Teil 1 WS 00-01 - Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie

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GK Einführung in die Literaturwissenschaft Sitzungsprotokoll vom 18.10.2000
Themen:
- Führung von Protokollen (Verlaufs- und Ergebnisprotokolle)
- Aufgaben und Rolle des Tutors
- Bibliotheksführungen
- wichtige Termine während des Semesters
- Einführung in die Arbeitsmittel
- Einführung in die Verslehre
1. Über jede Sitzung wird ein Ergebnisprotokoll angefertigt, vervielfältigt und verteilt. Zu dieser
Aufgabe sind alle verpflichtet, und zwar zu jeder Sitzung jeweils zwei Teilnehmerinnen oder
Teilnehmer aus jeweils verschiedenen Ländern. Ein Ergebnisprotokoll ist zu erarbeiten, kein
Verlaufsprotokoll, in welchem bei einer polizeilichen oder gerichtlichen Vernehmung
gegebenenfalls jedes Wort festgehalten werden muss. In unserem Fall gilt es, mit dem
Ergebnisprotokoll eine für das Studium - das Hören von Vorlesungen, das Lesen
wissenschaftlicher Literatur, das Mitarbeiten in Seminaren - grundlegende Technik zu erlernen
und zu üben, nämlich in Stichworten Themen, leitende Fragen, entscheidende Informationen
und Argumente sowie Thesen und Resultate zu notieren und daraus später einen
zusammenfassenden kurzen und doch informativ orientierenden Text zu erstellen (Muster für
Protokolle in den Arbeitsunterlagen. Folgende Regel soll gelten: Protokollantin und
Assistentin erarbeiten den Text aus den Notizen gemeinsam und besprechen sich mit dem
Tutor. Wer als Protokollant eingetragen ist, schreibt das Protokoll auf eine Diskette, die der
Veranstaltungsleiter vor der Vervielfältigung noch einmal redigiert. Die Protokollantin oder
der Protokollant erhält die korrigierte Fassung zusammen mit der ersten Fassung auf der
Diskette zur Durchsicht zurück.
2. Der Tutor, Herr Wieslaw Ciesielski, stellte sich vor. Die Angebote und die Aufgaben des
Tutoriums wurden benannt: Hilfestellung und Übungen zu allen Aufgaben der Mitarbeit im
Grundkurs, bis zur Beratung bei den schriftlichen Hausarbeiten, die auch während der
vorlesungsfreien Zeit bis zum Beginn des Sommersemesters angefertigt werden können. Die
erste wichtige Aufgabe des Tutoriums ist eine
3. orientierende Einführung in die Bestände und in die Arbeitsmöglichkeiten einer
Fachbibliothek, in unserem Fall der Bibliothek des Germanistischen Seminars Freitag, 20.10.
,16
Uhr).
Bibliotheksführungen
(Philosophisches,
veranstalten
Kunsthistorisches,
neben
Anglistisches
den
Seminar
benachbarten
u.s.w.)
Instituten
auch
die
Universitätsbibliothek. Auf die speziellen Angebote, Kurse und Termine wurde hingewiesen;
auch hier wird der Tutor bei Bedarf zusätzliche Hilfe anbieten.
1
Der Grundkurs Literaturwissenschaft wird in zwei Parallelveranstaltungen durchgeführt. Die
Termine von Teil 1 und Teil 2 sind jeweils verschieden! Im Grundkurs von Prof. Loquai
laufen Teil 1 und Teil 2 parallel über alle Semesterwochen. Im Grundkurs von Dr. Heuer läuft
Teil 1 vierstündig bis zum 6. Dezember 2000 (Abschlussklausur am 15. Dezember), Teil 2
vom 11. Dezember bis zum 14. Februar 2001 ebenfalls vierstündig. Für Austauschstudenten,
die zum Beispiel nur bis Ende Dezember in Heidelberg sind, ist diese Einteilung vorteilhafter.
5. Die verschiedenen Arten von Büchern und anderen Medien, heute auch von elektronischen, die
Einteilung und Aufstellung von Büchern in Bibliotheken und die Einrichtungen und Maschinen
zum Nachweis von Büchern und aller Arten von Veröffentlichungen (Publikationen) gehören zu
den Arbeitsmitteln des Philologen. Eine wichtige Teilaufgabe von Teil 1 des Grundkurses ist die
Einführung in die Technik des wissenschaftlichen Arbeitens. Dazu gehört die Übung des
Gebrauchs der Arbeitsmittel. Sie begleitet den anderen Schwerpunkt von Teil 1:
6. Einführung in die Verslehre.
“Warum studiert man Geisteswissenschaften? (z.B. Literaturwissenschaft)?“ “Warum gibt es eine
Unterscheidung zwischen Literatur und der üblichen Sprache, wie wir sie im täglichen Umgang
gebrauchen?“ “Wie kommt es, daß man die Sprache des Dichters sofort erkennt?“ Unser
erstaunliches Reagieren im Erkennen der Sprache des Dichters wurde durch ein Beispiel
veranschaulicht. Das in Anthologien verbreitete Gedicht “Abendständchen“ von Clemens
Brentano war ursprünglich ein Ausschnitt aus einer Szene in dem Singspiel “Die lustigen
Musikanten“, das E.T.A. Hoffmann vertont hat. Im Singspiel finden wir also ein Duett, gesungen
von einem Mädchen und einem alten blinden Dichter und Sänger, den das Mädchen auf die
Bühne führt. Durch die Sammlung und den Eingriff eines späteren Herausgebers ist der auf zwei
Stimmen verteilte Text später zu einem selbständigem Gedicht zusammengewachsen. Erstaunlich
ist, daß jeder die von dem Dichter so ungewöhnlich und frei gesetzten Worte (z.B. golden wehn
die Töne nieder) sofort versteht, wie schon bei der ersten Zeile Hör, es klagt die Flöte wieder
niemand den Kopf zum Fenster wendet. Aber so reagierte er unmittelbar, wenn jemand sagte,
hört, da gelingt es einem nicht, seinen alten 2 CV zu starten. Was erzeugt wohl das
Einverständnis, mit dem wir sogleich in den Spielraum der Dichtung eintreten? Zu dieser Frage
wurde für die nächste Stunde ein Experiment verabredet.
Eine Studentin wird in Lettisch, einer Sprache, die niemand im Grundkurs versteht, eine
Zeitungsnotiz, eine Gebrauchsanweisung und ein Gedicht, so, wie man es beim Kennenlernen
liest, vorlesen; und alle sind dann gefragt, herauszufinden, an welcher Stelle das Gedicht steht.
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Das Experiment wird beweisen, dass die Stimme der Poesie, von der Philosophen sagten, sie sei
die Muttersprache des Menschengeschlechts, unabhängig von dem Bedeutungsinhalt der Worte,
den die jeweilige Nationalsprache hineingelegt hat, immer herausgehört wird. Offenbar lebt hier
etwas für uns Menschen gemeinsam Ursprüngliches für jeden vernehmbar weiter, das sich in dem
kultischen Ursprung der in Tanzbewegungen und in das Ertönen der Stimme festlich
eingebundenen Worte gebildet hat. Es lebt ebenso in dem lustigen Spiel von Spott und Scherz
weiter. Der Bezug eines Gedichts zur Musik, zur Stimme, zum Tanz, zum Rhythmus wurde auch
beim Vortragen eines anderen Beispiels, “Der Werwolf“ von Christian Morgenstern deutlich.
Schließlich wurde die unglaubliche Abstraktionsleistung des Menschen erörtert, die Sprache so
zu präparieren, dass man sie nicht nur in Sätzen, Satzgliedern und Wortgruppen, sondern auch in
einzelne Silben segmentieren und analysieren kann. Wir projizieren ein Gedicht von Brecht, Der
Radwechsel, in Majuskeln, Großbuchstaben, und ohne Wortgrenzen geschrieben an die Tafel, um
uns vor der Aufgabe, eine solche Schrift zu lesen, das Problem zu vergegenwärtigen. Silben
abzugrenzen, das müssen wir wohl im tanzenden Singen gedichteter Worte geübt haben, wo man
alles mit den aufstampfenden Füßen in kleinste Abschnitte zerlegt: Wir sprechen von Versfüßen.
Ein solches Wort zeigt uns den Weg der Entdeckung und Entwicklung einer Sache. Auf dem
Weg der Erfindung schriftlicher Überlieferung gerät vieles aus dem Blick, wird weggelassen,
verballhornt oder vergessen, manches wird aber auch neu entdeckt, weiterentwickelt, verbessert
oder perfektioniert. So hat uns Jean-Jacques Rousseau auf die Geschichte der Entwicklung
menschlicher Kultur zu sehen gelehrt, mit der Aufforderung, zurückzufragen, uns immer wieder
an den Ursprung des Entdecktseins der Phänomene zu erinnern.
Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Universität Heidelberg
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokollant\in: Michael Kowalski und Amanda Boye
Protokoll über die Sitzung des Grundkurses „Einführung in die Literaturwissenschaft“
vom 23.10.2000
Zu Beginn wurden einige allgemeine Hinweise gegeben, zum Programm der Veranstaltungen des
studium generale und zum Sprachenlernen im Tandem (Anmeldung bei Frau Dr. Kaltenbacher)
im IDF.
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1. Die allgemeinen Bemerkungen über das Protokollführen wurden wiederholt. Das Anlegen und
Ordnen von Protokollnotizen sowie die Ausarbeitung eines Protokolls übt das Zuhören wie das
Lesen, das Gedächtnis wie das selbständige Vortragen des im Studium Erlernten. Akademischen
Prüfungen kontrollieren insbesondere das selbständige Disponieren und Vortragen. Wer das
bedenkt, findet auch die bestmögliche Methode zur Vorbereitung solcher Prüfungen. Gegenüber
jedem Spezialgebiet, beispielweise im Hinblick auf einen Text, sollte man immer überlegen,
welche Fragen man selbst als Lehrer stellen würde.
2. Das Gedicht Der Werwolf von Christian Morgenstern wurde noch einmal an die Tafel
projiziert; dazu wurden Fragen gestellt: Wie lässt sich ein solcher Text nachweisen, beschaffen
und vorstellen?“ Wer den Verfasser nicht kennt, kann in einem Titellexikon ( Deutsches
Titelbuch) nachschlagen. Über den Verfasser und über die Werkausgaben informieren
Schriftsteller-(Dichter- Verfasser-)lexika. Informationen über diese verschiedenen Hilfsmittel
gibt in vorzüglich übersichtlicher Weise Paul Raabe: Einführung in die Bücherkunde zur neueren
deutschen
Literaturwissenschaft
und
Quellenrepertorium
zu
neueren
deutschen
Literaturgeschichte, beide Handbücher (in der Sammlung Metzler erhältlich) wurden zum
Studium wie als ständige Orientierungshilfe besonders empfohlen (Inhaltsangaben auf S. 35 der
Arbeitsunterlagen!). Zu dem Titel Der Werwolf wurde die Frage gestellt: Was macht jemand, der
das Wort Werwolf
und folglich die witzige Pointe nicht versteht? Dazu braucht man
Wörterbücher, die den Wortbestand einer Sprache nachweisen. Für die klassischen Sprachen gibt
es den Thesaurus (= Schatz) linguae graecae und den Thesaurus linguae latinae; für das
Deutsche sind unverzichtbar: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1854,
abgeschlossen 1961); Johann Christoph Adelung, Versuch eines vollständigen grammatischkritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart (1.-5. Auflage Leipzig 1774-1786). Ein
älteres Beispiel besitzen wir von Kaspar Stieler: Der Teutschen Sprache Stammbaum und
Fortwachs. Nürnberg 1697. Auskunft über Werwolf geben aber auch Friedrich Kluge:
Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache und andere Wörterbücher.
3. Danach wurden die Hausaufgaben für Mittwoch gegeben:
a. Arbeitsunterlagen: Seite 1, zu erarbeiten zusammen mit der Aufgabe,
b. Wie liest und wie beschreibt man einen daktylischen Hexameter?
4. Wir haben dann unser Experiment gemacht, das vorige Woche vorgeschlagen worden war. Ein
Zeitungsabschnitt, ein Gedicht und eine Gebrauchsanweisung wurden auf Litauisch vorgelesen.
Wir haben die verschiedenen Texte angehört und sollten erraten, welcher Text das Gedicht war.
Der zweite Text war das Gedicht, und einige Studenten haben es sogleich bemerkt, ohne die
4
Sprache zu kennen. Das Gedicht wurde noch ein paar Mal wiederholt, sodass jeder das
Reimschema und den Gedichtklang noch einmal heraushören konnte. Durch dieses Experiment
erkennt man, dass man nicht seit seiner Kindheit eine bestimmte Sprache sprechen muss, um
Literatur, Lyrik, Epik oder die Dialoge in einem Drama schön sprechen und genießen zu lernen.
Noch ein Experiment wurde vorgeschlagen. Man vergleiche die Photographie einer Porträtskizze
oder eines Proträtgemäldes, die ein geschickter Maler von jemandem, mit dem man vertraut ist,
angefertigt hat, mit einer eigenen gelegentlichen Photographie, einem Schnappschuß. Jeder wird
erkennen, daß die Hand eines Künstlers mit ihrer Zeichnung ein lebendigeres Aussehen
erschließt. Ihr gelingt es, unser Sehen erst aufmerksam zu machen. Und selbst eine Photographie
des Porträts aus der Hand des Künstlers hält das besser fest als unser Schnappschuß.
5. Thema war dann eine Rückbesinnung auf den Ursprung und die Weitergabe des gedichteten
und wissenden Wortes in der Bindung an kultischen Tanz und Gesang. Priester verwalten das
Wissen, die Gesetze und die Namen und Begebenheiten vorausgegangener Zeiten im heiligen
Gesang und Tanz, um die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Hier ist Kunst von Wissenschaft
noch nicht zu trennen. Die Bindungen, die Tanzschritt und Musik mit den Gesetzen von
Silbenmaß und Klang hinzufügen, helfen mit, das heilig gehaltene gemeinsame Wissen zu
verwahren und weiterzugeben, zu überliefern. Beim Lesen und Hören eines Gedichts erinnert
sich jeder sogleich noch unbewußt an diesen künstlichen Klang, an Tanz und Gesang. In der
Niederschrift und im Druck hält ein Gedicht in der Abgrenzung von Versen, von Zeile zu Zeile
den Fluß der Worte und manchmal die Wörter zwischen den Silben trennend, diesen Rhythmus
eines veränderten und neuen Sprechens und Hörens fest. Beispiel war das Gedicht Fadensonnen
von Paul Celan. Wenn man dieses Gedicht vorliest, bemerkt man, dass durch besonders gewählte
und gestellte Worte eine ganz andere Atmosphäre entsteht. Dass es nicht mehr die Alltagsprache
ist, kann man an einem besonderen Klang hören. Dieser besondere Klang erinnert in uns eine
besondere Weise körperlicher Bewegung in der Erregung unserer Gemütsbewegungen, so wie der
ursprünglich kultische Tanz es uns eingeprägt hat.
6. Unserem heutigen Verstehen und unserem Umgang mit Dichtung geht eine lange Entwicklung
der Kultur voraus, die mit der Erfindung der Schrift einen Übergang von mündlicher zu
schriftlicher Überlieferung bewirkt hat. Hier ist auch zu überlegen, was Menschen und Völker in
solchen Veränderungen gewinnen und was sie verlieren. In einer schriftlichen Tradition, die
durch Bildsymbole oder Lautzeichen nur die Wörter festhält, verliert man das Gefühl für den
besondere Klang eines Dichtwerks. Deswegen erfindet und benutzt man später verschiedene
Zeichen, um den Klang und die rhythmische Bewegung eines Gedichts zu rekonstruieren. Als ein
Beispiel wurde Under der linden von Walther von der Vogelweide in Mittelhochdeutsch
5
vorgelesen. Früher wurde dieses Gedicht gesungen, aber heute wissen wir nicht mehr die von
Walther benutzte Melodie.
Man kann trotzdem versuchen, die metrische Bewegung zu
rekonstruieren. Dazu braucht man Zeichen. Sie dienen dazu, die Unterschiede im Zeitmaß und in
der Akzentuierung der einzelnen Silben sowie die metrischen Einheiten, die Füllung der Takte,
zu notieren.
