“ In Dieselben: Chodoshestwnnyj ja270 Die Gegenüberstellung von Moskau
und St. Petersburg ist seit Alexander N. Radischtschews Werk Die Reise von Petersburg nach
Moskau (1790) in der russischen Literatur ein beliebtes Sujet. „Die Reise von Moskau nach
Petersburg“ von Puschkin erscheint 1835 nur kurz vor Gogols „Petersburger Skizzen“96, die
wiederum eine Gegenüberstellung der beiden Städte vorführt. Die in den Petersburger
Skizzen geäußerte Kritik gegenüber der russischen Hauptstadt lebt in ähnlicher Form in der
Beschreibung von Paris wieder auf: die vielen Theatervorstellungen, die zur Schau getragene
Mode, die generelle Affektiertheit der Menschen. Dem steht die Ruhe und die Heiligkeit
Roms gegenüber, das an die Attribute erinnert, mit denen Gogol Moskau belegt hat.
Architektonische Parallelen, wie die herausragenden Glockentürme, die dem Fürsten bei der
Ankunft in Italien ins Auge fallen und die auch das Aussehen von Moskau prägen, werden
dazu genutzt, die beiden Städte einander anzunähern. Als weitere Parallele dient der NordSüd-Gegensatz. Der bereits in den Petersburger Skizzen angeführte Unterschied der
geographischen Lage dient auch in dem Rom-Fragment dazu, die Kultur des Nordens von der
des Südens abzuheben. Der Unterschied von Norden und Süden, sowie von Sommer und
Winter, spielen in der russischen Literatur eine große Rolle als poetische Gegensatzpaare97.
Auch der Auftrag Roms als Retterin der europäischen Kultur, der in dem Fragment geäußert
wird, ist ein Gedanke, den Gogol bereits Anfang der 30er Jahre in Briefen Moskau, als
Retterin der russischen Kultur, zuerkannt hat98. Die Gegenüberstellung der antagonistischen
Städte führt bei Gogol zu der Überzeugung, dass der Künstler an einem falschen und an
einem richtigen Ort leben kann und dass das urbane Umfeld prägend für die Entwicklung und
die Arbeit des Künstlers ist. Der Mönchkünstler, immer wieder im Mittelpunkt der
Kunstvorstellung von Gogol, ist auf die Stille und Erhabenheit eines Ortes angewiesen. In der
Besyk srednewekowja. Moskau: 1982. Und das Gegensatzpaar Moskau-Petersburg in Jurij M.
Lotman/ B. A. Uspenskj: „The role of dual models in the dynamics of russian culture (up to
the end of the Eighteenth Century).“ In Dieselben: The Semiotics of Russian Culture. Hrsg.:
Ann Schukman. Ann Arbor: University of Michigan 1984. S. 3-35. 96 Gogol kannte
Puschkins Text allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Siehe Jurij V. Mann: „Moskwa w
twortscheskom sosnanii Gogolja.“[Moskau in Gogols künstlerischen Bewusstsein.] In:
Moskwa i moskowskij tekst. Russkoj kultury. Hrsg.: G. S. Knabe. Moskau: Rossijskij
gosudarstwennyj gumanitarnyj uniwersitet 1998. S. 71. 97 Der Norden und der Winter stehen
häufig in der russischen Literatur für die Krankheit, die Bedrohung und die Entbehrung, der
Süden und der Sommer hingegen für die Gesundheit und die Lebensfreude. Als Beispiel führt
Jurij Mann das Werk Puschkins an. Im Ehernen Reiter werden die Jahreszeiten dazu
eingesetzt, das zerstörerische Geschehen der Flut in der Novembernacht dem Überwinden und
dem Aufräumen in der Frühlingszeit nach der Eisschmelze gegenüberzustellen. Siehe
ebenfalls die Gedichte von Puschkin: „Der sommerliche Morgen“, und „Sommer. Was
machen wir im Dorf?“ und die gegensätzliche Behandlung der Sommer- und Winterzeit in
Evgenin Onegin. Vgl. Jurij V. Mann: Moskwa w twortscheskom sosnanii Gogolja. S. 73. 98
Siehe Ebd. S. 65ff. 271 schreibung Roms herrschen diese Merkmale vor und lassen den
Erzähler „das Idyll mitten in der Stadt – eine auf dem Straßenpflaster rastende Ziegenherde,
das Geschrei der Kinder und die bei alledem dennoch irgendwie spürbare heitere, feierliche
Stille, die den Menschen umfing“ 99, spüren. Der Kirchenbesuch des Fürsten gleich nach
seiner Rückkehr und seine wiedererweckte Religiosität machen deutlich, wie Religion und
ästhetisches Empfinden miteinander im Einklang stehen. Rom eignet sich im Unterschied zu
den übrigen Städten Europas als einzige, ihm das religiöse Denken zurückzugeben. Im Laufe
von Gogols Leben nahm die Überzeugung von der spirituellen Vermittlungsaufgabe der
Kunst immer breiteren Raum ein. Der Fürst kann in diesem Sinne als Vorstufe des
Mönchkünstlers verstanden werden. Denn auch er lässt sich immer stärker von seinen
religiösen Gefühlen leiten. Der Fragmentcharakter dieses Werkes ist aber auch darin
erkennbar, dass diese Figur nicht eindeutig auf diese Rolle festgelegt wird. Der Ort spielt eine
bedeutendere Rolle als die Figur. Dies wird auch im abrupten Ende erkennbar, in dem sich
andeutet, worin die poetische Aufgabe des Fürsten eigentlich besteht. Er steht an einem
Aussichtspunkt über der Stadt und betrachtet den Sonnenuntergang über Rom: „[…] Mein
Gott, welch Anblick! Der Fürst vergaß, von ihm gebannt, sich selbst, die Schönheit
Annunziatas, das geheimnisvolle Schicksal seines Volkes und alles andere auf der Welt.“100
Die Figur gelangt nicht aus sich selbst heraus zu neuer spiritueller Kraft, sondern wird von
ihrer Umgebung maßgeblich geprägt. Das Versinken des Fürsten bei der Betrachtung Roms
macht die Abhängigkeit der Figur von ihrer Umgebung bereits in deren Konzeption deutlich.
