Europa in der werdenden Neuzeit

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Europa in der werdenden Neuzeit - oder:
"Was heißt und zu welchem Ende studiert man europäische Geschichte?"
Heineken Lecture von Heinz Schilling,
Montag, 23. September 2002, 4.00 p.m.
Academiegebouw, Rapenburg 73, Leiden
Mevrouw de
Mijnheer de
Zeer gewaardeerde toehoorders
I.
Heute, da die voranschreitende Globalisierung das Interesse an Europa und
seiner Geschichte im öffentlichen Bewußtsein zurücktreten läßt und auch
Historiker die Überwindung "eines kleineuropäischen Geschichtsstudiums"
fordern, mag es wie eine romantische Flucht in eine eurozentrische
Vergangenheit erscheinen, Schillers Jenaer Antrittsvorlesung von 1789 "Was
heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" auf die
europäische Geschichte zu übertragen. Einem solchen Eindruck setze ich die
These entgegen, daß europäische Geschichte gerade angesichts der
Globalisierung und der Ausweitung unseres Geschichtsinteresses auf die ganze
Welt not tut, und zwar aus innereuropäischen und aus universalgeschichtlichen
Gründen.
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Innereuropäisch tut europäische Geschichte not, weil es gar nicht zutrifft, daß
ein "kleineuropäisches Geschichtsstudium" überwunden werden müßte - aus
dem einfachen Grunde, weil ein solches Studium kaum irgendwo eingerichtet ist
und in allen Ländern Europas gegenwärtig noch die Nationalgeschichte
dominiert. Universalgeschichtlich tut europäische Geschichte vor allem aus
theoretisch-methodologischen Gründen not. Denn ebensowenig wie es heute
noch um jene evolutionistische Teleologie der Aufklärung gehen kann, die - wie
Schiller in der erwähnten Antrittsvorlesung - das europäische "Zeitalter der
Vernunft" zum Maßstab der Weltgeschichte machte, ebensowenig ist uns mit
abstrakten Betrachtungen über mondiale Zusammenhänge geholfen. Moderne
Universalgeschichte ist vielmehr als Zivilisationsvergleich und
interzivilisatorische Beziehungsgeschichte anzulegen. Das setzt aber die
Erforschung der einzelnen Weltzivilisationen voraus, und damit auch
europäische Geschichte als die Geschichte des spezifischen europäischen
Zivilisationstypus.
Kurz - es scheint mir geboten, Ansätze, Methoden und Themenschwerpunkte
einer europäischen Geschichte zu entwickeln, die sich einerseits nicht mehr dem
Primat der Nationalgeschichten unterwirft und andererseits die
universalgeschichtliche Perspektive eröffnet, deren Notwendigkeit heute
niemand mehr in Frage stellt, dem die Geschichte mehr als eine antiquarische
Wissenschaft ist. Auf einer solchen Basis ließe sich dann der
interzivilisatorische Vergleich mit anderen Typen historischer Zivilisation
durchführen und eine Beziehungsgeschichte der Zivilisationen und Kulturen
schreiben.
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II.
Wie ist eine solche Geschichte Europas anzulegen? Auf welchen Raum bezieht
sie sich? Wo liegen ihre epochalen Schwerpunkte? Was könnten oder sollten
ihre Hauptthemen sein?
1. Methodisch-theoretischer Ansatz.
Geschichtsschreibung ist außerordentlich "gegenwartsfühlig" - will heißen, sie
reagiert in ihren Fragestellungen und Zugehensweisen sehr sensibel auf die sich
ändernden Probleme und Befindlichkeiten der Gegenwart: Nachdem in den
1970er und 1980er Jahren die bis dahin dominierende traditionelle
Nationalgeschichte durch eine Gesellschafts- und Strukturgeschichte abgelöst
worden war, die Europas Weg in die Moderne erforschte und dabei Nationen
und Einzelstaaten nicht näher berücksichtigte, verschoben sich in den 1990er
Jahren die geistigen Orientierungsmarken erneut radikal. Das war eine Folge der
politischen Umbrüche in Mittel- und Osteuropa, aber auch der mit Macht
einsetzenden Globalisierung. In Westeuropa wurde das historische Bewußtsein
zutiefst durch das Wiederauftauchen jener mittel- und ostmitteleuropäischen
Hälfte Europas umgepflügt, von der man sich Jahrzehnte lang abgewandt hatte.
Und da dort eine wahre Renaissance von Nationen und nationalen Kulturen zu
beobachten war, die zuvor von supranationalen Ideologien erdrückt worden
waren, kehrte auch die Erkenntnis zurück, daß Einzelstaat, Nation und nationale
Kulturen legitime Kategorien europäischer Geschichte sind, allerdings ohne daß
darüber die übergreifenden Strukturen und Prozesse, in die sie eingebunden und
deren Teil sie waren, aus dem Auge verloren wurden: "Nederlandse cultuur in
europese context" - so lautete das 1991 eingerichtete prioriteitsprogramma der
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Nederlandse Organisatie voor Wettenschapelijk Onderzoek, das soeben durch
fünf große Darstellungsbände abgeschlossen wurde.
Damit ergibt sich als erste typologische Bestimmung der europäischen
Zivilisation ihre politische, kulturelle und mentalitätsmäßige Differenzierung in
unterschiedliche Länder und Nationen. Daraus ergibt sich für die Historiker eine
Komplementäraufgabe: Sie müssen die Geschichte der einzelnen Länder und
Völker Europas erforschen, um dadurch die Pluralität der nationalen Kulturen
und Staaten samt dem daraus resultierenden Konzert der Mächte als ein
wesentliches Strukturmerkmal des neuzeitlichen Europa zu erfassen. Und sie
müssen die diesen gemeinsamen Haupt- oder Kardinallinien herausarbeiten, die
das überstaatliche Profil Europas ausmachen. In der eingangs entwickelten
universalgeschichtlichen Perspektive muß es dann drittens um den Vergleich
und die Beziehungsgeschichte mit den andern Zivilisationen der "Wider World"
(J.H.Parry) gehen.