Die Zeichen, die wir benutzen werden, sind seit der Erfindung der Verslehre in der Antike, der
Erfindung der Philologie durch die antiken Grammatiker, was den Übergang zur Verschriftung
der Sprache voraussetzt, für alle europäische Sprachen benutzbar geblieben. Die Zeichen stehen
für die individuellen Gestaltung der Silben eines Wortes. Nur die Enden einer Verszeile
bezeichnen Einschnitte. Üblich sind:
—
v
lang
kurz
/
betont
— v Trochäus
v — Jambus
— v v Daktylus
v v — Anapäst
v — v Amphibrachys
Mit diesen Hilfsmitteln kann man das metrische Schema eines Gedichts
analysieren und
versuchen, den musikalischen Rhythmus zu rekonstruieren. Mit den regelmäßigen Folgen von
gewichteten und ungewichteten Teilen, Hebungen und Senkungen, langen und kurzen Schritten
erinnert man an die körperliche Bewegung von Tanz und musikalische Melodien.
Sitzungsprotokoll vom 25.10.2000
Protokollantin: Bouchra Clemente Boukhriss
Assistentin: Chiara Bianchi
1. Zur Protokollführung :
Die Protokollführung ist in dieser Einführung in die Literaturwissenschaft eine conditio sine
qua non. Es handelt sich um eine der wichtigsten Techniken des Lernens. Der Student hat
darin ein wichtiges Werkzeug, um den Inhalt einer Sitzung wiederzugeben. Man darf auch
nicht vergessen, es ist nicht nur eine Angelegenheit dessen, der das Protokoll schreibt,
sondern aller Anwesenden.
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2. Zum Organisatorischen:
Hingewiesen wurde auf die Formulare für die Anmeldung zur Teilnahme am Grundkurs
„Einführung in die Literaturwissenschaft“, letztes Blatt der Arbeitsunterlagen, das
abzutrennen, auszufüllen und abzugeben ist. Weiterhin stellte uns Dr. Heuer die Anthologie
Deutscher Gedichte des Reclam Verlags vor. Die Anschaffung soll auch dazu dienen, uns
einen ersten Überblick über die Geschichte der deutschen Dichtung zu geben. Dr. Heuer
empfiehlt uns, sobald wie möglich mit der Lektüre für Teil 2 anzufangen.
Außerdem wurden die Regeln der Mitarbeit noch einmal erläutert:
-
Regelmäßige und pünktliche Anwesenheit
-
Protokollführung
-
Hausaufgaben machen. Sie sind auch ein Test, festzustellen, wo es noch Schwierigkeiten
gibt. Für den ersten Teil dieser Veranstaltung sind es die jeweiligen Vorbereitungen. Für
den zweiten Teil, die Pflichtlektüre. Dazu sagte Dr. Heuer, es sei für den Anfang oft
hilfreich, wenn man eine Übersetzung in die für den Studenten einfachste Sprache parallel
liest. Allerdings, nur wenn man noch Schwierigkeiten mit dem flüssigen Lesen hat.
Wichtig ist, dass man Dichtung zunächst so liest wie der Literaturliebhaber es tut!
Im Laufe des Semesters werden Videoaufnahmen zu den zu behandelnden Dramen
vorgeführt., z. B. Sophokles: König Oidipus, Shakespeare: Macbeth.
3. Hausaufgaben für die nächste Sitzung:
Arbeitsunterlagen S. 3: einen daktylischen Hexameter von Goethe analysieren und Akzente auf
die gewichteten Silben setzen. Dafür gilt seit der Antike die Regel: in den ersten vier Takten
dürfen die beiden ungewichteten Silben durch eine lange ersetzt werden; in den beiden nie
veränderten letzten Takten wird im sechsten das dritte Teilstück nie gefüllt.
Dr. Heuer erklärte dazu, wie der daktylische Hexameter nach Deutschland kam. Die Römer
erbten ihn von den Griechen. Danach ist dieses Versmaß über England durch das Vorbild der
Studien und Übersetzungen von Alexander Pope nach Deutschland gekommen. Wie wird ein
Versmaß, ein metrisch rhythmisches Modell eingebürgert?
Aristoteles sagte, wir lernen vor allem mimetisch. Mimesis ist ein sehr wichtiger Teil unseres
Lernprozesses. Wir dürfen nicht vergessen, wie Kinder eine Sprache erwerben. Sie sind mit der
Empfänglichkeit aller ihrer Sinnen dabei. Und vor allem, sie empfinden die Bewegungen des
Körpers und machen sie nach. Ein weiterer wichtiger Teil eines jeden Lernprozesses ist die
Freude am Lernen, was den Kopf und den Leib des Menschen ausbildet. Diese Freude stabilisiert
den menschlichen Charakter, schenkt Lebensfreude auch im Alltag.
6. Korrektur der Hausaufgaben der letzten Sitzung:
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Eine Kommilitonin tritt freiwillig vor, um die erste Aufgabe zu lösen, die metrische Analyse
eines Gedichts von Goethe, „Meeres Stille“.
Tiefe Stille herrscht im Wasser,
Ohne Regung ruht das Meer,
(a)
- v/
(b) - v /
- v/
- v/
- v/
- v/
- v/
-
/
Und bekümmert sieht der Schiffer
(a)
- v/
- v/
- v/
- v/
Glatte Fläche rings umher.
(b)
- v/
- v/
- v/
- /
Keine Luft von keiner Seite!
(c)
- v/
- v/
- v/
- v/
usw.
Unsere Kommilitonin erklärt, wie man die Aufgaben löst. Man muss zuerst wissen, welche Silbe
betont ist. Wir stellen fest, dass es sich um einen Trochäus handelt, nach dem Schema: - v. Dr.
Heuer erklärt, dass es auch in den Maßen oder Takten (Maßen) einer Verszeile wie in der Musik
Pausen gibt. Musik, Tanzbewegung und Worte bilden ursprünglich eine Einheit. Um den Takt
oder das Versmaß herauszufinden, ist auf die Kombination unterschiedlicher Elemente der
Artikulation der Silben zu achten:
-
Lang / kurz
nach der Zeit:
-
Betont / unbetont
-
Hoch / tief
-
Stark / schwach oder akzentuiert / nicht akzentuiert
nach dem Klang der Stimme
nach dem Fallen oder Steigen der Melodik
dem Nachdruck entsprechend
Abstrakt formulieren wir: Gewichtet / ungewichtet oder schwer / leicht.
.
Wir merken somit, dass die kleinsten Einheiten, nämlich die Silben, die Melodie in unserer
Sprache tragen. Das Tanzen oder Singen zerlegt die Sprache willkürlich in solche kleinen
Einheiten. Die Sprache wird also durch Kunst, künstlich in Silben segmentiert.
Inzwischen hat eine Kommilitonin den vorliegenden Text mit zwei Ausgaben von Goethes
Gedichten (Band 1 der Hamburger Ausgabe von Erich Trunz; und Band I der I. Abteilung,
herausgegeben von Karl Eibl in der Bibliothek Deutscher Klassiker) verglichen. Sie beschreibt,
wie sie gesucht hat: Inhaltsverzeichnis, Apparat (Textnachweis, Anmerkungen usw.). Die
Hamburger Ausgabe hat für die Überschrift die falsche Schreibung „Meeresstille“,
Karl Eibl
bringt die korrekte, authentische vom Dichter gewollte: „Meeres Stille“. Darüber wird
gesprochen, auch, was zu tun ist, wenn sich das, was der Dichter wollte, nicht mehr an seiner
Handschrift nachweisen läßt.. Die Frage bleibt auch dann, was hat Goethe haben wollen? Und:
was verlangt das Gedicht? Die Antwort gibt hier schon der Rhythmus. Das Versmaß ist ein
vierhebiger Trochäus, der langsam vorgetragen sein will. Somit kündigt
in der richtigen
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Schreibung schon der Titel die Bewegung an. Das Beispiel zeigt uns, dass wir kritisch an die
Texte gehen sollen, ein wichtiger Teil der Technik des wissenschaftlichen Arbeitens.
Das Gedicht der zweiten Aufgabe ist „Glückliche Fahrt“:
Die Nebel zerreißen,
v - v/
v - v/
Der Himmel ist helle,
v - v/
v - v/
Und Äolus löset
v - v/
v-v /
Das ängstliche Band.
v - v/ v -
Es säuseln die Winde,
v - v/ v - v /
/
usw.
Hier sehen wir sehr deutlich, dass es sich um einen Amphibrachys handelt. Die Verszeilen haben
ein anderes Schema als bei Aufgabe 1. Wenn man sich hinein hört, findet man den Takt. Wie wir
schon wissen, können Silben gewichtet oder ungewichtet sein. Diese werden miteinander zu
zweit, zu dritt oder zu viert kombiniert, und aus dieser Kombination ergibt sich, ob ein Versmaß
Trochäus (-
v) oder Jambus (v
-) oder ein dreiteiliges ist, wie z.B. der Daktylus oder der
Amphibrachys. Verszeilen werden also aus regelmäßig sich wiederholenden Vermaßen gebildet.
Ein Gedicht entsteht als eine Wiederholung von Verszeilentypen.
Alle Poesie lebt aus dem Prinzip der kunstmäßigen Wiederholung, was die Menschen schon
immer geübt haben. Musik und Sprache gehören einfach zusammen. Dr. Heuer liest noch einmal
das Gedicht Soldat Soldat vor, als Beispiel für andere Formen der Wiederholung. Dieses
musikalische Prinzip der Wiederholung zeigt, wie die menschliche Sprache spielt.
Sitzungsprotokoll vom 30.10.2000
Protokollantin: Boyadjieva Margarita
Assistent: Kubis Thomasz
1. Die Einführung in die Bibliothek des Instituts Deutsch als Fremdsprachenphilologie wurde
kurz besprochen. Der Tutor Wieslaw Ciesielski gibt den nächsten Termin der bekannt: Freitag,
10.11.2000, 8.30 Uhr, Treffpunkt im IDF.
2. Kurze Ansagen:
- Gastvortrag der Abteilung Moderne Indologie. Professor Dr. Vridhagiri Ganeshan (Hyderabad):
„Das Eigene“ und „Das Fremde“ in der Indienbegegnung deutscher Schriftsteller.
31.10.2000.Südasien-Institut, Raum 501.Beginn:16 Uhr c.t.(= cum tempore, d.h. 16.15 Uhr)
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- Studium generale: Entwicklungszusammenarbeit - was muß sich ändern? von Heidemarie
Wieczorek-Zeul, Bundesministerin
für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und
Entwicklung.
Montag, den 30.10.2000 in der Aula der Neuen Universität.
- Videoaufzeichnung von: Sophokles „Antigone“ im Literarischen Kaleidoskop, Dienstag,
31.10.2000, 18:45 Uhr im IDF, Hörsaal 105. Dr. Heuer wird eine kurze Einführung geben.
3. Hausaufgabe, Seite 18 der Arbeitsunterlagen: Ein kurzer Ausschnitt von Homers Odyssee
wurde von einer Studentin, anschließend von Dr. Heuer vorgelesen, und anhand des Textes
versuchten wir, die Verse nach der Metrik zu bestimmen. Der daktylische Hexameter ist ein
Erählvers. Der Rhythmus entsteht aus der Dynamik, in der der Redefluß des von Inhalt und
Bedeutung gesteuerten Erzählens von den metrisch musikalischen Gesetzen durchbrochen und
gebrochen, jedenfalls immer mitbestimmt wird. Bedeutung auszuarbeiten.
4. Der tanzende Fuß, die Körperbewegung setzt dem Redefluß etwas entgegen, d.h. man kann in
jeder Sprache die Melodie, den Tanz, Formen künstlicher Ordnung zur Geltung bringen. Durch
Tanz und Spielerei, durch das, was sich durch künstliche Kombinationen neu erschließt, wurde
immer schon auch gelernt. Musik, Gedichte, Formen der Kunst bilden die Völker. Jeder Tanz
hat eine eigene Folge von Schritten, jeder Rhythmus einen eigenen Charakter. Die rhythmische
Bewegung wird durch Gliederung und Verbindung zur Strukturierung gedrängt. Wie sich
Einheiten in der Musik, im Tanz, im Gedicht wiederholen –sie kehren immer wieder zurück - ,
das hören und erfahren wir, auch ohne Worte zu verstehen oder besonders darauf zu achten.
Solche den Sätzen und Satzteilen gegenübergestellte Segmente nennt man im Gedicht Verszeilen.
Eine Verszeile selbst besteht wiederum aus kleineren Einheiten – Versmaße oder Takte genannt.
Grundlage der Metrik sind musikalisch-rhythmische Einheiten, das dazu verwendete Material der
Sprache sind die Silben, die kleinsten Segmente. Man unterscheidet gewichtete und ungewichtete
Silben. Die Gewichtung kann durch die Zeit geschehen (kurz und lang), durch den Druck
(akzentuiert und nicht akzentuiert), durch die Stimme (hoch und tief). Die Kombination von
gewichteten und ungewichteten Silben ergibt das Versmaß. Verszeilen werden aus regelmäßig
sich wiederholenden Versmaßen aufgebaut, ein Gedicht aus Verszeilen. Das Metrum verlangt
manchmal, Gewichte auf Silben zu legen, die man normalerweise nicht gewichtet. Man versucht
aber im Vortrag, den Takt zu halten und sich zugleich frei zu bewegen. So entsteht Rhythmus.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Meisterschaft, ein musikalisches Werk zu interpretieren.
5. Metrisch-gebundene Sprache kommt nicht nur in den lyrischen Dichtungen, in Liedern, in
feierlichen und ernsten Gesängen wie in Spottgedichten vor, sondern auch in Erzählungen und im
Drama. Das Problem des authentischen rhythmisierten Vortrags bleibt das gleiche, wenn, anders
als heute in der Musik, außer den Verszeilen nichts als Sätze und Worte notiert sind.
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Der Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung ist ein Vorgang der
Abstraktion: In der Schrift bleibt unbezeichnet, wie sich die Stimme, wie sich der Körper, wie
sich das Gemüt bewegt. In Worten wie das Gefühl hat man in den Beinen drücken wir aus, daß
wir darum wissen. So wie Pindar, Sappho gesungen haben, wie in den Tragödien gesungen
wurde, wissen wir nicht mehr. Die Taktfüllung können wir über Schemata der Metrik
rekonstruieren.
Die Metrik lehrt, wie die Silben getrennt, verschieden gewichtet und kombiniert werden können.
Die Einheiten entstehen aus gewichteten und ungewichteten Teilen, die unterschiedlich
miteinander kombiniert werden. So zeigte uns Dr. Heuer akustisch durch Klopfen am Tisch ein
Reihe von verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten, die sehr verschiedene Einheiten ergeben,
deren Charakter durch das Tempo der einzelnen Taktfolgen noch weiter verändert werden kann.
Folgende grundlegende Schemata sollten wir uns zunächst merken:
- Jambus
v -
Anapäst
vv -
(beide steigend)
- Trochäus
- v
Daktylus
- vv
(beide fallend)
Kretikus
- v -
- Amphibrachys
v - v
7. Der daktylische Hexameter wurde am Beispiel von Goethes „Reineke Fuchs“ (Seite 4 der
Arbeitsunterlagen) veranschaulicht. Ein klassisches Beispiel aus den „Metamorphosen“ von
Ovid wurde noch dazu angeführt.(Seite 4 der Arbeitsunterlagen) .
Ein daktylischer Hexameter hat die Besonderheit, daß im sechsten Takt der letzte ungewichtete
Teil (eine kurze, tonschwache Silbe) ausfällt, der vorletzte Takt immer mit drei Silben gefüllt ist
und eine Verszeile maximal 17 Silben hat, mindestens aber 13 Silben haben muß, da in den vier
ersten Takten an die Stelle der beiden kurzen Silben des Daktylus eine lange Silbe treten kann,
die aber, das ist im Deutschen wichtig, nie besonders betont werden darf. Die zwei letzten Takte
sind immer gleich, die ersten vier können immer unterschiedlich gefüllt sein. Die erste Silbe ist
immer lang, also eine gewichtete, obwohl wir in deutschen Versen, auch bei Goethe und Schiller,
an erster Stelle hin und wieder Silben finden, die wir durch schwebende Betonung erst dehnen,
also gewichten müssen. Bei den vier ersten Takten muß man immer ausprobieren. Dazu und nur
dazu benutzt man die Hilfskonstruktion der Regeln des daktylischen Hexameters.
