1 Expressionistische Lyrik als Paradigma der Moderne 1.1 ,Modernisierung' und Moderne Mag man die deutsche Moderne mit dem Expressionismus oder mit dem Naturalismus (Emrich) beginnen lassen - wesentlich ist. daß sie Verarbeitung einer neuen technisch-industriellen, von wissenschaftlichen Entwicklungen abhängigen Hochzivilisation ist, die sich in Deutschland seit der Reichsgründung 1871 ausbreitet. Moderne ist ein direkt auf historische Veränderungen reflektierender literatur- und kunstgeschichtlicher Prozeß, der sich. mit vielen immanenten Brüchen, Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen, auf eine Vorgeschichte stützt, die in die Romantik zurückreicht, außerdeutsche Einflüsse (Poe. Whitman. die französischen Symbolisten) umfasst und bis in die heutige Diskussion über Post-Moderne oder ,Moderne -ein unvollendetes Projekt' (Habermas) reicht. 1. Moderne als literaturgeschichtlicher und ästhetischer Begriff ist ohne den ,globalen, weithistorischen Transformationsprozess' den man gemeinhin Modernisierung nennt', nicht denkbar. Der Übergang von einer Agrarzu einer industriellen Massengesellschaft hat vielerlei Begleiterscheinungen und Folgen: Verstädterung, eine bisher nicht bekannte tendenzielle wirtschaftliche Sekurität, gleichzeitig eine unübersehbare Verelendung unterer Schichten, Bevölkerungsexplosion, Alphabetisierung. soziale Mobilisierung, die ,,mit der Verkehrsrevolution, der Kommunikationsrevolution und der Ausbreitung von Bildung" eng verknüpft ist. die Entwicklung also zu einer pluralistischen Massengesellschaft. natur-wissenschaftliche, technische Spezialisierung u. a. m. Die wissenschaftlichen Forschungen vermitteln neue Realitätsperspektiven und verändern so die Auffassung von dem, was als wirklich zu gelten hat: Relativitätstheorie, Atomphysik, Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie, die Entwicklung der Technik, der Photographie etc. relativieren die Erfahrungswirklichkeit zur perspektivegebundenen Oberflächenerscheinung, ,,ließen Wirklichkeit immer stärker als eine gesellschaftlich und historisch bedingte Größe erscheinen. Als Resultat bestimmter kognitiver Prozesse, wie dies bereits Nietzsche mit seinem Erkenntnisperspektivismus vorgedeutet hatte. Die skizzierte Entwicklung zeitigt zudem einen ,Strukturwandel der Öffentlichkeit'. der das literarische Leben einbezieht (Kommerzialisierung des Buch- und Pressewesens): Gegen die Diffamierung alles ideologisch nicht Angepassten, der politisch herrschenden Meinung Widerstreitenden entsteht ein gesellschaftlicher Zwang zu autonomen kulturellen Gegenöffentlichkeiten. Namentlich Künstler erfahren in dieser modernen Welt eine qualitativ neue Abhängigkeit, die als Entfremdung und Verdinglichung genügend beschrieben ist: die ,,Abhängigkeit von einer ,zweiten Natur', Produkt der Rationalität und der Maschine". Die ,zweite Natur', künstlich, technisch, vergegenständlicht. ist nicht mehr wie die erste überschaubar und sinnstiftend; vielmehr zerfällt sie der Wahrnehmung in isolierte, in ihrer Totalität nicht mehr verfügbare Elemente. In Literatur und Kunst wird die ,Partialität' der Wirklichkeitserfassung als zentrale Erfahrung der modernen Welt ausgedrückt. 2. Die Wirklichkeitsveränderungen greifen radikal in die Selbsteinschätzung der Subjektivität ein: Sinnverlust, ,transzendentale Obdachlosigkeit' (Lukäcs), Nietzsches Nihilismus charakterisieren die Situation des Ich. Angesichts einer fragmentarischen Wirklichkeitserfassung wird das Ich auf sich zurückgeworfen, es wird literarisch mehr denn je zum Thema. Die Selbstreflexion registriert Selbstentfremdung: ,,Je est un autre' (Rimbaud>. Sie verweist den Schriftsteller folgerichtig auf Vorgang und Medium des Schreibens selbst hier liegt wohl der Grund für die intensive und extensive Poethologische Reflexion der Moderne. In der Selbstisolierung und Selbstreflexion der Kunst wird ihr Verhältnis zum Leben, zur Wirklichkeit virulent. Je autonomer sich das Kunstwerk konstituiert. desto problematischer wird seine Vermittlung zur Realität. Der Ästhetizist Hofmannsthal etwa zieht den immer wieder zur Diskussion stehenden - Schluss: ,,Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie.“ 3. In der Konsequenz der Selbstreflexion liegt auch - und dies gilt gemeinhin als das zentrale Moment der Moderne - die Problematisierung der Kunstmittel', in der Literatur des poetischen Mediums, der Sprache: ,,Fast alle Autoren sind abhängig von der tiefgreifenden Störung, welche in dem Verhältnis von Wort und Wirklichkeit stattgefunden hat. ~ Das prägnanteste literarische Exempel dieser seit der Romantik und Heine sich abzeichnenden Sprachskepsis' die unser Jahrhundert bis zu Celan und Heißenbüttel bestimmt, ist Hofmannsthals Chandos-Brief (1902). Die Ausbildung autonomer Sprachwelten. in denen die problematische Wort-Ding-Relation aufgelöst ist in einen eigengesetzlichen, von der Erfahrungsrealität abgelösten Gedichtinnenraum aus Metaphern und Chiffren - oder die ,,Verwendung der umgangssprachlichen und direkten Aussageform" t3. die sich nicht gegen die Realität abschottet, sondern in diese eingreift, appellativ, direkt, pathetisch oder mit sprachlicher Lakonie - das sind die beiden Lösungs-Strategien' der Sprach-Skepsis und zugleich die zwei Grundlinien der lyrischen Moderne. 4. Einige Folgerungen aus der Realitätsproblematik. der Frage nach dem Ich und der Thematisierung von Sprache, sind. sehr abgekürzt, anzufügen: In der Tendenz zu Sprachautonomie und -experiment steckt auch eine Tendenz zur Abstraktion; die künstlerische Selbstausgrenzung von einer entfremdeten ideologischen' Gesellschaft erfolgt als ,,subkulturelle Gegenöffentlichkeit.', in Zirkeln (Boheme mit eigenen Publikationsorganen; die künstlerische Selbstreflexion führt häufig zum neuen Dichtertypus des poeta doctus, des dichtenden Intellektuellen' enger denn je rückt - begünstigt durch neue Verkehrs- und Kommunikationsformen, einen erweiterten Buchmarkt etc. - die Moderne zu einer europäischen Bewegung zusammen. Diese Internationalität bedeutet bereits für sich genommen eine Provokation des streng nationalistischer Ideologie verhafteten wilhelminischen Staates, der den politischen Rahmen der ersten deutschen Moderne darstellt; im Bewusstsein einer generellen Krise rücken die Kunstgattungen durch vergleichbare Problemstellungen und Themen zusammen (Thematisierung der Kunstmittel'5' Perspektivik u. a.). Dabei übernehmen die visuellen Künste, vielleicht auch durch ihre anschaulichere Situierung im öffentlichen Leben (Ausstellungen, Architektur, Kunstgewerbe etwa des Jugendstils), eine Vorreiter-Rolle: ,,In der Tat ist der Durchbruch der ästhetischen Moderne für einen überwiegenden Teil der Öffentlichkeit [...j als eine Veränderung vor allem im Bereich von Malerei, Architektur, Ausstattung und Design"~ 6 erfahren worden; gerade im Expressionismus erhielt die Literatur entscheidende Impulse von der Malerei. 1.2 Expressionistische Lyrik: Thesen zu ihrer ,Modernität' In diesem Rahmen ist nun die expressionistische Lyrik zu bestimmen. Dass sie als Paradigma dieser Moderne gelten kann, sollen gerafft die folgenden Thesen belegen, die anschließend mit Textbeispielen entfaltet werden. 