Sturm und Drang im 19. Jahrhundert: Henrik Ibsen und Friedrich Schiller1 M. Loreto Vilar Panella Universitat de Barcelona Henrik Ibsen schrieb sein erstes Drama, Catilina, in seinem einundzwanzigsten Lebensjahr, im Winter 1848 auf 1849, einer Zeit, die immer noch “voll Sturm und Drang war”. Sein Held steht dem Schiller’schen Räuber Moor sehr nahe. Im Aufsatz werden zunächst die Entstehungsgeschichten der Erstlingswerke Die Räuber und Catilina kontrastiv präsentiert. Die Umstände des die Katastrophe entfesselnden Fluches werden dann analysiert, wodurch sich literarisch belegen lässt, wie dünn die Grenze ist zwischen Wonne und Gräuel, und wie der Mensch im Wandel der Umstände zu Grunde geht. Während es für Schiller die humanitäre Praxis des Helden seinen verirrten Idealismus retten kann, zeigt Ibsen dagegen, wie Heldentum im Selbstopfer aufgeht. Henrik Ibsen escribió su primera pieza dramática, Catilina, cuando contaba sólo veintiún años, en el invierno de 1848 a 1849, una época aún “rebosante de Sturm und Drang”. Su héroe revela una gran proximidad al bandido Moor de Schiller. El artículo recoge de manera contrastiva la génesis de ambas obras, Los bandidos y Catilina. Se analizan seguidamente las circunstancias de los dos juramentos mostrando como éstos desencadenan la catástrofe. Se constata así, literariamente, la sutilidad del límite entre el goce y el horror y como el vuelco de la situación hace sucumbir al ser humano. Mientras que el héroe de Schiller supera su idealismo erróneo con la práctica humanitaria, Ibsen muestra cómo la heroicidad se disuelve en el sacrificio. 1 Überarbeitete Fassung meines Beitrags zum II. Kongress der Goethe Gesellschaft in Spanien, Schiller: Der Glocke Nachhall, Valencia, 10.–12. November 2005. 1 Heimlich schreibend, in der Nacht bei Kerzenlicht und unter dem Zwang unwiderstehlicher Jugendträumen, schufen die blutjungen Friedrich Schiller und Henrik Ibsen ihre Erstlingswerke Die Räuber (1781) und Catilina (1850). Damit erzielten beide, der Zögling der Karlsschule im württembergischen Stuttgart und der Apothekergehilfe im norwegischen Grimstad, eine Art literarische Rebellion gegen die kleinliche, ungerechte Welt der Mächtigen, die ihnen einengte und ausschloß wie auch Karl von Moor und Lucius Sergius Catilina. Es geht mir hier jedoch nicht so sehr um das durchaus plausible literarische Liebäugeln beider Dichter mit dem Aufruhr ihrer Heldenfiguren, des Räuberhauptmanns und des verschwörerischen Römers. Mein komparatistischer Versuch ist vor allem inhaltlichargumentativen Aspekten beider Werke gewidmet. Von Interesse ist mir zunächst die Inszenierung der Umstände, die die Katastrophe entfesseln: Bruderneid und Erbschaft einerseits, Rachsucht und Korruption andererseits. Anhand der Gegenüberstellung von zwei Szenen aus beiden Dramen, aus Anfang und Ende, wird an erster Stelle etabliert, wie dünn die Grenze ist zwischen solch absoluten Gefühlen wie Liebe und Hass. Auf dieser Basis aber aus suprainhaltlicher Perspektive soll dann der Konflikt zwischen Realität und Idealität erleuchtet werden, d. i. die Problematisierung des Zwiespalts zwischen der Erkenntnis der Endlichkeit des Menschen und dem Rausch von Allmacht des sturmunddrängischen großen Kerls. Bei Schiller kann schließlich die humanitäre Praxis des Helden seinen verirrten Idealismus im mensch-menschlichen Bereich noch kompensieren. Dementgegen zeigt Ibsen, wie gewaltsames Heldentum im Selbstopfer aufgeht. 1. Eine Zeit voll Sturm und Drang Mit dem Satz “[d]ie Zeit war voll Sturm und Drang“ resümierte Henrik Ibsen den historisch-politischen Moment der Jahre 1848-1849, in denen sein erstes Drama Catilina entstand. Es war die Zeit der Februar-Revolution in Paris, des Aufstands der Ungaren gegen die absolutistische Herrschaft des Kaisers Franz Joseph, des deutsch- 2 dänischen Kriegs um Schleswig-Holstein2. Und der junge Ibsen, der darauf angewiesen war, sich selbst das zu erwerben, was er zum Lebensunterhalt und zur Vorbereitung auf das akademische Examen brauchte, ließ sich von solchen Kämpfen entflammen. Mit folgenden Worten urteilte er fünfundzwanzig Jahre später über diese Zeit: “Überhaupt, während da draußen eine große Zeit brauste, lebte ich auf Kriegsfuß mit der kleinen Gesellschaft, in die der Zwang der Lebensbedingungen und der Umstände mich sperrte“ (Ibsen, 2005 [1875]: 1). In der literarischen Kombination von Zeitgeist und persönlichem Empfinden bilden Ibsens Motivwahl und seine Schreibweise eine unmissverständliche Parallele zu Schiller. Der zukünftige Freund Goethes hatte auch Jahre davor in Die Räuber auf den historischen Kontext des Siebenjährigen Kriegs 1756-17633 deutlich verwiesen. Nach der entscheidenden Lektüre der Erzählung von Christian Friedrich Daniel Schubart Zur Geschichte des menschlichen Herzens, 1775 im Schwäbischen Magazin veröffentlicht, wusste der junge Schiller dann ein