8. In der klassischen Dichtung wird Hexameter oft mit einem sogenannten Pentameter
kombiniert, im Distichon, einem Verspaar, das man ursprünglich zu Grabinschriften verwendete,
einem elegischen Versmaß. Elegie bedeutet eine trauernde Dichtung, deren Versmaß später aber
auch in der Satire heimisch wird.
- Distichon – zwei Verszeilen, gebildet von einem daktylischen Hexameter und einem
Pentameter.
11
- Stichon (griechisch) heißt eine Verszeile. Von Stichomythie spricht man, wenn im dramatischen
Dialog die Sprechenden, zumeist Streitenden, einander von Verszeile zu Verszeile abwechseln.
Wenn man auf solche Begriffe stößt, schlägt man gegebenenfalls im Reallexikon nach, z.B. im
Sachwörterbuch der Literatur von Gero von Wilpert .
 Ein Beispiel für die Regel und die Beschreibung der Kombination von daktylischem
Hexameter und Pentameter liefert Das Distichon von Schiller auf Seite 3 der
Arbeitsunterlagen.
In der nächsten Sitzung werden wir uns mit den Dramenversen beschäftigen. Die Hausaufgabe
bleibt die gleiche .
Sitzungsprotokoll vom 1.11.2000
Protokollantin: Eglantina Isufi
Als Hausaufgabe für den nächsten Mittwoch sind folgende Texte zu lesen:
Schiller :“Nänie“
Hölderlin : „Brod und Wein“ und „Heidelberg“
Homer: Odyssee, Achter Gesang, Arbeitsunterlagen s. 21 ff.- (20 Zeilen nach Wahl)
Es wurde der Rat gegeben, sich eine Anthologie zu besorgen („Deutsche Gedichte“, Reclam), um
am hier gegebenen Beispiel ausgewählter einzelner Gedichte einen ersten und schnelleren
Überblick über Epochen und Namen der deutschen Literatur zu gewinnen.
Im Studium wird gelernt und geübt, über die Gegenstände des Faches zu arbeiten und
vorzutragen, Referate zu halten und Seminararbeiten zu schreiben. Deren Themen und Fragen
beziehen sich auf Autoren und deren Werke, auf die
Primärliteratur.
Die Arbeiten der
Fachliteratur, die dazu herangezogen werden, bilden die Sekundärliteratur.
Als Orientierungshilfe zum Studium, als erste und gute Anleitung, sich hier zurechtzufinden,
wurde empfohlen:
Paul Raabe: Quellenrepertorium zu neueren deutschen Literaturgeschichte und derselbe:
Einführung in die Bücherkunde zur neueren deutschen Literaturwissenschaft.
Eine Inhaltsangabe der beiden in der Sammlung Metzler erschienenen Taschenbücher findet sich
auf Seite 35 der Arbeitsunterlagen!
12
Die wichtigsten Aufgaben des Literaturwissenschaftlers bestehen darin, die literarischen Werke
in zuverlässigen Ausgaben zugänglich zu machen, und den authentischen Text zu kommentieren.
Das Resultat solcher Arbeit ist im besten Fall eine Historisch-Kritische Ausgabe. Eine
Historisch-Kritische Ausgabe hat die Pflicht, auch die verschiedenen Versionen der
Überlieferung eines Textes als Lesarten festzuhalten; hier setzt die Textkritik zu neuer Prüfung
an.
Seit der Erfindung des Buchdrucks, seitdem man an der Reinschrift eines Autors oder an den
Korrekturen des Autors während oder nach der Drucklegung dessen letzten Willen erkennen
kann, erscheint die gesicherte Ermittlung eines authentischen Textes leichter als gegenüber den
vorausgegangenen Jahrtausenden handschriftlicher Überlieferung – wenn denn noch alle Quellen
und Beweismittel zur Verfügung stünden und nicht sogar dem Autor, dem Dichter selbst, Fehler
unterlaufen könnten.
Es wurden Beispiele für Probleme des Recherchierens im Alltag des Studiums gegeben.
-
In Anthologien und in Taschenbuchausgaben erscheint Hölderlins Elegie „Brod und
Wein“ – so die authentische Lesart, wie sie die Textkritik nachgewiesen hat - mit der
Schreibung „Brot und Wein“ abgedruckt.
-
Von Clemens Brentanos Gedichten, die der Dichter selbst nicht herausgeben wollte,
veranstaltete nach dessen Tod Christian Brentano die erste Ausgabe. Hierbei entstand
durch die Entscheidung des Herausgebers aus einem Dialog in Brentanos Singspiel „Die
lustigen Musikanten“ das in die Anthologie „Deutsche Gedichte“ von Echtermeyer/von
Wiese aufgenommene und so als Lyrik Brentanos lebendig gebliebene Gedicht
„Abendständchen“. Was läßt sich hier als authentische Fassung nachweisen und wie? Was
war der Wille des Dichters und was wird zurecht als Werk des Dichters verehrt? Hier
bleiben auch offene Fragen.
An einem Beispiel auf Seite 15 der Arbeitsunterlagen, Goethe: Venezianische Epigramme 19,
wurde durch Lesen das Versmaß herausgefunden: zweimal ein Distichon aus daktylischem
Hexameter und Pentameter.
Anschließend wurden die Strophenformen der asklepiadeischen und der alkaiischen
Strophe auf S. 4 und 5 der Arbeitsunterlagen behandelt. Wichtig ist, sich den Rhythmus der
Strophen durch Nachsprechen einzuprägen – am besten durch Auswendiglernen eines Musters,
von Hölderlin oder von Horaz.
13
Vers = lateinisch Versus ist eine Übersetzung von griechisch Strophe. Der Begriff beschreibt
ein Bild, mit dem die ersten Verslehrer arbeiteten: Seht auf den pflügenden Bauern, wenn er auf
seinem Acker eine Furche zieht! An dessen Ende wendet der Pflüger den Pflug und lässt den
Stier in entgegengesetzter Richtung eine gleiche Furche nachziehen. Heute unterscheiden wir
Vers (Zweizeiler, aber auch eine metrisch geformte Verszeile) von Strophe, die mindestens drei
Zeilen miteinander verbindet.
Die vorgeschriebene Füllung der Verszeilen mit einer bestimmten Zahl Silben von bestimmter
Formung fordert auch im Spiel unser Sprechen heraus. Genannt wurde die auch im Deutschen
beliebt werdende japanische Form des Haiku: 17 Silben (verteilt auf 3 Verszeilen, 2 mal 5 und
7 Silben in der Mitte). Der Seminarleiter empfahl, es einmal mit diesen Regeln zu versuchen.
Sitzungsprotokoll vom 06.11.2000
Protokollant: Kubis Tomasz , Assistentin: Boyadjieva Margarita
Die korrigierten Protokolle vom 25.10.2000 wurden verteilt. Dr. Heuer hat noch einmal
erklärt, wie man die Protokolle anfertigen soll, und darauf hingewiesen, daß alle Protokolle zum
Durchlesen da sind, es sei eine Hilfe (Repetitorium) für uns alle.
Hinweis auf die Videoaufzeichnung. „König Ödipus“ von Sophokles im Literarischen
Kaleidoskop am Dienstag, den 07.11.2000 um 18:45 Uhr im IDF, Hörsaal 105, Wiederholung
am Montag, dem 20. November, 11:15 Uhr im IDF, SR 105
Hausaufgaben für die nächste Sitzung: Es sollen folgende Gedichte zum Vorlesen
präpariert werden: Mörike: „Auf eine Lampe“; Shakespeare/ Schiller: „Macbeth“ V.3/V.6;
Goethe: „Parzenlied“ aus „Iphigenie auf Tauris“; Hölderlin: „Heidelberg“ (Analyse der ersten
Strophe). Für die spätere Sitzungen: Schiller- „Nänie“; Hölderlin: „Brot und Wein“.
In der letzten Sitzung wurde das Distichon als Versform der elegischen und der
satirischen Dichtung vorgestellt. Das zweizeilige Epigramm eignet sich ebenso für die ernste
Grabinschrift wie für den prägnant formulierten und gefürchteten Spott. Für beides nehmen die
Dichter seit je das künstliche Mittel einprägsamer Verse in Anspruch. So hat im 7. Jahrhundert
14
vor Christus der für seine Gedichte berühmte Archilochos (nicht der ein halbes Jahrhundert
jüngere Alkaios) einen angesehenen Priester und dessen Tochter, die ihm der Vater nicht zur Frau
geben wollte, in den Selbstmord getrieben.
Dr. Heuer erklärte dann, wie das DISTICHON gebaut ist. Das Distichon ist ein
daktylischer Zweizeiler; besteht aus einem Hexameter und einem Pentameter. Beide wechseln
immer ab, die erste Zeile ist immer ein Hexameter, die zweite ein Pentameter. Die erste Silbe
muß immer durch Ton, Akzent und Länge gewichtet sein. Für die erste Zeile gilt die Regel aller
daktylischen Hexameter. Für die ersten vier Takte muß man immer ausprobieren, ob zwei oder
drei Silben hineinpassen; die zwei letzten Takte bleiben immer gleich. Auch der Pentameter ist
eigentlich ein Hexameter, denn er hat sechs stark gewichtete Silben, aber mit dem Unterschied,
daß man beim Pentameter in der Mitte und am Ende eine große Pause setzt. Was auch bei
Musikern im Anfangsunterricht vorkommt: Die ersten Verslehrer haben die Pausen von jeweils
einem halben Takt am Anfang und am Ende nicht mitgezählt. Dann kommt man von 12 halben
Maßen im Hexameter auf 10 halbe Maße, geteilt durch 2 macht: 5 Maße =
Pentameter
(griechisch penta heißt fünf).
Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,
- -/-v v/
-
Im Pentameter drauf
-
-/- v v /
-/
-
- /- v v / - v/
fällt sie melodisch herab.
- # /- v v/- v
v/- # /
Zu beachten ist hier der Unterschied zwischen Pause = # und Zäsur. Im Hexameter sind für
die antike Metrik an bestimmten Stellen Zäsuren erlaubt, d.h. Einschnitte, Atempausen (Kolon),
die aber keinen Einfluß auf die Füllung der Verstakte haben. Das wurde von Dr. Heuer an
folgendem Beispiel lateinischer Dichtung im daktylischen Hexameter (Ovid: Metamorphosen)
gezeigt und erklärt:
Aurea prima sata (e)st aetas quae vindice nullo
- vv/ - v
v/ -
// - / -
- //
sponte sua
sine lege fidem rectumque colebat
- v v /- // v v / - v // v/ - // - / -
- v v / - v
v
// = Zäsur
v/- v
Die mit dem Zeichen angedeuteten Zäsuren werden für die lateinische und griechische Dichtung
je nach Stelle benannt: a) Trithemimeres = nach dem dritten Halbmaß
b) Penthemimeres = nach dem fünftem Halbmaß
c) Hephthemimeres = nach dem siebtem Halbmaß
d) Kata triton Trochaion = nach dem dritten Trochäus.
Aber nicht jede möglich Zäsur muß im Vortrag berücksichtigt werden. Für deutsche und
englische Dichtung im daktylischen Hexameter gilt, daß man unbetonte kurze Silben auch
15
dehnen kann, was besonders am Verszeileneingang wichtig ist: Die Betonung bleibt in der
Schwebe: schwebende Betonung. Am Ende einer Verszeile fehlt oft eine vom Versmaß
verlangte Silbe, im daktylischen Hexameter sogar regelmäßig. Hier spricht man von Katalexe
und nennt solche Verszeilenenden katalektisch. Hier kann man kurz pausieren. Man kann aber
auch das Verszeilenende mit dem Anfang der folgenden Zeile verbinden: Versbrechung =
Zeilensprung = Strophenbrechung = Enjambement, wo man die eine Verszeile in die andere
hineinschlingt.. Das wurde kurz angesprochen mit einem Beispiel auf Seite 3 der
Arbeitsunterlagen.
Da sind wir wieder nah an der Musik. Wenn man daran denkt, könnte man sagen, daß man einen
guten Dirigent erkennt daran, wie er die Pausen einhalten kann.
Analysiert wurde ein weiteres Beispiel von Goethe: Venezianische Epigramme. 19;
Arbeitsunterlagen S. 12 (# = Pause)
Böcke zur Linken mit Euch! so ordnet künftig der Richter,
- v
v/ - v
v/
- // - / - - / - v
v/ - v
Und ihr Schäfchen, ihr sollt ruhig zur Rechten mir stehn!
-
-/
-
v
v / - # /- v
v /
- v
v/
-
#
Dichter spielen mit den Kombinationsmöglichkeiten durch Wiederholen und Versetzen der
metrisch klanglichen wie der semantischen Elemente. Das macht auch Spaß, wie eine Übung mit
dem Wort „Leitkultur“ zeigt.
1 - Leitkultur
4 - Kulturleithammel
7 - Leithammelkultur
2 - Leithammel
5 - Hammelkulturleid
8 - Hammelkultur
3 - Leitkulturhammel
6 - Hammelleitkultur
9 - Kulturhammel
Die Arbeitsunterlagen ( Seiten 1-4, 7-9, 18-21) zeigen Beispiele für die Verwendung von Versen
in der lyrischen, in der erzählenden und in der dramatischen Dichtung. Der jambische Trimeter
und der Blankvers sind Versmaße des Dramas Der jambische Trimeter ist das Versmaß des
antiken Dramas. Hier ist wichtig zu wissen, daß zwei jambische Füße ein jambisches Maß bilden:
Der jambische Trimeter hat sechs jambische Füße. Bei dem Blankvers der klassischen englischen
und deutschen Dramen zählt man anders: Hier spricht von einem fünfhebigen Jambus, der aber in
der Hälfte aller Verse am Ende ein ungewichtetes Teil zuviel hat. Es wurden zwei Beispiele für
den fünfhebigen Jambus, den sogenannten Blankvers dargestellt:
a) das erste aus einem Meisterwerk von Shakespeare, Macbeth, 5.Akt, 3. Szene:
To- morrow, and to- morrow, and to- morrow,
Creeps in this petty pace from day to day,
(eine Silbe zu viel = hyperkatalektisch)
.......
b) das zweite war die Bearbeitung und Übersetzung von Macbeth durch Schiller, und zwar
Vers 2149-2160:
16
Morgen, Morgen,
Und wieder Morgen kriecht in seinem kurzen Schritt
Von einem Tag zum andern, bis zum letzten
Buchstaben der uns zugemess’nen Zeit.
.......(Seite 7 der Arbeitsunterlagen)
Sitzungsprotokoll vom 08.11.2000
Protokollantin: Tanaseychuk, Lina; Assistentin: Beerle, Viktoria
1. Hausaufgabe zum 13.11.2000: metrische Analyse (S. 12-16, Goethe: „Der Fischer“, „
Erlkönig“, „Der Zauberlehrling“; Schiller: „Nänie„ ; Hölderlin: „Brod und Wein„)
2. Besprechung der Hausaufgaben der vorausgegangenen Sitzung
Seite 8 der Arbeitsunterlagen: Mörike: Auf eine Lampe
Beim Vorlesen stellt sich heraus, dass die Metrik dieses Gedichtes ein sechshebiger Jambus ist.
Dieses Versmaß wird seit der Antike jambischer Trimeter genannt, also: 3 jambische Maße:
.
v
—
v
— / v
— v
— /
v
—
v
—
v
—
v
— / v
— v
— /
v
—
v
—
1
2
3
SECHS FÜSSE = DREI MASSE ( Metron = Maß; Jambischer Trimeter)
Für die antiken Grammatiker hatte ein Jambus hat zu wenig Substanz für einen Takt. Es mußten
immer mindestens drei Silben, hier also zwei Jamben sein.