1. Die moderne Realität wird in der expressionistischen Lyrik in einer ambivalenten Haltung von Negation und rauschhafter Faszination gesehen~ Die neuen Wirklichkeiten' werden thematisch vor allem im Bereich Großstadt festgemacht - ein Reflex auf den ungeheuren Urbanisierungsprozess, der spezifisch moderne Darstellungsinhalte zur Verfügung stellt, neue Darstellungsformen erzwingt und die traditionellen Darstellungsmöglichkeiten von Natur in Zweifel zieht. 2. Die Wahrnehmung der entfremdeten Großstadtwirklichkeit dissoziiert das Subjekt; der frühexpressionistische Reihungsstil bildet dabei die ,,literarische Mimesis einer neuen kollektiven Wahrnehmungs- und Bewusstseinsnorm. In der Lyrik zeigt sich der Zusammenhang zwischen IchDissoziation und Realitätszerfall' in einer dialektischen Verkehrung als Verdinglichung des Subjekts und Personifikation des Objekts. 3. In der literarischen Thematisierung von Untergang, Verfall, Weltende wird die (Selbst-) Bewusstseinskrise der Moderne radikalisiert. Realitäts- und Ich-Zerfall summieren sich zu einer kosmologischen Krise', die realgeschichtlich durch die Erwartung und das Geschehen des Ersten Weltkriegs ihren Wahrheitsgehalt bekommt. 4. Das positive Pendant zur radikalen Kritik und Darstellung der verdinglichten Subjektivität besteht in der Proklamation eines neuen, geistigen Menschen, eines Gegentyps zum wilhelminischen Spießer. 5. Die Proklamation des Geistigen in der Kunst bewirkt, als bewusste Opposition gegen den Naturalismus, eine a-mimetische Kunst-Konzeption, in der die Kunstmittel, in der Literatur die Sprache, zu neuen Ausdrucksformen drängen. Von den kühnen Kombinationen dissoziierter Wahrnehmungsfragmente über nicht minder kühne Metaphorik und Chiffrierung bis zur Zertrümmerung der Syntax und zu den Lautexperimenten der Dadaisten wird ein neuer Ausdruck des Geistigen erprobt, ohne dass damit ein einheitlicher Epochenstil festlegbar wäre: Gerade sein Fehlen gehört zum Befund der Moderne. 6. So wichtig die Innovationen des poetischen Ausdrucks und der Poetik sind, so konstitutiv ist für den Expressionismus doch auch seine literarische Tradition, die er fortführt und gegen die er sich abgrenzt. Mit dem Naturalismus thematisiert er die Großstadt; gegen ihn werden dessen Wissenschaftsgläubigkeit und Positivismus aufgekündigt. Gegen den Ästhetizismus, aber auch wiederum formale und inhaltliche Impulse aufnehmend, wird der Schock des Hässlichen gesetzt. Die dissoziierten Wahrnehmungen der Großstadt erscheinen in der Lyrik mit einem Personal' (Zuhälter, Dirnen, Irre, Bettler, Leichen), das eine in Deutschland neue Ästhetik des Hässlichen, gelegentlich mit einer Tendenz zur Groteske, zum Ausdruck bringt. In dieser Ästhetik des Hässlichen werden deutlich Impulse Rimbauds und der französischen Symbolisten erkennbar; sehr wesentlich und nachweisbar wurde deren Einfluss etwa durch die berühmte Rimbaud-Ubersetzung K. L. Ammers gefördert. Der hymnische Ton des messianischen Expressionismus greift u. a. auf Walt Whitmans Lyrik zurück. Marinettis Futurismus zeigt Impulse, die für die synchrone Internationalität von Bedeutung sind. 7. Die visuellen Künste prägen den Expressionismus auf entscheidende Weise, schon dadurch, dass sie dem literarischen Frühexpressionismus zeitlich vorausgehen. Der Terminus ,Expressionismus' wird überhaupt zunächst für die Malerei verwendet. Künstlerische Verfahren und Inhalte sind in expressionistischer Malerei und Lyrik in vieler Hinsicht identisch - man spricht von ,,Konvergenz der Künste". Voraussetzungen dafür sind: die zahlreichen Doppelbegabungen (Kokoschka, Barlach u. a.); die Zirkel und Publikationsorgane verstanden sich als Treffpunkte aller Künste - der ,Sturm' etwa strebte eine Symbiose von Kunst, Dichtung und Musik programmatisch an; die ästhetischen Reflexionen der bildenden Künstler lieferten programmatische Kategorien für die neue Literatur, überhaupt ist die Konvergenz der Künste auch in der Flut theoretischer Publizistik zu sehen. Pfempfert sprach ironisch von .,Manifestantismus"~ Von dem Expressionismus zu sprechen, täuscht immer wieder allzu leicht über die Heterogenität und immanente Widersprüchlichkeit des unter einem einheitlichen Epochennamen Begriffenen hinweg. Den Durchbruch der Moderne im Expressionismus begreifen. impliziert. sich deren widerstrebende Momente zu vergegenwärtigen und darüber hinaus in den Blick zu bekommen, dass der Zeitraum 1910-1920 literarisch weit mehr umfasst als die Lyrik der ,Menschheitsdämmerung': ,,Der literarische ,Haushalt' zwischen 1910 und 1920 war durch vieles andere stärker geprägt als durch den ,Expressionismus'. Seine Zeit war auch noch die eines keineswegs abgeschlossenen Naturalismus. eines weiter wirksamen Ästhetizismus, eines epigonalen Klassizismus oder auch einer antimodernen Heimatkunst. 2 Themen und Tendenzen expressionistischer Gedichte 2.1 ,,Aufbruch der Jugend": Die Generation der expressionistischen Lyriker Bereits der Titel des 1916 von Ernst Wilhelm Lotz geschriebenen Gedichts signalisiert zwei wesentliche Momente der lyrischen Epoche: ,Aufbruch der Jugend'. Formuliert wird das Selbstverständnis einer Sturm-und-DrangBewegung der intellektuellen Jugend. die sich als radikale antibürgerliche Kritik- und Aufbruchs-Phalanx gibt. Diese Aufbruchsstimmung findet ihre Bilder in Lotz' Gedicht zunächst in der Natur; symbolhaft wird mit ihnen bereits auf das Ende des Alten und den Beginn eines Neuen verwiesen (Gärten des Sommers, Müdigkeiten' gebrochene Blumen). Dieser Bildbereich wird ab der zweiten Strophe verdrängt durch eine durchgängige Verwendung militärischer Begriffe (Truppenkolonnen, Alarm, Fahnen, Waffen), erweitert um revolutionäres Arsenal (Barrikaden usw.). Die letzte Strophe verkündet sieghaft den Glanz und die Helligkeit der neuen Welt - Musterbeispiel des Messianischen im Expressionismus. Das ,handelnde' Subjekt dieses hymnischen Gedichtes ist konsequenterweise ein kollektives ,Wir', das sich selbst durch unbändige Kraft, Entschlossenheit, Unaufhaltsamkeit, durch seinen Willen definiert. Protest und Prophetie prägen diese Jugend: Gegen die Alten (Generationenkonflikt) und das Alte (Macht, Gesellschaft, Bürgerlichkeit), gegen alles Niorsche, Kraftlose, Müde geht ein Kampf, der durchaus die Faszination von Krieg und Waffengeklirr einschließt. Überschaut man die Reihe der expressionistischen Lyriker, so fällt tatsächlich jenes programmatisch in diesem Gedicht ausgewertete Moment auf: dass es junge Leute waren, Schüler, Studenten, fast alle um 1890 geboren, die diesen Sturm gegen das philiströse, im Sekuritässtreben erstickende wilhelminische Establishment unternahmen. Zu Beginn des expressionistischen Jahrzehnts sind die meisten der Autoren zwanzigjährig. Die entscheidende biographische und historische Zäsur ist der Erste Weltkrieg: Viele von ihnen fallen an den Fronten des Stellungskrieges, in den Materinalschlachten zwischen 1914 und 1915. Die Zeitskizze macht auch die oben erwähnte Gleichzeitigkeit nicht-expressionistischer Literatur sichtbar. Will man soziologisch einordnen, so genügt ein Blick auf die Berufe der Autoren: ,,Nahezu ausnahmslos entstammten die jungen Gewitterkundler des literarischen Expressionismus jenem vergleichsweise proper situierten