Sammelsurium von verschiedenen literarischen Einflüssen in seinem Erstlingsdrama zu vereinen 4 . Von diesen Vorbildern angeregt, schuf Schiller eine teuflisch attraktive Räuber-Figur, eine “Argumentationsfigur des Rousseauismus“ (Brittnacher, 1998: 344), wie auch Ibsens Verschwörer eine ist. Mit seinem Catilina positioniert sich der spätere Naturalist gegen das Image des Zügellosen und politischen Desperados, das aus Sallusts De coniuratione Catilinae (42-41 v. Chr.) Dazu schrieb Ibsen im Vorwort zur zweiten Ausgabe seines Catilina: “[A]ll das griff mächtig und fördernd in meine Entwicklung ein, wie unfertig sie auch lange danach noch bleiben mochte. Ich schrieb volltönende Gedichte an die Magyaren, worin ich sie ermunterte, der Freiheit und Menschheit zum Frommen in dem gerechten Kampfe wider die ‘Tyrannen’ auszuharren; ich schrieb eine ganze Reihe Sonette an König Oskar [von Schweden], die, soweit ich mich entsinne, die Aufforderung enthielten, er sollte alle kleinlichen Rücksichten beiseite setzen und unverzüglich, an der Spitze seines Heeres, den Brüdern an Schleswigs äußersten Grenzen zu Hilfe eilen“ (2005 [1875]: 1). Hier wie im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf die Druckversion dieses Vorworts unter der InternetAdresse http://gutenberg.spiegel.de/ibsen/catilina/Druckversion_catilinv.htm. 3 Alliiert mit Frankreich, Rußland und Schweden führte die habsburgische Kaiserin Maria Theresia den Krieg gegen Preußen, um das besetzte Schlesien zurückzugewinnen. Im Frieden von Hubertusburg (15.02.1763) verzichtete Österreich endgültig auf Schlesien, während Friedrich der Große von Preußen seine wegen des habsburgischen Erbfolgestreits notwendige Kurstimme für die Kaiserwahl Josephs II., des ältesten Sohns Maria Theresias, zusicherte. 4 Diese waren vor allem seine Aufnahme der Biografien Plutarcs, seine Shakespeare-Lektüren und seine Bewunderung für die Gestalt des Goethe’schen Götz von Berlichingen, sowie für das Thema der feindlichen Brüder, thematisiert in den Dramen Die Zwillinge (1776) von Klinger und Julius von Tarent (1776) von Leisewitz. Das Räubermotiv entnahm Schiller aus bekannten englischen mittelälterlichen Outlaw-Volksballaden –erwähnt sei A Gest of Robin Hode, schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts dokumentiert–, sowie aus dem “gelobte[n] Land der Räuberromantik“ (Frenzel, 1992: 592), Spanien, vor allem aus Tirso de Molinas El condenado por desconfiado (1635) und der Episode des Strauchdiebes Roque Guinart im Don Quijote (1605-1615) von Cervantes. Zu ausführlicheren Verbindungslinien zur Motivik in Schillers Drama Die Räuber auch zur Novelle Les deux amis de Bourbonne (1773) von D. Diderot (deutsche Fassung von 1772) und zu H. F. Möllers Rührstück Sophie oder der gerechte Fürst (1779) siehe Frenzel (1992: 595ff.). 3 2 und den vier Reden Ciceros In Catilinam projiziert wird5, eine Vision, zu der sich Ibsen sein Leben lang bekennen würde: Wie aus meinem Buch zu ersehen ist, teilte ich damals die Auffassung der beiden alten römischen Autoren von Catilinas Charakter und Art zu handeln nicht, und ich neige doch immer der Ansicht zu, dass doch wohl irgend etwas Großes oder Bedeutendes an einem Manne gewesen sein muß, mit dem sich der unverdrossene Anwalt der Majoritäten, Cicero, nicht eher einzulassen für geraten fand, als bis die Dinge eine solche Wendung genommen hatten, daß mit dem Angriff keine Gefahr mehr verbunden war. Man darf auch daran erinnern, daß es wenige historische Persönlichkeiten gibt, deren Ruf ausschließlicher in den Händen der Gegner gelegen hätte als der Catilinas. (Ibsen, 2005 [1875]: 1f.) Trotz der eindeutigen Koinzidenz in der Entstehung und der literarischen Motivik, haben unmittelbare kreative Einflüsse von Schillers Räubern auf Ibsens Catilina nie befriedigend genug belegt werden können 6 . Die Aufnahme Ibsens der deutschsprachigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts lässt sich ohnehin nur schwer ermitteln, wie George (1968: 14-17) darlegt. Und auch wenn es mit einiger Gewissheit angenommen werden kann, dass der zwanzigjährige Ibsen das Schiller’sche Drama kannte, die Vermutung ist weder durch ein Tagebuch noch durch Briefe, Essays oder irgendein Exlibris zu fixieren. Ob Ibsen später, vor allem in den Jahren seines Aufenthalts in Dresden und München, eine Inszenierung miterlebt haben könnte, lässt sich auch nicht präzisieren (George, 1968: 15). Belegt ist, dass beide Dramen nur mit Schwierigkeiten gedruckt und uraufgeführt werden konnten. Beide Autoren bekamen das Geld für die Selbstedition von sämtlichen Jugendfreunden vorgestreckt, die Buchausgaben fanden dann aber wenig Beachtung7. 5 Germán Gómez de la Mata (1973: 144) bezweifelt, dass Ibsen zur Zeit der Niederschrift seines ersten Dramas andere Fassungen der Geschichte Catilinas gekannt hätte, nämlich die des englischen Zeitgenossen von Shakespeare Ben Jonson oder die der deutschen W. A. Reuter und N. Gräfe. 