Mutter Natur

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Die Natur im Gedicht
Untersuchungen zu Texten von Goethe bis Kunze
Vorüberlegung
Wer heutzutage ein Naturgedicht schreibt, der begibt sich auf einen heiklen Boden. Das
scheint schwer verständlich in einer Zeit, da die Umwelt täglich in aller Munde ist.
Die Politiker eilen von Weltklimaschutzgipfel zu Weltklimaschutzgipfel, Greanpeace
macht mit spektakulären Aktionen auf die Zerstörung der Umwelt aufmerksam, und in
Deutschland ist seit letztem September eine rot-grüne Regierung an der Macht. Man
mag zu den Aktionen von Greanpeace und zum Machtwechsel in Bonn stehen, wie
immer man will, doch eigentlich - so könnte man denken - müßten dies gute Zeiten sein
für Gedichte, die sich mit der Umwelt auseinandersetzen.
Doch so einfach ist die Sache leider nicht, und warum dies so ist, das möchte ich in
meinen folgenden Überlegungen herausarbeiten. Als Ausgangspunkt wähle ich ein
Gedicht Goethes aus der Zeit des Sturm und Drang.
Mutter Natur
Die Dichtung der Zeit vor Goethe war an außerliterarische Instanzen wie Gott, Herrscher oder die Vernunft gebunden. Beispiele hierfür sind die Naturgedichte aus der Zeit
unmittelbar vor Goethe, z.B. Hallers ‚Alpen‘ und Brockes ‚Kirschblüte bei Nacht‘ . Das
lyrische Ich in Brockes Gedicht beschreibt in der ersten Strophe in 25 Zeilen eindringlich und in allen Einzelheiten einen Kirschbaum in der Nacht. Die zweite Strophe
besteht dagegen aus nur 4 Zeilen: ‚Wie sehr ich mich an Gott im irdischen
ergetze,/Dacht ich, hat Er dennoch weit größre Schätze./Die größte Schönheit dieser
Erden/Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.‘
Die Schönheit des Kirschbaums wird nicht um ihrer selbst willen geschildert, sondern
zum Lobe Gottes. Sie ist lediglich Abglanz des Göttlichen im Irdischen, und der Dichter
steht im Auftrag, dieses Göttliche aufzuzeigen.
Die Dichter der Goethezeit versuchten, die Dichtung von außerliterarischen Instanzen
wie z.B. Fürst und Gott, aber auch von den Regeln einer starren Regelpoetik zu lösen,
und sie wiesen der Natur in diesem Emanzipationsprozeß eine entscheidende Rolle zu.
1
J. W. von Goethe
Auf dem See, 1. Fassung
1
Ich saug‘ an meiner Nabelschnur
Nun Nahrung aus der Welt.
Und herrlich rings ist die Natur,
Die mich am Busen hält.
5
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf,
Und Berge wolkenangetan
Entgegnen unserm Lauf.
Aug mein Aug, was sinkst du nieder?
10
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum, so gold du bist,
Hier auch Lieb und Leben ist.
Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne,
15
Liebe Nebel trinken
Rings die türmende Ferne,
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
20
Sich die reifende Frucht.
(Goethes Werke, Bd. 1, hrsg. von Erich Trunz, München 1981)
Ich folge in meiner Interpretation der 1. Fassung des Gedichtes von 1775. Es besteht danach aus zwei Strophen, in einigen Handschriften ist es aber in drei Strophen überliefert.
Die dritte Strophe beginnt nach diesen Handschriften mit den Zeilen ‚Auf der Welle
blinken tausend schwebende Sterne‘ (13/14).
Die erste Strophe des Gedichtes besteht aus drei Sätzen, wobei die ersten beiden Sätze
durch ihre Reimwörter ‚Nabelschnur‘ – ‚Natur‘ und ‚Welt‘ – ‚hält‘ zu einer Einheit
verbunden sind. Im ersten Satz ist das Ich Subjekt eines Aktivsatzes, es ‚saugt‘ Nahrung
an seiner Nabelschnur aus der Welt. Im zweiten Satz ist die Natur aktives Subjekt, sie
‚hält‘ das Ich an ihrem Busen (4). Der erste Satz sieht das Ich in der pränatalen Phase,
2
der zweite schildert eine Situation nach der Geburt; die Mutter stillt ihren Säugling. In
der pränatalen Phase ist das Kind in einer Innenwelt aufgehoben, am Busen ist es in der
Außenwelt mit der Natur verbunden.
In der zweiten Hälfte der Strophe fährt ein Kahn den See ‚hinauf‘ (6), und Berge ‚entgegnen‘ (8) dem Weg des Kahns - sie vollziehen damit eine Bewegung von oben nach
unten. Das lyrische Ich als Insasse des Kahns ist in der 1. Strophe somit Teil von
‚Mutter Natur‘1 dadurch, daß die Bereiche Innen, Außen, Oben und Unten zu einer
allumfassenden Einheit miteinander verschmolzen werden.
Die zweite Strophe besteht aus zwei Fragesätzen und zwei Aussagesätzen. Durch einen
Paarreim sind die beiden Fragesätze miteinander verbunden und zugleich mit dem
ersten Aussagesatz zu einer binären Opposition verbunden, da der Aussagesatz aus zwei
Verszeilen besteht, die ebenfalls mit Paareim enden. Die zweite Hälfte der Strophe
besteht aus einem einzigen Satz, der nach der vierten Zeile durch ein Komma eine Zäsur
enthält. Verstärkt wird diese Zäsur noch einmal dadurch, daß die ersten vier und die
letzten vier Zeilen jeweils durch einen Kreuzreim miteinander verbunden sind.