3. Mörikes Gedicht Auf eine Lampe ist ein Beispiel für das Versmaß der im antiken Drama
verwendeten Monolog- und Dialogverse. Jambische Trimeter sind im deutschen Drama sehr
selten wieder aufgenommen werden. Beispiele geben Goethe in Faust. Zweiter Teil (Helena Akt
und erste Szene des vierten Aktes) und Schiller in Die Jungfrau von Orleans, zweiter Akt, 6.-bis
8. Auftritt (Montgomery-Szenen).
4. Aus dem 6-hebigen Jambus ist im elisabethanischen, d.h. dem klassischen englischen Drama
der Shakespeare-Zeit ein 5-hebiger Jambus geworden, der sogenannte Blankvers. Der
Blankvers (blanc verse, also vom Reim entblößter Vers) ist auch der Vers des klassischen
deutschen Dramas. In der Hälfte aller Fälle hat dieser fünfhebige Jambus eine ungewichtete
17
Silbe
zuviel;
man
nennt
eine
solche
Verszeile
hyperkatalektisch.
Der
Begriff
hyperkatalektisch wurde erklärt: ein Stück ist zu viel in Anpassung an die deutsche und
englische Sprache, Sprachen, in denen mit dem Übergang zur Anfangsbetonung der Wörter
die Flexionsendungen, die im Griechischen und Lateinischen noch ausgebildet waren, gekürzt
wurden oder ganz wegfielen.
5. Zur Veranschaulichung wurde von einer Studentin ein Monolog aus Macbeth (V,3 Arbeitsunterlagen S. 7) von Shakespeare vorgelesen.
Dramenversmaße (Jambus) haben steigende Bewegung; steigend ist auch der Anapäst. Das
klassische erzählende Versmaß, der daktylische Hexameter, hat eine rhythmisch fallende
Tendenz.
Wie beim griechischen Theater in den Chorstrophen (getanzte Einzugs-, Stand- und
Auszugslieder) kommen auch im neueren Drama Lieder in anderen Versmaßen vor:
Als Beispiel wurde verwiesen auf die Eingangsszene von Schiller: Wilhelm Tell (1.Akt, 1.Szene),
der im 2. Teil des Grundkurses noch behandelt wird.
Es lächelt der See, er ladet zum Bade
v - v/ v
- * / v - v/
v
- v
Der Knabe schläft ein am grünen Gestade
v
- v/
v
- */ v
- v/
v - v
Da hört er ein Klingen .....
v
-
v/ v
-
* = Pause, in Verszeilen, die wie
im Parzenlied der Iphigenie aus
Goethe: Iphigenie auf Tauris mit
dem Amphibrachys als
Versmaß gebaut sind.
v
6. Verstexte sind wie die Partituren in der Musik anzusehen. Beim Sprechen muß viel Gewicht
auf die metrische Gestaltung gelegt. Für den Schauspieler ist grundlegend, seine Sprechtechnik
zu beherrschen. Der Spaß am Sprechen ist in verschiedenen Kulturen unterschiedlich,
entscheidend für die Geselligkeit des Lebens wie für die politische Sensibilität. Das rhythmische
Spannungsmoment im Fluss unserer Sprache macht uns sensibel, genau auf die Wörter zu hören,
hören zu wollen, was und wie sie etwas sagen. So entstehen auch Spottgedichte, die wir zur
Kritik nutzen, z.B.:
Leitkultur
Leithammel
Leitkulturhammel
Kulturleithammel
Hammelkulturleid
Hammelleitkultur
18
Leithammelkultur
Hammelkultur
Kulturhammel
Die Kombination der drei Elemente: Leit(d), Kultur, Hammel bricht durch die Logistik des
Metrums den Sinn und Unsinn der Zusammenfügung der Wörter auf. Der Hörer muss sich auf die
Kunst des Gedichts, die spielerisch und ernst, die aggressiv und tief traurig sein kann, einlassen.
So nähern wir uns dem Gedicht Fadensonnen von Paul Celan (S.16) wie einem Stück moderner
Malerei oder moderner Musik.
Beim Tanzen sind es die Füße, in der Malerei sind es die Hände als Instrumente, die den Pinsel
führen, die uns, was es zu fühlen und zu sehen gibt, erst erschließen.
7. Anmerkung: Für die Bezeichnung der Silben werden auch andere Symbole, z.B. für jede Silbe
unterschiedslos ein X , gegebenenfalls mit einem Akzent auf der gewichteten Silbe (siehe Seite 9
der Arbeitsunterlagen): x x΄ x x΄ x x΄ x x΄ x x΄ x x΄. Hier kann nur die Regel der Deutlichkeit
und Übersichtlichkeit gelten. Ein Streit über die Wahl solcher die Silben ersetzender Symbole ist
müßig und fordert Spott heraus, wie z.B. von Christian Morgenstern in Fisches Nachtgesang,
Laurence Sterne, der in The Life & Opinions of Tristram Shandy von der Zensur eingeschwärzte
Seiten drucken läßt. (Arbeitsunterlagen S.17)
8. Eine Studentin liest das Gedicht Heidelberg von Hölderlin vor. In den einzelnen Strophen ist
eine überschaubare metrische Einheit festzustellen: In der zweiten Zeile erkennen wir die erste
wieder. Die darauf folgenden zwei Verszeilen unterscheiden sich von den beiden ersten. Die
nächsten Strophen sind genau so, in der gleichen Abfolge derselben Verszeilentypen gebaut.
„Schön kann etwas sein, so lange wir es überschauen können, sagt Aristoteles. Gut einprägsam
sind ebensowohl Typen von Versmaßen, von Verszeilen wie von ganzen Strophen. Man
bezeichnet die Strophen der Heidelberg - Ode als asklepiadeische Strophen (vgl.
Arbeitsunterlagen S. 6). Zu einer guten ersten Orientierung über die hier üblichen Fachbegriffe
(Termini) und deren Verwendung wurde das Sachwörterbuch von Gero von Wilpert empfohlen.
9. Hinweis: Für die eigene Handbibliothek wichtige Bücher findet man oft preiswert in
Antiquariaten, auf die man in jeder Stadt achten sollte. In der Heidelberger Altstadt gibt es viele,
in der Plöck, in der Hauptstraße, in den Seitenstraßen, beginnend mit der Neugasse.
19
Sitzungsprotokoll vom 13.11.2000
Protokollantin: Shari Kiehnbaum; Assistentin: Εsa Hägglöf
1. Zum Organisatorischen:
Man kann die schriftliche Hausarbeit entweder während der Vorlesungszeit oder in den
Semesterferien abgeben. Die Hausarbeit hat zwei Teile. Zuerst sollen wir eine Bibliographie mit
mindestens fünf Zeitschriftenaufsätzen zu einem der im Grundkurs behandelten Quellentexte
oder Themen erstellen. Der zweite Teil besteht in einer Zusammenfassung eines der
bibliographierten wissenschaftlichen Aufsätze. Ein Muster für die Hausarbeit findet man in den
Arbeitsunterlagen auf den letzten Seiten. Diejenigen, die die Hausarbeit zu Teil 1 schreiben
wollen, können sich in die für eine der fünf Gruppen eintragen (Moderne Lyrik, Lyrik der
Jahrhundertwende, Balladen-Dichtung des 19. Jahrhunderts, Goethes Balladen und Lyrik der
Barock). Wichtig für das Bibliographieren ist die Übung eines gründlichen und zeitsparenden
Verfahrens. Das gilt auch für das anschließende Lesen eines wissenschaftlichen Aufsatzes, das
wir mit eigenen Fragen an diesen Text begleiten: Was ist das Thema? Welche Frage oder welche
Fragen will der Verfasser beantworten? Was ist sein Ausgangspunkt, von welchen Befunden
geht er aus, und auf welche Beobachtungen kann er sich stützen? Auf welche anderen schon
vorliegenden Untersuchungen bezieht er sich? Wie wird argumentiert, insbesondere dort, wo
neue Ergebnisse zu begründen oder kontroverse Ansichten zu berücksichtigen sind? Was sind
die abschließenden Ergebnisse? Fordern diese Ergebnisse zu einer eigenen Stellungnahme
heraus? Zur Übung und zur Selbstkontrolle ist auch wichtig zu überlegen, wie wir die jeweils zu
behandelnde Sache unseren eigenen Studenten erklären würden.
2. Hausaufgaben für die nächste Sitzung:
Goethe: Heidenröslein (Arbeitsunterlagen S. 14); Paul Gerhard: Nun ruhen alle Wälder (Seite
15), Andreas Gryphius: Abend (in der Reclam Anthologie: Deutsche Gedichte) und Hölderlin:
Abendphantasie (Dieses Gedicht soll jeder aus einer Hölderlin Werkausgabe abschreiben oder
photokopieren!). Alle Gedichte sollen gelesen und durchgearbeitet werden.
3. Hausaufgaben der Sitzung vom 8.11.2000:
Die an die Tafel projizierten Verszeilen wurden identifiziert:
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Sie stammen aus der Elegie Nänie von Schiller. Wir lasen das Gedicht vor, um zu erkennen, dass
Distichen den Rhythmus von Schillers Elegie bestimmen. Nänie bedeutet den Trauergesang
20
einer Totenklage. In dem zitierten Distichon geht es um das Scheitern von Orpheus an der
Bedingung des Hades, die ihm durch das tödliche Gift einer Schlange entrissene junge Gattin
Eurydike aus dem Totenreich auf die Erde zurückzubringen.
Es wurde gefragt, wie man an solche Informationen gelangt. Manchmal hilft eine kommentierte
Ausgabe weiter. Sonst braucht man ein mythologisches Wörterbuch oder Lexikon. Der
Literaturhistoriker kann zwei Wege gehen. Er befragt ein modernes Lexikon wie Karl Kerényi:
Die Mythologie der Griechen (dtv -Ausgabe), das auch Thomas Mann benutzt hat, oder er fragt
nach dem für die Zeit von Schiller maßgeblichen Lexikon: Benjamin Hederich: Gründliches
,mythologisches Lexikon (in jeder Bibliothek greifbar). Mit der Zeit muss sich ein jeder
Grundkenntnisse in der Mythologie der Kulturen und Völker aneignen, auf die sich die späteren
immer wieder beziehen. Das geschieht durch Lesen, Betrachten von Bildern und Skulpturen in
Sammlungen und Museen, Besuchen von Veranstaltungen der benachbarten Fakultäten wie etwa
eines im studium generale angekündigten Vortrags des Ägyptologen Jan Assmann.
"Heidelberg" von Hölderlin wurde als nächstes besprochen, und zwar als Beispiel für die
Erarbeitung des Vortrags eines Gedichts, einer Ode im antiken Silbenmaß.
In der Ode Heidelberg handelt es sich um den Typus der von Hölderlin verwendeten
asklepiadeischen Strophe (Arbeitsunterlagen S. 6). Die Silbenzahl muss in jeder der vier
Verszeilen einer Strophe immer identisch sein; hier gelten strenge Gesetze. Die erste und zweite
Zeile sind gleich gebaut, die dritte und die vierte haben jeweils ihr eigenes Baugesetz. Es genügt,
sich das Metrum der jeweiligen Zeilen einzuprägen; Spezialisten können weiter analysieren, etwa
den in allen Verszeilen vorhandenen Choriambus ( - v v - ) heraushören.
Wichtiger ist, die Freiheiten wahrzunehmen, die gerade die Gedichte mit besonders strengen
metrischen Regeln wie auch die antiken Odenstrophen erlauben.
Zunächst untersuchten wir den Zeilensprung oder die Versbrechung. Ein besonders markantes
Beispiel gibt in der Heidelberg - Ode der Übergang von Strophe 6 zu Strophe 7, Zeile 24 ff.:
Doch die ewige Sonne goß
Ihr verjüngendes Licht über das alternde
Riesenbild .....
Obwohl die zwei Zeilen von verschiedenen Strophen sind, kann man weder eine Pause noch eine
zwischen den zwei Zeilen machen. Zäsuren aber werden möglich innerhalb der Verszeilen.
4. Das nächste Beispiel für die metrische Analyse eines Gedichtes nach dem Muster antiker
Odenstrophen war Hölderlins Ode Abendphantasie, die an die Tafel projiziert wurde. Hier
handelt es sich um die alkäische Strophe (Arbeitsunterlagen S.5). Zweimal wurde laut
gelesen, damit der Rhythmus sich im Hören einprägt. Leicht herauszuhören ist hier, dass im
21
Unterschied zur asklepiadeischen Strophe die ersten drei Zeilen jeweils mit einem
ungewichteten Teil beginnen.
5. Zuletzt wurde die Bauform freier Rhythmus angesprochen.
Das ist eine Technik des
Versbaus, die durch die deutsche Auseinandersetzung mit antiken Strophenformen angeregt
wird und entsteht. Klopstock erfand eine neue Odenstrophen, die nur das Metrum und nicht
der Reim bestimmt. Das fordert bald die Frage heraus: "Warum soll in einem Gedicht nicht
jede Verszeile ihre eigene Metrik haben?" Als Beispiele aus dem zwanzigsten Jahrhundert
wurden zwei Gedichte von Arno Holz gegeben, interessant schon durch die Graphik des
Druckbildes:
Die Lampe brennt.
Von allen Wänden
schweigen um mich die dunklen Bücher
Eine Kleine Fliege, die noch munter ist,
Verirrt sich in den gelben Lichtkreis.
Sie stutzt, duckt sich und tupft mit dem Rüssel auf das Wort
Inferno.
<<<<<<<<<<<<<>>>>>>>>>>>
Horche nicht hinter die Dinge. Zergrüble dich nicht. Suche nicht nach dir Selbst.
Du bist nicht!
Du bist der blaue, verschwebende Rauch, der sich aus deiner Cigarre ringelt,
der Tropfen, der eben aufs Fensterblech fiel,
das leise, knisterndes Lied, das durch die Stille deine Lampe singt.
Die beiden Beispielen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die lange vor der Proklamation der
Postmoderne die Auflösung des lyrischen Ich darstellen experimentieren mit dem Metrum wie
die beginnende moderne Musik.
Bei dieser Gelegenheit wurde von Dr. Heuer die Frage gestellt: "Was ist der Unterschied
zwischen Poesie und Prosa?" Eine Erzählung von Kafka oder ein Roman von Thomas Mann
haben auch einen jeweils so eigenen und kunstvollen Rhythmus, dass wir im Vortrag jeweils
eigene metrische Gesetze heraushören und die eben deshalb sind schön zu lesen sind.
22
Sitzungsprotokoll vom 15-11-2000
Protokollant: Polychronidis Dimitrios; Assistentin: Chiara Bianchi
Das Protokoll vom 6-11-2000 wurde verteilt. Dr. Heuer hat noch einmal erklärt, wie man die
Protokolle anfertigen soll und darauf hingewiesen, daß Protokolle ein Hilfsmittel für uns alle
sind. Bei Schwierigkeiten mit der Anfertigung eines Protokolls kann man sowohl Dr. Heuer wie
auch Wieslaw Cieselski um Hilfe bitten.
Dr. Heuer hat noch einmal die Videoaufzeichnung der Aufführung von „König Ödipus“ von
Sophokles im Literarischen Kaleidoskop am Montag, dem 20. November um 11:15 im IDF, SR
105 empfohlen. Als nächstes wird am 5. Dezember „Macbeth“ von Shakespeare folgen.
Theateraufführungen, auch verfilmte, sind ein vorzügliches Mittel, sich die Dramen einzuprägen,
deren Texte wir immer nur als Partituren lesen.
Die Mitgliederzahl der Gruppen für die Bibliographien und Referate muß nicht in jedem Fall auf
3 Leute begrenzt bleiben.
Danach haben wir uns mit der Ode Abendphantasie von Hölderlin befaßt. Am Anfang wurde die
Frage gestellt, wie man den Text eines Gedichtes beschaffen kann, der nicht in unserer
Anthologie steht - denn das war die Aufgabe. Erklärt wurde der Weg zu einer Werkausgabe, zu
einer Werkausgabe mit zuverlässigem Text, also einer kritischen Ausgabe mit Lesarten und
Kommentar.
