Kulturtransfer und Barrieren zwischen China und Deutschland in der

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Erscheint in:
Almut Hille/ Gregor Streim/ Pan Lu (Hg.): Deutsch-chinesische Annäherungen. Kultureller Austausch
und gegenseitige Wahrnehmung in der Zwischenkriegszeit.
Böhlau 2011
Arnd Bauerkämper
Kulturtransfer
und
Zwischenkriegszeit.
Barrieren
zwischen
Theoretische
und
China
und
methodische
Deutschland
in
Überlegungen
der
aus
geschichtswissenschaftlicher Perspektive
Prozesse transnationalen und interkulturellen Transfers sind ein komplexer
Untersuchungsgegenstand. Sie umfassen die grenzüberschreitende Übertragung von
materiellen Gütern, aber auch von Wissen, Denkformen, Wahrnehmungsmustern und
Ideen. Dabei ist das Verhältnis zwischen kulturellem Austausch und den jeweils
vorherrschenden außenpolitischen Beziehungen zwischen Staaten grundsätzlich
ambivalent. So schließt scharfe Abgrenzung auf der offiziellen Ebene der
diplomatischen Beziehungen grenzüberschreitende Kulturtransfers keineswegs aus.
Auch politische Gegnerschaft ist im 20. Jahrhundert wiederholt mit positiven
gegenseitigen Wahrnehmungen, wechselseitigem Austausch, Verflechtungen und
vereinzelt auch mit Lernprozessen einhergegangen, sogar während der globalen
Konfrontation im Kalten Krieg.1 Zudem ist in analytischer Hinsicht davon
auszugehen, dass sich Transfers im Allgemeinen selektiv vollziehen, da selten ein
Modell unverändert übernommen bzw. einfach adaptatiert wird. Darüber hinaus sind
Interferenzen oder Vorgänge der bewussten Abwehr und Zurückweisung in
Rechnung zu stellen. Kulturelle Wechselbeziehungen sind ergebnisoffen und die
damit verbundenen Prozesse reversibel. Studien zum Kulturtransfer sollten daher
nicht unreflektiert vom Erfolg der Übertragung ausgehen, sondern auch
Abwehrmechanismen untersuchen. Allerdings setzt auch die Zurückweisung von
1
Zur historischen Perzeptionsanalyse vgl. a. die grundlegenden Überlegungen von Gottfried Niedhart:
Selektive Wahrnehmung und politisches Handeln. Internationale Beziehungen im
Perzeptionsparadigma, in: Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Perspektiven, hg. v.
Wilfried Loth u. Jürgen Osterhammel, München 2000, S. 159-185, hier bes. S. 144f. Zu Transfers im
Kalten Krieg vgl. Jost Dülffer: Europäische Zeitgeschichte – Narrative und historiographische
Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), S. 51-71, hier S. 60, 66, 70; ders.: Europa im
Ost-West-Konflikt 1945-1990, München 2004, S. 134f.
Transferversuchen
wechselseitige
Wahrnehmungen
voraus.
Und
solche
Wahrnehmungen können eine „ansteckende“ Wirkung entfalten, die zwar nicht zur
Verflechtung führen muss, aber doch die Suche nach einer Lösung gemeinsamer –
beispielsweise industriegesellschaftlicher – Herausforderungen anregen kann.2
Ausgehend von diesen Vorüberlegungen wird im Folgenden zunächst die
Entwicklung der
Beziehungen zwischen Deutschland und China in
der
Zwischenkriegszeit rekonstruiert und das bilaterale Verhältnis konturiert. Der darauf
folgende Abschnitt ist der Explikation wichtiger Fragestellungen und Dimensionen
der interdisziplinären Forschung zu kulturellen Beziehungen gewidmet. Die
methodologisch-theoretischen Überlegungen berücksichtigen besonders Befunde und
Erkenntnisse historischer Studien und beziehen diese jeweils exemplarisch auf das
Verhältnis zwischen Deutschland und China in der Zwischenkriegszeit. Wie hier
argumentiert wird, wurde dieses nicht nur von politischen und staatlichen
Entscheidungsträgern, sondern auch von anderen gesellschaftlichen Akteuren
geprägt. So entstand ein grenzüberschreitender Kommunikations-, Erfahrungs- und
Handlungsraum, der zwar vielfach begrenzt war, aber doch über die offiziellen
zwischenstaatlichen
Beziehungen
hinausreichte.
Der
Beitrag
schließt
mit
weiterführenden Überlegungen zur Analyse kultureller Beziehungen, Transfers und
Verflechtungen.
1.
Die
Signatur
der
Epoche:
deutsch-chinesische
Perspektiven
auf
die
Zwischenkriegszeit
Die Zwischenkriegszeit stellte sich aus chinesischer und deutscher Perspektive
durchaus unterschiedlich dar. Studien zum Kulturtransfer müssen berücksichtigen,
dass in der chinesischen Geschichte andere Zäsuren zu setzten sind als in der
deutschen. Die Umbrüche, die die Bereitschaft zur Anverwandlung fremder
Vorbilder begünstigten, begannen in China schon in der Zeit vor dem Ersten
Weltkrieg.
Die Niederschlagung des Aufstandes der Yihetuan (Boxer) durch die
imperialistischen Mächte, die im Spätsommer 1900 den Kaiserpalast (die Verbotene
2
Vgl. die Überlegungen in Manfred Hildermeier: Osteuropa als Gegenstand vergleichender
Geschichte, in: Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, hg. v. Gunilla Budde,
Sebastian Conrad u. Oliver Janz, Göttingen 2006, S. 117-136, hier S. 135.