6 Bibliografische Hinweise zu ausführlicheren komparatistischen Untersuchungen befinden sich bei George (1968: 16, Fußnote 20). 7 Im Vorwort zur zweiten Ausgabe von Catilina schrieb Ibsen (2005 [1875]: 3): “Das Stück erregte in Studentenkreisen Aufsehen und Interesse; die Kritik aber verweilte hauptsächlich bei den fehlerhaften Versen und fand das Buch im übrigen unreif.“ Über das Schicksal des Buches erzählt Brahm (1975 [1886]: 22) folgende bittere Anekdote: “Endlich, mit 22 Jahren, konnte Ibsen die Universität beziehen; er kam nach Christiania [Oslo] [...] Die Noth blieb Ibsen’s Begleiter auch hier [...] Nur einmal kam eine kurze Periode des Ueberflusses für Ibsen heran: als er den heroischen Entchluß faßte, die ganze vorhandene Auflage seines Catilina bei einem Krämer als altes Papier zu verkaufen. Er hatte noch einen 4 Die Premiere der Räuber fand am 13. Januar 1782 statt, ein knappes Jahr nach der Veröffentlichung der Druckfassung. Der ursprüngliche Text war zunächst eigenhändig von Schiller und dann noch vom skrupellosen Mannheimer Intendanten von Dalberg geändert worden, um die Kritik an Obrigkeit und Kirche zu entschärfen. Trotzdem erregte das Stück großes Aufsehen (Damm, 2004: 21f.). Demgegenüber wurde Ibsens Catilina erst am 3. Dezember 1881 uraufgeführt, mehr als dreißig Jahre nach der ersten Buchausgabe, als Ibsen schon weltbekannt war, allerdings durch seine naturalistischen Dramen8, jene, die eine verblüffend unmittelbare gesellschaftskritische Linie aufweisen, viel direkter jedenfalls als sein erstes historisierendes Opus. Dieses ist bis heute noch kaum bekannt. Abgesehen von dem qualitativen literarkritischen Urteil, das die voneinander divergierenden Rezeptionsgeschichten der zwei Erstlingswerke wohl rechtfertigen mag, sei hier lediglich an folgende Bemerkung erinnert, die Ibsen im Vorwort seiner zweiten, durchgearbeiteten Ausgabe des Jahres 1875 schrieb: Verwichenen Sommer [...] nahm ich mir auch den Catilina wieder vor. Im einzelnen hatte ich den Inhalt des Buches fast vergessen; aber als ich es von neuem durchlas, fand ich, daß es doch nicht weniges enthielt, wozu ich mich auch heute noch bekennen dürfte, namentlich wenn man in Betracht zieht, daß es meine Erstlingsarbeit war. So mancherlei, wovon meine spätere Dichtung gehandelt hat, – der Widerspruch zwischen Kraft und Streben, zwischen Wille und Möglichkeit, die Tragödie und zugleich Komödie der Menschheit und des Individuums – tritt schon hier in nebelhaften Andeutungen hervor [...] (Ibsen, 2005 [1875]: 3) 2. Die Tragödie der Menschheit und des Individuums Gerade dieser Widerspruch, der zwischen Kraft und Streben, zwischen Wille und Möglichkeit, ist, was sowohl den Schiller’schen Räuber Moor als auch den Verschwörer Catilina von Ibsen definiert. Beide begreifen die Ordnung im Kosmos als die höchste, schönen Vorrath auf Lager gehabt; nur etwa dreißig Exemplare waren abgesetzt.“ Dazu siehe auch Ibsen, 2005 [1875]: 3. 8 Bis zum Jahr 1881 waren folgende Stücke uraufgeführt worden: Das Fest auf Solhaug (1856), Frau Inger auf Östrot (1857), Die Helden auf Helgeland (1858), Die Kronprätendenten (1864), Der Bund der Jugend (1869), Die Komödie der Liebe (1873), Peer Gynt (1876), Die Stützen der Gesellschaft (1877) und Nora oder Ein Puppenheim (1879). Veröffentlicht aber noch nicht uraufgeführt waren: Brand (Veröffentlichung 1866, Uraufführung 1885), die Trilogie Kaiser und Galiläer (Veröffentlichung 1873, Uraufführung 1896) und Gespenster (Veröffentlichung 1881, Uraufführung 1882). 5 die die Welt als geordnetes Ganzes gegen das Chaos profiliert. Darunter entsteht für sie eine Skala von unterschiedlich bewerteten, kleineren Ordnungssystemen bis hin zum System der Familie im privaten Bereich und zu jenem des Staates im öffentlichen. Trotz ihres Libertinismus glauben sie nämlich an die Unzerbrechlichkeit der familiären Liebesbande und die Aufrichtigkeit der höchsten politischen Ämter, in denen sie zwei dem Individuum sicherheitsgebärende Referenten erkennen. Aus diesem Grund reagieren sie nach der Aggression gegen die maßgebende Ordnung mit dem Entschluss, die Grenze zwischen Legalität und Ilegalität selbst zu überschreiten. Sie erklären sich bereit, Gewalt anzuwenden in einem Kontext, der die naturrechtliche Welt- und Staatsordnung verspottet9. Karl von Moor rebelliert gegen diejenigen, die die patriarchalische Ordnung missachten, Catilina gegen diejenigen, die aus ihren Ämtern heraus nur Patronage pflegen und eigenes Profit ziehen. Keiner von ihnen macht aber die jeweils konkrete ordnungswidrige Instanz, den Vater oder den römischen Staat, zum direkten Objekt seines Hasses. Der Graf von Moor und Rom sollen als sakrosankte Ikonen der höheren Ordnung unangetastet bleiben. Mehr noch: sowohl der Räuberhauptmann als auch der Verschwörer versuchen im jeweiligen