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2. Räumliche Abgrenzung; epochale Schwerpunkte
Die Begegnung mit anderen Kulturen ergab sich schon alleine dadurch, daß
Europa als Zivilisation geographisch-räumlich stets offen war: In der Antike
hatte sich eine Kernzivilisation beziehungsweise ein "älteres Europa" gebildet,
das sich über Jahrhunderte konzentrisch ausweitete und den Norden und Osten
als "neueres Europa" integrierte (Peter Moraw). Im äußersten Westen des
Kontinents, auf der Iberischen Halbinsel, dehnte sich der europäische
Zivilisationstypus sogar erst ausgangs des 15. Jahrhunderts bis an die Grenzen
des Kontinents aus, als die Reconquista die Vertreter der arabisch-islamischen
Zivilisation nach Nordafrika vertrieb. - Selbst über die Meere hin war Europa
offen, wie am eindrucksvollsten die atlantische Expansion der Portugiesen und
Spanier belegt. Nimmt man schließlich die gleitenden Übergänge zum
Zwillingskontinent Asien hinzu, so ist offensichtlich, daß "Europa" durch andere
als räumlich-geographische Kriterien zu definieren ist.
Gehen wir von sachlich-inhaltlichen Unterscheidungskriterien aus, so scheint es
mir geboten, von einem römischen lateinisch-christlichen Zivilisationstypus
"Europa" zu sprechen, der sich durch spezifische Strukturen und Prozesse
konstituierte. Unter diesen kam dem Römischen Recht, den gemeindlichgenossenschaftlichen Elementen der politischen Organisation sowie den
spezifischen Beziehungen zwischen Religion und Welt beziehungsweise Kirche
und Staat besonderes Gewicht zu. Das ist gleich näher zu beschreiben.
Dieser Zivilisationstypus römisches, lateinisch-christliches Europa ist
abzugrenzen sowohl vom griechischen beziehungsweise russischen orthodoxchristlichen Europa als auch von den europäisch-atlantischen
Mischzivilisationen, die sich seit dem 16. Jahrhundert in Amerika
herausbildeten. Eine solche Unterscheidung schaltet die normative Eurozentrik
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aus, die mit Konzepten wie "Western Civilization" oder "europäische
Expansion" verbunden war. Denn Rußland ebenso wie die
Überseegesellschaften würden nicht als minderentwickelte Randzonen oder
Appendizes Europas, sondern als eigenständige Zivilisationen behandelt. Und
die Beziehungsgeschichte zwischen ihnen und Europa wäre nicht mehr als
Einbahnstraße angelegt, auf der europäische Institutionen wie "Staat",
"kapitalistisch-rationales Wirtschaftssystem" oder "Bürger- und
Menschenrechte" in die Welt gelangten. Im Vordergrund sollen vielmehr die
Wechselwirkungen und der Austausch mit Rußland oder Übersee stehen, so daß
auch der Gewinn deutlicher zutage träte, den Europa und einzelne seiner
nationalen Sub-Kulturen - etwa die bekanntermaßen weltausgreifende
niederländische - aus der Welt zogen, und zwar keineswegs nur in materieller
Hinsicht, sondern auch und vor allem als Selbsterkenntnis und
Bewußtseinserweiterung in der Begegnung mit dem Fremden oder gar als
Herausbildung eines die Welt durchdringenden und die eigenen Kräfte
weckenden frontier-Geistes, vergleichbar jenem Geist permanenten Aufbruches,
den die berühmte These von Frederick Jackson Turner für die Vereinigten
Staaten seit dem 19. Jahrhundert in Anspruch nimmt.
Epochal erscheinen mir angesichts der post-nationalstaatlichen Aufgaben in
Gegenwart und Zukunft aus der europäischen Vergangenheit weniger die
Höhepunkte des Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert erhellend als die pränationalstaatliche Welt Alteuropas. Vor allem die Zeit zwischen 1250 und 1750
verdient besonderes Interesse. Denn in diesem halben Jahrtausend bildete sich
das prä-nationalstaatliche, multikonfessionelle und politisch plurale Europa der
frühen Neuzeit heraus, an das die gemeinsame politische Kultur und Identität
eines post-nationalstaatlichen Europas weit eher anknüpfen kann als an die
verfestigten und verfeindeten Strukturen der nationalistischen Epoche des 19.
und 20. Jahrhunderts.
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Das gilt es im folgenden am Beispiel mir besonders wichtig erscheinender
Strukturen und Prozesse aufzuzeigen, die sich in jener Epoche durchsetzten und
die das Profil der "Neuen Zeit Europas" ausmachen.
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3. Der religionssoziologische Typus Europa
Ich beginne mit theologie- und kirchengeschichtlichen Zusammenhängen, die
heute nur noch schwer zu vermitteln sind, obgleich sie wie kaum etwas anderes
in der zweitausendjährigen Geschichte Europas mit dazu beigetragen haben,
Rationalität und Säkularität der europäischen Moderne hervorzubringen:
Der Zivilisationstypus Europa beruhte wesentlich auf einem spezifischen
religionssoziologischen Profil, das durch zwei Grundstrukturen und einen
dadurch bedingten säkularen Fundamentalprozeß gekennzeichnet war.