Die beiden Fragen sprengen die in der ersten Strophe geschilderte Einheit des Ich mit
der Welt auf, denn dieses Ich sieht (‚Aug mein Auge‘, 9) und denkt ( Tag -‚Träume‘, 10).
Die Einheit des Ich mit der Natur ist durch den Sündenfall des Bewußtseins zerstört
worden: Es steht ihr als reflekierendes Subjekt gegenüber.
Ein Weg, den paradiesischen Glückszustand wieder herzustellen, wäre, ins Wasser zu
gehen und die Einheit mit der Natur im Tod zu suchen; das Wasser des Sees wird also
als Äquivalent zum Fruchtwasser im Leib der Mutter angesehen. Pränatale Phase und
Tod bilden nämlich gleichermaßen eine Einheit mit der Natur in Reflexionslosigkeit .2
Doch das Ich weist diesen Traum im folgenden Imperativsatz kategorisch ab: ,Weg du
Traum, so gold du bist/ Hier auch Lieb und Leben ist‘ (11/12) – es gibt umfassende
Existenz auch jenseits dieser Möglichkeit, doch der ursprüngliche Zustand der ersten
Strophe ist im Leben unerreichbar. Die einzige Alternative ist, eine neue Einheit durch
einen produktiven Akt zu erstellen.
Und tatsächlich stellen die abschließenden acht Zeilen die Einheit der ersten Strophe
wieder her, denn in den beiden folgenden Verszeilen (13/14) spiegeln sich die
‚Sterne‘ (oben) auf der ‚Welle‘ (unten). Nah und Fern gehen ineinander über, da Nebel
Zum Begriff ‚Mutter Natur‘ vergl. G. Kaiser, `Geschichte der deutschen Lyrik vom jungen Goethe bis
Heinrich Heine`, Hagen 1986, S. 24: ‚Viele Jahrhunderte christlicher Traditon haben die Natur als Schöpfung Gottvaters gesehen. Die Aufklärung deutet die Natur als Zeugnis der Weltvernunft. Bei Klopstock
beginnt der Kult von ‚Mutter Natur‘.
2
Vergl. hierzu auch Goethes Ballade ‚Der Fischer‘ und C.F. Meyers Gedicht ‚Der schöne Tag‘ , in denen
jeweils ein ‚Er‘ einer Nixe in den Wassertod folgt. Das ‚Ich‘ in G. Kellers ‚Winternacht‘ widersteht dieser
Verlockung zwar, doch es kann das Antlitz der Nixe nie wieder vergessen.
1
3
die Ferne trinken, und die Außenwelt wird zur Innenwelt, da Morgenwind die Bucht
‚umflügelt‘. Abschließend spiegelt sich das Ich als ‚reifende Frucht‘(20) im See.3
Zwei entscheidende Unterschiede bestehen jedoch im Verhältnis zum Einheitszustand
der ersten Strophe: Das lyrische Ich tritt nicht mehr als Person, sondern nur noch symbolisiert in Erscheinung, und die Anklänge an die Embryonalphase sind auch weggefallen. Der Einheitszustand der dritten Strophe kann folglich nur der Imagination des
Ich entspringen. Es spiegelt sich, wie gesagt, im Symbol der ‚reifenden Frucht‘ im See
und steht damit in Opposition zur ‚Leibesfrucht‘ (dem Embryo) der ersten Strophe.
Das Gedicht Goethes beschreibt die Genese des lyrischen Ich. Natur und Ich sind in diesem Prozeß wechselseitig aufeinander angewiesen.4 Man könnte den Vorgang auch wie
folgt beschreiben: Die Natur schafft das Ich, damit das Ich die Natur (in Form des Gedichtes ‚Auf dem See) wieder erschafft, und daher spiegeln sich die erste und die dritte
Strophe (die letzten acht Zeilen), und aus dem gleichen Grunde spiegelt sich das
symbolisierte Ich in der dritten Strophe in der Natur. Es handelt sich bei ‚Auf dem
See‘ um ein stark autoreflexives Gedicht, das die Bedingungen der Möglichkeit seiner
Entstehung reflektiert.
Da das Ich aber eine Schöpfung der Natur ist und spiegelbildlich zur Natur schafft, ist es
keiner außerpoetischen weltlichen Instanz und keiner geregelten Poetik mehr verpflichtet. Mußte das lyrische Ich in Goethes Hymne Prometheus einige Jahre zuvor
diese Autonomie noch wortwörtlich proklamieren (Hier sitz‘ ich, forme Menschen nach
meinem Bilde), so vollzieht das Ich in ‚Auf dem See‘ den Schöpfungsakt schlichtweg,
ohne sich dabei noch um irgendeine Instanz außer seiner selbst zu stören.
Natur und Geist sind gleichwertig schaffende Instanzen: Dies ist auch typisch für die
gesamte Naturphilosophie der deutschen Romantik, die Natur und Geist nicht als einen
Gegensatz zwischen einem erkennenden und handelnden Mensche einerseits und einer
erkannten und behandelten Natur andererseits auffaßte. Die romantische Naturphilosophie faßte den bildenden Geist selbst als eine Art von Natur auf, und ebenso
gestand sie der Natur zu, daß etwas Geistiges in ihr stecke.
Ich komme zu einem abschließenden Resümee der Funktionen des Paradigmas Natur in
der Zeit der Romantik.5 Zum ersten läßt sich festhalten, daß durch die FunktionaG. Kaiser, a.a.O, S. 80 sieht in der ‚reifenden Frucht‘ das lyrische Ich symbolisiert: ‚Die kleine Vorsilbe
‚b e spiegelt‘ macht die Spiegelungssymbolik als Reflexionssymbolik erkennbar. Früchte können sich im
Wasser spiegeln, bespiegeln kann sich nur der Mensch.‘ Vergl. ferner den grundlegenden Aufsatz von
Jaques Lacan ‚Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion‘ in: J. Lacan, `Schriften Bd. 1`, hrsg. von
N. Haas, Frankfurt 1975.
4
Vergl. Bernhard Sorg, `Das lyrische Ich – Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gryphius bis
Benn`, Tübingen 1985, S. 78 – 82.