Mittelstand. für den Entfremdung eigentlich gar kein Thema war und der die wieder und wieder angezeigte Depersonalisation noch nicht einmal vom Hörensagen her hätte kennen dürfen.' Bürgerliche Intellektuelle also, die teilweise ihr Studium noch nicht abgeschlossen haben, deren vorgezeichneter Berufsweg in eben jene gesellschaftliche Sphäre führt, gegen die sie aufbegehren. Die außerdeutsche erste Moderne. so zeigt schließlich die Skizze, liegt zeitlich so weit zurück, dass gegen sie nicht als die Generation der Väter rebelliert zu werden braucht. Einfluss konnte die Moderne, sofern sie den Autoren nicht im Original zugänglich war, vor allem durch Übersetzungen gewinnen: So werden Baudelaires ,Fleurs du mal' von George kongenial ins Deutsche übertragen, Rimbaud 1905 durch Ammer, Whitman wurde mehrfach übersetzt wirkungsvoll für die Expressionisten war die Übertragung Johannes Schlafs. Die 1913 gegründete Zeitschrift ,Das Neue Pathos' berief sich übrigens ausdrücklich auf Whitman. Die lokale Zuordnung endlich, die die Skizze zeigt, verweist auf einige Zentren der expressionistischen Bewegung. Zentren bedeuten hier mehr als Wohnort: vielmehr das literarische Leben in Cafes, Clubs, Cabarets, bedeuten Publikationsformen und -organe, Gruppenbildungen etc. 2.2 Thematische und formale Komplexe (Einzelanalysen) Im folgenden werden die wesentlichen thematischen und formalen ,Komplexe' der expressionistischen Lyrik anhand von Gedichtbeispielen dargestellt. Erster Komplex: Großstadt In ,Gesänge an Berlin' von Alfred Lichtenstein finden sich die folgenden Verse: ,,O du Berlin, du bunter Stein. du Biest/[..] Bald muß ich dich verlassen, mein Berlin.... . Leb wohl, Berlin, mit deinen frechen Feuern. Lebt wohl, ihr Straßen voll von Abenteuern.~.. .~ In fremden Städten treib ich ohne Ruder. Hohl sind die fremden Tage und wie Kreide. / Du, mein Berlin, du Opiumrausch, du Luder. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide. Ein intaktes erlebendes Ich drückt seine affektive Beziehung zur Weltstadt Berlin aus, in einer der ,Berliner Schnauze' angelehnten Umgangssprache (,,du Luder">. Eine Liebeserklärung an Berlin - auch da noch, wo das Schillernde, Faszinierende einen negativen Beiklang erhält. Das vitalistisch Rauschhafte des Großstadterlebnisses kulminiert in der direkten Benennung .,Opiumrausch~'. Das Goethe-Zitat am Schluss wird durch den Kontext ironisch gebrochen: Die Sehnsucht gehört nicht der Ferne, sondern dem eher antilyrischen Objekt Stadt, die affektgeladen zum Ort der Geborgenheit, der Heimat wird. Paul Boldt: Auf der Terrasse des Cafe Josty Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll Vergletschert alle haltenden Lawinen Der Straßentrakte: Trams auf Eisenschienen, Automobile und den Menschenmüll. Die Menschen rinnen über den Asphalt, Ameisenemsig, wie Eidechsen flink. Stirne und Hände, von Gedanken blink, Schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald. Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle, Wo Fledermäuse, weiß, mit Flügeln schlagen Und lila Quallen liegen - bunte Öle; Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen. Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest, Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest. Hier erscheint kein affektgeladenes, explizites Ich mehr; Menschen sind als dingliche und lebendige Bestandteile ambivalent in die Szenerie montiert: als Müll (,,rinnen“ assoziiert Kloake, Kot) und als vitales Element (ameisenemsig, wie Sonnenlicht) im Kontrast zu Finsternis der Stadt. Die konkrete Beobachterperspektive (von der Terrasse des Cafes aus ist, auf ein beteiligtes Ich verweisend, nicht neutral: Suggestiv wird der Ekel des Betrachter sprachlich gestaltet (Quallen, Eiter). Dabei wird die Heterogenität der Wahrnehmung durch eine eigentümliche Homogenität der Bilder verdichtet: Die die Stadt charakterisierende Metaphorik ist durchgängig dem Naturbereich entnommen (Lawinen, Ameisen, Eidechsen, Sonnenlicht, Wald, Fledermäuse, Quallen). Der Neologismus ,,vergletschern" signalisiert Kälte; Starre, mit ,,Lawine~ wird unabwendbares Naturereignis angedeutet. Tz dieser Überlagerung der Stadt durch Naturbilder erscheint die Großstadt als unbeherrschbare zweite Natur, die Geborgenheitssorte der ersten Natur (Höhle, Nest) depraviert zu ekelerregenden Lokalitäten hektischer, kranker Existenz. Die Sonettform - gerade im Frühexpressionismus häufig verwendet steht im Kontrast zum Disharmonischen des Inhalts, die klassische' Einheit von Form und Inhalt wird bewusst(?) aufgebrochen. Solcher Ekel an der Realität der Stadt prägt auch Trakls ,Vorstadt im Föhn 27 Anders aber als Boldts Ekel-Vision mündet das Gedicht von der lakonisch konstatierten Außenwelt der Ratten, des Mülls, des Gestanks etc. in einen Bewusstseinsinnenraum der schrittweise aufgebaut wird (ganz realistisch übrigens insofern, als dieser Wechsel an den Föhn gekoppelt erscheint, vgl. 5. Strophe): Zunächst sind es gaukelnde Gebilde, dann auf- und abtauende Erinnerungen - mit vielleicht' eingeschränkt -~ schließlich werden in der letzten Strophe diese Erinnerungen zum konkreten Bild geformt. Im Kontrast zur hässlichen Außenwelt der Gegenwart eine erinnerte Schönheit der Vergangenheit. Dies Bild ist vergleichbar jener schönen Stadt in Trakls berühmtem gleichnamigen Gedicht. Indessen ist weder die hier als Erinnerungsvision unwirkliche noch die dort dargestellte reale schöne Stadt ein ungebrochener beus amoenus: Nie ist bei Trakl das Schöne dargestellt ohne den Hauch von Verfall'. Hier ,,sieht man auch ein Schiff~...) scheitern~ - dort (in ,Die schöne Stadt~) gibt es des ,,Todes reine Bilder~' , ,,drohen Blütenkrallen~ , flimmern ,,silbern (... müde Lider). So ist in der Schönheit, wo sie noch erscheint, ihr Verfall, im Verfall die Schönheit nur noch als Erinnerung (an Kindheit, eine frühere Welt) enthalten. Eine literarisch nochmals völlig andere Verarbeitung des Großstadt-Themas begegnet in den Stadtgedichten Georg Heyms. Hier fließt das Heterogene der Wahrnehmung in poetische Bilder der Mythisierung und Dämonisierung zusammen. In ,Der Gott der Stadt'29 konstituieren reale Details einer Großstadt den Bildhinter- oder -untergrund: Häuserblock, Kirchenglocken, schwarze Türme, Straßen. Darüber aber sitzt - breit, beherrschend, vernichtend - der Gott der Stadt: Baal, in der mythologischen Überlieferung der Sturm- und Fruchtbarkeitsgott der Westsemiten, ist eine Stier- und Menschengestalt, eine heidnische Kultfigur. Die Städte liegen ihm im Gedicht zu Füßen : ,,wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik I Der Millionen durch die Straßen lau." Korybanten sind die dämonischen Begleiter, die Priester der phrygischen Göttin Kybele, als magna mater', Vegetationsgöttin, auch auf vielen Darstellungen mit einer Mauerkrone - als Schützerin der Städte und der Kultur verehrt. Die ekstatischen Tänze der Korybanten wurden von grellen Blasinstrumenten und dumpfen Trommeln begleitet. In ihnen offenbarte sich eine Besessenheit, deren Begriff ,Enthousiasnios' war. Diese Kombination zweier mythischer Bilder im Gedicht zeigt wiederum einen ambivalenten Befund: die Faszination (Enthousiasmos) der Stadt und das Verschlingende, Vernichtende ihres Gottes. Baal ist