Erstens waren Religion und Gesellschaft, politische und kirchliche Ordnung
stets eng miteinander verzahnt. Im modernen Verständnis von Gesellschaft sind
Religion und Kirche untergeordnete Teile eines größeren säkularen Systems. Im
Gegensatz dazu waren Religion und Kirche bis zur Aufklärung und zur
Französischen Revolution tektonisch tragende Säulen der gesellschaftlichen
Ordnung insgesamt. Es galt die Maxime religio vinculum societatis - Religion
ist das einigende Band der Gesellschaft und für ein geordnetes Zusammenleben
unverzichtbar. Daher waren in Alteuropa, also in den Jahrhunderten zwischen
Antike und Französischer Revolution, Religion und kirchliche Institutionen von
eminenter politischer und sozialer Bedeutung, und religiöser Wandel war immer
zugleich sozialer Wandel.
Zweitens, diese Verzahnung brachte keinen Monismus hervor, der Kirche und
Staat ununterscheidbar gemacht hätte, wie das in asiatischen, zu einem gewissen
Maße auch in der osteuropäischen, orthodoxen Zivilisation der Fall war, ebenso
unter dem religiösen Fundamentalismus der Gegenwart. Das lateinische
Christentum war vielmehr durch einen Dualismus von Kirche und Welt
charakterisiert, in dem beide zwar eng aufeinander bezogen waren, aber stets
selbständig blieben, für jeden erkennbar in der kirchlichen und weltlichen
Doppelspitze Papst und Kaiser, später auch die nationalen Könige oder Fürsten.
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Geistliche und weltliche Gewalt waren ausbalanciert, und damit die Macht
sowohl des Staates als auch der Kirche begrenzt, womit zugleich hohe Barrieren
gegen religiösen oder politischen Fundamentalismus errichtet waren.
Aus diesem Dualismus ergab sich eine gesellschaftliche, geistige und kulturelle
Dynamik, die Kirche und Gesellschaft häufig gegeneinander auftreten ließ, vor
allem in den Städten, ohne daß das aber eine grundsätzliche Gegnerschaft
bedeutete. Daraus ergibt sich drittens, daß Europa - wie ich thesenhaft
formulieren möchte - von Anfang an auf Säkularisation angelegt war. Diese
Säkularisation bedeutete aber nicht einfach, daß Kirche und Welt schrittweise
auseinander traten. Es handelte sich vielmehr um einen dialektischen Prozeß, in
dessen Verlauf religiöse Energien in die weltlichen Bereiche eingespeist
wurden, dort in gewandelter Form fortwirkten und so eine besondere soziale,
politische oder kulturelle, ja selbst wirtschaftliche Dynamik freisetzten.
Ein einprägsames Beispiel für diese Übertragung ehemals religiöser
Legitimation und Emphase auf innerweltliche Zusammenhänge mittels
Säkularisation ist die Friedenstaube. Ursprünglich im Alten Testament ein
Noah-geschichtliches himmlisches Zeichen für die Versöhnung und den Frieden
zwischen Gott und den Menschen nach der Sündflut, wurde sie Schritt für
Schritt zu einem Symbol des rein innerweltlichen Friedens - zunächst noch mit
christlich-religiösen Konnotationen, so symbolhaft für den Westfälischen
Frieden, schließlich dann in der modernen Friedenbewegung ganz losgelöst von
religiös-theologischen Vorstellungen, aber weiterhin ausgestattet mit der
"säkularisierten" Legitimation der Religion und dem "Kredit" christlicher
Emphase.
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4. Staaten und partizipatorische Politikkulturen
Eine zweite Kardinallinie im europäischen Zivilisationsprofil sind die politische
Kultur und der Staat, verstanden als spezifische Form politischer Ordnung und
charakterisiert durch Flächenherrschaft, sachlich-bürokratische Verwaltung,
rationales Recht und ordentlichen Gerichtsgang, Institutionalisierung und vor
allem durch Autonomie der höchsten Staatsgewalt oder Souveränität. Auch die
Entstehung dieses frühmodernen Staates war ein "Vorgang der Säkularisation"
(Ernst-Walter Böckenförde), in dessen Verlauf ehemals religiöse Energien auf
den Staat übergingen. Doch nicht diese institutionelle Seite, die noch kürzlich
von Wim Blockmans und Wolfgang Reinhard ausführlich und eindrucksvoll
beschrieben wurde, soll uns heute beschäftigen. Vielmehr soll es um die
gleichsam kontrapunktisch zur Staatsbildung entstandene politische Kultur
gehen, also um das Ringen um die beste innere Ordnung, das in theoretischen
Abhandlungen, aber auch ganz praktisch in zahllosen Aufstands- und
Bürgerbewegungen ausgetragen wurde.
Auf diesem Wege hatte sich ausgangs des Mittelalters eine partizipatorische
Politikkultur herausgebildet, die für den lateinisch-europäischen
Zivilisationstypus nicht weniger charakteristisch war als der Staat. Mit Blick auf
die meist vom Adel dominierten Stände hat das bereits anfangs des vorigen
Jahrhunderts der Verfassungshistoriker Otto Hintze herausgearbeitet.
Inzwischen haben Sozial- und Stadthistoriker auf weitere Elemente dieser
partizipatorischen Politikkultur aufmerksam gemacht und zu deren
Beschreibung und Analyse die Modelle "alteuropäischer Republikanismus"
(Helmut Königsberger), "Kommunalismus" (Peter Blickle) und
"Stadtrepublikanismus" (Heinz Schilling) entwickelt. Damit wird deutlich, daß
die alteuropäische Partizipation weit über den Adel und das Ständewesen
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hinausreichte und Bürger- oder Nachbarschaftsverbände der Städte ebenso
einschloß wie bäuerliche Gemeinden.