5
Ich sehe wie die französische und die englische Literaturwissenschaft die Zeit vom Sturm und Drang
bis zur Romantik als eine Einheit an. Deutsche Wissenschaftler wie G.Kaiser, a.a.O. und neuerdings
3
4
lisierung dieses Paradigmas die Genese des lyrischen Ich einen entscheidenden Anschub
erhielt. Außerdem setzte die Funktionalisierung der Natur die Literatur einer Art
Binnendifferenzierung aus, denn wer wie die Natur schuf, der durfte die Regelpoetiken
von Aristoteles bis Gottsched getrost im Regal stehen lassen. Dem Para-digma Natur
kam somit in ästhetischer Hinsicht progressive Funktion zu, und das läßt verstehen,
warum Naturgedichte die Zeit des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik
dominierten.
Auch nicht unterschätzt werden darf der Aspekt, daß ein Dichten spiegelbildlich zur
Natur der Literatur zumindest theoretisch die Autonomie von außerliterarischen Instanzen bescherte (Herrscher, Kirche). Andererseits deutet sich damit zugleich die Gefahr an,
daß ‚Mutter Natur‘ in Zukunft als Fluchtraum aus der Gesellschaft funktionalisiert
werden kann. Zudem stellte sich die Dominanz der Naturdichtung in dieser Epoche als
Belastung für die Dichter der folgenden Generationen heraus.
Im Abseits
‚Unser ist das Reich der Epigonen‘, beklagt sich Gottfried Keller im Jahre 1847 in
einem Gedicht. Form und Kanon der klassisch-romantischen Lyrik waren so übermächtig, daß ihm Dichten nur noch in abgegriffenen Formen möglich schien.
Aber nicht nur durch die innerästhetische Tradition waren dem Dichter neue Grenzen
gezogen, hinzu kamen die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen des 19.
Jahrhunderts, sowie das Aufkommen der Naturwissenschaften, welche die Natur im Gegensatz zur romantischen Naturphilosophie als Objekt der Erkenntnis ansahen und der
Natur damit ihr Telos nahmen. Damit einhergehend kam es zu einer vorher nie gekannten Technisierung der Welt, die es fragwürdig machen mußte, weiterhin nur die
schöne Natur als Medium zur Formung zu verwenden.
Theodor Storm scheint im Gegensatz zu Gottfried Keller weniger von Zweifeln geplagt
worden zu sein: „Sein Selbstbewußtsein als Lyriker war ungebrochen, das Medium
Lyrik funktionierte ohne jede Verunsicherung durch die Zeit oder die eigene ästhetische
Reflexion“.6
Dies scheint mir für den zweiten Teil seiner Aussage zu stimmen, inwieweit dies für den
ersten Teil der Aussage nicht ganz stimmt, darüber soll uns die folgende Untersuchung
eines Storm – Gedichtes Auskunft geben.
G.Plum-pe in ‚Epochen moderner Literatur‘, Opladen 1995, sehen dies auch so.
6
In: ‚Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. von W. Hinderer, Stuttgart
5
Theodor Storm
Abseits
Es ist so still; die Heide liegt
Ein halbverfallen niedrig Haus
Im warmen Mittagssonnenstrahle
Steht einsam hier und sonnbeschienen;
Ein rosenroter Schimmer fliegt
15 Der Kätner lehnt zur Tür hinaus,
Um ihre alten Gräbermale;
Behaglich blinzelnd nach den Bienen;
5 Die Kräuter blühn; der Heideduft
Sein Junge auf dem Stein davor
Steigt in die blaue Sommerluft
Schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr.
Laufkäfer hasten durchs Gesträuch
Kaum zittert durch die Mittagsruh
In ihren Panzerröckchen,
20
Ein Schlag der Dorfuhr, der
entfernten;
10
Die Bienen hängen Zweig um Zweig
Dem Alten fällt die Wimper zu,
Sich an der Edelheide Glöckchen,
Er träumt von seinen Honigernten
Die Vögel schwirren aus dem Kraut -
- Kein Klang der aufgeregten Zeit.
Die Luft ist voller Lerchenlaut.
Drang noch in diese Einsamkeit
Storms Gedicht ‚Abseits‘ besticht, wie viele seiner Gedichte, durch eine einzigartige
Stimmung. Doch wie baut der diese auf?
Formalästhetisch gesehen durch die Verwendung bekannter Elemente: Das Metrum der
vierhebigen Jamben mit wechselnd männlichen und weiblichen Endungen gehört seit
der Romantik zu den traditionellen Mitteln der Lyrik(Stichwort `Volkslied`) - und auch
ein Teil des semantischen Materials erinnert an die Romantik, so etwa die `blaue Sommerluft` in der ersten Strophe, die an Eichendorffs Zeile ‚Laue Luft kommt blau
geflossen‘ erinnert , der `Lerchenlaut‘ am Ende der zweiten Strophe und auch das Motiv
der ‚Einsamkeit‘ zu Ende der vierten Strophe. Fragen wir danach, worin sich das
Gedicht Storms vom vorher behandelten Gedichts Goethes unterscheidet, so fällt uns
auf, daß das lyrische Ich bei Storm nicht Bestandteil des Geschehens in der Natur ist.
Jemand scheint die Szene von außen zu beschreiben, ohne an ihr beteiligt zu sein. Das
gibt dem Geschilderten einen Anschein von Objektivität und Authentizität – die
Landschaft wirkt wie gefilmt.