Stadt) geplündert hatten, diskreditierte die Verteidiger des Status quo in der
Bürokratie am kaiserlichen Hof, die noch zwei Jahre zuvor die Hundert-TageReform der Gelehrten um Kang Youwei und Liang Qichao abgewehrt hatten. Sogar
die
mandschurische
Qing-Dynastie,
die
durch
die
Machtübernahme
der
Kaiserinnenwitwe Cixi 1861 weiter an Legitimität verloren hatte, bekannte sich mit
der Neuen Politik (xinzheng) zu Reformen, die weit über die Bewegung zur
‚Selbststärkung’ des späten 19. Jahrhunderts hinaus gingen und unter anderem die
Neuordnung der Bürokratie und die Modernisierung des Militärwesens nach
deutschem und japanischem Vorbild umfassten. Mit der Xinhai-Revolution, die als
Militärrevolte in den Provinzen begonnen hatte, stürzte 1911 schließlich die
kaiserliche Herrschaft, die über verschiedene Dynastiewechsel hinweg seit 221 v.
Chr. bestanden hatte. In der neuen Republik forcierte Sun Yatsen dann die
Parlamentarisierung,
in
deren
Kontext
in
allen
Landkreisen
beratende
Versammlungen eingerichtet und 1912 erstmals eine Verfassung erlassen worden
war. Diese Parlamentarisierung scheiterte jedoch 1913/14; die Herrschaft wurde im
Konkurrenzkampf korrupter Cliquen partikularisiert. Gleichzeitig bemühte sich der
neue Militärdiktator Yuan Shikai, der zuvor als kaiserlicher Gouverneur gedient
hatte, um eine Reintegration des zerfallenden Landes. Nach einer Revolte hoher
Offiziere gegen Shikai ging die Macht 1916 an regionale Militärbefehlshaber
(warlords) über. 1917 trat China, das bereits seit Kriegsbeginn Tausende Kulis für
britische oder französische Truppeneinheiten bereit gestellt hatte, dann auf der Seite
der Entente in den Krieg ein. Damit verband die Elite des Landes vor allem die
Hoffnung, die Niederlagen revidieren zu können, die China in den Kriegen gegen
Frankreich (1885) und gegen Japan (1895) erlitten hatte. Zudem sollte nach dem
Ersten Weltkrieg die Kolonialherrschaft der westlichen Mächte abgeschüttelt
werden, die durch die Niederschlagung des Boxeraufstandes nochmals gefestigt
worden war. Der Vertrag von Versailles entzog diesen Erwartungen 1919 allerdings
die Grundlage; die frühere deutsche Kolonie Qingdao, die bereits 1914 von Japan
erobert worden war, konnte nicht zurück gewonnen werden. Nachdem die
chinesische Delegation die Friedenskonferenz in Versailles mit leeren Händen
verlassen hatte, bildete die Erhebung vom 4. Mai 1919 eine wichtige, in vieler
Hinsicht einschneidende Zäsur in der chinesischen Geschichte.3 Mit ihr begann in
China die Zwischenkriegszeit.
3
Jürgen Osterhammel: Shanghai, 30. Mai 1925. Die chinesische Revolution, München 1997, S. 25f.,
Angesichts der Demütigung bei den Friedensverhandlungen mobilisierte die
Vierte-Mai-Bewegung den chinesischen Nationalismus gegen die Kolonialmächte,
ohne dass damit die westliche Demokratie und Wissenschaft als Vorbilder gänzlich
verworfen wurden. Vielmehr verband sich die Wendung gegen die imperiale
Herrschaft mit einer Kritik an chinesischen Traditionen. Die Massenproteste, die am
30. Mai 1925 Studenten und Geschäftsleute im Protest gegen die Einschränkungen
der Souveränität Chinas durch die (seit 1842 bestehenden) ‚ungleichen Verträge’
verbanden, stellten erstmals die Privilegien der westlichen Mächte grundlegend in
Frage. Zwei Jahre später zerbrach das Bündnis, das Chiang Kai-shek 1923/24
zwischen seinen nationalrevolutionären Guomindang (GMD) und den chinesischen
Kommunisten geschlossen hatte. Beide Gruppen bekämpften sich fortan in einem
Bürgerkrieg, der 1934 in der Vertreibung der Kommunisten aus Zentralchina, ihrem
‚langen Marsch’ (changzheng) und der Zerschlagung ihres Jiangxi-Sowjets durch
GMD-Truppen gipfelte. Die europäischen Mächte und die Vereinigten Staaten von
Amerika überließen China in dieser Zeit der japanischen Vorherrschaft, die sich
1931/32 mit der Annexion der Mandschurei durch den aufsteigenden fernöstlichen
Militärstaat deutlich abzeichnete. Mit dem japanischen Überfall auf den Norden
Chinas begann im Fernen Osten im Grunde bereits der Zweite Weltkrieg.4 Nach
einem Zwischenfall auf der Marco-Polo-Brücke in der Nähe von Peking im Sommer
1937 entwickelte sich ein offener Krieg zwischen Japan und China. Dabei verübten
die japanischen Streitkräfte – vor allem in Nanjing Ende 1937 und Anfang 1938 –
zahlreiche Massaker an der chinesischen Zivilbevölkerung. Angesichts der
Bedrohung
durch
die
vorrückenden
kaiserlichen
Truppen
schlossen
die
Nationalrevolutionäre Chiang Kai-sheks und die Kommunisten Mao Zedongs
vorübergehend einen Waffenstillstand. Der Überfall Japans ging nahezu bruchlos in
den Zweiten Weltkrieg über, der im Pazifik mit dem Angriff auf die amerikanische
Flotte in Pearl Harbor auf Hawaii am 7. Dezember 1941 begann. Insgesamt können
die Jahre von 1900 bis 1949 (als sich die kommunistische Volksbefreiungsarmee
29, 32, 56-58, 138f., 151-153, 157; ders.: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19.