Dass die Welt Roms der Natur angenähert wird, macht nicht nur die Beschreibung der Stille
und Einsamkeit deutlich, die der Fürst hier erlebt, sondern auch die Darstellung
landwirtschaftlichen Lebens inmitten der Stadt. Der entscheidende Aspekt, der Rom zum Ziel
der Stadtflucht macht, ist aber das Fehlen der phantastischen Verzerrung, die die Petersburger
Welt im Werk prägt. Gogol scheint sich von dem in die Groteske und Phantastik
hinübergleitenden Erzählstil zu lösen, um im Rom-Fragment eine Welt der Ordnung und
Harmonie darzustellen. Das Fehlen der Deformation, der Übertreibung und der Stilisierung
zeichnet die Darstellung Roms aus. So beschreibt Gogol mit dem Fürsten nicht einen
Charakter wie Piskarjew oder Tschartkow, die durch eine Welt der Übersteigerungen und
Verdrehungen wandeln, sondern jemanden, der sich von der Erweiterung der Realitäten gelöst
hat. Der Fürst ist nach der Flucht aus Paris wieder Herr seines Vorstellungsvermögens
geworden und nicht 99 Nikolai Gogol: Rom. S. 292. 100 Ebd. S. 326. 272 dem Einfluss von
Schein und Trug eines urbanen Betriebes unterworfen. Hinter dieser Befreiung verbirgt sich
eine künstlerische Entwicklung. Denn Gogol stellt in der Figur des Fürsten seine eigene
Erlösung dar. Wie weit sich die künstlerische Tätigkeit von Gogol mit den Aufenthaltsorten
verschränkt hat, ist in seinen Briefen und von Zeitzeugen dokumentiert. Dabei geht es häufig
um die Schaffenskrise, in die Gogol nach der Aufführung seines Theaterstücks Der Revisor in
St. Petersburg 1836 gerät. Der künstlerische Prozess verschränkt sich, Gogols Meinung nach,
mit dem Aufenthaltsort des Künstlers. Seine künstlerische Schaffenskraft erlangt er selbst
nach längerem Aussetzen des Schreibens erst in Rom zurück, wo er seinen Roman Die toten
Seelen zu Ende schreibt. In seinen Briefen wird Rom mehrfach als der Ort beschrieben, der
ihm die innere Ruhe für die Schaffenskraft wiedergibt. Der Unterschied zwischen Rom und
der Heimat, sowie den anderen Städten Europas steht dabei wiederholt im Vordergrund. Aus
Paris schreibt er: „Über Paris will ich dir nicht schreiben. Die Atmosphäre hier ist durch und
durch politisch, und ich habe die Politik stets gemieden. Nicht Sache des Dichters ist es, sich
in den weltlichen Jahrmarkt zu drängen. Gleich einem schweigsamen Mönch lebt er in der
Welt, ohne ihr zu gehören, und seine reine, makellose Seele versteht nur Zwiesprache mit
Gott zu halten.“101 Rom bedeutet für Gogol eine gegensätzliche Welt zu der russischen, und,
in dieser gespiegelt, der französischen Hauptstadt. Der Gegensatz der Atmosphäre in den
Städten, den Gogol in seinem Werk darstellt, und auf seine persönliche schriftstellerische
Entwicklung Auswirkung zeigt, beruht auf der unterschiedlichen Kultur der Länder. Zudem
findet er aber, wie Lorenzo Amberg schreibt, in Rom zu einer inneren Einstellung, die aus
dem Abstand zu Russland herrührt. Denn die Distanz zu der Heimat ermöglicht es Gogol,
diese um so schärfer in seinem schriftstellerischen Blickfeld zu erfassen: „Gogol’ benötigte
offensichtlich einen größtmöglichen Kontrast des Dargestellten zum Intendierten; so ist denn
‘Rim’ auch Fragment geblieben. Trotz seiner Begeisterung für Rom sieht Gogol’ stets
Russland als den Hauptgegenstand seiner Dichtung an, ja es scheint, als ob Gogol’ durch
seine Reisen zeitlebens versucht habe, in wechselnder Distanz die Sehschärfe zu diesem
Gegenstand einzustellen und ihn so, gemäß einer seiner ästhetischen Grundideen, von
möglichst vielen Seiten zu beleuchten. ‘Schon in meiner Natur selbst ist die Fähigkeit
enthalten, dass ich mir eine Welt nur dann lebendig vorstellen kann, wenn ich mich von ihr
entfernt habe. Deshalb kann ich über Russland nur in Rom 101 Brief an M. P. Pogodin vom
28. November (16. November russischer Zeitrechnung) 1836 aus Paris. Nikolai Gogol:
Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd. 6. S. 512. 273 schreiben. Nur dort stellt es sich mir
ganz, in seiner ganzen ungeheuren Masse dar.’ (1842 an M.P. Pogodin)“102 Rom wird für