Dennoch ist dies keine Beschreibung der Realität, es ist die Erstellung einer eigenen
1983, S.350.
6
Realität, denn ‚‘Realität‘ gibt es nicht, sie ist immer das Ergebnis einer Konstruktion,
einer Perspektive.‘7
Das Gedicht lokalisiert in der ersten Strophe diese Landschaft präzise: Es handelt sich
um die Heide. Es ist ‚still‘ hier – und folglich harmonisch. Die ‚alten Gräbermale‘ (4)
deuten eine lange Verbindung von Natur und Kultur an. Die zweite Strophe fokussiert
den Blick, er geht vom Ganzen der Landschaft in ihre Ausschnitte: ‚Laufkäfer‘,
‘Bienen‘ und ‘Vögel‘ - ‘Gesträuch‘, ‘Zweig‘, ‘Kraut‘ (7/9/11). Die dritte Strophe lenkt
den Blick auf die Menschen in der Heide: ein einsames und halbverfallenes Haus, vor
dem ein Junge und ein Mann sitzen. Beide sind Subjekte je eines Satzes, der sie mit den
Bereichen Tier und Pflanzen verbindet: der Kätner schaut zufrieden nach den
‚Bienen‘(16), der Junge schnitzt Pfeifen aus ‚Kälberrohr‘(18)8 - der Behaglichkeit der
Natur in den ersten beiden Strophen entspricht in vollkommener Äquivalenz der
Gemütszustand der Menschen in ihr.
Die vierte Strophe geht durch die die Subjekte ‚Ein Schlag der Dorfuhr‘(20) und ‚Kein
Klang der aufgeregten Zeit‘ (23) von der räumlichen auf die zeitliche Perspektive über.
Doch die Dorfuhr ist ‚entfernt‘ (20) und ihre Glockenschläge, die das unnachgiebige
Voranschreiten der Zeit anzeigen, dringen kaum bis in diese Einsamkeit vor. Der letzte
Satz des Gedichtes - durch einen Gedankenstrich betont - sagt, daß kein Klang der
‚aufgeregten Zeit‘ in diese Einsamkeit vordrang. Die Zeitlichkeit ist aus der Heide verbannt. Auch das regelmäßige, mit keinem Bruch versehene Metrum unterstreicht dies:
Es gibt kein Voranschreiten der Zeit, sie kehrt vielmehr in gleichmäßigen Kreisen
immer wieder an den Ausgangspunkt zurück. Es handelt sich somit um die typische
‚Eliminierung von Zeit, die den größten Teil der Stormschen Lyrik kennzeichnet‘.9
Doch gerade indem Storm die ‚aufgeregte Zeit‘ zitiert, gibt er zu erkennen, daß es
außerhalb seines Realitätskonstruktes noch eine andere Welt gibt, die ihn beunruhigt,
die er also bewußt ausspart. Es handelt sich um die Welt der Eisenbahnen, der Großstädte und um die Welt der politischen Wirren. Und genau ihr setzt Storm unter Verwendung der Realien der Heidelandschaft eine Welt der Stille und Zufriedenheit
entgegen. Die Heide ist ihm Medium zur Erstellung einer Form, die gegen die ausgesparten Tendenzen protestiert. Daß dies tatsächlich intendiert ist, dies bezeugt ein
Wort des Dichters Storm über ein anderes seiner Gedichte, das Oktoberlied, dessen
Entstehung er folgendermaßen beschreibt: „Dem Sinn für die Natur, und zwar in natür-
7
G. Plumpe, a.a.O., S.107.
Eine Pflanze aus der Gruppe der Kerbelgewächse.
9
J. Fohrmann in Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhunder bis zur
Gegenwart, Bd. 6, hrsg. von Edward Mc Innes und Gerhard Plumpe, München 1996, S. 446.
8
7
lichster Opposition gegen die Politik ist auch das Oktoberlied entsprungen“.10
Natur als Opposition gegen die Politik, unterstützt durch Formen und Wortmaterial, das
der Tradition der Romantik entstammt. Storm verstand dies tatsächlich als Protest, doch
wenn man sich einmal vergegenwärtigt, welche Zeitereignisse sein Leben (1817 bis
1888) begleiteten, dann kommt das Ambivalente seiner Intention zu Tage. Als erstes
muß man wohl darauf hinweisen, daß Storms Gedicht 1847 entstanden ist, also ein Jahr
vor der deutschen Revolution. Zum zweiten läßt das friedliche Leben des Kätners und
seines Sohnes vergessen, daß es der Landbevölkerung Deutschlands gerade in diesen
Jahren keineswegs gut ging, im Gegenteil: „Auch nach 1818 blieb der Hunger zunächst
eine ganz gewöhnliche Erscheinung. Mit Schrecken dachte man in Preußen an das
Hungerjahr 1817 zurück, dem in den nächsten Jahrzehnten weitere folgten. Ganz
schlimm wurde es dann wieder 1846/47, da genügten einige Kartoffelmißernten. In
manchen Elendsgebieten, im Erzgebirge, in Oberschlesien bespielsweise, führte die Not
zu schierer Verwzeiflung, zu Hungerrevolution, Aufständen, wie dem der Weber“.11
All diese Dinge erwähnt Storm nicht, die Realität seines Gedichtes liegt ‚abseits‘ von
den unangenehmen Realitäten der Zeitgeschichte. Das Paradigma Natur, dem in der
romantischen Zeit im Kampf um die Autonomie der Literatur zu großen Teilen emanzipatorische Funktion zugekommen war, wird eindeutig als Medium der Weltflucht
funktionalisiert. Die Nutzung der alten wohlbekannten Formen der Romantik geben der
Intention Storms eine zusätzliche Absicherung durch die Tradition – aber auch dies ist
in letzter Konsequenz ja eine Flucht aus der Zeit.