Jahrhunderts, München 2009, S. 800, 807f., 815, 899; Helwig Schmidt-Glintzer: Kleine Geschichte
Chinas, München 2008, S 171f., 186. Hierzu und zum folgenden auch detaillierter: Helwig SchmidtGlintzer: Das neue China. Von den Opiumkriegen bis heute, 3. Aufl., München 2004, S. 30-55.
4
Vgl. z.B. Gerhard Schreiber: Der Zweite Weltkrieg, 4. Aufl., München 2007, S. 9f.
durchsetzte) als eine revolutionäre Epoche der chinesischen Geschichte gefasst
werden, der rund 42 Millionen Menschen zum Opfer fielen.5
Wenn man die deutsch-chinesischen Kulturtransfers richtig verstehen will, darf
man nicht nur das bilaterale Verhältnis betrachten. Vielmehr müssen die
Beziehungen zwischen beiden Ländern in einem multilateralen Interaktions- und
Transaktionsverhältnis analysiert werden. Wichtig ist etwa, dass China 1920 in den
Völkerbund aufgenommen wurde. Obgleich es weiterhin in einer kolonialen Position
verblieb und in der internationalen Politik auch in den zwanziger und dreißiger
Jahren nur eine untergeordnete Rolle spielte, wertete die Integration in die
Völkergemeinschaft das Land symbolisch auf. Zudem nutzten die chinesischen
Eliten die Möglichkeiten, die ihnen die Mitwirkung in Kommissionen des
Völkerbundes boten, um den Einfluss ihres Landes sukzessive auszuweiten. Dazu
sollte nicht zuletzt die Aufnahme und Aneignung westlicher Konzepte von
Modernisierung dienen, die auch in sprachlich-terminologischer Hinsicht den
chinesischen Fortschrittsdiskurs beeinflussten.6
So war der deutsch-chinesische Ideentransfer in den zwanziger Jahren in weiter
reichende grenzüberschreitende Netzwerke integriert, die sich auch auf die
Vereinigten Staaten von Amerika erstreckten. Beispielsweise wurde der von John
Dewey geprägte pragmatische Liberalismus in China breit rezipiert. Zudem nahmen
chinesische Akteure westliche Konzepte vielfach indirekt auf dem Umweg über
Japan auf. Mit dem Deutschen Reich entwickelte sich in dieser Zeit ein reger
Austausch, allerdings durchweg in einem engen Wechselverhältnis mit anderen
westlichen Staaten. China wurde auf diese Weise zu einem Laboratorium der
Moderne, bevor die japanische Expansionspolitik und die damit verbundenen
internen Auseinandersetzungen – vor allem zwischen der Guomindang und den
chinesischen Kommunisten – diese Initiativen unterbanden.7
Waren die deutsch-chinesischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, die im
Folgenden vorrangig behandelt werden, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts
noch hierarchisch strukturiert gewesen, so kam es in Folge der Niederlage des
5
Osterhammel: Shanghai (wie Anm. 3), S. 29; Schmidt-Glintzer: Das neue China (wie Anm. 3), S.
56-70. Zum Massaker in Nanjing: Uwe Makino: Terror als Eroberungs- und Herrschaftstechnik. Zu
den japanischen Verbrechen in Nanking 1937/38, in: Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, hg.
v.Wolfram Wette u. Gerd R. Ueberschär, Darmstadt 2001, S. 343-355.
6
Vgl. Schmidt-Glintzer: Kleine Geschichte Chinas (wie Anm. 3), S. 186-213.
7
Deutsch-Chinesische Beziehungen 1911-1927. Vom Kolonialismus zur „Gleichberechtigung“. Eine
Quellensammlung, hg. v. Mechthild Leutner, verfasst v. Andreas Steen, Berlin 2006, S. 404, 456, 470,
505. Zum Kontext vgl. Sabine Dabringhaus: Mao Zedong, München 2008, S. 29-43.
Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg einerseits und der Zurückweisung
chinesischer Ansprüche auf der Konferenz von Versailles andererseits zu einer
Annäherung im bilateralen Verhältnis und zu egalitäreren Formen wissenschaftlicher
Kooperation. Die Bewunderung für Deutschland hielt in China an; allerdings
warnten chinesische Vermittler auch vor einer unreflektierten und ungebrochenen
Imitation deutscher Vorbilder. Obgleich der Einfluss der Vereinigten Staaten und
Großbritanniens in dem fernöstlichen Land nach dem Ersten Weltkrieg (trotz der
chinesischen Enttäuschung über den Versailler Vertrag) auf Kosten Deutschlands
zunahm, blieb das Interesse an deutscher Kultur und Wissenschaft in den zwanziger
und frühen dreißiger Jahren beachtlich. Dabei zielten chinesische Mediatoren vor
allem auf eine grundlegende Erneuerung ihres Heimatlandes. Das beste Beispiel
dafür ist der Bildungspolitiker Cai Yuanpei, der 1908-1912 (mit einer einjährigen
Unterbrechung) an der Universität Leipzig studiert hatte und nach seiner Rückkehr
zunächst Bildungsminister in der provisorischen Regierung Sun Yatsens wurde. Als
Rektor der Peking Universität reformierte er in den Jahren von 1917-1923 dann die
wissenschaftliche Arbeit an dieser Hochschule, indem er weitgehende Wahlfreiheit
für die Lehrveranstaltungen und eine universitäre Selbstverwaltung einführte.8
[Abb. 1: Cai Yuanpei (1868-1940); Abb. 2: Carl Heinrich Becker (1876-1933);
beide Abb. Hochformat, drittelseitig; wenn möglich nebeneinander; an dieser Stelle
oder etwas später einfügen]
Gelegentlich rekrutierten die chinesischen Behörden sogar gezielt deutsche
Zivilberater, wie Gustav Amann, der im Auftrag der Guomindang-Regierung
wiederholt nach Deutschland reiste, um dort Unternehmen für konkrete Projekte in
China zu gewinnen. Zugleich bemühte sich Amann um den Aufbau neuer Betriebe in
seinem Gastland. Darüber hinaus nutzte China seine Zugehörigkeit zu Hilfsorganen
des Völkerbundes, wie der Organisation für Geistige Zusammenarbeit, um das
eigene Bildungssystem weiter zu entwickeln. Deutsche Berater – wie der frühere
Preußische
Kultusminister
Carl
Heinrich
Becker,
der
1931
eine
Erziehungskommission des Völkerbundes nach China führte – trafen dabei auf
8
Yi Huang: Der deutsche Einfluss auf die Entwicklung des chinesischen Bildungswesens von 18711918. Studien zu den kulturellen Aspekten der deutsch-chinesischen Beziehungen in der Ära des
Deutschen Kaiserreichs, Frankfurt/M. 1995, S. 209-217; Deutsch-chinesische Beziehungen 19111927 (wie Anm. 7), S. 486, 496, 506, 527.