Gogol der geeignete Ort für die Arbeit an den Toten Seelen, nicht nur weil er aus der
Entfernung Russland besser betrachten und beschreiben kann, sondern auch weil er hier die
Ruhe zu einer auf sich und sein Werk konzentrierten Versenkung findet. Beides hängt für
Gogol eng zusammen und sein Streben als Künstler zeigt die Verbundenheit, die er mit der
Stadt Rom empfindet103. In seinem Werk stellt Gogol die Künstlerfiguren in ein ähnliches
Beziehungsverhältnis zu ihrer Umwelt. Gogol versucht die eigene Anschauung über die von
ihm bewohnten Orte mit dem Schicksal seiner Künstlerfiguren zu verbinden. Im Gegensatz zu
der Verheißung der Idealstadt Rom steht die Darstellung Petersburgs. Die Schilderung des
Untergangs der Maler Piskarjew und Tschartkow in den beiden Werken Der NewskijProspekt und Das Porträt zeigt das verhängnisvolle Schicksal, das den Künstler mit den
dunklen Seiten der Stadt verbindet. Von der Beschreibung der verirrten Charaktere, wie z. B.
auch Tschitschikows, des Protagonisten des ersten Teils der Toten Seelen, wollte Gogol in
dem zweiten Teil der Toten Seelen zu der Darstellung der geläuterten Helden finden. Der
Protagonist des Rom-Fragments stellt nach der Meinung von Richard Peace den Versuch dar,
einen Charakter zu schaffen, der sich aus den philisterhaften gesellschaftlichen Verhältnissen
Russlands lösen kann und – im Gegensatz zu Tschitschikow und den Helden der Petersburger
Erzählungen – zu einer inneren Freiheit findet. Dabei verschiebt sich die Perspektive des
Erzählers von der Betrachtung der Außenwelt zur Betrachtung des Inneren der Figuren.
Bilden die Helden der Petersburger Erzählungen noch hauptsächlich ihr Inneres in der
Außenwelt ab, und ist ihre Psychologie an der Objektwelt ablesbar, soll das Innenleben des
Helden des zweiten Teiles der Toten Seelen auf direktem Wege beschrieben werden. Der
Fürst ist laut Peace der Versuch, in der spirituellen Rekonvaleszenz zu einem mehr
psychologischen Beschreibungsstil zu finden. Damit stellt die Stadtflucht auch für die Poetik
von Gogol ein wesentliches Moment dar. Sie bedeutet den Versuch, die Protagonisten aus der
äußerlichen Bedingtheit ihres Lebens herauszulösen und in einem von moderner Kultur und
Gesellschaft freien Raum zu einer geläu- 102 Lorenzo Amberg: Kirche, Liturgie und
Frömmigkeit im Schaffen von N.V.Gogol. Bern/Freiburg: Lang 1986. S. 135. 103 Siehe auch
die These von Donald Fanger, Gogol schaffe sein Werk aus dem Stil, der Sprache, der
Kreation und der Erfindung. Gogol habe für die Toten Seelen nicht die Provinz studiert,
sondern die Romanwelt aus seinen artistischen, formenden und imaginären Fähigkeiten
erschaffen. Das Schreiben behaupte seine eigene materielle Existenz gegenüber der
Abwesenheit von Berührung mit der Wirklichkeit. Donald Fanger: The Creation of Nikolai
Gogol. Cambrigde: Harvard University Press 1979. S. 8f. 274 terten Existenz finden zu
lassen. Da Gogol den zweiten Teil der Toten Seelen verbrennt und auch das Rom-Fragment
nicht vollendet, muss die Suche nach dieser Loslösung letztendlich als gescheitert angesehen
werden. Die römische Welt bleibt, dies zeigt auch die Spannungslosigkeit der Fürsten-Figur
und des gesamten Textes, eine Utopie, deren poetische Anlage der arkadischen Welt
entspricht, die aber als Handlungsort nicht für eine Fortführung der großen Werke von Gogol
herhalten kann. In Gottfried Keller Roman Der grüne Heinrich (1. Fassung) dient die
Jugendgeschichte dazu, in der Heimatstadt Heinrichs einen Gegensatz zu der Welt Münchens
aufzubauen. Die Flucht in die Schweizer Heimat am Ende des Romans zeigt ebenfalls
Heinrichs Drang nach Loslösung von München, die von einem ähnlichen Willen herrührt wie
der des Fürsten. Der utopische Charakter, den die Heimat für Heinrich während des
Aufenthaltes in München behält, bleibt mit der Rückkehr nicht mehr bestehen. Der Tod der
Mutter bedeutet das Ende von Heinrichs Wunschvorstellungen einer schutzbietenden Sphäre.