ein wütender Gott (schaut voll Wut, im Zorne), ein rächender Gott, der die vom Korybantentanz dröhnenden Straßen vernichtet. Diese Mythisierung hat zweifache Funktion: ,,Zunächst einmal kommt in der zur Naturgewalt verfremdeten Zivilisation der Entfremdungscharakter gesellschaftlicher Verhältnisse zum Ausdruck: dem Subjekt steht eine von ihm geschaffene Realität als unbegriffene gegenüber, in der er zum willenlosen, orientierungslosen Objekt geworden ist ... j; das mythologische Element aber deckt einen solchen Zusammenhang auf. im Bild des vernichtenden. zornigen ,Gottes' des Untergangs erscheint die Zerstörung als provozierende Kritik an der Gesellschaft,, der ,Gott der Stadt' aber ist die - verfremdende Transtiguration jener Vernichtung." Die Mythisierung dient so der Aufklärung über einen geschichtlichen Zustand, nicht dessen affirmativer Dämonisierung. Dass zu dieser Zeit-Diagnose' auch die Faszination großstädtischer Vitalität gehört, der Wunsch, wenn man so will, nach Ausfüllung des korybantischen Enthousiasmos' belegen Eintragungen aus Heyms Tagebüchern. Im selben Jahr, iii dem ,Der Gott der Stadt' geschrieben ist, findet sich der berühmte Eintrag vom 15.9.1911: ,,Mein Gott - ich ersticke noch mit meinem brachliegenden Enthousiasmus in dieser banalen Zeit." Wenn großstädtische technische Welt als ,zweite Natur' erscheint, ist ein Blick auf die eigentliche Natur und ihre Gestaltung in der Lyrik nützlich. Etliche Gedichte des Expressionismus tragen Titel, die auf Gegenstände traditioneller Naturlyrik verweisen: Jahres- und Tageszeiten, Landschaft und Landschaftserscheinungen 32 Zum Vergleich sei ein weiteres Gedicht von Heym herangezogen: ,Printemps'. Die antithetische Struktur des Sonetts spiegelt hier den Bruch zwischen ,träumen sehen' Natur in den ersten beiden Quartetten und ihrem Umkippen in Tod und Verfall in den beiden Terzetten. Antizipiert wird letzteres schon im Zittern der ansonsten hellen, feierlichen Zweige (Strophe 1) und der Düsternis des Berges (Strophe 2). Die Liquidation der Natur, hier symbolisiert im ,,Sterben der Sonne", erfolgt durch einen Gott wie jenen der Stadt: der ,,Dämon vor des Himmels tiefer Glut~' hat die Stiergestalt Baals und trägt dasselbe Attribut ,schwarz' wie die Au in die die Sonne ,,langsam sinkt, voll Blut'. Wiederum in einem mythischen Bild gewinnt die Verdrängung der Natur durch die Stadt Gestalt; die Idylle hat ausgedient, auch die Möglichkeit ihrer literarischen Darstellung (die in den beiden Quartetten noch erprobt ist) Die Jahreszeit verliert ihren spezifischen Eigenwert, sie ist austauschbarer Anlass einer Naturbetrachtung die nur noch deren Verfall konstatieren kann. Deutlicher, direkter noch wird solche Zurückdrängung des Naturbereichs durch den großstädtischen Lebensraum in Lichtenstein ,Der Winter' ausgedrückt: Die Elemente der ersten Natur werden durch die Attribuierungen und Kombinationen zu bloßen Versatzstücken, durchsetzt, überlagert deformiert von den Todesund Bedrohungsmetaphern der Stadt, die Menschen auch hier zusammengeschrumpft zu einem untergehenden. ertrinkenden Fleck. Herbst, Winter, Dämmerung sie taugen nur noch als Bildhintergründe für Szenarios der Trostlosigkeit, Vereinsamung; entfremdete erste und zweite Natur bedeuten Gegenstand und Ambiente einer viel tiefergehenden Krise, die vor allem die Subjektivität ergreift. Exkurs 1: Großstadt als Thema der Lyrik seit dem Naturalismus Der ökonomische Aufschwung nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 führte z~ einer sprunghaften Ausdehnung der ehemaligen Residenzstädte zu industriellen Zentren. Sozialer und medizinischer Fortschritt bewirkten ein Anwachsen der Bevölkerungszahlen; zusammen mit der Landflucht (Arbeitsmöglichkeiten in der Stadt!) führte das zu einer planlosen Vergrößerung der Städte - am Beispiel Berlins: Um 1870 knapp 830000 Einwohner, 1880 sind es über eine Million, 71910 bereits über zwei Millionen, 1920 schließlich mehr als vier Millionen. Rein äußerlich veränderte die elektrische Straßenbeleuchtung das ,Antlitz' der Städte ebenso wie der rasante Bau riesiger Mietskasernen. Die ,inneren' Folgen der Verstädterung (1914 leben zwei Drittel der Gesamtbevölkerung in Städten!) bedeuteten auch Pauperismus, die Zunahme von Außenseiterexistenzen (Arbeitslose. Bettler), Stadtproletariat. Diesen abrupt entstehenden neuen Erlebnisbereich moderner Industriegroßstadt mit ihren sozialen Problemen öffentlich sichtbaren Elends nahmen die Naturalisten der 80er Jahre unmittelbar zum Gegenstand ihrer Lyrik; sie konnten sich dieser neuen Thematik im Grunde nicht entziehen. 3'6 Mit dem Naturalismus entsteht in Deutschland überhaupt erst Großstadt-Lyrik. Wie sieht sie aus? Arno Holz beschreibt in ,Ein Andres' das Interieur einer Mietskaserne und die Lebenssituation der dort Lebenden: eine fieberkrank dahinvegetierende Frau, deren drei kleine Kinder hilflos um sie herumstehen; ein Ehemann, der seine soziale Hilflosigkeit und seine Wut in Alkohol ertränkt; ein junger Arzt schließlich, der nur noch den Tod der Frau feststellen kann. Mitleid, das Nicht-helfen-Können, prägen die Darstellungsperspektive -symptomatisch dafür ist die Figur des Arztes. Aber auch der lyrische Sprecher wendet sich fragend und kommentierend direkt an den Leser: ,,Um mit dem Elend brüderlich zu weinen." Mimetisch präzise, erzählend, decouvrierend wird hier ,ein andres' Bild der Großstadtwirklichkeit vorgeführt, als es sich dem ersten Blick auf glitzernde Promenaden bietet. Das aus der Mitleidsperspektive ins Licht Gerückte lebt von einem Mitteilungsdrang, dem gegenüber die äußere Form sekundär wird (konventionelle, ,erzählende' 8zeilige Kreuz-Reim-Strophen). Die Perspektive, in der ein ,,philanthropischer Zug" für diesen Naturalismus insgesamt kennzeichnend ist, bezeichnet eine Außenansicht: ehrlich, engagiert wird ,,von oben herunter gedichtet, also nicht von, sondern für die Gedrückten, Getretenen, im Namen der noch der Sprachlosigkeit anheimgegebenen Massen". - Im Symbolismus wird die Stadt mit dem Bann belegt; wo sie literarisch zum Thema wird, erscheint sie als Ort der Lüge, als Ort einer existentiellen Verlorenheit, der eine göttlich wahre Außenwelt des Werdens kontrastiert wird. Die Stadt-Existenz ist hier nicht wegen ihres Elends, ihrer Trostlosigkeit verworfen, sondern wegen ihrer widergöttlichen Un-Natur. Liliencrons ,impressionistisches' Gedicht ,In einer großen Stadt' löst die Wahrnehmung ins Prinzip der Flüchtigkeit auf.