konkurrierende Einflüsse der amerikanischen Reformpädagogik, deren Stellenwert in
den chinesischen Modernisierungsprojekten nach der Jahrhundertwende gestiegen
war.
Die
deutschen
Vermittler
des
Kulturtransfers
im
Bildungs-
und
Wissenschaftssektor lehnten eine einfache ‚Europäisierung’, ‚Amerikanisierung’
oder sogar ‚Germanisierung’ Chinas selbst ab. Daher entwickelten sich im
grenzüberschreitenden Austausch zumeist Hybridformen. So wies die 1932
verabschiedete Gesetzgebung für die Erneuerung des Bildungssystems in China
sowohl amerikanische, britische und deutsche Einflüsse als auch endogene
chinesische Elemente auf.9
Während
die
deutsche
Wissenschaft
und
Kultur
in
China
in
der
Zwischenkriegszeit weithin als Vorbild galt, blieb die Wahrnehmung des Reichs der
Mitte in Deutschland ambivalent. Vor allem im nationalistischen Diskurs dominierte
weiterhin die Vorstellung von einem halbzivilisierten China, die schon den deutschen
Kolonialismus legitimiert hatte. Das Konzept der eigenen zivilisatiorischen
Überlegenheit war dabei mit Alteritätskonstruktionen, die auf die hoch entwickelte,
‚alte Kultur’ Chinas abhoben, durchaus vereinbar. Im Topos von der ‚Gelben Gefahr’
verband sich die Furcht vor der Mobilisierung Chinas mit einem ausgeprägten
Antibolschewismus
und
Antisozialismus.
Die
Mischungsverhältnisse
dieser
Wahrnehmungen waren dynamisch und dem Wandel der politisch-kulturellen
Konstellationen zwischen den beiden Staaten unterworfen. So färbte sich das
deutsche Chinabild zunehmend negativ, als sich das nationalsozialistische
Deutschland unter dem Einfluss des neuen Außenministers Joachim von Ribbentrop
1938 Japan zuwandte, um Hitlers Expansionskrieg in Europa zu abzusichern. Damit
wurde China erneut zu einem Objekt deutscher Machtpolitik. Der kulturelle und
wissenschaftliche Austausch ging nun deutlich zurück. Hinzu kam, dass die
Lebenshaltungskosten für chinesische Studenten in Deutschland in dieser Zeit viel
höher waren als während der Inflationszeit in den frühen zwanziger Jahren.10
9
Susanne Kuß: Entsendung einer Erziehungskommission des Völkerbundes unter Vorsitz von Carl
Heinrich Becker nach China (1931). Deutsche Einflüsse auf die Reorganisation des chinesischen
Erziehungswesens, in: Politik, Wirtschaft, Kultur. Studien zu den deutsch-chinesischen Beziehungen,
hg. v. Mechthild Leutner, Münster 1996, S. 187-223; Marlies Linke: Einige Anmerkungen zu den
deutschen Zivilberatern in China: Das Beispiel Gustav Amann, in: Politik, Wirtschaft, Kultur. Studien
zu den deutsch-chinesischen Beziehungen, hg. v. Mechthild Leutner, Münster 1996, S. 259-269.
10
Deutschland und China 1937-1949. Politik, Militär, Wirtschaft, Kultur. Eine Quellensammlung, hg.
v. Mechthild Leutner, bearb. von Wolfram Adolphi u. Peter Merker, Berlin 1998, S. 53-102, hier S.
53, 64; Deutsch-Chinesische Beziehungen 1911-1927 (wie Anm. 7), S. 420, 486, 495, 517, 522, 534.
2. Methodologisch-theoretische Probleme der Analyse der kulturellen Beziehungen
und Transfers zwischen Deutschland und China
Nachdem das lange dominierende nationalhistorische Paradigma zunächst von
vergleichenden Studien abgelöst worden war, sind in der Geschichtswissenschaft seit
den 1990er Jahren verstärkt Konzepte der interdisziplinären Forschung zu
Beziehungen, Transfers und Verflechtungen aufgegriffen worden. Während
komparative Studien im Allgemeinen mehrere Vergleichsfälle zur „Analyse und
Typisierung der Unterschiede und der Gemeinsamkeiten“ gegenüberstellen, versteht
man unter „Transfer“ vorrangig „die Anverwandlung von Konzepten, Werten,
Normen, Einstellungen, Identitäten bei der Wanderung von Personen und Ideen
zwischen Kulturen und bei der Begegnung zwischen Kulturen.“11 Transfers können
so eng werden, dass aus ihnen Verflechtungen hervorgehen. Im Hinblick auf den
Austausch zwischen Deutschland und China in der Zwischenkriegszeit erscheint
insbesondere
das
‚prozessorientierten
von
Christiane
Eisenberg
Kulturtransferforschung’
entworfene
weiterführende
Konzept
einer
Perspektiven
zu
eröffnen. Es geht erstens von der Anforderung an die Forschung aus, zunächst die
Differenz zwischen eigener und fremder Kultur zu akzeptieren, um sie im Rahmen
einer historischen Tiefenanalyse erklären zu können. Über diese konsequente
Historisierung hinaus muss zweitens zwischen Form und Inhalt von Kulturen
unterschieden werden. Damit soll in Rechnung gestellt werden, dass eine spezifische
soziale Form im Kulturtransfer mit anderen Inhalten gefüllt werden oder umgekehrt
ein- und derselbe Inhalt in verschiedene Formen gegossen werden kann. Drittens ist
die Eigendynamik sozialer Formen, die in fremden Kontexten neue Bedeutungen
oder Funktionen annehmen, zu untersuchen. Und viertens ist die Perzeption des
Fremden als soziales Handeln zu fassen.12
Studien zu transnationalen bzw. interkulturellen Transfers widmen sich explizit
den Wechselbeziehungen zwischen zwei oder mehr analytischen Einheiten. Sie
rekonstruieren und analysieren die Übertragung und Aneignung von Objekten
(Güter, Institutionen, Wissen, Normen und Werte) in und zwischen Kulturen.