Die intendierte Flucht aus der Stadt misslingt, Heinrich muss sich eingestehen, dass der
aufrechterhaltene Glaube an die Freiheit außerhalb der Stadt nicht in Erfüllung geht. Der
Gegensatz von Stadt und Land ist in diesem Fall eine Täuschung gewesen. V –
SCHLUSSWORT „Es ist doch wohltuend, zwischendurch einmal zu fühlen, dass man in
Gottes Hand ist, und sich nicht immer und ewig in den Winkeln einer wohlbekannten Stadt
herumzuschleichen, wo man immer einen Ausweg weiß.“ Kierkegaard: Berliner Tagebücher.
„Schneller als Moskau selber lernt man Berlin von Moskau aus sehen.“ Walter Benjamin:
Moskauer Tagebuch. Die vier Aspekte, die das Verhältnis von Künstler und Stadt im
wesentlichen prägen, – die Begegnung und die poetische Eroberung, die Eingliederung in die
Scheinwelt, die Enttäuschung und die Verdunkelung, sowie die Flucht aus der Stadt –
verdeutlichen das epische Ausmaß dieses literarischen Sujets auf der einen Seite, auf der
anderen Seite machen sie die poetischen Möglichkeiten der Abbildung urbaner Lebenswelt
deutlich. Anders als bei der Darstellung von Natur oder Landschaft wird in der Wiedergabe
der Stadt ein ständig unterschwellig präsenter Konflikt der den Ort betretenden und
wahrnehmenden Figuren erkennbar. Die Auseinandersetzung mit der Stadt erfordert einen
Kampf, der die handelnden Figuren in ihrem inneren Wesen und Leben nicht unberührt lässt.
Der Künstler setzt sich in besonderem Maße dieser Spannung aus, weil seine Empfindsamkeit
für die Wahrnehmung der äußeren Welt höher als bei andern Charakteren ist. Die Darstellung
der Konfrontation der Außenwelt Stadt mit der Innenwelt des Künstlers eröffnet der Literatur
besonders ausdrucksstarke Methoden für die Darstellung des urbanen Raumes. Das Bild der
Stadt in der Literatur entwickelt dabei eine immer größer werdende Abhängigkeit von der
Künstlerfigur. In der Mitte des Jahrhunderts wird der Einfluss der Stadt auf den Menschen
bereits als etwas dem Ort wesenhaftes verstanden. Dostojewski schreibt in sei276 nem Roman
Schuld und Sühne 1866: „Es gibt wenige Orte, wo sich so viele trübe, starke, seltsame
Momente, die auf die menschliche Seele wirken, vereinigt finden wie in Petersburg. Wie
mächtig sind allein schon die Einwirkungen des Klimas!“1 Der Ort, an dem Raschkolnikow
diese starken Eindrücke auf seine Seele erlebt, ist eine der Brücken über der Newa. Der Ort ist
bezeichnend: Das Wasser um sich herum, in einem Zustand des Übergangs, nicht in der Stadt,
sondern in einem Zwischenraum, in einem Niemandsland, das seinem inneren Zustand
entspricht, hier erfährt der Held in einem Moment der Besinnung die Eindrücke seiner
Umwelt. Die Ausführung der schicksalhaften Verbindung des Helden mit seiner Umwelt ist
poetischer Gegenstand des Romans. Das Gefühl von der Stadt, die Darlegung des Reflexes
des urbanen Raumes im Inneren der Figur wird hier zusammengefasst. Die Spiegelung ist der
entscheidende Ausgangspunkt städtischer Beschreibung in Dostojewskis Roman. Je
mythischer dabei die urbane Lebenswelt, je schicksalshafter die Verkettung der Bewohner
untereinander, desto mehr tritt ein Bild der Stadt in den Vordergrund, das sich lediglich als ein
Reflex der inneren Wahrnehmung des Protagonisten versteht. Andere Figuren sind wegen
ihrer Wirkung und ihrem Symbolgehalt für die innere Entwicklung Raschkolnikows von
Bedeutung und nicht als selbstständige Subjekte des Romans. Das Verständnis der Bilder der
Stadt hängt in vielen Werken, in denen die Stadt eine hervorgehobene Rolle besitzt, von den
handelnden Figuren ab. Die urbane Welt wird in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als die