infamen Machtfeld eine ähnliche Ordnung zu rekonstruieren, “[s]tärker denn Gesellschaftssystem ist ihre als ihre Verzweiflung Revolte gegen über geraubte ein und ungerechtes verlorene Sicherheiten“ (Brittnacher, 1998: 351). Dies kennzeichnet den Idealismus beider, einen Idealismus, der aber in der Praxis nichts anderes ist als Selbsthelfertum und Anarchie. Wenn das Räuberleben des Karl von Moor in Anlehnung an die Kant’sche Definition von Aufklärung als “Perversion[...] aufgeklärter Mündigkeit“ (Brittnacher, 1998: 333) gedeutet werden kann, ließe sich Catilinas Verschwörung wohl im linkshegelianischmarxistischen Sinne als Perversion angehender Demokratie erklären. Durch verschiedene Wege gelangen Moor und Catilina am Ende des Dramas zur Erkenntnis ihrer ungeheuren Verirrung und finden lediglich im Sühnopfer der Geliebten und im kathartischen Selbstopfer die Erlösung. Dass die Heldenfigur auf Verzeihung hoffen darf, plausibilisiert sich andererseits –wenigstens im Fall vom Schiller’schen Räuber Moor– anhand des Vergleichs mit dem “heulende[n] Abbadona“ (Schiller, 1965 [1781]: 562, 3.Akt, 2.Szene) in der Donauszene. Nach den rekurrenten Andeutungen des Räuberhauptmanns als Teufel, als gestürzter Engel, ersucht der Dichter nun für seinen Helden die Gnade Gottes, wie es Klopstock für seinen Teufel Abbadona in dem Epos Der Messias auch gemacht hat. Hier wie im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf die Hanser-Ausgabe des Jahres 1965. 6 9 Tausendmal ist die Philippika Karl von Moors gegen “das schlappe Kastratenjahrhundert“ (Schiller, 1965 [1781]: 503) zitiert worden. Die Empörung Moors über die heruntergekommene Gesellschaft, die ihre geistige Dürftigkeit hinter dem Glanz vergangener Zeiten herrlicher Intellekten zu verstecken versucht, ergibt ein unübertreffliches Beispiel von Weltschmerz avant la lettre: Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen zu schinden und zu verhunzen mit Trauerspielen. Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen. [...] Da verrammeln sie sich die gesunde Natur mit abgeschmackten Konventionen, haben das Herz nicht, ein Glas zu leeren, weil sie Gesundheit dazu trinken müssen – belecken den Schuhputzer, daß er sie vertrete bei Ihro Gnaden, und hudeln den armen Schelm, den sie nicht fürchten. – Vergöttern sich um ein Mittagessen und möchten einander vergiften um ein Unterbett, das ihnen beim Aufstreich überboten wird. – Verdammen den Sadduzäer, der nicht fleißig genug in die Kirche kommt, und berechnen ihren Judenzins am Altare – fallen auf die Knie, damit sie ja ihren Schlamp ausbreiten können – wenden kein Aug vor dem Pfarrer, damit sie sehen, wie seine Perücke frisiert ist. – Fallen in Ohnmacht, wenn sie eine Gans bluten sehen, und klatschen in die Kände, wenn ihr Nebenbuhler bankerott von der Börse geht. – – So warm ich ihnen die Kand drückte: – Nur noch einen Tag! – Umsonst! – Ins Loch mit dem Hund! – Bitten! Schwüre! Tränen! (Auf dem Boden stampfend.) Hölle und Teufel! (Schiller, 1965 [1781]: 503, 1.Akt, 2.Szene) Und genauso bringt die Verkommenheit Roms den Adligen Catilina auf: – hier herrscht Gewalt und Eigennutz; Durch List und Ränke wird man Herrscher hier! [...] hier sind Tyrannen Herr Und Schurken mehr denn irgendwo auf Erden. Von “Freiheit“ schallt es, “Republik“ und “Recht“; Und doch kein Bürger, der nicht rechtlos wäre, Verschuldet tief, ein willenloser Knecht Von Senatoren, feil um Geld und Ehre! Längst schwand der Geist des alten Römerstaats, 7 Der Freisinn, den der Vorzeit Dichter singen; Sein Leben gilt’s der Willkür des Senats Mit schwerem Gold als Gnade abzudingen. Hier spricht der Macht und nicht des Rechtes Mund; Der Edle sieht nur Haß auf sich gerichtet – (Ibsen, 2005 [1875]: 3, 1.Akt, 1.Szene) Mit herausragenden Intellekten ausgestattet, physisch schön und stark, leiden beide junge Männer unter einer Art Pessimismus, den sie nicht in die zerstörerische Tat umzusetzen wagen. Den Drang stark empfindend, vermag der Sturm in ihren Seelen jedoch nicht loszubrechen. So spricht Moor den hochtönenden Satz, in dem die Kritik aber eher das prahlerische Reden eines verstimmten Pubertierenden erkannt hat (Brittnacher, 1998: 334): “Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen.“ (Schiller, 1965 [1781]: 504, 1.Akt, 2.Szene). Sehr ähnlich spricht Catilina am Anfang des Ibsen’schen Dramas: “Ah, schau’ ich diese Stadt, das stolze, reiche, / Berühmte Rom, und seine Laster treten / Und sein Verfall, in den es längst versunken, / In übergroßer Klarheit vor mein Auge, – / Dann ruft’s in meinem Innern laut und mahnend: / Auf, Catilina! Auf, und sei ein Mann!