Es geht hier nicht darum, den wahrscheinlich bedeutendsten Lyriker des Realismus zu
verunglimpfen, dem Thomas Mann bescheinigt, daß sich in seinen Gedichten ‚Perle an
Perle‘ reiht - es geht um die Funktion des Paradigmas Natur in diesem Gedicht und um
typische Tendenzen in der Zeit des Realismus.
Man kann Storms Gedicht zwar auch als einen Protest gegen die Ateleologisierung der
Natur durch die aufkommenden Naturwissenschaften werten, doch andererseits darf
man den Rückzug aus den politischen Widrigkeiten der Zeit und den damit einhergehenden Verzicht auf politische Ideale und den Verzicht auf politisches Handeln nicht
übersehen: ‚Nicht Hoffnung, sondern Beruhigung gilt als erstrebenswertes Ziel, und
zwar nicht nur in den politischen Verhältnissen nach 1848, sondern auch in weiten
Teilen der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts‘. 12 So kann man das Gedicht
Storms auch lesen, denn die Natur steht hier – wie in der Folgezeit leider sehr oft - für
einen Rückzug in die Innerlichkeit, kurzum: für den Gang ins ‚Abseits‘.
10
11
H. Vincon, `Theodor Storm in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck 1972, S. 42.
M. Salewski, `Deutschland, eine politische Geschichte` München 1993, Bd. 2, S. 37.
8
Semantische Verdrängung
Werner Bergengruen
Die Heile Welt
Wisse, wenn in Schmerzensstunden
Ewig eine strenge Güte
dir das Blut vom Herzen spritzt:
wirket unverbrüchlich fort.
Niemand kann die Welt verwunden,
Ewig wechselt Frucht und Blüte
nur die Schale wird geritzt.
Vogelzug nach Süd und Nord
Tief im innersten der Ringe
Felsen wachsen, Ströme gleiten,
ruht ihr Kern getrost und heil.
und der Tau fällt unverletzt.
Und mit jedem Schöpfungsdinge
Und dir ist von Ewigkeiten
hast du immer an ihr teil.
Rast und Wanderbahn gesetzt
Neue Wolken glühn im Fernen,
neue Gipfel stehn gehäuft,
Bis von nie erblickten Sternen
dir die süße Labung träuft.
(zitiert nach Conrady, S. 801)
Werner Bergengruen, ein beliebter Lyriker und Erzähler der Nachkriegszeit,
veröffentlichte 1950 sein Gedicht mit dem Titel ‚Heile Welt‘.
Fünf Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges mit all seinen Greueln und dem
Massenmord an Millionen von Menschen in Konzentrationslagern empfand Bergengruen keine Gewissensbisse, ein Gedicht zu veröffentlichen, in dem sich Blut, das
‚spritzt‘ (2) auf eine Wunde reimt, die ritzt (4).
Ist schon die Verwendung solcher Reime geschmacklos, so kommt noch hinzu, daß
Bergengruen seine Flucht aus der Gegenwart mit Hilfe der uns hinlänglich bekannten
romantischen Elemente betreibt: vierhebige Jamben mit abwechselnd weiblichem und
männlichem Versausgang, über Kreuz gereimt – die Volksliedstrophe.
12
P. Pütz, `Theorie des Realismus Bd. IV`, Fernstudienbrief der Fernuniversität Hagen, 1983, S. 20.
9
Zwei Weltkriege, das faschistische Regime in Deutschland, die Ermordung von Millionen von Menschen, all dies hat für Bergengruen keine Folgen, es gibt immer noch ‚Die
heile Welt‘ - und die liegt in der Natur! Hier herrschen noch unverändert die alten
Gesetze: ‚Ewig wechselt Frucht und Blüte‘ (11). Der Kreislauf der Natur ist gleich
geblieben, und der Mensch ist in ihn eingebunden. Der Dichter empfindet das als Trost
in schweren Zeiten, als eine ‚süße Labung‘ (20). Das Gedicht ist in vieler Hinsicht
schlecht: In formalästhetischer Hinsicht ist es absolut epigonal, und in seiner moralischen Intention so fragwürdig, daß man es eigentlich gar nicht zitieren sollte, wenn es
nicht ein typisches Beispiel für ein Naturgedicht nach dem Kriege wäre.
Kein Wort davon, daß sich seit Ende des zweiten Weltkrieges auf den Tannenwald
zwangsläufig die Konnotation Buchenwald einstellt, und dies ist der Name eines
Konzentrationslagers bei Weimar. Eine perfekte semantische Verdrängung. Doch sollten,
- so sah es Adorno - nach Auschwitz Gedichte in Deutschland für immer unmöglich
geworden sein?
Speziell für Naturgedichte schien dieser Satz zu gelten, denn Brecht hatte schon in
seinem Gedicht ‚An die Nachgeborenen‘ aus dem Jahre 1939 gemahnt: ‚Was sind das
für Zeiten, wo/ ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/Weil es ein Schweigen
über so viele Untaten einschließt‘.