Es ist zwar richtig, daß im 17. Jahrhundert der absolutistische Machtstaat mit
seinen Partizipation beschneidenden autokratischen Strukturen in den
Vordergrund trat. Vernichtet wurde die Partizipationskultur jedoch nirgendwo,
so daß heute die Historiker das Absolutismusmodell längst nicht mehr wörtlich
nehmen oder den Begriff "Absolutismus" sogar ganz verwerfen. Vor allem aber
ist zu betonen, daß stets nur ein Teil Europas "absolutistisch" regiert wurde, in
der anderen Hälfte aber weiterhin Stände-, Bürger- oder Gemeindebeteiligung
selbstverständlich waren. Wenn das im Geschichtsbewußtsein der Europäer
noch kaum hinreichend präsent ist und libertäre Politikkulturen wie diejenige
der Adelsrepublik Polen oder der Niederländischen Republik gelegentlich sogar
bespottet werden, dann ist das eine Folge der Jahrhunderte langen
Verherrlichung des Machtstaates durch Politiker und Historiker.
Und es war auch wirklich so, daß sich die absolutistisch regierten Staaten
Frankreich, Preußen, Österreich und Rußland in der Machtkonkurrenz des
frühneuzeitlichen Staatensystems besser behaupteten als die partizipatorischen.
Nachdem nun aber die Konfrontation der Mächte der Kooperation der
europäischen Staaten und Gesellschaften gewichen ist und wir gelernt haben,
daß es neben äußerer Machtentfaltung und Selbstbehauptung auch und vor allem
auf die innere Integrationskraft eines Gesellschaftssystems ankommt, können
wir heute jene partizipatorische Politikkultur wieder unvoreingenommen
würdigen und die Vorteile libertär-partizipatorischer Integration gegenüber
autokratisch-absolutistischem Zwang erkennen.
In bezug auf die Niederländische Republik, die Schweizer Kantone oder die
deutschen Reichsstädte ist uns das vertraut. Weniger bekannt ist dagegen und
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sollte nicht zuletzt mit Blick auf die Osterweiterung der Europäischen Union in
Erinnerung gerufen werden, daß sich ausgangs des Mittelalters in
Ostmitteleuropa eine ganz ähnliche Politikkultur herausgebildet hatte: Gefördert
durch das Aussterben einheimischer Dynastien und die damit einhergehende
generelle Schwächung des Königtums sowie durch einen ausgeprägten
Regionalismus - besonders ausgeprägt in der "zusammengesetzten" Monarchie
Böhmen mit den weitgehend selbständigen Kronländern Böhmen, Mähren,
Schlesien, Ober- und Niederlausitz - kam es dort zu einem raschen Ausbau der
politischen Freiheiten und Partizipationsrechte und korrelierender Begrenzung
des Königs, der in der monarchia mixta fast nur noch primus inter pares war.
Von Polen-Litauen über Böhmen bis nach Ungarn-Transsilvanien bestand im
15. und 16. Jahrhundert eine Zone freiheitlicher Rechts- und Politikordnung, die
"im westlichen Europa nur hier und dort verstreute Entsprechungen findet"
(Gottfried Schramm) und konsequenter noch als England eine politische Kultur
der Partizipation aufbaute. Gewalt und Zwang haben diese partizipatorischlibertären Politikkulturen zerstört - mit langfristigen gesellschaftlichen und
politischen Konsequenzen für diese Zone Europas. In Böhmen geschah das nach
der Niederlage am Weißen Berg 1620 und in Ungarn im späteren 17.
Jahrhundert durch den habsburgisch-österreichischen Absolutismus; in Polen
erst ausgangs des 18. Jahrhunderts durch das Diktat der Militärmächte
Österreich, Preußen und Rußland.
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5. Das internationale System unabhängiger Staaten
Es käme nun allerdings einer Geschichtsfälschung gleich, den Machtstaat und
das von ihm beherrschte internationale Staatensystem als Störfaktoren oder gar
Fehlentwicklung der europäischen Geschichte darzustellen. Im Gegenteil, die
Herausbildung eines internationalen Mächtesystems partikularer, autonomer
Staaten zwischen 1450 und 1650 ist nicht weniger charakteristisch und
folgenreich für Europa als die genannten religionssoziologischen und
politikkulturellen Zusammenhänge. Aus Zeitgründen kann ich dieses gewaltige
kriegerische, aber auch diplomatische und geistige Ringen nicht schildern, das
Europa rund zweihundert Jahre verdichteter Gewalt innerhalb und zwischen den
Staaten brachte. Das waren gleichermaßen "Staatenbildungs- und Staatenkriege"
(Johannes Burkhardt), das heißt sie dienten einerseits der Entscheidung über die
Machtverteilung innerhalb der noch unfertigen Staaten und andererseits der
Formierung einer gesamteuropäischen Politikordnung. Diese Konflikte waren
nötig geworden, weil sich die mittelalterlichen Herrschaften zu Staaten mit
zunehmend egoistischen Staateninteressen umbildeten und weil parallel dazu
angesichts einer rasanten Verkehrs-, Bevölkerungs- und
Kommunikationsverdichtung die alltäglichen Kontakte zwischen ihnen
zunahmen, die friedlichen ebenso wie die konflikthaften. Das Verhältnis der
Einzelstaaten zueinander ebenso wie die Staatenordnung waren machtpolitisch
und konzeptionell neu zu bestimmen.
Seit Mitte des 16. Jahrhunderts kam hinzu, daß viele dieser Kriege als Glaubensund Konfessionskriege ausgetragen wurden, die inneren ebenso wie die äußeren
und dort gerade diejenigen, die über die Gestaltung des Mächteeuropa
entschieden - wie der "tachtigjarige oorlog" oder der Dreißigjährige Krieg, die
beide sowohl gegen einen äußeren Feind, vorrangig gegen Spanien, als auch um
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des Glaubens und um der inneren Verfassung der niederländischen Republik
beziehungsweise des Heiligen Römischen Reiches willen geführt wurden.
Mitte des 17. Jahrhunderts war es dann möglich, die neuzeitliche Staats- und
Staatenordnung Europas vertrags- und völkerrechtlich festzuschreiben.