Spiegelung in einem individuellen Bewusstsein verstanden denn als ein aus festen Objekten
zusammengesetzter Ort. Die Stadt als ein Platz, der räumlich strukturiert ist und eine Ordnung
besitzt, ist weder bei Dostojewski noch bei anderen Autoren dieser Zeit zu finden. Die
Fixierung oder die Zuordnung der Gegenstände tritt in den Hintergrund. Allein ihre Wirkung
auf das Subjekt ist von entscheidender Wichtigkeit. Die Stadt als Reflex in einem
Bewusstsein ist auch für Charles Dickens von literarischer Tragweite. Seine Spaziergänge
durch London sind von der Überzeugung geprägt, in der Literatur einen momentanen
Augenblick in der ständigen Veränderung der Stadt festhalten zu können. Besonders
sinnfällig wird dies in der Beschreibung des Viertels von Scotland Yard. Die Vorstellung von
dem Viertel vor dem Umbau geht mit den Bewohnern der Stadt verloren, die den
ursprünglichen Zustand noch in ihrer Erinnerung behalten haben: „Amidst all this change, and
restlessness, and innovation, there remains but one old man, who seems to mourn the
downfall of this ancient place. He holds no converse with human kind, but, seated on a
wooden bench at the angle of the wall which fronts the 1 Fjodor Dostojewski: Schuld und
Sühne. In: Sämtliche Romane und Erzählungen. Band 9. S. 680. 277 crossing from Whitehall
Place, watches in silence the gambols of his sleek and well-fed dogs. He is the presiding
genius of Scotland Yard. Years and years have rolled over his head; but in fine weather or in
foul, hot or cold, wet or dry, hail, rain, or snow, he is still in the accustomed spot. Misery and
want are depicted in his countenance; his form is bent by age, his head is grey with length of
trial, but there he sits from day to day, brooding over the past; and thither he will continue to
drag his feeble limbs, until his eyes have closed upon Scotland Yard, and upon the world
together. A few years hence, and the antiquary of another generation looking into some
mouldy record of the strife and passions that agitated the world in these times, may glance his
eye over the pages we just filled: and not all his knowledge of the history of the past, not all
his black-letter lore, or his skill in book-collecting, not all the dry studies of a long life, or the
dusty volumes that have cost him a fortune, may help him to the whereabouts, either of
Scotland Yard or of any one of the landmarks we have mentioned in describing it.“2 Ohne die
menschliche Kraft des Erinnerungsvermögens geht auch das Bewusstsein der Stadt verloren.
Die Chroniken und die Archive, selbst die Literatur können nur zum Teil eine Vorstellung für
die vergangene Stadt wachhalten. Das wahre Bild der Stadt, ihr ursprünglicher Zustand kann
allein im menschlichen Erinnerungsvermögen lebendig bleiben. In der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts bekommt die ästhetische Verschränkung von Innen- und Außenwelt besonders
im Symbolismus neue poetische Substanz. Der Aufbau der Welt in Korrepondenzen
erleichtert das Verständnis der Beziehung von Objekt und Subjekt. Baudelaires Überzeugung,
dass die Welt in einer mystischen Einheit zusammengefasst werden kann, wird besonders
deutlich in seinem Aufsatzt Richard Wagner et Tannhäuser à Paris (1861): „Les choses s’étant
toujours exprimées par une analogie réciproque, depuis le jour où Dieu a proféré le monde
comme une complexe et indivisible totalité.“ Diese von Swedenborg beeinflussten Gedanken
bringt Baudelaire in seinem Gedicht Correpondance zum Ausdruck und bereitet damit den
Symbolisten entscheidend den Weg. Das Werk Bruges-la-Morte von Georges Rodenbach ist
eine Fortführung der in dieser Untersuchung behandelten Aspekte. Das Werk schlägt eine