~ Die Stadt wird als etwas Vorübertreibendes, namentlich, individuell nicht Festzumachendes empfunden (,,Es treibt vorüber [.. ] Bald der, bald jener."). Diese Flüchtigkeit ist Gedichtsstil und Prinzip des Gegenstands, also Lebensform der Stadt zugleich: ewige Wiederkehr des Gleichen, von dem schließlich auch das lyrische Ich erfasst wird (,,Ein Blick ins Auge" - ,,Ein Blick auf seinen Sarg" - ,,Ein Blick auf meinen Sarg"). Auch hier haben sich die sozialen Fakten verflüchtigt, aber die Großstadt wird aus der aristokratischen Distanziertheit der Symbolisten in die Erlebnisnähe gerückt. Für die Expressionisten nun wird die Großstadt zum eigentlichen Lebensraum. Wie die Naturalisten nehmen sie die konkrete Erscheinungswelt in das dingliche und personelle Arsenal ihrer Gedichte auf - aber nicht wie jene ,von oben herab', aus einer Mitleidsperspektive, in der für andere gesprochen wird. Vielmehr ist Großstadt ihre Welt, zu deren Personal (,,Ein blonder Dichter" etwa erscheint in Lichtenbergs ,Die Dämmerung') sie selbst gehören - neben Irren, Aussätzigen und, aber eben nebengeordnet, auch Proleten. Diese eigene Welt ist Gomorrha, Babylon und das himmlische Jerusalem (seltener), Faszinations- und Untergangswelt zugleich. A-mimetisch wird die Großstadt zur weltgeschichtlichen Metapher der modernen Hochzivilisation. Gegen jeden naturalistischen Versuch wissenschaftlich verfahrender Beschreibung~ setzen die Expressionisten die Vision und finden erstmals für diesen Gegenstand der Lyrik eine eigene literarische Formung und Sprache; hier liegt die literaturgeschichtliche Bedeutung des frühexpressionistischen Reihungsstils gegenüber der formal konventionellen Stoffaneignung durch die Naturalisten. Die Ambivalenz der Großstadterfahrung und -verarbeitung sowie das Bemühen um neue Ausdrucksmöglichkeiten zeigt sich signifikant in der Malerei des Expressionismus. Ludwig Meidners ,Ich und die Stadt' (1915) stellt eine explosive Komposition von apokalyptisch verzerrter. auseinanderfallender Stadtlandschaft dar, in deren Vordergrund ein angstgezeichnetes Einzelgesicht montiert ist. Meidner hatte engen Kontakt zu etlichen expressionistischen Lyrikern, schrieb selbst, er gründete den Club ,Die Pathetiker" in dem Bilder ausgestellt wurden. Für ,Die Aktion' zeichnete er Titelgraphiken. Eher im Kontrast zu dem apokalyptischen Bild steht seine ,Anleitung zum Malen von Großstadtbildern' (1914). In Abgrenzung gegen die Impressionisten fordert er, das Naheliegende zu zeichnen: ,,unsere Stadt-Welt: die tumultuarischen Straßen, die Eleganz eiserner Hängebrücken, die Gasometer, welche in weißen Wolkengebirgen hängen, die brüllende Koloristik der Autobusse und Schnellzuglokomotiven, die wogenden Telephondrähte (sind sie nicht wie Gesang?), die Harlekinaden der Litfaßsäulen, und dann die Nacht die Großstadt-Nacht ... Zweiter Komplex: Ich-Dissoziation (Zerfall) In der ,neutralen Perspektive' (1. Ziegler), die viele Gedichte Heyms charakterisiert, erscheint kein Ich mehr. Was bei manchen Lyrikern noch als Einsamkeit des Großstadtmenschen benannt wird, erscheint in anderen als völlige Dekomposition von Ich und Welt: ,,Mein Ich ist fort [...]. Das ist nicht Ich, wovon die Kleider scheinen. / Die Tage sterben weg, die weißen Greise. / Ichlose Nerven sind voll Furcht und weinen.“ Statt solcher direkter Thematisierung des Ich-Zerfalls findet sich diese häufiger indirekt in Form und Darstellungsweise ins Gedicht aufgenommen. In Benns Gedicht ,Kleine Aster' aus dem Morgue-Zyklus (l912) wird verfremdet der Vorgang einer Sektion dargestellt: Eine Bier-Fahrer-Leiche, ersoffen, ,,auf den Tisch gestemmt", wird aufgeschnitten. Bierfahrer stemmen Fässer - vergegenständlicht in der Übertragung passiert das dem Toten selbst. Dieses verdinglichte Objekt wird im Gedichtverlauf zunehmend segmentiert in bloße Teil-Dinge, dysfunktionale, irrelevante Teile, die ehemals Organe waren. Dieser an sich schockierende Vorgang rollt in geradezu salopper Alltagssprache ab, ohne jede Beteiligung des grammatisch intakt erscheinenden Ich-Sprechers, der präzise beobachtend und registrierend erzählt (Präteritum!). Der Mensch, der Bierfahrer, unerklärlich verendet, namenlos, nur noch Fleisch-Materie-Klumpen - das Ende der Subjektivität? In solchem Schock erschöpft sich der Text nicht - soweit wäre es mehr oder minder zynische Mimesis dessen, was Benn als Sektionsarzt ständig erlebte. Die eigentliche Ich-Destruktion wird an dem intakten Sprecher-Ich exemplifiziert. Während der Titel mit seinem Naturgegenstand ein empfindsames, empfindendes (naturlyrisches) Ich vortäuscht, erweist es das Gedicht als jeder Empfindung, jeder menschlichen Regung bar; indem es sich ganz der kleinen Aster zuwendet, bestätigt es sich als naturlyrisches Ich - indem es das vergegenständlichte Zentrum des Gedichts, die Leiche, ignoriert, wird es als vollkommen emotional destruiertes entlarvt. Die sprachliche Gespreiztheit des Farbadjektivs ,,dunkelhelllila" vermittelt den Eindruck von der Künstlichkeit einer Papierblume - Natur existiert nur als absonderlicher, in dem Zusammenhang. des Leichenschauhauses unvermuteter, zufälliger Gegenstand. Und ausgerechnet dem gilt das Interesse der Darstellung. Die Ironisierung der Naturlyrik und die Umkehrung: dass das Nebensächliche zum Wesentlichen wird, der tote Mensch nur noch als Funktion der Aster zur Rede steht (Vase) und dass schließlich das affektive Interesse des Sprechers nur der Aster gilt (Trinke, ruhe): Darin liegt die Radikalität der Ich-Deformation, die hier vorgeführt wird. Humane Perspektive, Orientierung, moralische Werte sind zur Beliebigkeit, Austauschbarkeit, Umkehrbarkeit geschrumpft. Der Schock des Gedichts wird so durch die Gegenstandswahl (Morgue, Leiche) ausgelöst - erst im Aussetzen jeder Perspektive, die irgendeinem ,Wert' abendländischer Kultur verpflichtet wäre, zeigt sich aber der eigentliche Ich-Zerfall. Ohne den Schock, der in Benns frühen Gedichten den Nihilismus unterstützt, gestaltet Trakl die ,transzendentale Obdachlosigkeit' des modernen Ich in ,absoluten Chiffren' (Killy), die sich jeder Rückübersetzung verweigern und, semantisch polyvalent, eine eigene ,Schönheit' ausbilden. Das Gedicht ,De profundis', 1912 erstmals im ,Brenner' veröffentlicht, zitiert im Titel den 130. Psalm, der in der Gegenüberstellung von Abgrund der Sünde und gnädigem Gott eine ungeheure Heils- und Erlösungs-Gewissheit ausdrückt. Gerade indem der Titel dies heranzitiert, verschärft sich im Gedichttext dessen Verlust. ,,Die ,Tiefe', aus der Trakls Figuren sich dem Göttlichen zuwenden, wird als Abgrund erlebt, aus dem heraus das Transzendente unerreichbar bleibt und endlich in Frage steht." Der Titel des Gedichts heißt in früheren Entwürfen .Herbstlied' und ,Psalm'. Beides ist in der ersten Strophe enthalten: Eine Herbstlandschaft wird entworfen, aber eine, die bereits alle Epitheta des ,goldenen Oktobers' in Bilder des Verfalls und der Finsternis transformiert hat (schwarzer Regen. einsamer Baum, leere Hütten - eine latent bedrohte, schon leere Welt). Formal ist dies mit einem Mittel der biblischen Psalmen realisiert; Franz Fühmann hat dies für Trakls ,Psalm' ausgeführt: Es ist die Form der Langzeile mit dem dazugehörigen Parallelismus. Darin offenbart sich etwas Thetisches, Gesetztes, Unumgehbares: ,,Es ist ...,, unwiderrufbar eine Welt der Leere. In diese ist nun als positives Gegenbild die Waise gesetzt: sanft, rund und goldig die Augen. Der bestimmte Artikel nicht ,eine', sondern ,die' Waise - evoziert gerade ihre Unbestimmbarkeit, ihr rätselhaftes Wesen, aber auch eine gewisse Selbstverständlichkeit: Nur eine Waise hat in der Logik der Gedichtwelt ihren Platz, ist doch ,Waise' an sich schon ein defizienter Existenz-Modus (elternlos, einsam, ungeborgen). Wie der Knabe Elis, wie der unschuldige, unbehauste Kaspar Hauser, dem seine Mörder auflauern, ist die Waise eine Figuration für ,,in der Einsamkeit gereiftes Kindsein"' ist ihre Sanftmut, ist der ,,verklärte, sich