Darüber hinaus müssen die jeweiligen Vorbedingungen und der Bedarf der
11
Hartmut Kaelble: Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer, in: Vergleich und
Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, hg. v. Hartmut Kaeble
u. Jürgen Schriewer, Frankfurt/M. 2003, S. 469-493, hier S. 472.
12
Christiane Eisenberg: Kulturtransfer als historischer Prozess. Ein Beitrag zur Komparatistik, in:
Vergleich und Transfer (wie Anm. 11), S. 399-417, bes. S. 409-415.
aufnehmenden Gesellschaften, die Vermittlungs- und Kommunikationsformen und
die dafür genutzten Mediatoren und Medien untersucht werden, ebenso wie die
Prozesse der (in der Regel selektiven) Aneignung oder Abwehr. Nicht zuletzt sind
die Einpassung in fremde kulturelle Kontexte und die Ergebnisse dieser
Anverwandlungsprozesse nachzuzeichnen und zu erklären.13 Diese analytischen
Dimensionen
werden
im
Wissenschaftsbeziehungen
Folgenden
zwischen
exemplarisch
Deutschland
an
und
den
Kultur-
China
in
und
der
Zwischenkriegszeit aufgezeigt.
Ausgangsbedingungen
Transferuntersuchungen sind durch eine diachronische Anlage gekennzeichnet. Sie
verfolgen den Prozess des Transfers eines Objekt von einer Ausgangs- in eine
Empfangsgesellschaft und eventuell auch Rückkopplungseffekte. Dabei sind
zunächst die Ursachen des Transfers zu bestimmen. Inwieweit bestand in der
abgebenden Gesellschaft ein Druck oder in der Aufnahmegesellschaft ein Anreiz
zum Transfer? Die Enttäuschung über den Versailler Friedensvertrag intensivierte
die Suche chinesischer Eliten nach westlichen Entwicklungsmodellen, die schon
nach der Niederlage im Krieg gegen Japan, im Zuge der Bewegung zur
‚Selbststärkung’ und der Hundert-Tage-Reform von 1898 sowie im Anschluss an das
Scheitern des Boxeraufstands (1900) verstärkt rezipiert worden waren.
Vor allem die Vereinigten Staaten avancierten in den zwanziger Jahren in China
zu einem Modell effizienter und leistungsstarker politischer und ökonomischer
Ordnung. Die gesteigerte Aufnahmebereitschaft gegenüber dem pragmatischen
Liberalismus John Deweys schlug sich etwa im Engagement amerikanischer
Stiftungen wie der Rockefeller Foundation nieder, die in den zwanziger Jahren vor
allem die medizinische Versorgung, Bildung und Forschung in China nachhaltig
förderte. Der Transfer amerikanischer Zuwendungen und der damit verbundenen
Formen des Wissens, wissenschaftlichen Arbeitens und Denkens ging allerdings stets
mit chinesischen Abgrenzungsversuchen gegenüber der amerikanischen Zivilisation
einher. Britische und deutsche Vermittler, die einen Einflussverlust im Reich der
13
Vgl. Michel Espagne u. Michael Werner: Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19.
Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C.N.R.S., in: Francia 13
(1985), S. 502-510. Vgl. a. Von der Elbe bis an die Seine. Kulturtransfer zwischen Sachsen und
Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert, hg. v. Michel Espagne u. Matthias Middell, Leipzig 1993,
bes. S. 9-11.
Mitte verhindern oder zumindest verzögern wollten, bemühten sich nach Kräften,
diese Skepsis ihrer chinesischen Partner zu verstärken. Dieser Befund verweist auf
die Multilateralität des interkulturellen Verhältnisses.14 Chinesische Studierende, die
in Deutschland gearbeitet und gelebt hatten, betonten aber auch die von ihnen
wahrgenommene Kulturdifferenz zwischen China und Deutschland. Offenbar hatte
die Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg die Vorbildfunktion
Deutschlands deutlich abgeschwächt. So bemerkte Zhu De, der 1922 als Student
nach Berlin gegangen war und dort der Gruppe der Kommunistischen Partei Chinas
angehört hatte, in den dreißiger Jahren rückblickend:
Die Tatsache, daß ein hochindustrielles Land wie Deutschland mit einer
qualifizierten
und
disziplinierten,
erstaunlich
gebildeten
und
organisierten
Arbeiterklasse im Krieg geschlagen werden konnte, überzeugte mich, daß es für
China sinnlos war, es ihm nachmachen zu wollen.15
Vermittler und Kommunikationsprozesse
Prozesse interkulturellen Transfers werden von konkreten Vermittlern getragen und
oft auch initiiert. Dabei spielen Migranten und Remigranten eine wichtige Rolle. Die
Vermittler sind oft in Netzwerken grenzüberschreitender Interaktionen und
Transaktionen aufeinander bezogen; sie erfüllen eine wichtige Brückenfunktion.