“ (Ibsen, 2005 [1875]: 2, 1.Akt, 1.Szene). Moor und Catilina haben bis zur Anfangsszene ein zügelloses Leben geführt. Auf ihre Art und Weise haben sie damit schon gegen die heuchlerische, ränkevolle Welt rebellieren wollen, ohne sich dessen völlig gewahr zu werden. Noch sind sie aber keine Verfemten. Und beiden besteht außerdem die unwiderstehliche Versuchung eines wonnevollen Lebens neben den hinreißenden Amalia von Edelreich –nomen est omen– und Aurelia. Amalia, die Verlobte Karl von Moors, erwartet ihn nach der notwendigen Versöhnung mit dem Vater. Aurelia, die Gattin des Verschwörers Catilina, überredet ihn zu einem neuen Anfang fern von Rom. Die Heldenfiguren schwanken also zwischen gewalttätiger Tatendurst und betörendem Privatglück. Zur kriminellen Wendung bedürfen sie einer persönlichen Kränkung, die sie dann in Verbindung setzen mit der eigenen kritischen Einstellung dem historischen Moment gegenüber. Der Stoß kommt alsbald: Dem reuevollen Sohn des alten Grafen von Moor erwartet Enterbung statt Versöhnung; der streberische Patrizier verdammt sich selbst unwissend, indem er seiner Geliebten, der Vestalin Furia, schwört, die Schändung ihrer Schwester Silvia zu rächen. 8 Der älteste der Brüder Moor ignoriert, dass sein fatalerweise einfältiger Vater 10 sich unter dem üblen Einfluss seines neidischen zweitgeborenen Sohnes Franz befindet11. Das bis zu diesem Zeitpunkt supraindividuelle, unkonkretisierte Hassen Karl von Moors wird individuell und konkret und momentan glaubt er, in dem alten Vater den größten Verstoßer gegen die naturrechtliche familiäre Ordnung zu sehen. Sein Hass steigt aber zugleich bis zum Universalhass empor. Dies transponiert Schiller im Pathetismus seiner bekannten Kampfrede, voll bunter tierbezogener Metaphern: Menschen – Menschen! Falsche, heuchlerische Krokodilbrut! Ihre Augen sind Wasser! Ihre Herzen sind Erzt! Küsse auf den Lippen! Schwerter im Busen! Löwen und Leoparden füttern ihre Jungen, Raben tischen ihren Kleinen auf dem Aas, und Er, Er – Bosheit hab ich dulden gelernt, kann dazu lächeln, wenn mein erboster Feind mir mein eigen Herzblut zutrinkt – aber wenn Blutliebe zur Verräterin, wenn Vaterliebe zur Megäre wird, o so fange Feuer, männliche Gelassenheit, verwilde zum Tiger, sanftmütiges Lamm, und jede Faser recke sich auf zu Grimm und Verderben. [...] Warum ist dieser Geist nicht in einen Tiger gefahren, der sein wütendes Gewiß in Menschenfleisch haut? Ist das Vatertreue? Ist das Liebe für Liebe? Ich möchte ein Bär sein, und die Bären des Nordlands wider dies mörderische Geschlecht anhetzen – Reue, und keine Gnade! – Oh ich möchte den Ozean vergiften, daß sie den Tod aus allen Quellen saufen! Vertrauen, unüberwindliche Zuversicht, und kein Erbarmen! (Schiller, 1965 [1781]: 514, 1.Akt, 2.Szene) Ibsens Catilina reagiert ebenso stürmisch, wenn auch unter anderen Umständen. Unreflektiert und unter dem Einfluss des erotischen Triebes schwört er Furia Rache. Dass die verführerische Vestalin nur seinen Vornamen kennt, Lucius, ist ein kurioser dramatischer Effekt der Glaubwürdigkeit: Catilina soll erst nach dem Schwur den Familiennamen des Schänders der Schwester Furias erfahren. Dadurch erkennt er die Nemesis, die vergeltende, strafende Gerechtigkeit, die er auf sich selbst gerichtet hat. Furias Liebe wird ipso facto zu Hass, was Ibsen dann zu verbinden weiß mit den Gefühlen seiner Heldenfigur angesichts des Kollabierens des römischen Staates. Denn 10 Zu der Deutung der Figur des Vaters in Schillers Räubern siehe Brittnacher (1998: 332f.). Über den Einfluss von Lavaters Physiognomik aus dem Jahre 1772 auf die Charakterisierung des Schiller’schen Franz von Moor siehe Brittnacher (1998: 341f.). Zu dem Verhältnis zwischen Franz und seinem Vater siehe besonders von Matt (1997 [1995]: 145-148). 9 11 Furia dirigiert ihre Rachsucht gegen Catilina, indem sie ihn zur Verschwörung hetzt. Unter ihrem Einfluss ist es, dass er solche entflammten Verse skandiert: Wie Feuer geht’s Von Deinem [Furias] Händedruck durch meine Adern! Hier rollt nicht Blut mehr, sondern heiße Lava; Zu enge wird mir ums Gewölb’ der Brust; Vor meinem Blick wird Nacht! So soll sich denn Ein Meer von Flammen über Rom ergießen! (Er zieht sein Schwert und schwingt es.) Mein Schwert, mein Schwert! Ha, siehst Du, wie es funkelt? Bald soll sich’s färben mit lebendigem Blut! Was überfällt mich? Meine Schläfen brennen; Ein Heer Gesichte jagt an mir vorbei. Sieg, Rache, Leben kommt nun allen Träumen Von Größe, Herrschermacht, Unsterblichkeit. Mein Feldruf laute: Tod und rote Lohe! Weh’ dir, o Rom! Jetzt bin ich erst ich selbst! (Ibsen, 2005 [1875]: 11, 2.Akt, 1.Szene) Später macht Furia aus Curius, dem Freund des Verschwörers, einen Verräter. Darüber hinaus triumphiert sie über die Fluchtvorschläge ihrer Konkurrentin, der liebevollen, zärtlichen Aurelia. Infolge von solchen dunklen Machenschaften ist es ersichtlich, dass Schillers Franz von Moor in Ibsens Vestalin in der Tat eine verwandte Seele findet. Wie er setzt auch sie das herumflatternde Phantom der Gesetzlosigkeit frei und führt dem gesetzlosen Catilina somit zur eigenen Verdammnung. 