arglos hingebende Blick als Spiegel einer das Irdische transzendierenden Seele" zu verstehen. ,Berichtet' wird von der Waisen, was ohne Kommentar auch Elis und Kaspar Rauser geschieht: ihr Tod. Der Bericht im Text erfolgt im dazu passenden Präteritum; aber die damit angedeutete textinterne Geschichte verhüllt mehr, als dass sie aufdeckt - das Rätsel der Waisen wird um das ihres Todes erweitert: Wie sie starb, natürlich oder, wohl wahrscheinlicher, mit Gewalt, wer sie dann aber warum tötete, all das bleiben offene Fragen, die auch aus den Brüchen und Auslassungen nicht eindeutig geschlossen werden können. Fest steht lediglich: Hirten ~den die Verweste im Dornenbusch. Ins Zentrum der letzten drei Strophen rückt unvermittelt, übergangslos, präsentisch zu-nächst (was den Bruch noch verstärkt) ein Ich (selten bei Trakl!;), dessen Situation aus vollkommen inkohärent erscheinenden Bildern zusammengesetzt ist. Ein zutiefst defektes, uneigentliches Subjekt: ein Schatten, erloschenes Licht, ,,starrend von Unrat und Staub der Sterne". Jede Übersetzung geht hier fehl: Rätselhafter noch als bei der Waisen gehört das nicht Entschlüsselbare zu seiner Existenz. Bilder des Ekels und der Bedrohung (Spinnen) schaffen einen Assoziationsraum' der mit der konkreten Szenerie (Heide, Haselgebüsch etc.) zusammen die vollkommene Finsternis ohne jenen anderen Pols des Psalms: die Heilsgewissheit, zum Ausdruck bringt. Tatsächlich ist hier die transzendentale Obdachlosigkeit ins Bild genommen: die Vertreter und Symbole der Transzendenz - Engel, Sterne – sind versteinert, zu Staub zerfallen, keine frohe Botschaft wird da mehr gekündigt, vielmehr besiegeln die Engel den Untergang. Auch die Chiffre des verlöschenden Lichts ist in diesem Zusammenhang zu sehen; Fühmann spricht von einer ,,Zurücknahme der Schöpfung, oder besser: [... deren Verkehrung ins Gegenteil: Steht am Anfang jenes Buchs, von dem die Psalmen ein Teil sind, das Schöpfungswort: Es werde Licht!, so beginnt Trakls ,Psalm' mit der Verkehrung. Das gilt auch für ,De profundis'; ein Blick auf das ,Psalm-Gedicht Trakls zeigt überdies den identischen Assoziationsraum für die Situation des Ichs: die Spinnen im Weinberg, Schatten, menschliche Ruinen, die ihrerseits verfallen, ,der' Wahnsinnige, die toten Waisen - ,,0 unser verlorenes Paradies!" Dieses Ich hat nur noch seine Tiefe, seinen Abgrund. Die Frage nach dem abrupten Wechsel in der Gedichtmitte von der Waisen zum Ich lässt sich auch als Frage nach deren Verhältnis zueinander stellen. Zunächst ist das lyrische Subjekt bereits im ersten Gedichtteil indirekt präsent: ,,wie traurig dieser Abend!~' zeugt von der affektiven Beteiligung eines Sprechers - ebenso das Attribut ,süßer Leib', welches der verwesten Toten beigegeben wird und auf sinnliche Wahrnehmung, eine Beziehung also, in der dieser Leib als ,süß' empfunden werden konnte, der jetzt hässlich daliegt, verweist. Textinterne Korrespondenzen zeigen eine mindestens sprachlich-formal dichte Verfugung der beiden Gedichtteile: Zwischen Dämmerung und Nacht, Weiler und Brunnen, Dornenbusch und Haselgebüsch bestehen inhaltliche Bezüge, auch zwischen den Langzeilen (,,Es ist [...]") der ersten und der vereinzelten der vorletzten Strophe, sowie - dies besonders wichtig, weil es sich auf Waise und Ich bezieht - zwischen dem präteritalen fand-fanden (,,fanden die Hirten den süßen Leib" - ,,Nachts fand ich mich [...],,). Der Wechsel von Präsens zu Präteritum indiziert Erlebtes-Erinnertes und zeitlose (auch zukunftslose) Gegenwart - dieser ist die Waise verloren. Einzig die im ,süßen Leib' sich ausdrückende erotische Assoziation (möglicherweise zusammen mit dem Bild des kalten Metalls auf der Stirn als Kainsmal und Messer) bestätigte eine Deutung, die in der Bruchstelle des Gedichts ausgesparte ,Handlung' sei eine Art Triebmord: ,,Das lyrische Subjekt träte dann in Gestalt des Mörders in eine direkte Verbindung mit dem unschuldigen Opfer der sanften Waise. .~52 Manches aus dem Gesamtwerk Trakls mag dafür sprechen; so etwa in ,Verwandlung des Bösen': ,,Unter dem Haselgebüsch weidet der grüne Jäger sein Wild aus", später wird hier von einem ,,Ort des Mordes" gesprochen. Indessen scheint mir eine solche Interpretation zu sehr auf Eindeutigkeit erpicht. Als Gesprächsanlass kann sie ihre Funktion haben. Den Sinn der textinternen Korrespondenzen scheint mir vielmehr eine andere Parallelstelle aus Trakls Werk, das - wie Fühmann eindrucksvoll immer wieder betont und belegt - als ein -einziges großes Gedicht zu lesen ist, zu erschließen: ,,0 des Menschen verweste Gestalt: gefügt aus kalten Metallen [ Waise (Verwesung) und Ich (kaltes Metall) sind hier zu einer Menschengestalt zusammengefügt. Sie sind damit unterschiedliche Ausgestaltungen desselben Transzendenzverlustes: Die Waise harrt noch in kindlich-erotischer Erwartung des himmlischen Bräutigams (vgl. den Psalm-Bezug: ,Meine Seele harrt ...,) - das Ich erfährt Gottes Schweigen. Die Erfahrung des Verlostes ist präsentisch, festgeschrieben: Der Zerfall des kindlichen Glaubens passiert im ,Dornenbusch' , ebendort, wo im Alten Testament die Offenbarung Gottes sich ereignet (vgl. 2. Mose, 3. Kapitel). Das Gedicht, so verstanden, führte den irreduziblen Vorgang des Transzendenzverlustes vor. ,,Die Ära des Weltordnungszerfalls und der Anonymität der lebensbeherrschenden Mächte. die Trakl durchleidet, verwandelt vordem konkret bezogen gewesene Gefühle in unbezogen abstrakte: Aus der Furcht vor jeweils Bestimmtem wird Angst an sich. weil man, wen man fürchten muss. nicht mehr ausmacht; aus Abscheu vor Diesem und Jenem wird Ekel an Allem; aus dem Wahrnehmen eines konkreten Ruins das dumpfe Gefühl des Verfalls überhaupt, und aus der Trauer ob des bestimmten Verlustes ein allgemeiner Klagedrang.“ Trakls Gedicht wird so zum ,,Zeugnis unlebbaren Lebens' - radikalste Konsequenz des Subjektivitätsverlustes der Moderne. In solch extremer Ausgestaltung in absoluten Chiffren, die die konkreten Bezüge menschlicher ,Grundbefindlichkeiten' in abstrakte von Angst und Klage auflösen, tritt die bestimmte Großstadt-Wirklichkeit, die unsern Ausgangspunkt bildete, zurück. Die Krise der Subjektivität, des ,prometheischen' Selbstbewusstseins und Bei-sich-selbst-Seins ist mit realer Großstadterfahrung nicht mehr hinreichend erklärbar. Die Requisiten der Großstadt werden nur noch Momente eines weitergehenden abstrakteren Dekompositionsvorganges, der in der Vorstellung vom ,,Weltende" Gestalt bekommt. Dritter Komplex: Weltende - Krieg Jakob van Hoddis' berühmte 8 Zeilen, ,Weltende' überschrieben, 1911 in der Wochenschrift ,Der Demokrat' erschienen, haben außerordentliche Wirkung auf den Frühexpressionismus gehabt. Ohne erkennbare emotionale Beteiligung oder ekstatischen ,Schrei' werden hier im ,Reihungsstil' dem Bürger lapidare Informationen um die Ohren gehauen, deren Inhalte, wenngleich es sich teilweise um Katastrophenmeldungen handelt, den Titel und seine Erwartungen nicht einlösen; im Inhaltlichen der Meldungen jedenfalls ist ,Weltende' nicht festzumachen. - Das Mitte 1910 entstandene Gedicht fällt in die Zeit, ,,da das Wiedererseheinen des Halleyschen Kometen, des größten periodisch wiederkehrenden Schweifsterns, Deutschland und Europa