Voraussetzung dafür war es, daß drei langfristige Prozesse zu einer Klärung
gekommen waren - nämlich
erstens, daß sich die Staaten im Innern gefestigt hatten, und zwar nicht zuletzt
durch die Kriege - was selbst für die niederländische Republik gilt! - , zweitens,
daß die zwischenstaatlichen Machtverhältnisse fürs erste geklärt waren, das
heißt konkret die habsburgischen, vor allem spanischen Hegemonialansprüche,
die seit Kaiser Karl V. eine plurale Staatenordnung Europas zu blockieren
drohten, endgültig niedergerungen waren; und drittens, daß der
Fundamentalismus der konfessionellen Weltanschauungssysteme überwunden
wurde, der für zwei Generationen die eingangs geschilderte Tendenz des
lateinischchristlichen Europa auf Säkularisation blockiert hatte, so daß die
Unterscheidung zwischen Politik und Religion, zwischen Interessen des zivilen
Gemeinwesens und denjenigen der Kirchen zur Norm werden konnte.
In den Friedenschlüssen von Westfalen einschließlich des Vrede van Munster
von 1648, von Olivar 1660 zwischen Schweden, Polen, Kaiser und
Kurbrandenburg und im Pyrenäenfrieden zwischen Frankreich und Spanien von
1659, die erstmals auf großen, bis heute der Diplomatie als Vorbild dienenden
Staatenkongressen ausgehandelt wurden, wurde endgültig der säkulare
Pluralismus autonomer Staaten und die rechtliche Gleichheit aller Mitglieder des
Mächteeuropa vertrags- und völkerrechtlich festgelegt. Und die säkulare
Autonomie des Politischen war ganz konkret dadurch gesichert worden, daß sich
in Münster die Vertragspartner über die Konfessionsgrenzen hinweg verpflichtet
hatten, dem abzusehenden und auch tatsächlich erfolgten Protest des Papstes
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keinerlei Geltung zu gewähren. Damit hatten auch die katholischen Leitmächte
den Anspruch des Papstes, als pater commune die zwischenstaatlichen
Verhältnisse regeln zu können, ein für allemal zurückgewiesen.
Damit war nicht der Ewige Frieden erreicht, wohl aber war der Krieg eingehegt
und bestimmten Regeln unterworfen worden, und ein neuer gesamteuropäischer
Flächenbrand konnte auf dieser Basis anderthalb Jahrhunderte lang, nämlich bis
zu den Französischen Revolutionskriegen, verhindert werden. Vor allem aber
war mit dieser europäische Mächteordnung, die wenig später das Prinzip der
Balance of Power entwickelte, eine weitere Barriere gegen
Hegemoniebestrebungen nach Art Spaniens unter Philipp II oder Frankreichs
unter Ludwig XIV. errichtet. Neben der Macht relativierenden, kontrollierenden
und ausballancierenden Wirkung des erwähnten Staat-Kirchen-Dualismus war
das der zweite Eckstein in der Konstruktion individueller und kollektiver
Freiheitssicherung, die das europäische Haus stabilisierte. In dieser Tradition
konnten im 20. Jahrhundert selbst die faschistischen und kommunistischen
Ansprüche auf Beherrschung des Kontinents zurückgewiesen werden.
Das in der frühen Neuzeit etablierte System autonomer, aber völker- und
vertragsrechtlich verbundener Partikularstaaten hat Europa nicht Kriege, wohl
aber die politisch, ökonomisch und vor allem geistig lähmende Bedrückung
durch ein Groß- und Einheitsreich oder eine langjährige Hegemonialmacht
erspart.
6. Kulturelle Differenzierung, Migration und Minderheiten
Nicht weniger folgenreich als die politisch-staatliche war die kulturelle und
geistige Differenzierung und Pluralisierung des Kontinents. Nachdem bereits
unter dem Dach der mittelalterlichen Kirche eine beachtliche Vielfalt sozioTexte/vorträge/Leiden 2002
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religöser und sozi-kultureller Lebensentwürfe möglich geworden war bis hin zu
den bürgerlichen, individuellen Frömmigkeitsformem der Devotio Moderna,
wurde bekanntlich im 16. Jahrhundert die weltanschauliche und institutionellkirchliche Einheitlichkeit des lateinischen Christenheit endgültig aufgebrochen.
Die Historiker haben das traditionell mit Luther, Calvin und der protestantischen
Reformation in Verbindung gebracht. Heute wissen wir, daß auch die
katholische Kirche an der frühmodernen Differenzierung beteiligt war. Und wir
schreiben die Veränderungen eher der sogenannten Konfessionalisierung als der
Reformation selbst zu, also der Herausbildung von drei, nimmt man den
Anglikanismus hinzu, von vier Konfessionskirchen, denen je unterschiedliche,
in ihren Strukturen und Funktionen aber durchaus vergleichbare
Konfessionsmentalitäten und Konfessionskulturen entsprachen - jede von ihnen
gleichermaßen neu und neuzeitlich die katholische nicht anders als die
lutherische, reformierte oder anglikanische, wenn auch jede reklamierte, das alte
und ursprüngliche Christentum zu vertreten.
Diese Konfessionalisierungen haben in der Verbindung mit Staats- und
Nationenbildung mitgewirkt, die frühmodernen Gesellschaften und die Vielfalt
von politischen Identitäten hervorzubringen, die Europa seit dem 16.
Jahrhundert ausmachen und die jeder Reisende noch heute erleben kann, wenn
er von Skandinavien nach Spanien oder Italien oder auch nur von Amsterdam
nach Antwerpen reist.