3. Sühne und Opfer Die Schuld, die der Räuber Moor und der Verschwörer Catilina im Laufe ihrer kriminellen Laufbahnen auf sich geladen haben, lässt sich weder verzeihen noch reinwaschen. Doch entsühnt werden, muss sie trotzdem. Darin koinzidieren die zwei 10 Dichter wieder, und zwar sowohl in der Unverbrüchlichkeit des faustischen Eids12 als auch in der Notwendigkeit eines Opfers, das bei ihnen außerdem zweifach realisiert wird. Beide Helden gehen zu Grunde, dies aber nachdem ihre einzige Chance des Glücklichseins auf Erden, personifiziert jeweils in Amalia und Aurelia, eingebüßt worden ist13. Karl von Moor wird in einer Passage voll allzu eindeutigen biblischen Konnotationen 14 von der Bande aufgefordert, die Möglichkeit einer Zukunft neben seiner Verlobten zu missachten und sein Räuberleben weiter zu führen: EIN RÄUBER (grimmig hervortretend). Halt ein, Verräter! – Gleich laß diesen Arm fahren – oder ich will dir ein Wort sagen, daß dir die Ohren gellen, und deine Zähne vor Entsetzen klappern! (Strecket das Schwert zwischen beide.) EIN ALTER RÄUBER. Denk an die böhmischen Wälder! Hörst du? zagst du? – an die böhmischen Wälder sollst du denken! Treuloser, wo sind deine Schwüre? Vergißt man Wunden so bald? da wir Glück, Ehre und Leben in die Schanze schlugen für dich? Da wir standen wie Mauern, auffingen wie Schilder die Hiebe, die deinem Leben galten, – hubst du da nicht deine Hand zum eisernen Eid auf, schwurest, uns nie zu verlassen, wie wir dich nicht verlassen haben? – Ehrloser! Treuvergessener! Und du willst abfallen, wenn eine Metze greint? EIN DRITTER RÄUBER. Pfui, über den Meineid! Der Geist des geopferten Rollers, den du zum Zeugen aus dem Totenreich zwangest, wird erröten über deine Feigheit, und gewaffnet aus seinem Grabe steigen, dich zu züchtigen. DIE RÄUBER (durcheinander, reißen ihre Kleider auf). Schau her, schau! Kennst du diese Narben? Du bist unser! Mit unserem Herzblut haben wir dich zum Leibeigenen angekauft, unser bist du, und wenn der Erzengel Michael mit dem Moloch ins Handgemeng kommen sollte! – Marsch mit uns, Opfer um Opfer! Amalia für die Bande! RÄUBER MOOR (läßt ihre [Amalias] Hand fahren). Es ist aus! – Ich wollte umkehren und zu meinem Vater gehn, aber der im Himmel sprach, es soll nicht 12 Sogar das in alle Ewigkeit verbindliche Element des Blutes ist hier präsent. Der Räuber Roller hat z.B. sein Leben für den Hauptmann geopfert, andere zeigen Moor die Narben, die an die verschiedenen Verwundungen im Laufe ihres Räuberlebens erinnern. Im Fall von Catilina muss er für das Leben der Schwester Furias bezahlen, die nach der Vergewaltigung Selbstmord übte. 13 Zur Unmöglichkeit eines glücklichen Endes bei Schiller siehe Brittnacher (1998: 350): “Mit einem [...] versöhnlichen Ende aber hätte Schiller die Tragik des Stückes, das in seinem Bestreben um Grundsätzlichkeit nicht davor zurückscheute, den Konflikt Karls nach dem Modell eines mittelalterlichen Mysterienspiels zum Kampf Gottes und des Teufels um den Besitz einer Seele auszuweiten, leichtfertig verspielt.“ 14 Die Räuber reißen ihre Kleider auf und sprechen solche gotteslästerliche Termini aus wie der Konzessivsatz: “[...] und wenn der Erzengel Michael mit dem Moloch ins Handgemeng kommen sollte!“ (Schiller, 1965 [1781]: 615, 5.Akt, 2.Szene). 11 sein. (Kalt.) Blöder Tor ich, warum wollt ich es auch? Kann denn ein großer Sünder noch umkehren? Ein großer Sünder kann nimmermehr umkehren, das hätt ich längst wissen können – [...] Kommt, Kameraden! (Schiller, 1965 [1781]: 614f., 5.Akt, 2.Szene) Diese Schiller’sche Umkehrung der Parabel des Verlorenen Sohnes im LukasEvangelium (15, 11-32) korrespondiert in ihrer Symbolik mit der Sühnfunktion des kultisch zu deutenden Opfers von Amalia im letzten Auftritt, einem Auftritt, in dem der Tod und das Töten das ganze Szenario konfigurieren. Dem Wahnsinn nahe, ist Amalia selbst, die nun das Leben ablehnt und sich den Tod wünscht, bis sie schließlich vom Räuberhauptmann ermordet wird. Dies in einem unheimlich ritualisierten Akt, den Moor als seine allerletzte kriminelle Heldentat vor dem Selbstopfer improvisiert. Gleicherweise ermordet der Römer Catilina seine Gattin Aurelia in einem Opfer, das ihm von der Vestalin Furia abverlangt wird. Abgesehen von ihrem herausfordernden weiblichen Scharfsinn, belegt Furia somit nun ihre Verwandtschaft zu den nicht minder teuflischen Banditen Schillers: FURIA. [...] Es führt von da, wo jetzt Du stehst, Kein Weg zurück. Prob’s immer aus, Du Tor! Ich kehre heim. Leg’ Du Dein Haupt nur immer An ihre [Aurelias] Brust und finde dort den Frieden, Den Du für Deine müde Seele suchst! (Mit wachsendem Ungestüm.) Bald steht sie auf, die Schar der tausend Toten; Verführte Weiber schließen sich ihr an; Und alle, alle werden fordern, was Du ihnen raubtest, Leben, Blut und Ehre. Erschrocken wirst Du in die Nacht entfliehen, Rund um den Erdkreis fliehn durch alle