in Weltuntergangsstimmung versetzte. Die spektroskopische Feststellung von Blausäure im Kopf und Schweif des Kometen löste die Alarmnachricht aus, dass bei dem für den 19. Mai vorausberechneten Durchgang der Erde durch den Schweif des Kometen gewaltige, weltzerstörende Explosionen erfolgen würden. Andere wieder glaubten, die Anziehungskraft des sich nähernden Himmelskörpers würde ein sintflutartiges Übertreten der Meere bewirken." Diese Weltuntergangsstimmung nimmt van Hoddis ironisch aufs Korn, indem er das Schwerwiegende mit dem Banalen (Schnupfen) kombiniert und sozusagen salopp auf die leichte Schulter nimmt. Dies ins Groteske Verfremdete ist indes nur die eine, die ,kabarettistische' Seite des Gedichts. Rühmkorf spricht dagegen von der ,,Antizipation eines wahrhaftigen Grundlagenbebens", er deutet die Sintflut als ein Vorrücken gegen die ,,Schutzwälle des zivilisierten Lebens". Dies aber passiert eben erst durch die Art, wie das Gedicht mit der Katastrophe umgeht. Das ,,liest man" wird zum Schlüsselwort: Es signalisiert, dass die weitgehend mit den Verszeilen deckenden Sätze Schlagzeilen-Charakter haben. Es sind Zeitungsinformationen, nach dem System der Medien ohne inhaltliche Gewichtung nebeneinandergesetzt, eingeebnet, Erfahrungen vermittelt als Erfahrungen aus zweiter Hand. Der ichlose Text redet aus einer total distanzierten, unbeteiligten, neutralisierten Perspektive. die Schnoddrigkeit ist nicht Eigenschaft des Ichs, sondern eine des Mediums. Die Dinge Erscheinungen sind die eigentlichen Subjekte (Meere hupfen, drücken), der Bürger ist Objekt (,,Dem Bürger fliegt [...]"). Die Subjektivität ist belanglos, nicht gefragt - sie hat keine eigenen Erfahrungen mehr, ist zeitlos, ortlos, zufällig, a-kausal, absorbiert von der ziellos nebeneinandergesetzten Schlagzeilen-Erfahrung. Darin liegt das Weltende: im ,,Verlust des unmittelbaren Erlebnisses“. Ich-Dissoziation, die Technik des Reihungsstils, heterogene Bilder simultan zu fassen, greifen ineinander als Befunde eines Weltende-Gefühls. Theodor Däubler hat die Simultaneität zum wesentlichsten Charakteristikum des Expressionismus deklariert. Simultaneität und Reihungsstil gehören zusammen: In der neutralen Reihung werden ,,die einzelnen Teile aneinandergefügt, ohne dass durch Inhalt oder Sinn ein Zusammenhang der Teile gefordert wäre~' - vielmehr kommt es zu einer ,,Spannung, die zwischen der Simultaneität und der Heterogenität des ,Geschehens' besteht und die aus der perspektivisch neutralen Reihung formal identischer geschlossener Einheiten resultiert ... .1 die Gleichzeitigkeit entsteht ~...] nicht, indem ein Zusammenhang geschaffen, sondern indem gerade jeder Zusammenhang aufgegeben wird". Dies ,technische' Prinzip ist nun Korrelat einer Wahrnehmungsauflösung, die das Subjekt der Moderne unfähig macht, die Wirklichkeit als ganze zu erfassen. Die Katastrophe des Weltendes liegt in solcher Dissoziation von Ich und Welt, in der Umkehrung der Subjekt-Objekt-Bezüge, in der Stadt und Natur personifiziert, das Ich, der Mensch aber verdinglicht werden. Die Krisis ist eine des Selbst-Bewusstseins, ausgelöst durch einen Realitätswandel: Das Bewusstsein von der Welt und das Bewusstsein von sich selbst wird unsicher. Dies ist nur als Dialektik zu begreifen: [..] dass die vom Subjekt gesetzte, aber ihm entfremdete Wirklichkeit in ihrer Diffusität zersetzend auf das Wahmehmungsich einwirkt, dieses dissoziiert, um so auch die im Wahrnehmungsakt gegebene Objektwelt zu dissoziieren. Vierter Komplex: Der neue Mensch So sehr der Erste Weltkrieg als Einschnitt in der Epoche und ihr die Signatur gehend zu sehen ist - die meisten der Dichter kommen an die Front, fallen, die meisten. die überleben, kehren als radikale Pazifisten zurück, nehmen, teilweise aktiv. an der Novemberrevolution teil -, so sehr prägt die an Heym exemplifizierte ambivalente Haltung das Gesamtbild der expressionistischen Lyrik. Der Weltkrieg ist, in Materialschlachten und Stellungskrieg als letzte Konsequenz der Technik empfunden, der Zusammenbruch, der menschlich auch dem physisch Überlebenden kaum er-'lebbar' ist - Trakls Grodek-Erfahrung zeugt erschütternd davon. Zugleich aber ist der Krieg der Untergang eines alten, verhassten Systems. die Chance für den ,,Beginn einer äußerlich und mehr noch innerlich von Grund auf erneuerten, gereinigten, geläuterten Welt". Diese Polarität und Komplementarität von ,,Kritischem und Konstruktivem, von Apokalyptischem und Utopischem ist - ohne Thematisierung des Krieges - in Stadlers 1914 erschienenem Gedicht ,Ein Spruch' konstitutiv: ,,Der Welt entfremdet, fremd dem tiefsten Ich, / Dann steht das Wort mir auf: Mensch, werde wesentlich." Je radikaler die Welt- und Selbstentfremdung erfahren wird, desto unaufhaltsamer entsteht die Forderung nach einer neuen, autonomen Subjektivität. Der pathetische Ruf nach dem neuen Menschen hat hier seinen Grund. Dem Bürger als Typus des alten Systems wird der Mensch entgegengesetzt. Je weniger dieser als geschichtliches Subjekt der konkreten geschichtlichen Zeit existiert, desto mehr wird er in der literarischen Darstellung zum Gegenstand purer Beschwörung. zu einem ,,Prinzip Hoffnung, Erwartung des Wunders einer Assoziation autonomer Menschen". Der beschwörende Charakter des ,messianischen Expressionismus', wie er eingangs mit Lotz' ,Aufbruch der Jugend' schon vorgestellt wurde, sein teilweise religiöses Vokabular bewirkt eine appellative Gestik, die häufig über das hohle Pathos nicht hinauskommt. Der Appell, der solche Utopie eines geistigen Menschen verkündigt, zielt dabei ~ die selbstgenügsame Gesellschaftsferne der künstlerischen Intelligenz", zielt auf die Tat, einen künstlerischen Aktivismus, der Kunst und Leben miteinander vermittelt. Zur Utopie einer ,,Insel glückseliger Menschheit" bedarf es der ,,Trinität des Werks: Erlebnis, Formulierung, Tat [..] Reden. Manifeste. Parlament. Gesänge von Tribünen herab vorgetragen. Das steht in Bechers programmatischem Gedicht ,Der Dichter meidet strahlende Akkorde’; so ist der Versuch, Kunst in Lebens- und politische Praxis zu überführen, immer wieder in Gedichten und Manifesten verkündigt worden. k den gesellschaftlichen Verhältnissen der Nachkriegszeit scheitert diese idealistische Utopie - in dem Maße, in dem die politische Tat selbst, die Revolution von 1918, scheitert und dem Kriegszusammenbruch eine Restauration eben jener Hochzivilisation (mit Restabilisierung von Währung und Wirtschaft in den zwanziger Jahren) folgt, gegen die die expressionistische Generation angetreten war. Die Gemeinschaftsidee der Utopie zerbricht durch die Verkennung der objektiven Situation in Deutschland. Die Expressionisten setzen - wie die Jugendbewegung oder Alternativkulturen, z. B. die Monte-Verita-Kommune - eine abstrakte freie Individualität oder eine romantisierende ,Gemeinschaft' der Massengesellschaft entgegen, deren bürgerlicher Teil sie auch im antibürgerlichen Protest weitgehend blieben. Sie beharrten auf ihrem subjektivistischen Glauben an die Autonomie des Geistigen, [...] alle [...]Grenzen der Wirklichkeit nach freiem Belieben sprengen zu können". In Wirklichkeit stellte dies ,,eine extremste Steigerung des Fortschritts- und Zivilisationsrausches jener Neuzeit dar, die der Expressionismus doch gerade überwinden wollte". Nach diesem Scheitern steht folgenreich über Brecht bis in die ,Moderne' nach 1945 die Frage nach der Historizität der Utopie (vgl. den Beitrag ,,Meiner Gedichte utopisches Moment", 5. 