Vor allem aber haben die seit Mitte des 16. Jahrhunderts voranschreitenden
Konfessionalisierungen der europäischen Staaten und Gesellschaften in einem
gleichsam dialektischen Prozeß den weltanschaulichen Pluralismus der Moderne
hervorgebracht, der das geistige, rechtliche und soziale Profil des modernen
europäischen (und amerikanischen) Gesellschaften ausmacht. Denn die rigorose
weltanschauliche, politische, soziale und religiös-kulturelle Integration,
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Abgrenzung und Feindschaft, die den Konfessionalisierungen eigentümlich
waren und sehr häufig in blutiger Gewalt innerhalb und zwischen den Staaten, ja
selbst im privaten Leben gipfelten, brachten zugleich die dynamisierende
Konkurrenz der Weltbilder und Kulturen hervor sowie - sollte Europa nicht im
Chaos der Glaubenskriege untergehen - den Zwang zu politisch oder rechtlich
abgesicherten Multikonfessionalität. Auf lange Sicht konnte dann aus dem
erzwungenen Nebeneinander der christlichen Konfessionen die Forderung nach
prinzipieller Akzeptanz des anderen werden - anderer Religionen ebenso wie der
Nicht-Gläubigen. Das war alles andere als ein von den Konfessionen des 16. und
17. Jahrhunderts gewollter Weg. Und doch gibt es Sinn, wenn Jean Delumeau
1998 den Abschluß der Feierlichkeiten zum vierhundertsten Jahrestag des Edikts
von Nantes unter das Motto l'acceptation de l'autre stellte. Und es erscheint mir
als eine der vordringlichsten Aufgabe der europäischen Geschichte im eingangs
skizzierten Sinne, vergleichend die Wege und Wendemarken zu erforschen, auf
denen die einzelnen europäischen Gesellschaften aus dem Zwang zur
Konfessionalisierung zum Prinzip der Anerkennung des anderen fanden. Dabei
wäre der libertären Religionsverfassung der niederländischen Republik ebenso
besonderem Aufmerksamkeit zu schenken wie der rechtlichen Einhegung der
Konfessionsgegensätze im Augsburger Religionsfrieden von 1555, dessen
Jahrestag den Deutschen ins Haus steht.
Das kann ich heute nicht weiter entfalten. Statt dessen soll abschließend dieser
außerordentlich komplexe, häufig widersprüchliche, von Widerständen und
Rückschlägen umgeleitete oder unterbrochene Vorgang an einem Beispiel
veranschaulicht werden, und zwar an der transkontinentalen
Konfessionsmigration. Damit berühren wir zugleich eine weitere Kardinallinie
im europäischen Zivilisationsprofil, nämlich die alltäglich Präsenz von
Migration und Fremden. Europa war seit der Antike auf die alltägliche "kleine"
und die exzeptionelle "große", transkontinentale Migration angewiesen - man
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denke nur an die Städte, die ohne Migration gar nicht existieren konnten. Bei
den heute zur Debatte stehenden Chancen oder Problemen von Integration oder
Segregation von Fremden könnten die europäischen Gesellschaften also
durchaus auf jahrhundertealte Erfahrungen zurückgreifen.
Zwei Dinge gilt es dabei allerdings zu berücksichtigen,
- daß es sich heute überwiegend um interkontinentale Wanderungen
handelt und auch die quantitative Dimension und die Formen der
Migration ganz anders sind als in Alteuropa;
- daß sich durch eine solche historische Analyse kaum technokratische
Instrumentarien für eine möglichst reibungslose Steuerung heutiger
Zuwanderungsströme gewinnen lassen, wohl aber ein Gespür für die
Bedeutung von Migration und Integration Fremder für die historischpolitische Kultur Europas und damit auch eine Prävention gegen
Ängste, die unbegründet sind.
Die sogenannte Konfessionsmigration des 16. bis 18. Jahrhunderts wurde durch
die eben skizzierten Zwangsmaßnahmen der Konfessionalisierungen der
einzelnen europäischen Gesellschaften ausgelöst, und auch die
Lebensbedingungen in den neuen Heimatorten waren häufig von
konfessionellen Gegensätzen bestimmt, besonders deutlich in den katholischen
Städten Deutschlands. Insgesamt waren etwa eine dreiviertel Million Menschen
betroffen, davon zwischen 100 000 und 150 000 Niederländer oder Wallonen,
Engländer während der katholischen Jahre Mary Tudors, Italiener, vor allem aus
Lucca, Österreicher, Böhmen, Hugenotten, Waldenser, Pfälzer und Salzburger
auf protestantischer und kleinere Gruppen Katholiken etwa aus den kurzlebigen
Calvinistenrepubliken der südlichen Niederlande, später aus England, Irland und
Skandinavien. Es spricht einiges dafür, auch die Migration der portugiesischen
und spanischen Juden als Teil der Konfessionsmigration anzusehen, weil anders als bei der mittelalterlichen Glaubensmigration von Juden - auch ihr
Schicksal von der Konfessionalisierung mitbestimmt wurde, die Vertreibung
ebenso wie die Aufnahme in den neuen Gastgesellschaften. Zudem waren es
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häufig dieselben Städte, die sowohl christliche als auch iberisch-jüdische
Exulanten aufnahmen - so namentlich Amsterdam und andere holländische
Städte, Hamburg oder London.
Die Migration erfolgte teils über kürzere, häufig aber auch über lange
Distanzen - etwa nach Skandinavien oder ins Baltikum -, um in ihnen
mehr oder weniger fremden Gastgesellschaften eine neue Existenz
aufzubauen, ökonomisch und sozial, vor allem aber religiös und
kulturell. Die Sephardim, die teils über Sekundärmigration immer
weiter nach Osten zogen - nach Ungarn, in die Walachei, später nach
Polen-Litauen - trugen wesentlich zu Entstehung der neuzeitlichen
Kultur der Ostjuden bei.
Jede einzelne Welle hatte ihr eigenes Sozial- und Religionsprofil. Die
historische Analyse muß daher an konkreten Beispielen erfolgen, und dazu
wähle ich aus naheliegenden Gründen die niederländischen Exulanten aus.