Das Gedicht wurde dann von mehreren gelesen. Dr. Heuer betonte, daß wir beim Vortragen nicht
nur auf das Metrum achten sollen. Man muß auch den Anfang und das Ende der Verszeilen
berücksichtigen, ob der Anfang mit schwebender Betonung gelesen werden soll oder ob das
Ende durch Versbrechung (Zeilensprung, Enjambement) mit dem Anfang der nächsten Zeile zu
verbinden ist. Denn, obwohl die Ode keinen Endreim hat, haben die Verszeilen trotzdem eine
sehr strenge metrisch musikalische Form.
Wir haben von Hölderlin die Ode: Sonnenuntergang gelesen, indem wir versucht haben, den
Typus zu entdecken. Anschließend erklärte Dr. Heuer die alkaiische Strophe und die
asklepiadeische Strophe.
23
Asklepiadeische Strophe (Beispiel aus den Oden von Horaz, vgl. Arbeitsunterlagen S.6)
Schema:
(-)
(v)
-v-vv--vv-v(-)
O navis, referent in mare te novi
(v)
-v-vv--vv-v-
Fluctus? O quid agis? Fortiter occupa
(-)
-v-vv-(-)
Portum! Nonne vides, ut
(v)
-v-vv-v-
Nudum remigio latus.
Alkäische Strophe (Beispiel aus den Oden von Horaz, vgl. Arbeitsunterlagen S.5)
Schema:
(-)
(-)
v-v-v-v v-v (-)
(-)
v-v- v-v v-v(-)
Quo pinos ingens albaque populus
(-)
Umbram hospitalem consociare amant
(-)
v-v-v -v-v
Ramis? Quid obliquo laborat
-v v-v v -v-v
Lympha fugax trepidare rivo?
Nicht alle haben Lateinkenntnisse. Wir sollten uns aber dann, am besten durch Auswendiglernen
von Oden wie Heidelberg (asklepiadeische Strophen) und Abendphantasie (alkaiische
Strophen) von Hölderlin, solche häufig wiederkehrenden sehr schön klingenden lyrischen
Formen einprägen.
Anschließend haben wir die Ballade: Der Fischer von Goethe analysiert. Dr. Heuer erklärte hier
zunächst die Chevy Chase-Strophe. Eine Chevy Chase-Strophe besteht aus: a) acht Verszeilen,
die b) gereimt sind und c) der Reim steht über Kreuz (Kreuzreim).
24
Chevy Chase Strophe
v-v-v-vv-v-vv-v-v-vv-v-v-
- das Schema der ersten 4 Verszeilen wird wiederholt in den Zeilen 5 - 8.
Danach haben wir uns mit Erlkönig von Goethe befasst. Die Ballade ist in allen Strophen
regelmäßig mit 4 Zeilen gebaut. Die 4 Zeilen der 1. Strophe zeigen eine musikalische Periode.
Die rhythmische Bewegung steigt zweifellos. Steigende Versmaße sind Jambus und Anapäst.
Jede Verszeile hat 3 Jamben und in der ersten Strophe einen Anapäst, jeweils an verschiedenen
Stellen. Wir hören ein schnell reitendes, ein galoppierendes Pferd. In den folgenden Strophen
kommen teilweise bis zu drei Anapäste in einer Zeile vor.
Am Ende der Sitzung hat Dr. Heuer, am Beispiel der Ballade Der Zauberlehrling von Goethe,
erklärt, was ein Endreim ist, wie er wirkt und wozu er dient. Endreim ist der Gleichklang am
Wortausgang. Der Gleichklang beginnt mit dem letzten betonten Vokal (Diphthong) einer
Verszeile, z.B. Sang, Klang / Meister, Geister. Der Endreim geht von dem Vokalismus aus.
Gleichklang am Versausgang erlaubt die Kombination der Verszeilen, Strophenbildung. Auch
hier sind verschiedene Gestaltungen und Unregelmäßigkeiten möglich. Bei der Endreimdichtung
müssen wir beachten: a) Form des Gleichklangs am Ende, b) reine oder unreine Reime, c)
Gestalt der Reime, d) die Stellung der Reime. Bei dem sogenannten rührenden Reim wird der
Konsonant vor dem tontragenden Vokal oder Diphthong mit in den Reim einbezogen:
Das Rechte tun,
Das Linke lassen,
Ist opportun
Und leicht zu fassen.
Die Hausaufgaben für die nächste Sitzung wurden angesagt. Es sollen folgende Gedichte zum
Vorlesen präpariert werden: Archaischer Torso Apollos, von Rainer Maria Rilke, Das Sonett,
von Goethe und Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts, von
August von Platen. Außerdem müssen wir folgende Begriffe nachschlagen: Metapher, Trope,
Parodie, Palinodie, in einem Sachwörterbuch (Realenzyklopädie).
25
Sitzungsprotokoll vom 20.11.00
Protokollantin: Erin McCabe; Assistentin: Eka Kiladze
1. Das zentrale Thema war der Reim, insbesondere der Endreim.
In der klassischen antiken Dichtung, im Epos, in der Tragödie wie in der Komödie, in
lyrischen Gedichten wie in Satiren gab es keinen Endreim. Er wandert aus dem Orient ein und
verbreitet sich später über Spanien, Südfrankreich (Provence) und Italien in Europa. Zur hohen
Kunst wurde er seit dem frühen Mittelalter, im 7.-8. Jh., in der religiösen Dichtung in lateinischer
wie später in der italienischen und spanischen, also in den romanischen Sprachen. Die
germanischen Sprachen verbanden ihre Verszeilen mit dem Stabreim. Mit Beginn der
deutschsprachigen mittelalterlichen Dichtung aber, im Epos, im Heldenepos wie dem
Nibelungenlied und im höfischen Epos (Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg, Wolfram
von Eschenbach, Konrad von Würzburg), in allen Formen der lyrischen Dichtung und der
Spruchdichtung wird nur noch mit dem Endreim gereimt. Seit der geschichtlich orientierten
Neubesinnung auf die Antike im 18. Jahrhundert und den Übersetzungen im Versmaß der antiken
Originale verwenden die Dichter auch wieder antike Vers- und Strophenformen. Jetzt entwickelt
sich aus dem Studium der antiken Muster auch der Wille und die Kunst, in freiem Rhythmus zu
dichten. Berühmte Beispiele gibt Goethe: Ganymed, Prometheus, Grenzen der Menschheit
(Reclam, Deutsche Gedichte, S. 95, 96, 105).
Als Beispiel für den Bau und die Verbindung von Verszeilen mit dem Endreim wurde zunächst
ein das Reimen parodierendes Gedicht von Christian Morgenstern herangezogen: Das ästhetische
Wiesel
Ein Wiesel
Das Mondkalb
saß auf einem Kiesel
verriet es mir
inmitten Bachgeriesel
im stillen:
Das raffinier=
te Tier
tat’s um die Reimes willen.
Wißt ihr
Weshalb?
Es wurde daran erinnert, dass der Endreim entweder weiblich, zweisilbig, oder männlich,
einsilbig, sein kann. Den weiblichen Reim bezeichnet man auch als klingenden Reim, den
männlichen als stumpf.
26
Wir unterscheiden reine Reime von unreinen Reimen. Reine Reime zeigen genaueste
Übereinstimmung in Vokalen und Konsonanten. Ein Beispiel dafür geben die ersten Verse von
Goethes Ballade Der Zauberlehrling:
Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben.
Ein unreiner Reim gibt sich mit der Reimverbindung von Silben annähernd gleicher Lautung und
Länge zufrieden. In Goethes Gedicht Heidenröslein werden die Reime stehn mit schön sowie
Leiden mit Freuden nicht als störend empfunden.
Der rührende Reim, im Deutschen als gekünstelt empfunden, bezieht auch den dem tontragenden
Vokal (oder Diphthong) des reimenden Elements vorausgehenden Konsonanten mit in den
Gleichklang ein.
Das Rechte tun,
Das Linke lassen
ist opportun
und leicht zu fassen.
Kalauer
sind Wortwitze, die aus oft zu künstlich gesuchten Gleichklängen in
Wortkombinationen entstehen, in manchen Gegenden aber sehr beliebt sind.
2. Anders als der Endreim nutzt der Stabreim zum Bau, d.h. zum Verbinden der Glieder, der
Worte einer Verszeile die Alliteration, den Gleichklang im Anlaut der tonschweren gewichteten
Silben. Insofern heißt er auch Anreim, in der Hervorhebung von zwei oder mehr
bedeutungsschweren Wörtern durch gleichen Anlaut ihrer Stammsilbenbetonung. Verbunden
werden zwei Vershälften mit jeweils zwei gewichteten Silben; die Zahl der ungewichteten Silben
steht frei.
In einer Strophe mit dem Stabreim sind also mindestens 4 Silben erforderlich. Die letzte Silbe
wird, wenn sie grammatisch nicht tontragend ist, gedehnt. Ein schönes, sehr altes Beispiel für den
Stabreim gibt folgendes Gedicht, ein Rätsel
.
27
Flog Vogel federlos
Flog auf Baum blattlos
Kam Mann (Frau) mundlos
Fraß Vogel federlos
Die Lösung für dieses Rätsel nennt die Sonne. Für die Sonne steht im Rätsel, wie wir es verstehen
können, eine Frau. Die Regeln des Stabreims erlaubten dem Dichter in der 3. Strophe
ausschließlich das Wort Mann zu setzen. In der griechischen Mythologie wird die Sonne aber
durch eine männliche Gestalt präsentiert, Helios. Männlich ist das Wort für Sonne auch heute
noch bei allen mediterranen Völkern. Das Rätsel muß also in einer Zeit entstanden sein, als auch
bei den Vorfahren der Deutschen die Sonne noch ein kräftiger Mann war, zu einer lange
vergangenen Zeit, da sie noch weiter im Süden wohnten. Vor Helios, Sol, flieht jeder in den
Schatten, Sol ist nicht anschmiegsam wie die Frau Sonne im Norden.
3. Anschließend haben wir uns den Bau von Strophen durch die zahlreichen verschiedenen
Kombinationsmöglichkeiten von Endreimen erklärt: Paarreime: aabbccdd und so weiter;
Kreuzreime: abab cdcd ...; und umarmende Reime: abba, cddc... Man kann die Reime auch
noch anders kombinieren: Schweifreime: aacbbc, sogar zwischen den gereimten Zeilen eine
ungereimte Zeile stehenlassen, die sogenannte Waise. Nach diesem Prinzip werden Strophen
gebildet. Die meisten Strophen bestehen jedoch aus 4 Zeilen.
4. Inder Sitzung vom 15.11.00 wurde die Aufgabe gestellt, die folgenden Begriffe zu mit
selbständigem Gebrauch der Hilfsmittel zu klären:
Metapher, griechisch, heißt: Übertragung. Sie ist die dichterischste der rhetorischen Figuren;
eine uneigentliche, bildliche Redeform, ein
bildlicher Ausdruck für einen Gegenstand, ein
verkürzter Vergleich wie am Fuß des Berges.
Trope oder Tropus- in der Stilistik und Rhetorik ist der Oberbegriff für eine Zahl verschiedener
uneigentlicher und bildlicher Formen der Rede; zum Beispiel der stygische Zeus oder der
Schattenbeherrscher für Hades, den Herrscher im Totenreich, wie wir in Schillers Elegie Nänie
lesen. Beide Tropen sind Antonomasien.
Parodie kommt aus Griechischen und heißt „Gegengesang“.
Form der kritischen,
antithematischen Textverarbeitung; scharfer, fanatischer und schmähender Angriff auf Verfasser
und Werk mit dem Ziel, sie der Lächerlichkeit preiszugeben und das eigene Überlegenheitsgefühl
zu stärken, so lesen wir in einem Sachwörterbuch. Morgensterns Gedicht Das ästhetische Wiesel
zum Beispiel parodiert den Reimzwang.
28
Palinodie heißt dichterischer Widerruf eines vorangegangenen kränkenden Gedichts bei
strengster Form unter Benutzung der gleichen Worte und Reime, wie der Lobgesang des
Stesichoros auf Helena, für das der Dichter von Helios sein Augenlicht zurückerhielt, nachdem
der Gott ihn zuvor als Strafe für einen Schmähgesang auf die schönster aller Frauen hatte
erblinden lassen.
5.
Folgende grundlegende Bücher und Hilfsmittel wurden mit Hinweis auf die bisherigen
Begriffsdefinitionen und Namenerklärungen empfohlen: Jeder sollte folgende Titel kennen:
Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik
Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter
Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon. 1724/1770. Nachdruck Darmstadt 1996
Karl Kerényi:
Die Mythologie d. Griechen (dtv)
Eckart Peterich/ Pierre Grimal:
Götter und Helden. Die klassischen Mythen und Sagen der
Griechen, Römer und Germanen
Württembergische Bibelanstalt Stuttgart: Wortkonkordanz
Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Kröner Tb. 300; Motive der Weltliteratur. Kröner Tb.
301
Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei
den Griechen. 4. Aufl. 1975
6.
Hausaufgaben für die nächste Sitzung: die alten Hausaufgaben bleiben bestehen, zusätzlich
sollen Beispiele für ein Sonett, Stanzen und Terzinen aus den Arbeitsunterlagen und der
Anthologie ermittelt werden.
Sitzungsprotokoll vom 22.11.2000
Protokollantin: Boye, Amanda; Assistent: Kowalski, Michael
1 - Hinweise zum studium generale, zum Besuch fachübergreifender Vorlesungen, insbesondere
bei akademischen Feiern. Dr. Heuer empfiehlt uns, trotz der nötigen Konzentration auf die
Anforderungen des Fachstudiums die Gelegenheiten wahrzunehmen, uns in der Universität
umzusehen, allgemein interessante Vorlesungen von bekannten Professoren zu hören, bei solchen
Gelegenheiten auch mit unseren Kommilitonen aus anderen Fächern ins Gespräch zu kommen.
Auf die folgenden Vorlesungen wurde besonders aufmerksam gemacht:
- Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk: „Nietzsches Begriff des ästhetischen Zustands“: Mittwoch,
29.11.00, 19:15 Uhr, Hörsaal 14, Neu Universität,
29
2 - Hausaufgabe zum 27.11.2000: Hugo von Hofmannsthal: „Terzinen“ (Reclam 252);
Stanzen (Reclam 109). Bei dieser Gelegenheit wurde darauf hingewiesen, daß wir mit der
Vorgabe eines Gattungsnamens wie Stanze in der Lage sein müssen, den Begriff und die Regeln
zu klären und Anschauungsbeispiele zu finden,
3 - Gedichtanalyse an einem Beispiel (S.12 Arbeitsunterlagen.)
Der Seminarleiter legt Wert darauf, mit Hinweis auf unsere eigene spätere Praxis, das rein
Handwerkliche für die Analyse literarischer Werke nach Möglichkeit an scherzhaften oder
parodistischen Beispielen zu zeigen. Die vorliegenden Verse verdanken ihre Entstehung
offenkundig trunkenem karnevalistische Narrentreiben. Wir versuchten, die metrischen,
musikalischen, rhythmischen, klanglichen, bildlichen Elemente des Gedichts zu analysieren.
Zunächst zum Metrum:
—
—
v
—
v
—
v
Unschuldslamm und Sündenbock
—
—v — v
v
—
Trinken Cola, tanzen Rock
—
—
v
—
v
v
—
Bockt das Lamm und lahmt der Bock,
—
— v —
v
—
v
Droht der Trainer mit dem Stock
—
//—
— //// — // — —
v
—
//
Hoch! Lahmer Bock! Auf! Nullbocklamm
—
v
—
v
v
—
v
—
Null Frust ihr Leut! Zur Lust mit Freud!
v
— v
—
v — v
—
Zum Muttersohn aus Istes Stamm!
Die ersten Zeilen haben einen vierhebigen Trochäus. Der letzte ist jedesmal katalektisch, was
zusammen mit dem viermal gleichen und also stumpfen Reim den schweren stampfenden Tritt
noch unterstützt. Die abschließenden Verszeilen bringen in steigender Bewegung vierhebige
Jamben, vorwärts drängend auf den in grob volkstümlich-dionysischer Komik phallischen
Schluß hin, den alten Ursprung der rituellen Umzüge zur Feier des Dionysos, die wiederkehrende
Gottheit des Lebensrauschs nicht verleugnend. Die 7. und letzte Zeile reimt mit der 5. Die 6.