90ff.) zur Debatte zudem die Frage nach den Möglichkeiten ,politischer' versus ,autonomer' Kunst. Fünfter Komplex: Sprachzertrümmerung und Abstraktion Realitätszerfall' Ich- und Wahrnehmungsdissoziation können dem Medium des literarischen Ausdrucks nicht äußerlich bleiben - im Reihungsstil und in der absoluten Chiffre sind bereits sprachliche Konsequenzen angesprochen worden. Die Problematisierung der Sprache führt darüber hinaus zu nicht minder entschiedenen Experimenten der Zertrümmerung traditioneller Syntax und Semantik. Ein kurzer Gedichtvergleich macht dies anschaulich. 1914 erschien in der ,Aktion' das folgende Gedicht von Wilhelm Klemm: Wilhelm Klemm: Schlacht an der Marne Langsam beginnen die Steine sich zu bewegen und zu reden. Die Gräser erstarren zu grünem Metall. Die Wälder, Niedrige, dichte Verstecke, fressen ferne Kolonnen. Der Himmel, das kalkweiße Geheimnis, droht zu bersten. Zwei kolossale Stunden rollen sich auf zu Minuten. Der leere Horizont bläht sich empor. Mein Herz ist so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen, Durchbohrt von allen Geschossen der Welt. Die Batterie erhebt ihre Löwenstimme Sechsmal hinaus in das Land. Die Granaten heulen. Stille. In der Ferne brodelt das Feuer der Infanterie, Tagelang, wochenlang. Kriegserlebnis - Klemm war Oberarzt an der Westfront - wird hier aus unmittelbarer Betroffenheit ins Gedicht gesetzt. Die Natur erscheint vom Kriegsgeschehen durchdrungen - aktiver, personifizierter Teil der Zerstörung. Teilweise ganz unchiffriert wird Kriegs-geschehen abgebildet. Im Zentrum steht das betroffene Ich, mit dem traditionellen Bild des Herzens als Gefühlszentrum die kämpfenden Parteien umspannend. Die Subjektivität ist auch im Zeitbewusstsein sichtbar: Die subjektive Zeit ist ,zerdehnt' durch das Kriegsgeschehen, vollständig und ausschließlich von ihm okkupiert. August Stramms ,Patrouille' (1915) stellt ebenfalls Kriegserfahrung dar - Stramm fiel 1915 an der Ostfront. Im Unterschied zu Klemms Gedicht ist aber hier jede Unmittelbarkeit getilgt. Der Vergleich macht das Ausmaß sprachlicher Reduktion, mit der dies geschieht, erst deutlich. Statt: ,,Langsam beginnen die Steine [...],, hier: ,,Die Steine feinden"; statt: ,,Die Granaten heulen" hier: ,,gellen Tod". Die Personifikation ist konsequent realisiert, indem alle Außendinge auch zu grammatischen Subjekten werden, die menschliche Aktivitäten ausführen. Agrammatikalitäten steigern die Intensität. Gegen diese ,entpersönlichende' Reduktion der Kriegsdarstellung wirkt Klemms Gedicht geradezu geschwätzig. Es wirkt entgegen seiner behaupteten Zeitlosigkeit punktuell bezogen auf eine Schlacht, während das Präsens in Stramms Text eine unumgehbare Gegenwart, die Verallgemeinerung der Bedrohung, des völligen Ausgeliefertseins an den Krieg darstellt. Das Ich ist getilgt; gerade indem im Gedicht keine Ich-Perspektive benannt wird, wird die, namentlich für den Ersten Weltkrieg erstmals so erfahrene, Dominanz des ,technischen' Geschehens über den einzelnen sichtbar. Die agrammatikalische Reduktion ist das neue Gestaltungsmittel dieser Erfahrung. Die Wortkunsttheorie des ,Sturm'-Kreises, zu dem Stramm ja gehörte, bietet den poetologischen Hintergrund für Stramms Lyrik. Beeinflusst wurden beide von Marinetti und seinem ,Futuristischen Manifest', das 1912 im ,Sturm' erschien. Marynettis Forderung nach Zerstörung der Syntax, Abschaffung von Adjektiven, Gebrauch des Verbs im Infinitiv, Vermeidung von Bildern und Ausblendung des Ichs und seiner Psychologie, gipfelnd in der berühmten Formel ,,parole in libertä" - sie erscheint bei Stramm konsequent eingelöst, allerdings ohne jenen Technik-Rausch, von dem Marinetti erfasst war. Lothar Schreyer entwickelte aus Marinettis Postulaten eine antimimetische Poetik, deren zentrale Kategorien Geist, Rhythmus (statt Metrum) und Einzelwort sind. Und Herwarth Walden, der SturmHerausgeber, forderte konsequenterweise ,,ungegenständliche Dichtung". 3 Ästhetik des Hässlichen (Lehre der sinnlichen Wahrnehmung) Das Schock-Moment in der expressionistischen Lyrik, die Darstellung von Abnormitäten, Wahnsinn, Tod, Verwesung wurde als Ausdruck einer Kulturkrise gedeutet. Darin steckt auch eine Ästhetik des Hässlichen', die - im Expressionismus erstmals in Deutschland mit solcher Evokationskraft zum Durchbruch gekommen - eine wesentliche Tradition der europäischen Moderne aufnimmt und fortführt. Adorno hat in seiner ,Ästhetischen Theorie', die ja eine Ästhetik der Moderne darstellt, eine geschichtsphilosophische Deutung dieser Kategorie des Hässlichen gegeben: ,,Kunst muss das als hässlich Verfemte zu ihrer Sache machen, nicht länger um es zu integrieren, zu mildern oder durch den Humor, der abstoßender ist als alles Abstoßende, mit seiner Existenz zu versöhnen, sondern um im Hässlichen die Welt zu denunzieren, die es nach ihrem Bilde schafft und reproduziert [....] Im Penchant der neuen Kunst für das Ekelhafte und physisch Widerliche, dem die Apologeten des Bestehenden nichts Stärkeres entgegenzuhalten wissen, als daß das Bestehende schon häßlich genug sei und darum die Kunst zu eitel Schönheit verpflichtet, schlägt das kritisch materialistische Motiv durch, indem Kunst durch ihre autonomen Gestalten Herrschaft verklagt, auch die zum geistigen Prinzip suhlimierte, und für das zeugt, was jene verdrängt und verleugnet." Adorno verficht (als einzig vertretbaren) jenen Strang der Moderne, der durch Autonomie ihrer ,Bildwelten' sich in Kontrast zur modernen Welt setzt und darin ihre Wirkung zeigt. Als Paradigmen dieser Tradition können Gedichte von Baudelaire bis Huchel herangezogen werden, die gleichzeitig diese Ästhetik des Hässlichen exemplifizieren. Einzusetzen wäre mit Baudelaires ,Une Charogne' (Ein Aas) 97 aus den ,Fleurs du Mal', welches mit der Beschreibung der Hässlichkeit noch dessen Gegenpol in der Gestalt der schönen Geliebten bewahrt, der allerdings auch als dem Verfall preisgegeben gesehen wird. Das Motiv der Leiche, deren Hässlichkeit meist noch mit erotischsexuellen Metaphern versehen wird, ist weiterzuverfolgen an den Gedichten, die die Ophelia-Gestalt zum Gegenstand haben: Zu Rimbauds ,Ophehe' (1870) und Heyms ,Ophelia' (1911)~~ zählt Walter Hinck weiter Brechts ,Vom ertrunkenen Mädchen' aus der ,Hauspostille' (1927), Benns ,Schöne Jugend' aus dem Morgue-Zyklus und Peter Huchels ,Ophelia' aus ,Gezählte Tage' (1972) zu einem .Complexe d'Ophe'lie' zusammen. 99 Ergänzen könnte man diese Reihe noch um ein wenig bekanntes Beispiel dieser Thematik aus dem Jugendstil, dessen WegbereiterFunktion für die expressionistische Lyrik damit angezeigt würde: ,Eine Schmerzstimmung' von Max Dauthendey. In der literarischen Gestaltung des Ophelia-Motivs wird jener kritisch materialistische Impuls der Ästhetik des Hässlichen greifbar, von dem Adorno spricht: Zu deuten ist Ophelia als ,Integrationsfigur menschlicher Leiden, [...] Symbolgestalt des entstellten Humanen, des zerbrochenen Traums von Freiheitsstil