Und genau dieses Verschweigen war signifikant für viele Naturgedichte der fünfziger
Jahre: Etliche Lyriker traten die Flucht in den scheinbar unveränderten Naturraum mit
seinen ewig waltenden Gesetzen an. Es gab zwar auch andere Stimmen (Huchel, Eich,
Bachmann etc.), doch es ist signifikant, daß ein Dichter wie Johannes Bobrowski, der
viele gute Naturgedichte geschrieben hat, sich `dagegen gewehrt [hat], als Naturlyriker
eingeordnet zu werden`.13
Er vermißte in der von ihm sogenannten ‚Dorfteichlyrik‘ vor allem die Verbindung mit
dem Geschichtlichen. Ich möchte das Gedicht von Bergengruen keiner weiteren Untersuchung unterziehen, sondern ihm als interpretierende Antwort mit Bedacht ein (Natur-)
Gedicht von Brecht aus den ‚Buckower Elegien‘ zur Seite stellen:
In der Frühe
Sind die Tannen kupfern
So sah ich sie
Vor einem halben Jahrhundert
Vor zwei Weltkriegen
St. Reichert, `Das verschneite Wort – Untersuchungen zur Lyrik Johannes Bobrowskis`, Bonn 1989,
S.187. Vergl. zum gleichen Thema auch die vorwiegend negative Bewertung der Naturlyrik der fünziger
13
10
Mit jungen Augen.
Für Bergengruen schien sich dagegen gar nichts verändert zu haben, er sah die Welt
noch immer mit dem Auge der Romantik.
Neue Naturgedichte
Aus den bisherigen Erörterungen müßte deutlich geworden sein, warum es kein
unverfängliches Unterfangen mehr ist, heutzutage in Deutschland ein Naturgedicht zu
schreiben. Doch seit ca. Anfang der siebziger Jahre wird immer deutlicher, daß sich
etwas grundlegend geändert hat im Verhältnis von Mensch und Natur, denn erstmals in
der Menschheitsgeschichte wäre es rein theoretisch möglich, daß der Mensch die Natur
in ihrer Gesamtheit zerstört – das hatte es bisher noch nie gegeben, auch wenn die
Kehrseite der Medaille wohl ist, daß durch eine fortschreitende Zerstörung der Natur
sich der Mensch der eigenen Lebensgrundlagen beraubt. Die Natur wird damit in
unserer Zeit zum Politikum.
Die neue Situation verlangt angemessene literarische Bewältigung, doch wie kann dies
in Deutschland aussehen, da Naturlyrik oft unter dem belastenden Verdacht der
Innerlichkeit, des Traditionalismus und der unpolitischen Weltflucht steht?
Natürlich gab und gibt es genug Versuche, der neuen Situation angemessene Gedichte
zu schreiben, ‘seit rund 1960 als nostalgisches Produkt des neuen Umweltschutzbewußtseins‘.14 Über die Qualität vieler moderner Naturgedichte darf man sicher geteilter Meinung sein, doch vor allem macht dieses Zitat aus dem weitverbreiteten Literaturlexikon von Gero von Wilpert eins noch einmal deutlich: Wer Naturgedichte schreibt,
der wird von literarischen Öffentlichkeit mit Recht höchst kritisch unter die Lupe
genommen.
Daß es dennoch auch heute noch möglich ist, gute Naturgedichte zu schreiben, dafür
scheinen mir die folgenden Gedichte von Erich Fried und Rainer Kunze Beispiele zu
sein:
Erich Fried
Neue Naturdichtung
Er weiß daß es eintönig wäre
Jahre von H. Korte, ‘Geschichte der deutschen Lyrik seit 1945‘, Stuttgart 1989, S. 17-44.
14
Vergl. hierzu den Artikel ‚Naturlyrik‘ in Wilperts Lexikon in der 7. Auflage von 1989.
11
nur immer Gedichte zu machen
über die Widersprüche dieser Gesellschaft
und daß er lieber über die Tannen am Morgen
5 schreiben sollte
Daher fällt ihm bald ein Gedicht ein
über den nötigen Themenwechsel und über
seinen Vorsatz
von den Tannen am Morgen zu schreiben
10 Aber sogar wenn er wirklich früh genug aufsteht
und sich hinausfahren läßt zu den Tannen am Morgen
fällt ihm dann etwas ein zu ihrem Anblick und Duft?
Oder ertappt er sich auf der Fahrt bei dem Einfall:
wenn wir hinauskommen
15 sind sie vielleicht schon gefällt
und liegen astlos auf dem zerklüfteten Sandgrund
zwischen Sägemehl und Spänen und abgefallenen Nadeln
weil irgendein Spekulant den Boden gekauft hat
Das wäre zwar traurig
20 doch der Harzgeruch wäre dann stärker
und das Morgenlicht auf den gelben gesägten Stümpfen
wäre dann heller weil keine Baumkrone mehr
der Sonne im Weg stünde. Das
wäre ein neuer Eindruck
25 selbsterlebt und sicher mehr als genug
für ein Gedicht
das diese Gesellschaft anklagt
(zitiert nach Conrady, S.955)
‚Neue Naturdichtung‘, so nennt Erich Fried sein im Jahr 1972 entstandenes Gedicht.
Die Wahl des Titels macht bereits klar, daß sich Fried der Probleme der alten
Naturdichtung sehr bewußt war. Sein Gedicht befaßt sich in den ersten Zeilen jedoch
gar nicht mit der Natur, sondern reflektiert die Möglichkeiten gesellschaftspolitischer
Gedichte. In den frühen siebziger Jahren setzte in Deutschland nach der Studentenrevolution von 1968 langsam eine gewisse Politikmüdigkeit ein. Es wäre ‚ein-
12
tönig‘ noch ein weiteres gesellschaftskritisches Gedicht zu schreiben - es gab ja schon
so viele davon. Die erste Zeile signalisiert, daß wir kein romantisches Naturgedicht vor
uns haben, sondern eins, das die Möglichkeiten der Poesie erkunden will. Es handelt
sich also um ein poetologisches Gedicht ganz im Sinne des 116. Athenäums Fragments
von Friedrich Schlegel.15 Ob dies von Fried bewußt so intendiert war, oder nicht, das
spielt meines Erachtens keine Rolle; durchaus möglich ist es aber, da Fried sich auch im
weiteren romantischer Elemente bedient.