Dabei möchte ich nicht die sozio-ökonomischen Zusammenhänge und die
daraus resultierenden Integrationsprobleme ins Zentrum rücken -
- also die Bedeutung der Migranten für die Verbreitung von
Innovationen in Technik, Betriebsverfassung und
Organisationsformen von Arbeit innerhalb der Gastgesellschaften oder
auf ihren Betrag zum ökonomischen Aufschwung und den
gesellschaftlichen Wandel, der von den Einheimischen meist als
schmerzhaft empfunden wurde und daher zur Ablehnung der Fremden
beitrug. - Konkret gesprochen die Ansiedlung neuer Gewerbezweige
vor allem der Textil- und der Luxus - Zuckersiederei,
Edelsteinschleiferei, Tapisserien - in London, Norwich, Frankfurt oder
Köln; die Einführung neuer Techniken beim Färben, im Handel und
bei der Geldschöpfung und im Versicherungswesen, die Hamburg,
Frankfurt und London zu den Wirtschaftszentren des 17. Jahrhunderts
aufblühen ließen; Durchsetzung des Verlagswesen, der Akkord- und
Lohnarbeit oder ähnlicher neue Betriebsformen, die in den genannten
Städten, vor allem aber im niederrheinischen Landgebiet (Stolberg,
Monschau, Krefeld u.a.) ganz neue, modernere Formen des
Wirtschaftens, und ein aus den traditionellen "feudalen" Strukturen
ausbrechendes frühmodernes Wirtschafsbürgertum entstehen ließen;
schließlich die berühmte Entwicklungshilfe durch den Aufbau
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frühmoderner Montan- und Metallverarbeitungsgewerbe durch die
wallonischen Unternehmer Louis de Geer und die Trippen-Familie
zusammen mit einer Arbeiterschaft, die teilweise über eine
Sekundärmigration aus dem Aachener Raum nach Norden kam.
Es geht mir um die Rolle, die Religion und kulturelle Identität für die
Selbstbehauptung der Refugianten und für ihre Stellung in den
Gastgesellschaften spielte: Die niederländischen Exulanten waren dominant
reformiert-calvinistisch, die meisten Zufluchtsorte dagegen lutherisch,
anglikanisch oder katholisch. Da auf dem Höhepunkt des konfessionellen
Zeitalters "civitas", also Bürgerschaft, nach der Definiton des Aachener
Chronisten Petrus a Beeks nicht nur politische und sozial-civile Eintracht
bedeute, sondern auch und vor allem "eiusdem fidei symbolo", also durch
dieselbe Konfession, verbunden zu sein, mußten sich die andersgläubigen
Einwanderer religiös-kirchlich als Geheim- oder Untergrundkirchen
organisieren, "Kirchen unter dem Kreuz", wie sie das nannten, oder - in den
protestantischen Orten - als Minderheiten- und Sondergemeinden, und zwar
selbst im anglikanischen England, wo ihre presbyterial-synodal im Gegensatz
zur episkopalen Kirchenverfassung stand. Das hatte zugleich die
„zivilrechtliche“ Konsequenz, daß die konfessionsverschiedenen Fremden keine
vollberechtigten Bürger werden konnten, sei es, daß ihnen bereits das
Bürgerrecht vorenthalten wurde, sei es, daß sie keine politischen Ämter
bekleiden durften.
In dieser Situation wurden Religion und Kirchenzugehörigkeit in den
Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Migranten häufig
konfliktleitend und damit entscheidend für den Erfolg oder Mißerfolg der
Integration. In den Migrationszentren bestimmte der Mechanismus von
Integration nach innen und aggressiver Abgrenzung nach außen, gegenüber den
Andersgläubigen über Generationen hin das Zusammenleben von
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Einheimischen und Fremden. Diese Spannungen lösten sich erst, als seit Mitte
des 17. Jahrhunderts zunehmend Politik und Religion getrennt gedacht wurden.
Die Gegensätze schliffen sich auf symbolisch-rituelle Unterschiede ab.
- wie sie zum Beispiel Goethe in "Dichtung und Wahrheit" mit
leichter Ironie für seine Vaterstadt Frankfurt überliefert – zwischen
den einheimischen Lutheranern, die zu Fuß gehen „dürfen“, nämlich
in die nahegelegenen städtische Pfarrkirche; und den zugewanderten
Reformierten, denen öffentliche Gottesdienst in der Stadt versagt
waren und die sich daher den Luxus erlauben konnten, mit der
Kutsche ins nicht weit vor den Toren gelegene Bockenheim zur
Kirche zu fahren.
Doch nicht nur im Verhältnis zwischen Einheimischen und Fremden, sondern
auch und gerade für die Migranten selbst spielten Gemeinde und konfessionelle
Zugehörigkeit oder Identität eine existentielle Rolle – für die Logistik von
Aufbruch und Wanderung, für die Orientierung über mögliche Zufluchtsorte, für
die Versorgung während der Migration und die erste Unterbringung am
Zufluchtsort, schließlich für die Selbstbehauptung in den Gastgesellschaften.
Die niederländischen Exulanten entwickelten - darauf hat insbesondere Heiko
Augustinus Oberman aufmerksam gemacht - eine spezifische
„Exulantentheologie“, charakterisiert durch Widerstandsrecht, Prädestination,
durch einen spezifischen Kirchenbegriff, der die Einzelgemeinde zur
vollgültigen Kirche und damit in jeder Situation handlungsfähig macht,
schließlich durch ein ausgeprägtes Volk-Gottes-Bewußtsein, das irdisches
Dasein als peregrinatio, als In-der-Welt-fremd-Sein, begreift und sich damit
zugleich geschützt weiß - unübertreffbar ausgedrückt in dem verbreiteten
Schiffchen-Gottes-Symbol, das auf Siegeln, Petschaften, Friesen oder Gemälden
die christlichen Gemeinden in einem vom Sturm umtobten Kahn zeigt, teilweise
mit dem Motto "in portu navigo" - ich segle in den Hafen, nämlich der
Gottesnähe, hinein. Dieser intellektuellen Exulantentheologie entsprach in der
gesellschaftlichen Praxis eine alltäglich wirksame Exulantenidentität und
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Exulantenkultur, die allen Migranten, gleich welcher sozialen Schicht und
welchen intellektuellen Profils offen stand.