Zeile erscheint vom Endreim her als Waise; sie bringt jedoch einen Schüttelreim, also die
symmetrische Überkreuzstellung (= Chiasmus) des mit dem über zwei tontragende Silben
30
zurückreichenden reimenden Elements mit zwei Stäben. Darauf aufmerksam gemacht finden wir
das die Gewichte einer vierhebigen Verszeile fügende Gesetz des Stabreims auch in den Zeilen 2
und 3 erfüllt, in Zeile 3 auch schon mit jeweils 2 chiastisch gestellten Stäben. Das Vergnügen,
Gleichklänge zu suchen und sich an ihnen zu berauschen, wirkt hier ganz deutlich noch über die
gesetzmäßigen Anordnungen der reimenden und stabenden Elemente, Assonanz und
Alliteration, hinaus, besonders witzig mit der durch die in variierter Assonanz (ein ritardando
von Lamm zu lahm) zustande kommenden Gegenüberstellung von bockendem Lamm und
lahmendem Bock (Zeile 3), woraus sich in Zeile 5 schließlich ein witziger Neologismus:
Nullbocklamm erzeugt.
Die Zeile 5 ist auch metrisch sehr auffällig, weder als trochäisch noch als jambisch identifizierbar
steht sie in der Mitte, gewissermaßen auf der Kippe zwischen dem schweren stampfenden Tritt
der ersten vier Zeilen und der auf die derbe Schlußpointe hin steigenden Bewegung der beiden
letzten. Wer sie im Entstehen mitgehört hätte, würde wohl ein mezzo tempo, wie in den ersten
vier Verszeilen der zweiten Strophe von Goethes Ballade Der Zauberlehrling bemerkt haben. Mit
der metrischen Teilung des Zeitmaßes in zwei Zeilen ergäbe sich dann auch eine stimmige
Symmetrie von 8 Verszeilen.
Wie kann man bestimmen, wann und wo und bei welcher Gelegenheit ein solcher Text
entstanden ist, wenn man von einem möglichen Verfasser nichts weiß? Die Formgesetze, auch
die der Wortbildung und Bildfügung müssen jetzt über die frühest mögliche Entstehung des
Gedichts Auskunft geben. Wir fragen nach dem terminus post quem, einem besonderen
Zeitpunkt, nach dem es entstehen konnte und einem weiteren, dem terminus ante quem, vor dem
es entstanden sein muß, weil es danach nicht mehr entstehen konnte. Den in Bild- und
Sinnfügungen erschlossenen Spielraum dazwischen müssen wir ausmessen und eingrenzen.
Wir lassen die Daten der Geschichte der Entstehung und Verbreitung der metrischen Gesetze
diesmal beiseite und beschränken uns auf Namen sowie auf Bild- und Sinnverbindungen. Ab
wann konnte es Sinn machen, Begriffe wie Unschuldslamm und Sündenbock in der ersten Zeile
des Gedichts zu bilden?
Der Bock ist uns aus der griechischen Geschichte als tragos im Gefolge des Dionysos bekannt die Tragödie heißt nach ihm. Vor dem Bild von weißlockigen Lämmern, die unter einem guten
Hirten im Paradies auf arkadischem Teppich ruhen, erkennen wir in der Gestalt des nunmehr
ganz schwarz gemalten Teufels den alten Tragos wieder, gewissermaßen unter den Teppich in die
Hölle gekehrt, als eine Schar von Sündenböcken, denen gegenüber der ausgelassene Spott jetzt
die Unschuldslämmer versammelt. Ohne ein spöttisches Erinnern der Überbauung des antiken
Dionysoskults durch die spätere christliche Kultur sind also die genannten Wortfügungen nicht
verständlich - ein terminus post quem im weitesten Sinne ist damit gesetzt. Aber diesen terminus
31
post quem können wir jetzt sehr viel näher an unsere Zeit heranschieben, das Kalauern mit dem
Namen Freud, die Einbürgerung von des Markennamens Coca Cola als Partygetränk unter der
tanzenden Jugend, die irgendwann das Rocken kennenlernt, im modischen Slang die Ausdrücke
Frust und Nullbock bildet und uns damit in der Vorausschau den terminus ante quem ahnen läßt
- denn wenn diese Wendungen wieder aus der Rede verschwinden, wird ein Neologismus wie
Nullbocklamm, den unsere Verse für sich verbuchen dürfen, nicht mehr entstehen können. Wir
datieren also auf ungefähr die Jahre zwischen 1970 und 1990 und geben uns damit für diesmal
zufrieden. Das entspricht auch der Aufgeschlossenheit für die spöttische Pointierung der
Neubildung Nullbocklamm, etwa gerichtet an eine junge Dame, die - sei es wegen des
Überangebots von Billigware oder schon aus Übersättigung daran - auf die Versuchungen
bedrohter Unschuld gar nicht mehr ansprechen kann.
Gefragt wurde nach der Unterscheidung von Schüttelreim und Binnenreim. Der Binnenreim
verbindet innerhalb einer oder zweier Verszeilen Wörter durch stumpfen oder klingenden
Reimklang. Im Schüttelreim geht auch in das Innere der Verszeile zurück, nimmt aber das
Überkreuzstellen von Alliterationen hinzu. Erinnert wurde noch einmal an die im Deutschen
beliebte und auch metrisch deutlich erkennbare Fügung durch Alliteration, in der das Bauelement
des Stabreimverses (dessen zweihebige Hälfte) nachklingt: Haus und Hof, Haut und Haar, Lust
und Laune. Geflucht wird mit Tod und Teufel. Und wenn wir sagen: „Ein Schiff versinkt mit
Mann und Maus“ oder „Sie flüchteten mit Kind und Kegel“ oder „Er war fix und fertig“ oder
„ganz Aug und Ohr“, so bleibt die semantische Stimmigkeit mehr ein Spiel des Zufalls.
Die Spielerei mit dem Metrum und mit den Klangelementen regt wiederum das Spiel mit den
Bild- und Bedeutungselementen an, die wir im Gedicht untersuchen sollen. In diesem Fall sind es
deutlich frivole und übermütige Spiele, ein Kunterbunt, wie es zum karnevalistischen Feiern
gehört. Sie wurden bereits genannt bei der Frage nach einer möglichen Datierung.
Analyse und Betrachtung von Gedichten sollten immer dem Anlaß angemessen bleiben und nie
zu pedantischer Vivisektion um ihrer selbst willen geraten. Dafür, wie sie zum Anlaß einer nur
um den Anschein von Wissenschaftlichkeit besorgten Fachterminologie werden kann, wurde ein
abschreckendes Exempel gebildet. Was wäre zusagen, wenn jemand Nullbocklamm
folgendermaßen erklärte: „ein signifikant satirogenes neologistisches Sprachkonstrukt zur
Diagnostizierung defizitärer Kompetenz in basialen innozentoiden Dispositionen? Ein in neuerer
Prosa mancher fachwissenschaftlicher Beiträge Belesener könnte zunächst erinnern, wie mit der
Abnahme der Kenntnis der klassischen Sprachen die Lust an deren nicht immer gelingender
Ausbeutung zu sich originell gebenden Neuschöpfungen bedenklich zugenommen hat - oft auf
Kosten der Allgemeinverständlichkeit, die aber immer unser Ziel bleiben muß.
32
4 - Als Hausaufgaben zum 22.11.2000 wurden zuerst die beiden ersten Strophen von Goethes
klassischer Ballade
Der Zauberlehrling (S.16 Arbeitsunterlagen) gelesen und metrisch
analysiert. Bemerkenswert sind die Dehnungen (wie Überhalte in der Musik) bei den klingenden
Kadenzen der Zeilen 5 und 7 sowie die Pausen in den Zeilen 6 und 8. Dr. Heuer schlug vor, die
ersten vier Zeilen der 2. Strophe mit halbem Tempo zu sprechen; das Druckbild und der Vortrag
eines Versuchs mit einem abgelauschten Zauberspruch legten das nahe.
Danach betrachteten wir das Gedicht Heidenröslein (S.14 Arbeitsunterlagen), eine Ballade aus
Goethes Straßburger Zeit (1770-71), auch hier mit besonderem Blick auf Goethes Behandlung
der liedhaften klingenden Kadenzen und auf die dem Lied eigene Form des Kehrreims (
Wiederkehr einer und/oder mehrerer Verszeilen in den einzelnen Strophen).
Bei dem Sonett folgt aus der Anordnung der Reime die Gliederung eines Gedichtes von 14
Verszeilen in vier Strophen, entweder nach dem Muster der Sonette von Shakespeare (3x4 +
1x2 mit Paarreim abschließenden Verszeilen) oder dem älteren im Deutschen vorherrschenden
Vorbild der Sonette an Madonna Laura von Petrarca. Petrarcas Formgesetz wurde an dem
leicht ironischen Beispiel von Goethe mit der Überschrift: Das Sonett illustriert. Übungsaufgabe
für alle war, dieses Sonett in einer Ausgabe von Goethes Werken zu finden und zu
fotokopieren oder abzuschreiben.
In dieser strengen Form eines Sonetts mit elfsilbigen Verszeilen stehen 2 Quartette von jeweils
vier Zeilen mit nur zwei viermal gebrachten Reimen 2 Terzetten ( 2 x drei Zeilen mit drei
Reimen) gegenüber. Die Terzette beschließen das Sonett. August von Platen wurde erwähnt als
eine Beispiel für die strenge Sonett-Form der späten Romantik.
Sitzungsprotokoll vom 27.11.2000
Protokollantin: Joanna Radojewska
Das Protokoll vom 22.11.2000 wurde verteilt. Anschließend hat uns Dr. Heuer über die Klausur
informiert.
Der Seminarleiter hat uns noch einmal auf ein weiteres Hilfsmittel aufmerksam gemacht, mit dem
wir in unserer wissenschaftlicher Arbeit immer zu den betreffenden Bibelstellen zurückfinden
können, wenn von Dichtern auf Bibelnamen und Bibelstellen Bezug genommen wird: auf eine
Wortkonkordanz (vgl. Protokoll vom 20.11. unter 5.)
33
Bei der Besprechung der letzten Hausaufgabe hatten wir uns mit einem Sonett von Goethe mit
dem Titel Das Sonett bekanntgemacht. Dieses Sonett, in dem Goethe ironisch seine Aneignung
dieser Gedichtform betrachtet, gibt zugleich mit der genauen Befolgung der strengen Regeln ein
Beispiel für eine Verslehre. Ein andres sehr berühmtes, aber sehr ernst gemeintes Sonett von
Goethe trägt die Überschrift Natur und Kunst. Auf weitere Beispiele für bekannte Sonette von
Rilke Römische Fontäne und Archaischer Torso Apollos wurde hingewiesen.
Das Sonett Abend von Gryphius wurde vorgelesen und interpretiert. Hier gibt Gryphius ein
Beispiel für die in der Barockzeit beliebte Form, Zyklen nach Themen und Motivkreisen zu
bilden, für die Jahreszeiten und Tageszeiten, wie wir das auch in der Malerei, in der Skulptur
(Michelangelo) und in der Musik (Vivaldi, Joseph Haydn) beobachten. Unsere Aufgabe ist, in
den Gedichtformen wie Sonett, Stanzen das Charakteristische und der Wahl der Themen und
Motive Angemessene zu erkennen, vorzustellen und besprechen zu können. Dazu müssen wir
zunächst die Bauregeln der Metrik und der Verslehre identifizieren, die einem Sonett oder einer
Folge von Stanzen die Form geben.
Dichtung erschließt uns Formen zu empfinden wie zu sehen, zu hören, zu fühlen und selbst zu
riechen, anzuschauen sowie fragend und denkend uns und das, was uns umgibt, zu erfahren. So
erschließt sich gerade über die Werke der Kunst und insbesondere über die der Dichtung die
Mentalität vergangener Epochen. Dazu muß gelernt werden, so aufmerksam auf die Details und
auf Kombinatorik der Erfindung sein, dass wir die Verschiebungen in den Konturen dessen, was
die Künstler zur Gestalt bringen, auch bemerken. Eine besondere rationale Strenge in der
Beachtung von Formgesetzen muß daher einem besonderen Reichtum der Empfindung, der
Empfänglichkeit und der Gewalt des Ausdruckswillens nicht widersprechen. Das ist auch eine
Herausforderung für die Disziplin in der Genauigkeit der Geisteswissenschaftler und speziell der
Philologen. Sie müssen, wenn auch in anderer Weise und an anderen Gegenständen nicht weniger
genau verfahren als die Physiker oder die Mediziner. Der Seminarleiter veranschaulichte das in
zwei Richtungen.
Johann Sebastian Bach lebte im Zeitalter der europäischen Aufklärung, der beginnenden
modernen Naturwissenschaften, eines streng rational geprägten Formbewußtseins; wir sprechen
auch von dem Zeitalter der Kritik und des Rationalismus. Bach und seine Musik geben ebenso
ein Beispiel erstaunlicher Symmetrie in der Art der Geometrie und Mathematik wie ein klassisch
gewordenes Beispiel für alle Register eines gewaltig gesteigerten Gefühlsausdrucks und der
Empfindsamkeit. In der Musik ordnen wir ihn dem Barock zu, aber er ist auch noch Zeitgenosse
von Rousseau, von Brockes, von Klopstock, des jungen Kant. Wenn wir nach den übergreifenden
Zusammenhängen der Epochen fragen, dürfen wir nicht nach den Moden fragen. Aber auch die
34
Moden sollen wir kennen und nicht verachten. Besser ein Narr mit der Mode als ein Narr gegen
die Mode, sagt Kant.
Für das orientierende Verstehen ist wichtig, dass wir uns, auch wenn wir ein Gedicht lesen,
darauf konzentrieren, was in solchen Gedankenfügungen und in solchen Bildern wie in der
vorliegenden Form zuvor noch nie gesehen, empfunden, gedacht und gesagt werden konnte.
haben. Was also erscheint in einer Weise, dass man nicht mehr dahinter zurückgehen kann?
Nach diesen allgemeinen Überlegungen haben wir das Sonett Abend von Gryphius analysiert.
Wir müssen es laut lesen, um auf die metrischen Gesetzlichkeit aufmerksam zu werden. Das
Reimschema wurde aufgezeichnet, in dem die Quartette und Terzette aufeinander bezogen und
einander zugeordnet sind:
a b b aa b b a
cde
cde
In dem Versmaß, dem Alexandriner, haben wir ein Beispiel für einen Sechsheber mit einer
deutlichen Zäsur nach der 3. Hebung, also in der Mitte der Zeile, die den einzelnen Zeilen einen
entschieden gedanklich ordnenden antithetischen Charakter geben:
v – v – v – |v – v – v –(v)
antithetisch: Der schnelle Tag ist hin
Die Nacht schwingt ihre Fahn
Es ist ein Bild, das gewissermaßen der Gedanke heraufführt.
Die Nacht wird sichtbar durch ein Bild, eine Metapher. Wie ein Fähnrich einer Schar von
Kriegern läßt die Nacht die anders orientierenden Sterne aufführen. Vor dieser Bewegung wird
ein Endgültiges, ein Faktum bewußt: wie ist die Zeit vertan.
Die Zeit ist vorüber, endgültig eine vergangene Zeit, die man nicht hintergehen kann, eine
vertane Zeit. Das verweist auf die Vergänglichkeit, das sich nähernde Ende des Lebens des
Menschen auf der Erde..
Die Metaphern und die ausgeführten Vergleiche in dem Sonett von Gryphius, z.B. Zeile 5 oder in
der die beiden Quartette abschließende Verszeile 8 sind von dieser Grunderfahrung und der ihr
entsprechenden Blickrichtung bestimmt. Sie mündet in der 1. Zeile der anschließenden Terzette
in eine an Gott gerichtete besorgte Frage nach Rettung des auf der Welt immer nur gefährdeten
Menschen und dann schließlich in ein Gebet, in dem die beiden Terzette den die Welt
betrachtenden Quartetten von der Thematik und von den Motiven her wiederum antithetisch
entsprechen.
Wir haben dann, in der gleichen Weise nach der metrischen Form und nach der Dynamik der
thematischen Bewegung und der Verbindung der Bilder fragend, das Sonett Archaischer Torso
Apollos analysiert.