Der folgende Vorsatz‚lieber ein Gedicht über die ‚Tannen am Morgen‘ zu schreiben, ist
eine Remiszens an das oben zitiert Gedicht von Bert Brecht16, das besagt, daß man die
Tannen nicht mehr so sehen kann, wie man sie früher gesehen hat. Schon bei der
Untersuchung von Goethes Gedicht ‚Auf dem See‘ hatten wir erkannt, daß der direkte
Zugang zur Natur verwehrt wird, je mehr man über sie nachdenkt und sie somit zu
seinem Objekt macht. In Frieds Gedicht Gedicht ist dieser Zugang dadurch verwehrt,
daß sich mehr Gedanken an die Tradition der deutschen Lyrik einstellen als über die
Natur. Scheinbar resigniert beschließt das ‚lyrische ER‘ (schon das ist ein Zeichen der
Distanz), nun ein Gedicht über den ‚nötigen Themenwechsel‘ statt über die Natur selbst
zu schreiben.
Die zweite Strophe führt den Dichter endlich in die Natur, doch im Gegensatz zu den
Romantikern, die sich die Natur erwandert haben, läßt er sich mit dem Auto dorthin
fahren – die Zeiten haben sich halt geändert, und was früher mühevoll zu Fuß gemacht
werden mußte, das läßt sich heute dank moderner Technik schnell, mühelos und ohne
Blasen an den Füßen erreichen. Selbst in solch ironischen Durchbrechungen schlägt die
Tradition gnadenlos auf den Dichter ein, denn die Ironie ist, wie das Motiv des
Wanderns auch, ein genuin romantisches Mittel.
Ob dieser Lage scheint die Möglichkeit, heute ein Naturgedicht zu schreiben, noch
hoffnungsloser. Das Ich ertappt sich bei dem Gedanken, daß ihm nichts mehr einfallen
könnte zu den Tannen und ‚ihrem Anblick und Duft‘ (12). Jeder spontane Zugang
scheint durch die geballte Tradition der deutschen Naturlyrik verbaut, alles scheint von
Goethe bis Brecht schon gesagt, gedacht und geschrieben worden zu sein.
Etwas Neues gibt es jedoch, die zerstörte Natur. Fried beschreibt sie in der zweiten
Hälfte der zweiten Strophe. Die Vernichtung der Natur ermöglicht ihm einen neuen
‚Eindruck‘(24), ‘der Harzgeruch wäre dann stärker‘(20) und das Morgenlicht ‚helDie romantische Poesie ‚will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und
Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen‘. Zitiert nach ‚Die deutsche Literarur – Ein Abriß in Text
und Darstellung‘ , hrsg. von H.J. Schmidt, Bd. 8, S. 23. Frieds Gedicht ist im Sinne Schlegels ein
kritisches Prosa-Naturgedicht.
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W. Große, Interpretation von Erich Fried, `Neue Naturdichtung` in `Deutsche Gegenwartslyrik`, hrsg.
von P. Bekes, Stuttgart 1982, S. 87 ff.
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ler‘(22). Das ist schon nicht mehr ironisch, sondern sarkastisch: Mit dem neuen
Eindruck geht folgerichtig ein neuer Ton einher.
Und an diesem neuen Eindruck setzt Fried den produktiven Hebel an, indem er sagt,
daß er ‚mehr als genug‘ sei, ‚für ein Gedicht/das diese Gesellschaft anklagt‘(26/27). Es
ist dem Dichter unmöglich geworden, ein Naturgedicht zu schreiben, der direkte
Zugang zur Natur ist unmöglich geworden - der Weg zu den Bäumen ist durch einen
Wald von Büchern verstellt. Erst die totale Zerstörung der Natur eröffnet paradoxerweise neue Wege zum Naturgedicht, denn die Tatsache, daß die Umwelt zerstört
wird, macht es heutzutage notwendig, ein engagiertes und gesellschaftkritisches Gedicht
in Form einer ‚Neue(n) Naturdichtung‘ zu schreiben. Indem sich Fried dieser Aufgabe
in Form des romantischen Reflexionsgedichtes stellt, ist ihm genau das gelungen. Er hat
sich der Tradition der deutschen Naturlyrik gestellt und etwas Neues mit den Elementen
des Alten geschaffen: Ein Naturgedicht in der Tradition der Romantik, ein Gedicht im
Sinne Schlegels (weil Fried die Gattungen miteinander vermischt) und einen engagierten Text in der Tradition Brechts. Der Gehalt des Gedichtes geht damit weit über das
Niveau vieler kitschiger Ökogedichte hinaus, auch wenn man ihm anmerkt, daß es im
Zeitalter des Postismus entstanden ist.
Rainer Kunze
Sensible Wege
Sensibel
ist die erde über den quellen: kein Baum darf
gefällt, keine Wurzel
gerodet werden
Die quellen könnten
versiegen
Wie viele bäume werden
gefällt, wie viele wurzeln
gerodet
in uns
(zitiert nach Conrady, S. 1061)
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Auf den ersten Blick scheint dies ein recht einfaches Gedicht zu sein, aber der erste
Schein trügt gründlich. Der Text besteht aus vier Strophen (eigentlich Abschnitten) , von
denen die ersten beiden, einer rein syntagmatischen Lektüre zufolge, einen Vorgang in
der Natur beschreiben: Die Bäume dürfen nicht gefällt werden, weil sonst die Quellen
versiegen könnten. Die beiden folgenden Strophen sind dem Menschen gewidmet. Sie
beklagen, daß viele Bäume ‚in uns‘ gefällt werden. Kunze scheint nach dieser ersten
Lektüre den Tod der Natur - auf eine bis hierhin aber noch ungeklärte Weise - mit dem
Schicksal des Menschen in Verbindung zu setzen.