Brücke zwischen der Stadt in der ersten und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das
symbolistische Werk zeigt Brügge als Korrepondenzwelt zur inneren Verfassung des
Protagonisten Hugues Viane. Rodenbach verwendet zur Unterstützung der Verinnerlichung
zwei Spiegeleffekte, die er parallel und ineinander verschränkt benutzt: Die Wasserspiegelung
und die Photographie. Diese unterstützen, begleiten und symbolisieren die im Text
beschriebenen Spiegelungen der Außenwelt im Inneren des Helden. Das Wasser in den
Kanälen von Brügge ist der ständige Begleiter von Viane 2 Charles Dickens: Sketches by
Boz. Illustration of every-day Life and every-day people. Oxford: Oxford University Press
1957. S. 67f. 278 auf seinen einsamen Spaziergängen3. Den Schmerz über den Tod seiner
Frau kann die Hauptfigur des Romans nicht überwinden. Deshalb ist Viane auf einen Ort
angewiesen, der ihm das Gefühl der Trauer vermittelt. In dem von der mittelalterlichen
Architektur geprägten, von Nebeln und Schatten beherrschten, herbstlichen Brügge findet er
diesen Ort der Analogie zu seiner inneren Verfassung. Die ressemblance wird zum
bestimmenden Motiv des Romans: „Hugues songeait: quel pouvoir indéfinissable que celui de
la ressemblance!“4 Die Macht der Reflexe, der Schatten und Spiegelungen nimmt den Helden
immer mehr gefangen, bis er nicht mehr die Erscheinungen von den wirklichen Gegenständen
und Personen unterscheiden kann. Damit hat sich der Dämon der Analogie seiner bemächtigt:
„Le démon de l’Analogie se jouait de lui!“5 Die Stadt wird hier zu einer zweiten Person
neben dem Protagonisten und verkörpert seine Empfindungen und seine Trauer. Das Wasser
wird zum Spiegel der Seele, die Schatten der Kirchtürme fallen auf die Seiten des Textes, der
Nebel verhüllt die Straßenzüge genauso wie die Gedanken von Viane. Die verschiedenen
Wirklichkeiten schieben sich soweit zusammen, bis eine Unterscheidung von fiktiver Stadt
und wirklicher Stadt aufgehoben scheint. Dieses Spiegelverfahren lebt auch noch im 20.
Jahrhundert fort. Auch die großen Städte werden zur Korrespondenzwelt. Walter Benjamin,
der in seinen Denkbildern („Paris, die Stadt im Spiegel“) die Hauptstadt Frankreichs zur
Spiegelstadt erklärt, macht auf die moderne Spiegelmethoden aufmerksam: „In tausend
Augen, tausend Objektiven spiegelt sich die Stadt. Denn nicht nur Himmel und Atmosphäre,
nicht nur Lichtreklamen auf abendlichen Boulevards haben aus Paris die »Ville
Lummière« gemacht. – Paris ist die Spiegelstadt: Spiegelglatt der Asphalt seiner Autostraßen.
Vor allen Bistros gläserne Verschläge: die Frauen sehen sich hier noch mehr als anderswo.
Aus diesen Spiegeln ist die Schönheit der Pariserin getreten. Bevor der Mann sie erblickt,
haben sie schon zehn Spiegel geprüft.“6 Die Mythologie der Großstadt ist nicht von den
modernen Techniken abhängig. Wasser 3 Die Bedeutung des Wassers für die Beschreibung
und Wahrnehmung einer Stadt hebt Roland Barthes hervor: „Il y a une relation entre la route
et l’eau, et nous savons bien que les villes qui offrent le plus de résistance à la signification,
[…] sont justement les villes privées d’eau, les villes sans bord de mer, sans plan d’eau, sans
lac, sans lac, sans fleuve, das cours d’eau; toutes ces villes présentent des difficultés de vie, de
lisibilité.“ Roland Barthes: „Sémiologie et urbanisme“. In Ders.: L’aventure sémiologique.
Paris: Seuil 1985. S. 270. Siehe auch das oben angeführte Zitat aus Schuld und Sühne von
Dostojewski, das den Helden in der Nähe des Wassers zeigt. 4 Georges Rodenbach: Brugesla-Morte. Hrsg.: Jean Pierre Bertrand/ Daniel Grojnowski. Paris: Flammarion 1998. S. 127.