35
Die Fügungen, Bindungen, Zäsuren brechen die Form dieses Sonetts gewissermaßen auf. Auf die
zahlreichen Enjambements, auf den Binnenreim
------- Lenden ------- Blenden wurde aufmerksam gemacht, ebenso wie auf die zahlreichen
Assonanzen und auf die Alliterationen, die, manchmal die Wucht des Stabreim -Rhythmus
annehmend, die bindende Kraft der Verszeilen des Sonetts überspielen und in der metrisch
musikalischen Gestaltung ein Eigengewicht gewinnen. Daneben gibt es für die Verszeile
zusätzliche Bindungen wie etwa die Anapher Zeile 11/12 und, von der Assonanz her, den mit
eingebunden Anfang von Zeile 10
unter................................ und................................... und...................................
Um die Verbindung der Bilder in diesem Sonett vom Thema her zu verstehen, sind wir der
Bewegung des Betrachters gefolgt, den der Torso einer antiken Statur in einem Museum
interessiert.
In dem Gedicht haben wir einen Museumsbesucher vor uns, es ist ein denkender Betrachter. Auf
den vom Ansatz her vergleichbaren Zyklus für Klavier von Modest Mussorgski, kürzlich in der
Alten Aula gespielt , Bilder einer Ausstellung, wurde hingewiesen.
Von Rainer Maria Rilke wissen wir, dass er in der Zeit der Entstehung dieses Gedichts in Paris
gelebt und für Auguste Rodin gearbeitet hat.
Der Titel sagt uns, dass ein Torso einen Leib zeigt, an dem alle Glieder abgeschlagen sind, hier
ist es die Statue eines Gottes, von Helios oder Apollon, dem Gott des Lichtes und des im
Gelichteten erschlossenen Sehens.
Protokollantin: Bouchra Clemente Boukhriss/ Assistentin: Inga Zadaus
Sitzungsprotokoll vom 29.11.2000
1. Wir haben uns noch einmal mit dem Sonett von Rainer Maria Rilke Archaischer Torso Apollos
(Reclam 256) beschäftigt. Wenn man ein Gedicht vor sich hat, fragt man sich nach der
Gedichtform, der Verbindung von Verszeilentypen wie im Distichon oder in den antiken
Odenstrophen oder in der Chevy-Chase-Strophe oder in der Stanze zu einem Strophentypus
sowie nach festgelegten Gesetzen der Ordnung der Strophen zu einem Gedichtstypus, wie bei den
Terzinen und im Sonett . In diesem Fall handelt es sich um ein Sonett. Hierzu eine Definition
nach einem Reallexikon, dem Sachwörterbuch der Literatur von Gero von Wilpert: Sonett: die
bekannteste, wichtigste und am weitesten verbreite der aus dem Italienischen stammenden
36
Gedichtformen, von strengem Aufbau, bestehend aus 14 meist elfsilbigen Versen (ital.
Endecasillabi; in der französischen und in der deutschsprachigen Barockliteratur (Beispiel:
Gryphius: Abend) Alexandriner), 14 Verszeilen also, die in zwei deutlich voneinander abgesetzte
Teile zerfallen: der erste besteht aus zwei Quartetten mit nur zwei Reimen in umarmender
Stellung (abba abba); der zweite besteht aus zwei Terzetten, reimend
nach verschiedenen
Mustern. Die Sonette an Madonna Laura von Petrarca bestehen aus zwei Quartetten mit nur zwei
Reimen und zwei Terzetten mit drei Reimen. Diese ist die sogenannte strenge Form des Sonetts.
Ein anderes Muster stammt von Shakespeare bestehend aus drei Quartetten und einem mit
Paarreim abschließenden Zweizeiler.
Beim Vortragen zu berücksichtigen sind in diesem Sonett von Rilke die häufigen Enjambements,
die im ganzen Gedicht zu finden sind. Auffällig sind außerdem die zahlreichen Assonanzen und
Alliterationen in den durch das Metrum gewichteten Silben, wie z B. zwischen Augenäpfel und
Aber in der zweiten Verszeile, oder zwischen Schauen und zurückgeschraubt (Zeile 4). Weiterhin
gibt es auch einen Binnenreim: blenden / Lenden. Durch die starke Verwendung dieser Elemente
artikuliert sich neben der metrisch musikalischen Regel der Sonettform noch ein weiteres
klanglich rhythmisch bindendes Gesetz, das die Verbindung der Verszeilen mit dem Reim
durchbricht - so eindringlich, daß die Verszeilen der beiden Terzette geradezu nach der Bindung
des archaischen Stabreimverses gelesen werden möchten, dessen Gesetz in den Zeilen 9-11 und
13-14 ebenso erfüllt ist. Das entspricht der gedanklichen Bewegung dieses modernen Gedichts
aus dem Jahre 1908, in dem das Sehen, indem es in den Bannkreis eines nur noch als Torso
gegenwärtigen Angeschauten tritt, eine irritierende Krise erfährt. An einem anderen Gedicht von
Rainer Maria Rilke: Schwarze Katze wurde das zusätzlich veranschaulicht, ein Gedicht, dessen
Vorbilder sich bei Charles Baudelaire findet.
2. Wo beginnt die moderne Lyrik ? Dieser Frage geht ein auch für jeden Germanisten
grundlegendes Buch des Romanisten Hugo FRIEDRICH nach: Die Struktur der modernen
Lyrik. Rororo rde 25. Dieses Buch muss jeder Literaturwissenschaftler im Regal stehen haben,
und nicht nur das, er muss es auch gelesen haben. Hugo Friedrich stellt die Anfänge der
modernen Lyrik in Frankreich dar: Charles Baudelaire (Les Fleurs du Mal), Stephane Mallarmé,
Artur Rimbaud, Paul Verlaine u.a. Man muss diese Lyriker kennen, sonst versteht man den Weg
der modernen Lyrik und insgesamt den der modernen Kunst in der Literatur, der Musik, der
Malerei und der bildenden Kunst nicht. Wie es den Weg zu dem Verstehen der modernen Lyrik
weist, darin besteht das Verdienst des Buchs von Hugo Friedrich. Im 18. Jh. war es weithin
üblich, auf Französisch miteinander zu korrespondieren, etwa am Hofe Friedrichs II. Von
37
Preußen. Auch die Gebildeten des 19. Jh. bewegten sich ebenso gern und sicher in der
französischen Sprache: Heine, Rilke, Stefan George. Alle Genannten verbrachten lange Zeit in
Paris.
3. Wichtig für die Analyse eines Gedichts ist das Vergleichen, d. h. das Bekanntsein mit vielen
verschiedenen Gedichten. Gedichte bieten auch schon für den Studienanfänger, der seine
Belesenheit erst erwirbt, einen guten Weg, den Wandel der Epochen deutlicher zu sehen und sich
in der Geschichte zu orientieren. In unserer Reclam Anthologie finden wir auch Beispiele für die
Kirchenlieder von Martin Luther (1483 – 1546); S. 35-36, ein weiteres Beispiel, ein auch heute
noch bis zu den Kindern sehr bekanntes Adventslied auf S. 15 unserer Arbeitsunterlagen. Diese
Lieder, die in den folgenden Jahrhunderten und bis heute zahlreiche Neuschöpfungen anregten,
wurden mit der Ausbreitung der protestantischen Gottesdienstordnung in der Folge der
Reformation überall, wo man Deutsch verstand, gesungen. Das Kirchenlied oder der Choral hat
sich so in der deutschsprachigen lyrischen Dichtung zu einer eigenen Gattung entwickelt.
Bedeutende und bis heute sehr bekannt gebliebene Beispiele schuf Paul Gerhardt (1607 – 1676).
Auch auf Seite 15 der Arbeitsunterlagen finden wir ein Gedicht von ihm, das vorgestellt wurde,
zusätzlich in der gekürzten Fassung der älteren repräsentativen Anthologie Deutsche Gedichte
von Echtermeyer/von Wiese. Für den Umgang mit diesen Liedern ist interessant, worauf der
Seminarleiter aufmerksam machte, daß die Strophen 8 und 9 von Nun ruhen alle Wälder als
Nachtgebet für Kinder selbständig geworden sind. Das Gedicht Paul Gerhardts wurde von einer
Kommilitonin vorgelesen.
Paul Gerhardt dichtet wie Andreas Gryphius zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, ein Krieg, der
in der Kulturgeschichte Europas mit dem ersten politischen Krieg zwischen Athen und Sparta
vergleichbar ist. Über den Dreißigjährigen Krieg schrieb Schiller seine Geschichte des
Dreißigjährigen Krieges, aufmerksam darauf, wie der Dreißigjährige Krieg Europa miteinander
bekannt gemacht hat. Tatsächlich waren nie zuvor Völker der nördlichen Länder den südlichen so
begegnet. Bei dieser Gelegenheit stellte uns Dr. Heuer zwei wichtige Historiker vor, beide
politische Denker, die auf solche Art von Kriegen besonders aufmerksam gemacht haben und die
man unbedingt kennen muss:
Thukydides, der den Krieg zwischen Athen und Sparta um die bessere Staatsverfassung,
Demokratie oder Aristokratie beschreibt, aufmerksam darauf, wie solche Kriege entstehen aus
dem Schüren der Angst der Systeme und Staaten, ins Hintertreffen zu gelangen (Vgl. Karl-Heinz
Volkmann-Schluck: Politische Philosophie. Thukydides – Kant – Alexis de Tocqeville).
Alexis de Tocqueville: L’ ancien régime et la révolution = Die Ordnung des alten Regimes und
die Französische Revolution und im Vergleich dazu: Die Demokratie in Amerika, also mit dem
38
Blick auf die jenseits des Atlantik anders ablaufenden Entwicklung der modernen Erneuerung der
verfaßten Demokratie.
Vanitas vanitatum vanitas (Eitelkeit der Eitelkeiten Eitelkeit) heißt der Titel eines anderen
Sonetts von Gryphius: Die Welt der Eitelkeiten gegenüber dem, was dem religiösen Menschen in
persönlicher Begegnung mit Gott Halt geben kann. Alles wird auf die Frage nach der Seele, dem
Inneren des Menschen in der Glaubensgewißheit zurückbezogen.
Die Erfahrung der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges hat die Selbsterfahrung der
Menschen tief geprägt und ist mit der Verinnerlichung des Menschen wie mit einer neu bewußt
gewordenen Offenheit auch der Schlüssel für die Aufklärung seit dem 17. und 18. Jahrhundert.
Aufmerksam gemacht wurde auf die Gedichtsammlung der sieben Bücher: Irdisches Vergnügen
in Gott, von Barthold Heinrich Brockes.
Der Dichter betrachtet die Natur wie ein
Naturwissenschaftler, aber mit einer verinnerlichten, für das Wunderbare empfänglichen, aber in
einer neu entdeckten Welt nach der Stellung des Menschen fragenden Sprache. Es geht um die
Frage nach dem Bestand eines Menschen, nach der Seele des Menschen. Die Gedichte sind
Kantatentexte, wie wir sie aus den Kantaten von Johann Sebastian Bach und Georg Philipp
Telemann kennen; beide Komponisten haben auch Texte von Brockes in ihren Kantaten vertont.
Auf Seite 66 in unserer Reclam Anthologie finden wir von Brockes das Gedicht Das Blümlein
Vergißmeinnicht. Hier geben die genauen Beobachtungen der Naturelemente eine bildhaft
einprägsame Schilderung des Gesehenen. Und hier stellt man sich zugleich Fragen nach dem
Menschen, der dies anschaut unter der Frage nach dem Sinn dieser Welt.
4. Über die Frage nach der Erschließung des Sehens durch die Dichtung beschäftigen uns noch
einmal mit dem Sonett von Rainer Maria Rilke Archaischer Torso Apollos. Das Gedicht entstand
im Sommer 1908, als Rilke als Sekretär des berühmten Bildhauers Rodin arbeitete. Hier geht es
um ein Sehen, das sich in der Welt verloren hat, einer Welt, die die Verbindlichkeit früherer
Orientierungen aufgelöst hat. Rilke geht ins Museum und betrachtet einen Torso, um hier die
Erfahrung des Sehens neu zu erproben. Die Statue von Apollo, Helios, dem Gott des Lichtes und
der sich für das Sehen des Menschen gelichteten Welt, entstand woanders, in einer durch die Zeit
entfernten Welt, um einen Tempel zu schmücken. Der Tempel wurde zerstört, die Kulturen
wurden zerstört, die unter dem Gesetz dieser Gottheit gelichtete Welt ist nicht mehr. Nun wird
der Torso dieser Statue ganz woanders ausgestellt. Helios Apollo steht als ein Torso vor dem
Dichter, nicht mehr als eine die religiöse Verehrung einfordernde Gestalt der Gottheit.
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Ein weiteres Gedicht von Rilke, Schwarze Katze, auch im Sommer 1908 entstanden, wird
vorgetragen. Hier macht Dr. Heuer auf eine Synästhesie aufmerksam. Die Synästhesie (griech.
Synaisthesis = Zugleichempfinden) zeigt eine Verschmelzung der Eindrücke und Reizungen
verschiedener Sinnesorgane, Farben werden gehört, Töne gesehen (Brentano: „golden wehn die
Töne nieder“). Unser Beispiel in dem Gedicht Schwarze Katze: “Ein Gespenst ist noch wie eine
Stelle, /dran dein Blick mit einem Klange stößt“ .
Noch ein weiteres Beispiel für die Verbindung von äußerster Formstrenge mit der irritierenden
Erfahrung von Weltentzug in der modernen Lyrik wurde an dem Gedicht: Verlorenes Ich von
Gottfried Benn (Arbeitsunterlagen S.15) illustriert. Das Gedicht entstand nach 1945. Benn war
Hautarzt von Beruf und hat wichtige Essays über moderne Lyrik geschrieben. Wir sehen, die
Form wird immer strenger und sparsamer mit der Erfahrung von Verlust und Entzug. Wann
beginnt dies?
5. Wir gehen zu Seite 172 der Reclam - Anthologie und schauen uns ein von allen
vorzubereitendes Gedicht in Ghaselen von August von Platen an. Was ist ein Ghasel? Das
Reallexikon (G. von Wilpert) erklärt: Herrschende Gedichtsform der orientalischen Lyrik, mit
Verszeilen von beliebiger Länge, die den Reim des ersten Verspaares (Königsbeit) in jeder
geraden Zeile aufnehmen, während die ungeraden reimlos bleiben: aa ba ca da. Das Beit ist also
die Verszeile, die den Reim aufnimmt, ein Reim, der besonders eindringlich nachklingt, wenn er
wie in diesem schön gelungenen Beispiel von Platen weit in Innere der Verszeile zurück reicht..
Dieses Ghasel von A. von Platen hat keinen Titel. Bei Gedichten ohne Titel nimmt man die erste
Zeile, um es in alphabetischen Verzeichnissen zu benennen.
In der modernen Lyrik und auch schon bei Platen fragt sich ein spät oder später gekommener
Dichter, wie eine frühere Kultur sich orientierte, wie sie lebte und wie sie denkt. Mit dieser nach
Innen gerichteten rückwärtsgewandten Betrachtung dichtet man. Das wird auch deutlich an den
Zitaten, den verborgenen und den direkten, bei Benn wie bei Hilde Domin. Gegen Ende der
Sitzung betrachteten wir ein Gedicht von Hilde Domin (1912), einer in Heidelberg lebenden
Dichterin. Das Gedicht beginnt mit einem Zitat „Seids gewesen, Seids gewesen“
(Arbeitsunterlagen S.16). Dieses Zitat stammt aus Goethes Ballade Der Zauberlehrling. Domins
Gedicht ist eine Reflexion zu Goethes Gedicht im freien Rhythmus.