Lande, Actäon gleich, gejagt von wilden Meuten, Ein Schattenbild, gejagt von tausend Schatten! CATILINA. Ich seh’ es, Furia! Hier bin ich friedlos, Im Reich des Lichtes heimatlos fortan! Ich folge Dir ins Schattenland hinab – 12 Und will das Band, das mich noch hält, zerschneiden. (Ibsen, 2005 [1875]: 22-24, 3.Akt, 1.Szene) Der Mord an Aurelia ist auch die letzte Untat des Catilina, die dann aber, so laut Furia, von den Naturkräften Blitz und Donner gutgeheißen wird. Bei Ibsen erfolgt also die pseudoreligiöse Funktion der biblischen Motivik, von der Schiller in seinen Räubern so oft Gebrauch macht, auf einer antikisierenden Ebene: Es ist der allmächtige Ordner des Weltalls, Jupiter, zugleich der Schutzgot Roms, der nach dem Erdolchen Aurelias mit Blitz und Donner Beifall klatscht. 4. Dem kann nicht geholfen werden Der Tod der einzigen Person, die für den Helden eine Erlösungsmöglichkeit hätte beschwören können, erweist sich zugleich als notwendig und unnütz. Notwendig als Reinigung, jedoch unnütz als Rettung. Darin scheint das Schicksal von Räuber und Verschwörer momentan korrespondieren zu wollen. Doch ihre Wege trennen sich in der Deutung des dramatisch erforderlichen Selbstopfers. Durch das Opfer Amalias von seiner Bindung an die Räuberbande befreit, fügt sich Moor dem himmlichen Diktat mit seinem Willen zum Sterben: SCHWARZ. Sei ruhig, Hauptmann! Komm mit uns, der Anblick ist nicht für dich. Führe uns weiter. RÄUBER MOOR. Halt – noch ein Wort, eh wir weiter gehn – Merket auf, ihr schadenfrohe Schergen meines barbarischen Winks – Ich höre von diesem Nun an auf, euer Hauptmann zu sein. Mit Scham und Grauen leg ich hier diesen blutigen Stab nieder, worunter zu freveln ihr euch berechtiget wähntet, und mit Werken der Finsternis dies himmlische Licht zu besudeln – Gehet hin zur Rechten und Linken – Wir wollen ewig niemals gemeine Sache machen. [...] Dein eigen allein ist die Rache. Du bedarfst nicht des Menschen Hand. Freilich stehts nun in meiner Macht nicht mehr, die Vergangenheit einzuholen – schon bleibt verdorben, was verdorben ist – was ich gestürzt habe, steht ewig niemals mehr auf – Aber noch blieb mir etwas übrig, womit ich die beleidigte Gesetze versöhnen, und die mißhandelte Ordnung wiederum heilen kann. Sie bedarf eines Opfers – eines Opfers, das ihre unverletzbare Majestät vor der ganzen Menschheit entfaltet – dieses Opfer bin ich 13 selbst. Ich selbst muß für sie des Todes sterben. (Schiller, 1965 [1781]: 616f., 5.Akt, 2.Szene) Moor gegenüber kommt Catilina zu keiner Erkenntnis, die sich religiös deuten ließe. Dem römischen Kontext gemäß lässt Ibsen, das spätere Genie des Naturalismus, diese eine Möglichkeit aus. Seine Verschwörer-Figur erkennt die Verfehlung seines Handelns angesichts der Verwüstung und des Todes im Schlachtfeld und später auch beim Anblick des blutigen Körpers seiner Gattin. Und es ist vor allem in Bezug auf den Tod Aurelias, dass sein eigener Sterbewunsch entsteht: FURIA. Wir stehen am Ziele, Catilina! CATILINA. Nein; Ein Schritt noch, und erst dann bin ich am Ziel. Nimm meine Last erst von mir! Siehst Du nicht: Mein Rücken ächzt von Catilinas Leiche! Treib einen Pfahl durch diesen Leichnam erst! (Weist ihr den Dolch.) Erlös’ mich, Furia! Nimm diesen Pfahl; – Ihn trieb ich in des Morgensternes Auge. Nimm, nimm und ramm’ ihn mitten durch den Leichnam, So wird er ohne Macht, – und ich bin frei. (Ibsen, 2005 [1875]: 25, 3.Akt, 1.Szene) Der Tod Catilinas wird ohne abstrahierte Transzendenz von der Vestalin realisiert. In einer höchst pathetischen Szene wählt der Verschwörer sie als mörderisches Instrument und leitet die Gewalt durch ihre Hand gegen sich selbst 15 . Dementgegen wird das Selbstopfer Karl von Moors zusammen mit einer humanitären Handlung vollzogen, wodurch wiederum konstatiert wird, dass er sich der höheren Ordnung fügt. Den Räubern, die in ihm einen Suizidenten zu sehen glauben, nennt er Tore und zu ewiger 15 Kurz vor seinem Tod vermag Catilina darüber hinaus die geheimnisvolle Wahrsagung des Geistes zu enträtseln, der ihm vor der Schlacht der Verschwörer gegen die römische Armee im Traum erschienen war. Der Geist seines Mitstreiters Sulla, so laut Gómez de la Mata (1973: 177), wollte Catilina zur Rechenschaft ziehen und ihm sein tragisches Schicksal voraussagen mit dem Satz: “Du fällst von eigner Hand, und doch / Wird eine fremde Hand Dich fällen!“ (Ibsen, 2005 [1875]: 6, 3. Akt, 1. Szene). Lucius Cornelius Sulla (138–78) war einer der großen Hauptfiguren in den politischen Konflikten des ersten Jahrzehntes des ersten Jahrhunderts v. Chr. Um den Entzug seines Oberbefehls im Krieg gegen Mithriades rückgängig zu machen, marschierte er im Jahre 88 gegen Rom. Ibsen übt in der Geist-Szene seines Catilina einen erfolgreichen dramatischen Effekt, der seine späteren, bekannteren Dramen kennzeichnet. 