Rodenbach kennt das Prosagedicht „Le démon de l’analogie“ von Mallarmé, geschrieben
1864 und zuerst veröffentlicht in der Revue du Monde nouveau 1874. 5 Ebd. S. 102. Etwas
früher heisst es bereits „la diabolique ressemblance“. Ebd. S. 98. 6 Walter Benjamin: „Paris,
die Stadt im Spiegel“. In: Gesammelte Werke. Band IV. Abt. 1. S. 358. 279 und
Fensterscheiben sind lange vor den neuen Medien in der Lage, die Bewohner mit ihrem eigen
Spiegelungen zu konfrontieren. Die Beschreibung der Passage de l’Opéra in Aragons Paysan
de Paris zeigt, wie sich der Betrachter in einer der Stadt entgegengesetzten Welt verlieren
kann. Die Spiegelung wird das Symbol für das Verfahren der Übertragung der äußeren
Bedingungen, Verhältnisse und Begebenheiten auf das Innere der auftretenden Personen. Wie
sehr der Künstlerroman noch am Ende des Jahrhunderts auf der Korrepondenswelt aufbaut,
machen die Schriftsteller Knut Hamsun und August Strindberg deutlich. Hamsun verwendet
das Korrespondenzverfahren, um seinem Helden in dem Roman Hunger (1890) die Umwelt
auf den Leib zu schreiben. Der Anfangssatz gibt das ineinanderverwobene und mehrfach
reflektierende Erzählverfahren vor: „Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und
hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet worden
ist...“7 Die Stadt Oslo wird in dem Roman als Widerschein im Bewusstsein des Protagonisten
sichtbar, und nicht als eine Stadt mit fixierten Gegenständen. Die Verfremdung, die durch die
soziale Lage des um seine Existenz kämpfenden Künstlers entsteht, macht auch aus einer
mittelgroßen Stadt die monströse und erbarmungslose Großstadt. Diese Verzerrung entsteht
allein durch den Blickwinkel. Der Betrachter ist durch seine Isolation und seinen Hunger, der
ihn in einen ähnlichen Rausch wie die mittelalterlichen Mystiker versetzt, der gewöhnlichen
Welt enthoben und nimmt die Stadt nur noch als eine Brechung seines inneren
Wahrnehmungsvermögens wahr. Ein ähnliches Erzählverfahren verwendet August Strindberg
für seine stark fiktionalisierte Autobiographie Inferno, die er während und im Anschluss an
seinen Parisaufenthalt Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts schreibt. Strindberg bringt in
der Zeit, in der er die Infernokrise erlebt, seine Betrachtungsweise in einem Brief an Hedlund
(21.6.1895) auf die knappe Formel: "Erst die Physik, dann die Meta- [physik]. Ich will zuerst
mit meinen hinausgerichteten Augen sehen, und dann mit meinen hineingerichteten."8 Seine
Erfahrung als Künstler zeigt sich in dem Kampf um das Verstehen der äußeren Welt, die sich
nur über das Verstehen der inneren Welt zugänglich wird. Die Kunst übernimmt dabei die
Rolle der Vermittlung. Die Bemühungen um neue Darstellungsformen in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts machen in besonderer Weise deutlich, dass der Künstler in Anbetracht
der zunehmenden Präsenz von Bildern und Abbildungen in den Städten, den verschiedenen
Möglichkeiten der Re- 7 Knut Hamsun: Hunger. In: Werkausgabe in Einzelbänden. München:
List 1997. S. 5. 8 Im Original: "Först fysiken, så meta-. Jag vill se med mina utvertes ögon
först och sedan med de invertes." August Strindberg: Inferno. In: Samlade Verk: Stockholm:
Nordsted 1992. S. 345. 280 flexion der Wirklichkeit mit immer neuen Medien – wie z. B.
Photographie und später auch Kino – seine eigene erzählende Stimme finden und behaupten
muss. Der Reflex der Stadt in einem erzählenden Bewusstsein bleibt aber im 19. Jahrhundert
die wichtigste Form der Präsentation urbaner Lebenswelt. 281 Abbildungsverzeichnis Abb. 1:
Durchbruch für die Avenue de l’Opéra, Paris, Photographie von Charles Marville, ca 1877.
Abb. 2: Place du Carrousel und das Quatier du doyenné, Paris, Ölgemälde, Maler unbekannt,
ca. 1830, Musée Carnevalet. 282 Abb. 3: Topographische Skizze vom Quartier du doyenné
auf dem Place du Carrousel in der Zeit 1830-1836. Zeichnung von H. Boucher: „Un petit
point de topograhie romantique.“ 283 Abb. 4: Kronprinz Ludwig in der spanischen
Weinschenke zu Rom, Ölgemälde von Franz Ludwig Catel, 1824, Neue Pinakothek München.
Abb. 5: Das Atelier von Auguste Clésinger, Aquarelle nach 1839. 284 Abb. 6: Stich von
Alexander Agin einer Szene mit Tschitschikow aus dem elften Kapitel von Nikolai Gogols
Roman Tote Seelen, ca. 1847. 285 Abb. 7: Le Ministère de la Marine, Place de la Concorde,
Paris, Radierung von Charles Meyryon, 1865 Abb. 8: Frontispiz des Werkes Diable à Paris,
Stich von Gavarni, 1844. 286 Abb. 9: Ideale Landschaft mit Apollo (Ausschnitt), Ölgemälde
von Jakob Philipp Hackert, 1805, Alte Nationalgalerie, Berlin. Abb. 10: Innere des Palais de
l’Industrie, Paris, Mitte des 19. Jahrhunderts. Photographie von Charles Marville. 287 Abb.