6. Das letzte Gedicht, das wir uns als Beispiel für die moderne Lyrik der Gegenwart anschauen ist
Ottos mops von Ernst Jandl, Man nennt diese Art von Dichtung Konkrete Poesie: Auch zu diesem
Begriff findet sich im Sachwörterbuch S.124f. eine Erklärung: „internationale Strömung der
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Modernen Lyrik, die von den sprachlichen Elementen (Wörtern, Silben, Buchstaben) als
konkretem Material ausgeht, sie von ihrer Funktionalität als Sinnträger und den Fesseln der
Syntax zu erlösen sucht und sie gemäß ihren Klangcharakter nach rein klanglichen Gesetzen
unter Verzicht auf jede Aussage oder Mitteilung neu kombiniert, so dass eine alogische, sinnfreie,
optisch-akustisch ornamental wirkende Anordnung entsteht. In Deutschland zuerst bei Christian
Morgenstern zu finden und bei den Dadaisten.
Eine Kommilitonin fragt, ob ein solches Gedicht als Kunst zu betrachten sei. Dr. Heuer erklärt,
dass auch Kunstkritik gegenüber allem Neuen Toleranz verlange. Er verweist auf das Beispiel in
der Politeia, dem Staat von Platon, wo man Homer und alle Tragödiendichter aus der Stadt haben
wollte. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass es neben der Kunst eine streitende Kritik geben
muß. Jandl ist Preisträger, was bedeutet, dass die Öffentlichkeit ihn anerkennt. Aber die Frage, ob
zu Recht, verdient trotzdem bedacht zu werden.
Sitzungsprotokoll vom 4.12.2000
Protokollantin: Boulanowa, Larissa; Assistentin: Karkashadze, Eliza
1. Dr. Heuer hat kurz über Bedeutung und Rolle von Kunst und Literatur im Dasein des
Menschen gesprochen. Es wurde noch einmal die Aufgabe und die Leistung der Literatur betont.
Diese Aufgabe besteht darin, alles was gesehen und wahrgenommen werden kann und auch alle
menschlichen Erfahrungen und Empfindungen erschließen zu können. Dabei muss der, der die
Werke der Dichter als Erbe zu verwahren und zugänglich zu machen hat, immer daran denken,
dass das, was Kunst uns Literatur geschaffen haben, der Menschheit gehört und dass es
weitergegeben wird. Deswegen soll er umsichtig sein und alle Regeln, die die Dichtungen
enthalten, erkennen und erklären können., wie Metrum, Versreim, Versbindung, Bildverknüpfung
usw.
Jeder Dichter ist als Repräsentant der Möglichkeit von Menschsein eine Singularität und
einmalig. Daraus folgt, dass auch das, was er schafft, Singularität besitzt; es nachzuahmen oder
zu wiederholen ist sehr schwer, fast unmöglich. Deswegen haben wir eine verwirrende Vielfalt
von literarischen Phänomenen vor uns, und sie zu sortieren fällt natürlich schwer. Aber dem
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Literaturwissenschaftler gelingt es dennoch. Es gibt verschiedene Kriterien, auch die literarischen
Werke zu unterteilen, zu klassifizieren und zu spezifizieren.
Man kann beispielsweise die Gedichte schon nach den Gesetzen des Metrums unterscheiden, und
so spricht man vom antiken Metrum und Versmaß oder von moderner Metrik, von allgemein
reimloser Dichtung oder von der Verbindlichkeit des Endreims oder dem Nebeneinander von
reimfreien und reimenden Versen, wie wir es in der deutschsprachigen Dichtung seit dem 18.
Jahrhundert kennen. Auch kann man die Zeit und deren unumkehrbaren Wandel als
Ausgangspunkt nehmen und sich an den Epochen orientieren: so spricht man von der Literatur
der Aufklärung, des Barock, der Romantik usw. Es gibt schließlich die Möglichkeit, die
literarischen Werke nach Themen, Anlass und Motiven in Gattungen einzuordnen. Dann spricht
man von den drei großen literarischen Gattungen Lyrik, Epik und Drama, im Bereich der Lyrik
vom Lied, von der Elegie, der Satire, der Ode, der Ballade, der Fabel usw..
2. Als Beispiel haben wir das Gedicht "Der Igel" von Gottlieb Konrad Pfeffel analysiert.
Der Löwe saß auf seinem Thron von Knochen
Und sann auf Sklaverei und Tod.
Ein Igel kam ihm in den Weg gekrochen:
"Ha! Wurm!" so brüllte der Despot
Und hielt ihn zwischen seinen Klauen,
"Mit einem Schluck verschling ich dich!"
Der Igel sprach: "Verschlingen kannst du mich;
Allein du kannst mich nicht verdauen ."
Unsere Aufgabe war es, dieses Gedicht der zugehörigen Gattung zuzuordnen. Wie wir festgestellt
haben, gehört dieses Werk zur Gattung der Fabeln. Dafür sprechen verschiedene Momente: die
Tiere werden beseelt und sie haben menschliche Eigenschaften. Das Gedicht ist allegorisch, hat
eine polemische Pointe und belehrenden Charakter.
Fabel ( lat. fabula = Erzählung ) ist eine kurze, lakonische, episch-didaktische Gattung. Sie lässt
nach der Art der ihnen als typisch zuerkannten Eigenschaften in Versen oder Prosa Tiere
sprechen und handeln. Auf diese Weise werden eine allgemein anerkannte Wahrheit, ein
moralischer Satz oder eine praktische Lebensweisheit in uneigentlicher Darstellung
veranschaulicht, menschliche Verhältnisse auf die beseelte oder unbeseelte Natur satirisch oder
moralisch belehrend übertragen.
Der erste große Fabeldichter war Aisopos (im 6. Jahrhundert vor Christus).). Als Blütezeit dieser
Gattung in neuerer Zeit gilt das 17. und 18. Jahrhundert. Es gab zu dieser Zeit kaum einen
Dichter, der keine Fabel geschrieben hätte. Weltbekannt sind die Fabeln von La Fontaine. Die
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Fabeln wurden vielfach und in viele Sprachen übersetzt und galten den Fabeldichtern der
Aufklärung als Vorbild: in der deutschen Literatur insbesondere für Gellert, Gottsched,
Hagedorn, Lessing, der eine bedeutende Abhandlung vom Wesen der Fabel
verfasste,
Lichtwer, Pfeffel, in der russischen Literatur für Krylov.
3. In unseren Arbeitsunterlagen sind eine Fabel von Schiller "Der Fuchs und der Kranich"
und zwei Fabeln von Lessing "Der Tanzbär" und "Der Dornstrauch" abgedruckt. Wir haben
"Der Igel" und "Der Tanzbär" miteinander verglichen. Beide Gedichte gehören leicht
erkennbar zur gleichen Epoche der Aufklärung, zum 18. Jahrhundert, der beginnenden
politischen Emanzipation des Bürgertums, der Neugründung der Demokratie in Nordamerika und
in
Europa,
in
Frankreich
die
große
Französische
Revolution
auslösend.
Die beiden Gedichte sind jambisch gebaut. Bei gleichem Metrum variiert die Zahl der Takte.
Und in beiden Fällen variiert die Reimstellung.
„Der Igel " hat folgendes Reimschema: a b a b c d d c
und
„Der Tanzbär": a b b a c c d d e e
Solche Freiheiten sind typisch für das Madrigal:
Das Madrigal ist ein Gedicht ohne feste sprachliche und musikalische Formregeln, meistens
jambisch mit freier Füllung der Verszeilen und freier Abfolge der Reime. Die Form des Madrigal
ist auch für die Verse in Goethes Faust weithin bestimmend.
Thematisch gesehen sind die betrachteten Fabeln unterschiedlich, aber beide sind belehrend,
didaktisch.
4. Zuletzt heben wir Lessings Fabel "Der Dornstrauch" analysiert. Sie ist in Prosa
geschrieben, aber diese Prosa ist stark rhythmisiert. Das merkt man, wenn man versucht, die
verschiedenen Satzteile zu verschieben. Dadurch würde das Ganze zerstört und man erkennte
keinen Rhythmus mehr. Wer wie Paul Verlaine (Art poétique) Poesie und Prosa unterscheidet,
sollte daran erinnert werden, dass auch die Musik die Bewegung in freiem Taktwechsel oder
ohne Notation von Taktstrich kennt und dass sich Musik auch dann noch in rhythmischen Tanz
übersetzen lässt.
5. Definieren und klassifizieren erfordert gerade von dem Philologen und Historiker
eine besondere Disziplin, besondere Genauigkeit. Wer hier nicht verfahren will wie der schon
genannte mythische Folterer, Mörder und Räuber Prokrustes, also sich darauf beschränkt, seine
definierten Mengen durch künstlich beschneidende indefinite Negation zu bestimmen, muß
darauf achten, wie sein Definiertes seine Konturen durch die Zeit gewinnt und verändern kann.
Das wurde an Beispielen verdeutlicht, der Erschließungskraft der Begriffe Parabel, Volkslied
und Kunstlied:
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Die Parabel ( griech. Parabola = Gleichnis ) ist eine lehrhafte Erzählung, die eine Wahrheit oder
Erkenntnis durch einen analogen Vergleich aus einem anderen Vorstellungsbereich erhellt, der
nicht ein in allen Einzelheiten unmittelbar übereinstimmendes Beispiel gibt wie die Fabel,
sondern nur in einem Vergleichspunkt mit dem Objekt übereinstimmt. Jetzt lässt sich fragen, wie
die Gleichnisse im Neuen Testament aussehen und wie sie zum Vorbild werden.
Das Volkslied ist einfaches, gereimtes Lied, das mit einer gleichzeitig entstandenen einfachen
Melodie untrennbar verbunden ist und im Volk mündlich überliefert wurde. Der Begriff ist neu,
wurde geschaffen zu Beginn der modernen Philologien wie der Germanistik, als man daran ging,
die nachlebenden Reste einer mündlichen Überlieferung zu retten. Lange zuvor hatten sich aber
schon die gedichteten Worte von der Musik, mit der sie ursprünglich wohl immer verbunden
waren, auch völlig abtrennen können. Sie werden, was historisch oder in der Zeit erst sehr viel
später möglich wird und geschieht, dann aber auch wieder zusammengefügt, in einer ganz neu
entstehenden Form, dem
Kunstlied. Es ist im Gegensatz zum Volkslied auskomponierte Dichtung, deren Verfasser nach
Name und Eigenart zusammen mit dem Komponisten bekannt ist. Es kennt keine Grenze der
Stoffwahl und selbst bei der Anlehnung an die Form der Volksdichtung vermeidet es deren
Eigenheiten.
Sitzungsprotokoll vom 6.12.2000
Protokollant: Kowalski, Michael
1. Die Frage wurde gestellt, wie man zwischen einem Vergleich und Gleichnisse
unterscheidet.
Die Möglichkeit der Erklärung einer solchen Unterscheidung wurde
besprochen. Wichtig ist, wie der Philologe von den Befunden ausgeht, für die Namen von den
Wörterbüchern (Adelung, Grimmsches Wörterbuch), für die Begriffe von den Reallexika oder
Sachwörterbüchern, während er Beispiele, Veranschaulichungen, in den Texten findet. Er
fragt, wie sehen Vergleiche in einem Gedicht aus; er fragt nach verschiedenen Formen von
Vergleichungen, besonderen Wörtern, Partikeln, die darauf hinweisen: wie z.B. als ob. Er
fragt nach dem Vergleichsgrund und den einzelnen einander entsprechenden Bestandteilen
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des Vergleichs. Ein Gleichnis ist eine literarische Form der Veranschaulichung etwa einer
Lebensregel, Beispiele geben die Gleichnisse in der Predigt, die Evangelien im Neuen
Testament.
2. Als Abschluss wurde das allgemeine Problem der Orientierung im wissenschaftlichen
Arbeiten mit der Literatur noch einmal aufgenommen. Die Kriterien der Ordnung der
Phänomene, in denen Literatur begegnet, werden erst in der geschichtlichen Zeit und mit dem
Wandel der Zeit Sache der wissenschaftlichen Arbeit. Damit stehen die Methoden der Arbeit
an den Aufgaben der Literaturwissenschaft, die in den jeweiligen Richtungen erlernt und
geübt sein wollen, auch vor der Frage nach dem Ausweis. Wissenschaft verlangt immer auch
kritische Überprüfung, Kriterien des Prüfens. Solche Fragen begegnen in Themen wie
Germanistik als Wissenschaft, Literatur und Erkenntnis, Literatur und Philosophie, die letzte
Frage zumeist mit dem Titel Literatur und Ästhetik. Schon so geläufige Trennungen wie
Gattung und Art können vor den speziellen Phänomenen eines Faches Schwierigkeiten
bereiten. Kunstwerke wie die einzelnen Menschen selbst versteht man eher als Singularitäten
wie die Himmelskörper und nicht als Individuen einer Gattung wie das nur Lebendige von
Pflanzen und Tieren. Eine Sonne ist kein Individuum der Art oder der Gattung der Sonnen –
so würde sich auch niemand ausdrücken. Ein bedeutendes Kunstwerk wird zum
Repräsentanten der sich in ihm erschließenden Regeln, so wie ein Mensch zum
Repräsentanten von Menschsein in einer Epoche werden kann, in einem Menschen eine
Gattung stirbt. Wenn wir von jemanden sagen „ein Individuum“, so ist das pejorativ,
abschätzig, gemeint.
Das Historische Wörterbuch der Philosophie gibt Auskunft über die Geschichte der
Begriffsbildung und die gültige Terminologie. Von hier lässt sich weitergehen etwa zur
Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft oder gegebenenfalls auch zu den
philosophischen Quellentexten selbst, etwa zu Aristoteles, der als erster eine Poetik und eine
Rhetorik geschrieben oder zu den Fragen nach Kunst und Geschichte bei Philosophen wie
Kant, Hegel, Marx, Nietzsche und Heidegger.
Schon bei der Frage nach der Ballade kamen wir vor die Schwierigkeit, dass die
Grundbegriffe wie Lyrik, Epik, und Drama, die uns zur Unterscheidung der Lehre von den
Gattungen berechtigen, sich in den Charakteren des Lyrischen, Epischen und Dramatischen
auch berühren und in den einzelnen, in singulären Werken auch miteinander verbinden. Und
die Begriffe Sonett, Parabel, Satire und Ode beispielsweise verlangen immer zugleich einen
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Hinweis auf die historische Epoche ihrer Entstehung, wenn sie zur Orientierung über
gemeinsame Merkmale taugen sollen. Bei den Bezeichnungen für die einzelnen Epochen
müssen wir wiederum darauf achten, dass sie für die einzelnen Gattungen der Künste, etwa
für Literatur und Musik, aber auch bei den einzelnen Nationen, in Frankreich oder im
englischsprachigen Raum, sehr verschieden verwendet werden, ja dass die Dichter selbst sie
oft gar nicht benutzten. Goethe benutzte nicht unseren Begriff von Romantik, und was Brecht
„antiaristotelisches Theater“ nennt hat mit der Poetik des Aristoteles und deren Auslegung
in anderen Epochen kaum etwas zu tun.
4. Wie sich Musik und Tanz von dem Wort ablösen, wenn Dichtung zum gesprochenen Wort
wird, so können sie sich aber auch wieder verbinden. Und daraus können dann ganz neue
Formen und Gattungen entstehen wie das Kunstlied gegenüber dem Volkslied seit dem
Beginn des 19. Jahrhunderts. Im Theater ist die Verbindung des gesprochenen Wortes mit der
Maske und dem Bild bewahrt. Die Emblematik gibt uns Zeugnisse einer neuartigen Bindung
von Gedichten an Bilder. In der Bildergeschichte, meist eine Verbindung von Zeichnungen,
Karikaturen bildet sich im 19. Jahrhundert, insbesondere durch Wilhelm Busch, eine bis heute
beliebt geblieben Art erzählender Bücher heraus. Die Sitzung wurde beschlossen mit der
Projektion eines Beispiels: Wilhelm Busch: Hans Huckebein.
Auch hier wird die Kunst zur leichten Unterhaltung. Doch auch die Formen der leichten
Unterhaltung müssen in demokratischen Gesellschaften Gegenstand der fachkundigen und
allen verständlichen Kunstkritik bleiben. Wo die Kritik vor dem Populären versagt oder sich
seiner erst gar nicht annimmt und wo man die Kritik der zeitgenössischen Kultur einem
exklusiven Zirkel von Päpsten anvertraut statt sie zu einem allen wichtigen öffentlichen
Diskurs zu machen, dort kann sich der Sumpfboden des Faschismus ausbreiten.
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