Eine Antwort auf die genaueren Zusammenhänge ergibt bereits die Untersuchung der
Überschrift. Sie besteht aus dem Adjektiv ‚sensibel‘ und dem Substantiv ‚Wege‘. Die
Verschränkung der beiden Worte ist ungewöhnlich, denn das Adjektiv sensibel entstammt einem anderen semantischen Bereich als das Substantiv Wege. Das Adjektiv
stammt aus dem semantischen Feld, das die inneren Werte des Menschen beschreibt:
Ein ‚sensibler‘ Mensch ist ein feinfühliger Mensch. Das Substantiv Wege bezieht sich
dagegen auf einen nichtmenschlichen, äußeren und sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand in der Realität, der normalerweise keine Gefühle haben kann.
Außen und Innen, Menschlisches und Nichtmenschlisches sind also in der Überschrift
zu einer Einheit verbunden, und so ist es im ganzen Gedicht. Die ersten beiden Strophen
stehen nicht in einem Kontrast zu den beiden letzten, der die Verhältnisse in der Natur
mit den Befindlichkeiten des Menschen vergleicht. Es wäre ein Fehler, das Gedicht
lediglich als Syntagma, als Nacheinander seiner Teile zu lesen. Ein bekannter Satz
Roman Jakobsons besagt, daß die poetische Rede die paradigmatische Achse auf die
syntagmatische projeziert: Das Gedicht ist auch parallel strukturiert, alle Teile sind
paradigmatisch aufeinander bezogen, und grundsätzlich alle Elemente stehen miteinander in Verbindung. Lesen wir das Gedicht daher noch einmal - und zwar diesmal
über kreuz - die erste und die dritte Strophe und die zweite und die vierte Strophe
parallel, so ergibt sich folgende Lesart: Kein Baum darf gefällt werden (1.Strophe), aber
viele Bäume werden gefällt (3.Strophe). Und nun die 2. und die 4. Strophe zusammen:
‚Die Quellen könnten versiegen‘ –‚in uns‘. Der Tod des vermeintlich Äußeren wäre
somit untrennbar mit dem Versiegen der Quellen in uns v e r s c h r ä n k t. Die zweite
Strophe, die nach der ersten syntagmatischen Lektüre einen Vorgang in der äußeren
Natur beschrieb, bezieht sich jetzt auf das Innere des Menschen (und zugleich auf den
Vorgang in der Natur).
Noch einmal unterstrichen wird die Bedeutung dieses Vorgangs dadurch, daß die Zeilen
‚die quellen könnten versiegen‘ die Mittelachse des Gedichtes bilden. Und innerhalb
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dieser Mittelachse wiederum steht das Wort ‚quellen‘ genau in der Mitte. Die Quellen
bilden somit sowohl den Mittelpunkt des Gedichtes, als auch den Kreuzpunkt zwischen
der Natur und dem Menschen: Wenn die Bäume gefällt werden, so versiegen die
Quellen in der Natur und gleichzeitig die Quellen in uns.
Natur und Mensch stehen nicht in lockerer Assoziation. Sie stehen auch nicht nur
nebeneinander, sondern sie sind in einem unlösbaren Wechselverhältnis miteinander
verbunden. Die Natur ist damit ihrer scheinbaren Objekthaftigkeit enthoben, sie ist
gleichrangiges Subjekt, und man mag sich wohl zurecht an Goethe erinnert fühlen. Nun
könnte man einwenden, daß dies eine weltfremde Wiederherstellung der Naturphilosophie der Goethezeit sei, doch große Teile der heutigen Naturwissenschaften sieht
die Natur im Gegensatz zur klassischen Naturwissenschaft keineswegs mehr als Objekt
an, der Natur wird hier wieder ein - wenn auch von der Metaphysik der Goethezeit
befreiter - Subjektcharakter zugesprochen.17
Doch zurück zu dem Gedicht von Rainer Kunze, es fehlt nämlich noch eine letzte
entscheidende Konnotation zum Wort Quelle. Schon seit der Antike gilt die Quelle
(‚Castalischer Quell‘) als Ursprung der Dichtung. Von hier läßt sich eine Linie ziehen
über Goethe (z.B. ‚Wandrers Sturmlied‘) bis hin zu dem Gedicht von Rainer Kunze, das
wir nun im Ganzen zu überblicken vermögen. Wenn wir die Natur zerstören, das
scheinbar Äußere also, zerstören wir nicht ein Objekt, sondern zugleich einen Teil
unseres eigenen Inneren – und nehmen damit der Dichtung den Boden.
Es mag, wie Gero von Wilpert meint, tatsächlich ein großer Teil der heutigen
Naturgedichte ‚sentimentale Ökolyrik‘ sein, über deren Qualität man triftig streiten
kann. Doch Rainer Kunze hält diesem Vorwurf ein unwiderlegbares Argument entgegen
– ohne die Natur gäbe es keine Gedichte mehr! Und deshalb ist es auch heute noch
notwendig, Gedichte über die Natur zu schreiben, man sollte nur ‚Sensible Wege‘ dafür
finden.
Vergl. hierzu die Artikel ‚Natur‘ und ‚Naturphilosophie‘ in den Lexika ‚Historisches Wörterbuch der
Philosophie‘, hrsg. von J. Ritter und K. Gründer und ‚Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie,
hrsg. von J. Mittelstraß, sowie die einschlägigen Schriften des Kreises um F. v. Weizsäcker, z.B. ‚Die
Geschichte der Natur‘, 1954 und ‚Die Einheit der Natur‘, 1971.
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