14 Blindheit Verdammte (Schiller, 1965 [1781]: 617, 5.Akt, 2.Szene). Ihnen entgegnet er mit der christlichen Überzeugung, dass eine Todsünde nie das Äquivalent gegen Todsünden sein kann. Durch solch einen gottlosen Misslaut wird, so Moor, schließlich die Harmonie der Welt nie gewinnen. Dementsprechend kann er am Ende des Dramas kein Opfer durch unfruchtbarer Gewalt billigen, sondern er verbindet seine letzte Aktion mit einer guten Tat, die aber sein Erfolg lediglich im privaten, intimen Bereich demonstriert. Er weiß, der armen, kinderreichen Familie kann mit dem Kopflohn tatsächlich geholfen werden: Ich geh, mich selbst in die Hände der Justiz zu überliefern. [...] Ich erinnere mich, einen armen Schelm gesprochen zu haben, als ich herüberkam, der im Taglohn arbeitet und eilf lebendige Kinder hat – Man hat tausend Louisdore geboten, wer den großen Räuber lebendig liefert – dem Mann kann geholfen werden. (Schiller, 1965 [1781]: 617f., 5.Akt, 2.Szene) Der Wunsch Ibsens, die Figur des verschwörerischen Catilina zu rehabilitieren, kulminiert in der Vorstellung einer Schlussszene, die mit der Größe seines Erstlingsdramas nicht korrespondiert, denn eher könnte sie an das Happyend einer Seifenoper erinnern. Weder Catilina noch Aurelia sind in Wirklichkeit nach dem jeweiligen Erdolchen verendet, ihnen bleiben noch einige letzten Minuten, die sie dann sogar zusammen genießen. Da bekunden die allerletzten Worte des sterbenden Helden doch seine Versöhnung mit den milden Mächten des Morgens und mit dem Reich des Lichtes, das in der Gestalt seiner liebenden Aurelia verkörpert ist. Furia, die ihre persönliche Rache mit der Hetze zur Verschwörung zu kombinieren wusste, ist nun endgültig vertrieben worden und verschwindet aus der Szene. Von ihr befreit, reißt sich Catilina in einer Geste voll affektierter Symbolik den Dolch aus der Brust und stirbt: Ach, mein Arm wird schwach und schwächer, und mein Auge bricht; Aber hell ward mir’s im Herzen, hell wie nimmerdar, Und auf meine wirren Wege blick’ ich mild und klar. Ja, mein Leben war ein Nachtsturm wetterscheindurchloht; Doch ein rosiger Morgendämmer ward zuletzt mein Tod. (Beugt sich über sie [Aurelia].) Du vertriebst die Finsternisse; ruhig ward mein Sinn. 15 Ziehn wir denn zum Reich des Lichtes und des Friedens hin. (Er reißt sich den Dolch rasch aus der Brust und sagt mit sterbender Stimme:) Sieh, des Morgens milde Mächte schaun versöhnt herab; Und besiegt durch Deine Liebe flieht die Nacht ins Grab! (Ibsen, 2005 [1875]: 25, 3.Akt, 1.Szene) Durch das Beispiel des römischen Verschwörers Catilina, durch das Vorbild des Räubers Karl von Moor, zeigen zwei geniale Dichteranfänger, wie Gewalt kein Weg ist, um zur Gerechtigkeit zu gelangen. Oder, um sowohl den Dichter als auch den Herausgeber Schiller zum Schluss noch zu Wort kommen zu lassen: “[D]as Laster nimmt den Ausgang, der seiner würdig ist. Der Verirrte tritt wieder in das Geleise der Gesetze. Die Tugend geht siegend davon. Wer nur so billig gegen mich handelt, mich ganz zu lesen, mich verstehen zu wollen, von dem kann ich erwarten, daß er – nicht den Dichter bewundere, aber den rechtschaffenen Mann in mir hochschätze.“ (Der Herausgeber [d.i. Schiller], 1965 [1781]: 488). Dies möge gewiss so sein, und doch wie strahlend ist der Glanz und wie stark sind wir vom Reiz angezogen vom Drama des größten Verirrten, des größten Lästerers. Bibliografie Schiller, Friedrich (1965 [1781]). “Die Räuber“. In: Sämtliche Werke. Hg. Gerhard Fricke & Herbert G. Göpfert i.V.m. Herbert Stubenrauch. Bd.1. München: Hanser. Ibsen, Henrik (2005 [1875]). Catilina. Drama in drei Akten. In: http://gutenberg.spiegel.de/ibsen/catilina/Druckversion_catilina.htm, 12.07.2005. Albert, Salvador (ca.1920). El tesoro dramático de Henrik Ibsen. Barcelona: Minerva. Brahm, Otto (1886). “Henrik Ibsen“. In: Friese, Wilhelm (Hg.) (1976): 19-55. Brittnacher, Hans Richard (1998). “Die Räuber“. In: Koopmann, Helmut (Hg.) (1998): 326-353. Damm, Sigrid (2004). Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel. 16 Darras, Gilles (2005). “Mit Leib und Seele. Körpersprache. Psychologie und Philosophie in Schillers frühen Dramen“. In: Euphorion 99: 69-101. Frenzel, Elisabeth (1992). Motive der Weltliteratur. Stuttgart: Kröner. Friese, Wilhelm (Hg.) (1976). Ibsen auf der deutschen Bühne. Texte zur Rezeption. Tübingen: Niemeyer. George, David E.R. (1968). Henrik Ibsen in Deutschland. Rezeption und Revision. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht. Gómez de la Mata, Germán (1973). “Prólogo”. In: Ibsen, Henrik (1973): 27-73. Hemmer, Bjørn (2005 [1996]). Der Dramatiker Henrik Ibsen. Deut. Übers. Ursula H. Delourne. In: http://odin.dep.no/odin/tysk/om_odin/stillinger/032005990176/dok-bu.html, 12.07.2005. Ibsen, Henrik (1973). Teatro completo. Span. Übers. Else Wasteson, Erg. M. Winaerte & G. Gómez de la Mata. Madrid: Aguilar. 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