Dazu benötigen sie eine genaue Kenntnis der jeweiligen Kultur und eine spezifische
interkulturelle, vor allem fremdsprachliche Kompetenz. Oft sind sie sowohl in der
abgebenden als auch in der empfangenden Kultur verwurzelt. Sie strukturieren
transferiertes Wissen sozial und bringen zugleich ihre Rolle in den Prozess des
Transfers ein. So trugen um 1900 in China rund 20.000 Kompradoren nicht nur den
Handel mit westlichen Kaufleuten, sondern sie waren vielfach auch vertraglich
verpflichtet, diesen Ausländern Kontakte zu binnenländischen Geschäftsleuten zu
vermitteln.16
Die Akteure des Transfers werden von den Bedürfnissen und Erwartungen in ihrer
Heimat wie auch von den Bedingungen in ihren Gastländern beeinflusst. So zog
14
Deutsch-chinesische Beziehungen (wie Anm. 7), S. 404, 454, 456.
Deutsch-chinesische Beziehungen 1911-1927 (wie Anm. 7), S. 486.
16
Angabe nach Schmidt-Glintzer: Kleine Geschichte Chinas (wie Anm. 3), S. 176. Vgl. a.
Osterhammel: Shanghai (wie Anm. 3), S. 18.
15
Deutschland nach dem Krieg chinesische Studierende nicht allein deshalb an, weil
diese nach Vorbildern für die Entwicklung ihres Heimatlandes suchten (und dabei
auf die tief verwurzelte Bewunderung deutscher Kultur in China rekurrierten),
sondern auch wegen der günstigen Lebenshaltung während der Inflationszeit.
Umgekehrt suchten Deutsche, die nach China migrierten, dort nach Vorbildern für
die ersehnte geistig-politische Erneuerung des eigenen Landes. Dabei prolongierten
kulturpessimistische Konservative das Ideal der ursprünglichen, ‚alten Kultur’, um in
Deutschland die Rückbesinnung auf traditionale Werte und Lebensformen zu
fördern. So behauptete der Sinologe Eduard Erkes 1920, die chinesische Kultur sei
„der europäischen in allem überlegen [...], was sittliche und gesellschaftliche
Bildung, soziale und persönliche Moral heißt.“17 Kulturkonservative grenzten sich
auf diese Weise von den Exponenten der politischen Rechten in der Weimarer
Republik ab, die ausschließlich auf die Rückständigkeit Chinas abhoben.
Kommunisten und Sozialisten zielten demgegenüber mit dem Bild vom
‚erwachenden Koloss’ auf einen Umsturz der sozioökonomischen und politischen
Ordnung auch in Deutschland.18 Zuschreibungen von Alterität und eigene Ziele bzw.
Zukunftshoffnungen waren auf diese Weise eng miteinander verwoben.19
Rezeptionsbedingungen
Nachhaltig
wirksame
Prozesse
interkulturellen
Transfers
setzen
günstige
Rezeptionsbedingungen im aufnehmenden Land voraus. Deshalb sind die
spezifischen Rezipienten und Kontexte zu identifizieren und zu analysieren.
Transferierte Güter, Institutionen, Ideen, Werte und Normen müssen von Personen
und Gruppen aufgenommen werden. Dabei ist analytisch zu unterscheiden zwischen
Akteuren, die an der Aufnahme, Adaption und Anverwandlung mitwirken, und
solchen, die sich gegen diese Prozesse sperren. Oft vollziehen sich Aneignung und
Übernahme neben Abwehr und Zurückweisung. Transfers sind also nicht nur
vielschichtig und selektiv, sondern sie gehen auch mit Blockaden einher.
Gelegentlich bildet sich sogar ein dialektisches Wechselverhältnis zwischen diesen
Prozessen heraus. Diese Beobachtung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung
17
Zit. n. Deutsch-chinesische Beziehungen 1911-1927 (wie Anm. 7), S. 534.
Vgl. dazu a. den Beitrag von Gregor Streim in diesem Band.
19
Deutsch-chinesische Beziehungen 1911-1927 (wie Anm. 7), S. 414, 495f. Zur Entstehung dieser
Vorstellungen vgl. Osterhammel: Shanghai (wie Anm. 3), S. 34f.
18
der Kontexte und Konstellationen, welche die Rezeption exogener Einflüsse und
damit den Erfolg des Kulturtransfers begünstigen.
Umbrüche – vor allem infolge militärischer Niederlagen, aber auch politischer,
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisen – haben die Bereitschaft zur
Übernahme und Anverwandlung fremder Vorbilder im 20. Jahrhundert erhöht. Dies
trifft auf die Revolution in Russland 1917 ebenso zu wie auf die Umbrüche in der
deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (1918, 1933, 1945 und 1989/90), in denen
die bisherige politisch-gesellschaftliche Ordnung diskreditiert wurde und tradierte
Orientierungsrahmen zerfielen. In einer solchen Konstellation erhöhte sich jeweils
die Empfänglichkeit für exogene Einflüsse, und damit stiegen die Chancen auf einen
nachhaltigen Kulturtransfer. So suchte Cai Yuanpei nach der Niederlage Chinas
gegen Japan 1895 nach Modellen, um den nationalen Wiederaufstieg Chinas
herbeizuführen. Wie sein Auslandsaufenthalt in Deutschland zeigt, waren dabei
grenzüberschreitende Orientierungen und Transfers durchaus mit partikularen
(nationalen) Zielen vereinbar.