11: Der Messias erscheint dem Volke (Ausschnitt), Gemälde von Alexander A. Iwanow,
1837-1857, Tretjakow-Gallerie Moskau. 288 Bemerkungen: – Die Transkription von Namen,
Titeln, Begriffen und bibliographischen Angaben aus dem Russischen folgt der Methode von
Steinitz. Nur für die Dichter Dostojewski (eigentlich Dostojewskij) Tolstoi (Tolstoj) und
Belyj (Bjelyj) wird die Schreibweise verwendet, die sich im deutschsprachigen Raum
durchgesetzt hat. Dies gilt auch für die Vornamen Nikolai (Nikolaj) und Alexander
(Aleksandr). – Das Datum wird immer nach dem uns geläufigen gregorianischen Kalender
angegeben, in Klammern erscheint das Datum nach julianischen Kalender, wenn das Ereignis
vor 1918 im russischen Kulturraum stattgefunden hat oder der Brief/das Dokument
ursprünglich nach julianischem Kalender datiert worden ist. – In den Klammern hinter den
Werkstiteln werden, wenn nicht anders angezeigt, das Jahr der Erstveröffentlichung
angegeben. – Von Auszügen der russischen Originaltexte, die keine publizierten
Übersetzungen ins Deutsche besitzen, hat der Verfasser dieser Untersuchung selbst
Übersetzungen vorgenommen. Dies gilt für die erste Version des Porträts von Nikolai Gogol
und dessen Fragmente „fonar umiral“ (die Laterne erlosch) und „straschnaja ruka“(die
merkwürdige Hand) sowie für Briefstellen von Puschkin und Odojewskij. 289 Bibliographie
QUELLEN: Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur. 4 Bände. Frankfurt/M.: Suhrkamp
1961. Annenkow, Pawel W.: N. W. Gogol w Rime. Letom 1841 goda. [Gogol in Rom.
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[Odojewskij nennt Puschkin nach dessen Erzähler der 1831 erschienenen Die Erzählungen
des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin] es auf sich nehmen, den Keller [zu beschreiben]?“
Wasilij Gippius: N.W. Gogol w pismach i wospominanijach. [Gogol in den Briefen und
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[gemeint ist Rudyj Panko, der als Herausgeber von Gogols Erzählungen in Abende auf dem
Vorwerk bei Dikanka auftritt] hat selbst vorgeschlagen den Almanach folgendermaßen zu
benennen: Trojtschatka oder Almanach der drei Etagen. Was sagt Herr Belkin zu alledem?“
idid. Puschkin antwortet in dem Brief vom 18. (30.) Oktober 1833 an Odojewskij: „Warten
Sie nicht auf Belkin; er sieht nicht ohne Grund einem Verstorbenen ähnlich; er kann weder in
der Wohnung oder dem Wohnzimmer von Gomosejko [Odojewskij] noch dem Dachboden
von Panko verkehren. Es wäre unwürdig, ihn in ihrer Umgebung auftreten zu lassen...“ ibid.
??????, ??????? ?.: ???????? ????????? ? ?????? ?????. ?.?. ????????, ?. ?. ??????????. ??????: ??????? ????? 1994. von Seite 154:
„???, ? ?? ???? ??????? ??????? ??????????!“ Ebd. Band 7. S. 270. von Seite 154:
„?? ???????, ??? ??????? ???????? ????? ?????????? ?????????, ??? ??
???????? ? ???????? ?????????? ??, ?? ????????,- ??? ???? ???? ??? ???????
????????????? ? ?????-?? ??????????? ???? ????????? ?? ???? ??? ????????,?? ???????? ???????? ????? ???????? ? ???????????? ????? ? ???? ???, ????????? ??? ???????, ?????????? ?? ?????? ?????????? ??????[…]. ????? ????
?????? ?????! ??? ???????? ? ????? ??? ??????. ???? ?? ?????? ????? ? ?????
???????? ?? ????? ??????! ???? ???, ??? ??? ???????; ?? ?? ????????? ? ???? ??????, ?? ???? ??? ??? ??? ? ????. “ Ebd. Band 7. Seite 273 von Seite 154:
„????? ???? ?????? ? ????? ??????? ????????.“ Ebd. Band 7. Seite 273. von Seite 166:
„???? ?????????? ?????? ???? ???? ?? ???, ??????? ?????????? ???? ??? ???????.“ Ebd. Band
7. Seite 294. von Seite 168: „?????? ?????? ?? ????? ?? ??????? ????????????? ???????.“ Ebd.
Band 7. Seite 116. von Seite 168:
„?????? ???? ? ??????, ??????????? ???????? ??????, ???????? ????????? ???? ? ???? ?????, ??? ???? ???? ??????, ? ?????????. ????? ???????? ? ??????? ???????. ??? ??? ???? ???????? ????????????? ??????? ???????.“ Ebd. Band 7. Seite 117.
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Lebens: neue Aspekte zu Biographie und Werk.] Moskau: Dissertation Moskauer Staatliche
Universität 1997. 298
[bearbeiten]
Siehe auch
Zum besseren Überblick gibt es eine alphabetische Liste aller Gastbeiträge und Informationen
über ELibraryAustria:Gastautoren.
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"http://www.literature.at/elib/www/wiki/index.php/Darstellung_urbaner_Lebenswelt_im_K%
C3%BCnstlerroman_1780-1860_%28Max_von_Hilgers%29"
Seitenkategorien: Literatur | Architektur | ELib Gastbeitrag | Korrekturlesen
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