Beides zusammen, die Theorie der Exulantentheologie und die sozio-kulturelle
Praxis der alltäglichen Exulantenkultur, sorgten für eine bemerkenswerte soziale
und emotionale Stabilität der Niederländerkolonien. Darüber hinaus garantierten
sie ein kollektives Gedächtnis, das in mannigfaltigen symbolischen Formen über
Generationen hinweg die Zugehörigkeit und die Akzeptanz der
Minderheitensituation sicherstellte. Die unbedingte religiöse Bindung, die sie
zu Migranten gemacht hatte, war zugleich die notwendige Voraussetzung dafür,
daß sie die Existenz als Fremde bewältigten – zur Rettung ihrer Seelen und zur
Sicherung des Überlebens, in der Regel aber auch zur Mehrung des Wohlstands
der Gastgesellschaften.
Im Licht der säkularisierten europäischen Gesellschaften der Gegenwart mag es
nicht leicht erscheinen, in der entschiedenen konfessionellen Position der
frühneuzeitlichen Konfessionsmigranten einerseits und der aufnehmenden
Gesellschaften andererseits funktionale Elemente gesellschaftlicher und
kultureller Ordnung zu sehen. Doch gerade diese historische Verfremdung läßt
uns erkennen, welche Bedeutung Religion und religiöse Institutionen für
diejenigen Gruppen der gegenwärtigen transkontinentalen Migration hat oder
haben kann, die aus nicht-säkularisierten Gesellschaften kommen und daher den
frühneuzeitlichen Konfessionsmigranten näherstehen als den säkularisierten
Gesellschaften des heutigen Europa. Damit sind zugleich die Chancen für die
Gastgesellschaften offensichtlich, die Religion und die religiöse Institutionen
der Migranten als Brücke für ein kulturelles wie gesellschaftliches und
politisches Verstehen der und Verständnis für die Fremden zu nutzen. Damit
eröffnet sich eine Verständigung, die mehr und anderes bedeutet als die
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schlichte Forderung, die Fremden müßten die besseren Einheimischen werden.
Warum sollen wir den heutigen Migranten nicht dasselbe zugestehen, was wir
heute noch als Tugend der niederländischen Exulanten, Hugenotten oder
Salzburger feiern, nämlich, sich in der Gastgesellschaft zu behaupten, für sie
und mit ihr wirtschaftliche und kulturelle Leistungen zu vollbringen und
dennoch die eigene, ganz andere religiöse und kulturelle Identität zu bewahren
und noch Jahrhunderte nach der längst vollzogenen Integration ein
eigenständiges Geschichtsbewußtsein zu besitzen?
Voraussetzung ist allerdings, daß die fundamentalistischen Tendenzen von
Religion gebändigt werden. Wie die frühneuzeitliche Konfessionsmigration
zeigt, läßt sich das aber kaum durch Indifferenz in der religiösen Wahrheitsfrage
bewerkstelligen, wie sie für die modernen, agnostischen Gesellschaften Europas
typisch ist. Vielmehr scheint mir jene Erfahrung den richtigen Weg zu weisen,
die die europäischen Gesellschaften mit ihren eigenen, zum Fundamentalismus
neigenden konfessionellen Weltanschauungssystemen und deren Pazifizierung
gemacht haben: Die Integration der Konfessionsmigranten in eine
anderskonfessionelle Gesellschaft wurde nicht dadurch erreicht, daß man die
religiösen Wahrheiten für belanglos erklärte. Die zerstörerische Gewalt des
konfessionellen Fundamentalismus konnte nur dadurch überwunden werden,
daß die Wahrheitsfrage als unverhandelbar anerkannt, gleichzeitig aber für das
alltägliche Zusammenleben ausgeklammert wurde. Erst auf dieser Basis konnten
die frühneuzeitlichen Gesellschaften - die "großen" staatlichen ebenso wie die
"kleinen" Stadtgesellschaften - die Migration produktiv bewältigen. Nur so
haben sie Schritt für Schritt die Freiheit des politischen Handelns unabhängig
von den weiterbestehenden konfessionellen Unterschieden wiedergewonnen und
soziale, ökonomische und kulturelle Lebensbedingungen hergestellt, die
Einheimischen und Eingewanderten gleichermaßen förderlich waren.
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III.
Die Ihnen heute an wenigen konkreten Beispielen vor Augen gestellte
Geschichte Europas, die sich als Teil eines historisch Zivilisationsvergleiches
versteht und damit als Gegenentwurf zu Konzepten von Universalgeschichte als
bloßer Zeitgeschichte einer global vernetzten Gegenwart, kommt in bezug auf
die schicksalhafte Frage zukünftigen Zusammenlebens unterschiedlicher
Religions- und Zivilisationssysteme zu optimistischeren Ergebnissen als das von
dem amerikanischen Politologen Samuel Huntington entworfene Szenario eines
unausweichlichen Clashs der Zivilisationen, vor allem der islamischen und der
(christlich) westlichen. Denn es ist nicht einzusehen, daß die beschriebene
Zähmung und rechtliche Einhegung des konfessionellen Fundamentalismus
nicht auch als Modell für die gegenwärtigen und zukünftigen Beziehungen
zwischen christlicher und islamischer Welt taugen könnten, und zwar innerhalb
der europäischen Gesellschaften ebenso wie im globalen Zusammenleben.
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