Für den Verlauf des Kulturtransfers haben übergreifende Kräftekonstellationen
eine zentrale Bedeutung. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die
Demütigung Chinas nach dem Ende des globalen Konfliktes führten zu einer
Konvergenz der außenpolitischen Ziele und Interessen der beiden Staaten. Sie
begünstigten damit auch den Kulturtransfer. Zudem war der Austausch zwischen
China
und
Deutschland
eng
mit
innenpolitischen
Konflikten
und
innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen verwoben. So funktionalisierten
chinesische Akteure deutsche Zivilberater, die sich in China aufhielten, für ihre
Interessen. Diese Ratgeber, die – wie der bereits erwähnte Gustav Amann – in
Deutschland für chinesische Projekte warben, wurden im Allgemeinen mit
Einzelverträgen ausgestattet, um sie im innerchinesischen Konkurrenz- und
Machtkampf gezielt für partikulare Ziele einsetzen zu können. Zugleich wurden
deutsche Berater in Konflikte einbezogen, die in ihrem Heimatland geführt wurden.
So verdächtigte das Auswärtige Amt Amann in den frühen dreißiger Jahren, deutsche
Unternehmen im Wettbewerb um Aufträge gegeneinander auszuspielen und dadurch
einseitig für deren chinesischen Kooperationspartner Partei zu nehmen.20 Die
Wirkungen von Prozessen grenzüberschreitender Übertragung können deshalb ohne
detaillierte Analysen der Rezeptionsvoraussetzungen und -bedingungen und der
20
Linke: Anmerkungen (wie Anm. 9), S. 260, 267-269.
jeweils
involvierten
Akteure
nicht
angemessen
interpretiert
werden.
Formen der Aneignung und Anverwandlung
Neben den Bedingungen und Personen des Kulturtransfers muss die Forschung auch
die Formen der Aneignung von Wissen, kulturellen Praktiken und der damit
verbundenen Semantiken untersuchen. Dabei sind die Motive der Aufnahme bzw.
Anverwandlung ebenso festzustellen und zu erklären wie die symbolische
Kommunikation zwischen ‚fremder’ und ‚eigener’ Kultur. Zudem sind Filtereffekte
zu beachten, da sich Kulturtransfers keineswegs nur linear und im bilateralen
Verhältnis, sondern im Allgemeinen multilateral vollziehen. So erfolgte die
Erneuerung der Geschichtswissenschaft in China nach 1918/19 durch eine Rezeption
der westlichen Historiographie über Japan. Ein Beispiel dafür ist der chinesische
Historiker Fu Sinian (1896-1950), der in den frühen zwanziger Jahren in Berlin
studiert hatte und nach seiner Rückkehr 1926 die Forschungsorientierung der
chinesischen Geschichtswissenschaft im Rückgriff auf die historistische Lehre
Leopold von Rankes vorantrieb. Rankes Werke hatte er vor allem über Ernst
Bernheims Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie
(1889) kennengelernt, das um 1900 auch in Japan die Geschichtsschreibung des
deutschen Historismus vermittelte. Fu Sinian trug offenbar nachhaltig zur Aneignung
einzelner Elemente des Historismus in China bei, nicht zuletzt dadurch, dass er ihn
mit
indigenen
Traditionen
wahrheitsgetreuer
Darstellung
und
empirischer
Beweisführung verband.21 Die lange Gewöhnung an diese wissenschaftlichen
Grundsätze, die auch im Konfuzianismus verwurzelt sind, begünstigte in China die
partielle Übertragung des deutschen Historismus. In der Regel wurden von den
Vermittlern und den Rezipienten also vor allem solche Wissenselemente ausgewählt,
die mit den indigenen Bedingungen vereinbar schienen. Sie wurden dabei oft so gut
in die neuen Kontexte eingepasst, dass sie letztlich als eigener Traditionsbestand
erschienen; sie wurden ‚nostrifiziert’.
Wirkungen
21
Ying-Shih Yü: Überlegungen zum chinesischen Geschichtsdenken, in: Westliches
Geschichtsdenken. Eine interkulturelle Debatte, hg. v. Jörn Rüsen, Göttingen 1999, S. 237-268; Georg
G. Iggers u. Q. Edward Wang (with the assistance of Supriya Mukherjee): A Global History of
Modern Historiography, Harlow 2008, bes. S. 216, 224f., 227.
Im Allgemeinen verändert die Rezeption von Traditionen aus einem fremden
Kulturbereich die empfangende Kultur, oft sogar nachhaltig. Von der Forschung
können diese Folgen und Auswirkungen des Kulturtransfers durch vergleichende
Analysen der empfangenden Gesellschaft vor und nach dem Prozess der Übertragung
erfasst werden. Dabei sind die Ausgangslagen und die Bedingungen des Transfers
ebenso zu untersuchen wie seine Folgen und Entwicklungsdynamiken. Insbesondere
müssen Umdeutungen und Neucodierungen der jeweils indigenen Kultur
nachgezeichnet und erklärt werden. In dieser Hinsicht ist mit Daniel Rodgers
zwischen „transnational borrowings and imitation, adaptation and transformation“ zu
unterscheiden.22
Auch beim Kulturtransfer zwischen Deutschland und China verbanden sich
fremde Einflüsse und indigene Traditionen. Aus den vielschichtigen und
ambivalenten Prozessen der Übertragung und Aneignung gingen in der Regel
Hybridformen hervor. So nahm die 1932 verabschiedete Gesetzgebung zur Reform
des Bildungswesens im Reich der Mitte zwar amerikanische Impulse sowie
Vorschläge des Untersuchungsberichts der von Carl Heinrich Becker geleiteten
Erziehungskommission des Völkerbundes auf, verband diese aber mit chinesischen
Traditionen. Während das Gesetz die Aufteilung der Primarschule in eine vierjährige
Unterstufe und eine zweijährige Oberstufe fortschrieb, wurde die Sekundarschule
nach amerikanischem Vorbild in eine Unterstufe (Junior High School) und Oberstufe
(Senior High School) aufgeteilt. Die chinesische Seite nahm die Empfehlungen der
Erziehungskommission auch auf, indem sie die Einrichtung von Berufsschulen mit
ein- bis sechsjährigen Kursen und die Gründung von Lehrerbildungsanstalten
anordnete.23
3. Fazit: Interaktionen und Netzwerke im asymmetrischen Kulturtransfer zwischen
Deutschland und China
Wie das Beispiel von Deutschland und China zeigt, werden im Transferprozess
nationalstaatliche und kulturelle Differenzen keinesfalls eingeebnet. Denn die
22
Daniel Rodgers: Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge/Mass. 1998,
S. 7.
23
Kuß: Entsendung (wie Anm. 9), S. 215f.
vermittelnden
Akteure
müssen
stets
den
Voraussetzungen,
Bedingungen,
Traditionsbeständen und Erwartungen im jeweiligen Land gerecht werden. Vielfach
vollzog
sich
die
Aneignung
schleichend,
im
Rekurs
auf
autochthone
Traditionsbestände. Die Wirksamkeit dieser Adaptionsprozesse beruhte darauf, dass
das aufgenommene Wissen nicht oder allenfalls partiell als fremdes Kulturgut
erschien und nostrifiziert werden konnte. Schließlich verweist die Erkenntnis, dass
die Transfers in der Zwischenkriegszeit asymmetrisch verliefen, auf die Bedeutung
von Machtkonstellationen als Handlungsrahmen. Konzepte wie ‚Akkulturation’,
‚Hybridisierung’ und ‚Symbiose’ sollten diese Ungleichheit in Rechnung stellen.
Da die historische Transferforschung vorrangig den Abbau der Distanz analysiert,
geht sie oft unreflektiert von einem Erfolg des vorgeblich linear verlaufenden
Prozesses aus. Wie die Untersuchung der Übertragungen zwischen Deutschland und
China zeigt, wird dieser Prozess aber immer wieder durch Abwehrreaktionen gestört
oder sogar blockiert. Vermittler passen nicht nur transferierte Güter in die jeweiligen
Aufnahmekontexte ein, sondern sie profilieren durch Alteritätskonstruktionen auch
eigene Traditionsbestände. So stabilisierte die Ablehnung des als fremd definierten
und konzipierten deutschen Modells in den zwanziger und dreißiger Jahren in China
die eigene Kultur und das damit verbundene Selbstverständnis. Die Vierte-MaiBewegung
bildete
Identität
auch
durch
die
Konstruktion
von
Alterität.
Kulturvermittler konnten sogar zur Entstehung von Feindbildern beitragen. Im
deutsch-chinesischen Verhältnis hat Austausch nicht nur zu gegenseitigem
Verständnis und Annäherung, sondern wiederholt auch zu offener Feindseligkeit
geführt. Kulturtransfer kann daher auch kritisch betrachtet werden; er verläuft
keineswegs notwendig erfolgreich und ist in normativer Hinsicht durchaus
ambivalent.
Am historischen Beispiel Deutschlands und Chinas wird darüber hinaus deutlich,
dass Transaktionsprozesse oft asymmetrisch sind. Obgleich das Machtgefälle nach
dem Ersten Weltkrieg geringer war als vor 1914, blieben die Beziehungen ungleich.
Die ‚asymmetrische Referenzverdichtung’, die sich in der Imitation oder Abwehr
anderer Bezugsgesellschaften niederschlug und in China im 19. Jahrhundert ihren
Höhepunkt erreicht hatte, prägte auch die Zwischenkriegszeit, wenngleich weniger
tiefgreifend als zuvor.24 In China war die Ti-yong-Formel, nach der westliche
Kenntnisse für die Verwendung (yong) chinesischen Wissens als kulturelles Substrat
Zum Begriff der ‚asymmetrischen Referenzverdichtung’ vgl. Osterhammel: Die Verwandlung der
Welt (wie Anm. 3), S. 1293.
24
(ti) genutzt werden sollten, weiterhin prägend.25 Dabei verliefen die Transfers, mit
denen die vermittelnden chinesische Akteure auf die Stärkung und Mobilisierung
eigener staatlicher Ressourcen zur Modernisierung ihres Landes zielten, oft über die
Anverwandlung japanischer Institutionen, Konzepte und Ideen, die ihrerseits von
westlichen Mächten beeinflusst worden waren.
Analysen transnationaler oder interkultureller Netzwerke vermögen Transfers als
ein (asymmetrisches) Interaktions- und Transaktionsverhältnis zu fassen, das in
spezifische politische, gesellschaftliche und kulturelle Konstellationen ebenso
eingebettet ist wie in historische Kontexte. Sie eröffnen damit eine ‚relationale
Perspektive’ auf die Geschichte des Verhältnisses europäischer Staaten zu
außereuropäischen Räumen. Studien zu den interkulturellen Austauschprozessen
zwischen Deutschland und China in der Zwischenkriegszeit vermitteln deshalb nicht
nur neue historische Erkenntnisse, sondern auch vertiefte Einsichten in
grenzüberschreitende Übertragungsprozesse, die sich gegenwärtig vollziehen.26
25
Osterhammel: Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 3), S. 1293.
Sebastian Conrad u. Andreas Eckert: Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur
Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, hg. v.
Sebastian Conrad, Andreas Eckert u. Ulrike Freitag, Frankfurt/M. u. New York 2007, S. 7-49, hier S.
24. Hierzu auch aus der Perspektive der Geschichtsschreibung zu Europa die Überlegungen in Arnd
Bauerkämper: Europe as Social Practice: Towards an Interactive Approach to Modern European
History, in: East Central Europe 36 (2009), S. 20-36.
26
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