Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Heike Ließmann Wissenswert Menschen brauchen Sicherheit Herausforderung für Volkswirtschaften Von Conrad Lay Donnerstag, 14.02.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur Sprecher O-Töne in dabs: (P) Lay Flexicurity* 08-026 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Seite 2 Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Seite 3 TAKE 1 Kraus 4/0'20 "Ich hab vor kurzem einen Kollegen gesehen, da bin ich erschrocken, das war ein qualifizierter Facharbeiter, der mußte partout gehen, obwohl noch Arbeit vorhanden war, weil es vorher in einem Sozialplan festgelegt worden ist, daß soundsoviele abgebaut werden. Die Situation hat sich verbessert, man hätte den halten können. Nein, der mußte unbedingt gehen." Erz. Günther Kraus war viele Jahre lang Betriebsratsvorsitzender des Unternehmens ABB in Frankfurt. TAKE 2 Kraus 4/ca. 1/040 "Wenn ich den jetzt sehe, der ist Mitte 50, der ist richtiggehend kurz vor dem, daß er auf der Straße liegt. Das tut wirklich richtig weh in mir, wenn ich den sehe. Das war ein fähiger, ein wirklich fähiger Facharbeiter. Aber jetzt ist er Alkoholiker. Der hätte sogar jederzeit wieder anfangen können, sein Arbeitsplatz wurde später mit Leiharbeitern besetzt." Erz. Die Unsicherheit am Arbeitsplatz kennt Günther Kraus schon lange. Nahezu alle zwei Jahre, so erzählt er, habe es Massenentlassungen gegeben, immer wieder sei sein Betrieb verkauft worden, mal hieß er Hartmann & Braun, mal Mannesmann, mal ABB, jetzt habe er einen italienischen Eigentümer. Wieder und wieder habe das Management damit gedroht, die Fertigung ins Ausland zu verlagern. TAKE 3 Kraus 1/ 3'05 "Dann kommen noch die ganzen anderen Faktoren zusammen: die Zerstörung der alten Strukturen, damit einhergehend Unsicherheit in der Belegschaft, die Entlassungswellen, dann die totale Verunsicherung von Einzelnen - wenn Leute aus dem Betrieb entlassen werden, das ist ja vorher ein Netz gewesen, das ist nicht nur Arbeitsbekanntschaft, sondern das sind auch soziale Netze. Das ist immer Abschied nehmen, das wird immer vergessen dabei, daß die Menschen voneinander Abschied nehmen müssen. Und gleichzeitig: die Entlassenen werden entwertet und die noch Verbleibenden werden auch entwertet, weil sie erhöhte Angst um ihren Arbeitsplatz in Zukunft haben." Erz. Sicher, meint der erfahrene Betriebsrat, die Welt ändere sich ständig, aber darauf müsse und könne man frühzeitig reagieren. Seite 4 TAKE 4 Kraus 1/ 8'20 "Es gibt natürlich keinen Dauerarbeitsplatz, daß ich ewig immer das gleiche mache, ist ja auch uninteressant, aber das Entscheidende dabei ist es, daß die Strukturmaßnahmen anders gemacht werden können, wirkungsvoller meiner Ansicht nach, produktiver und gesellschaftlich nicht so verwerfend." Erz. Dr.Hans-Jörg Becker ist Psychoanalytiker und Geschäftsführer des Beratungsdienstes "InsiteInterventions", der Hilfen bei Stress- und Konfliktsituationen anbietet. Becker vergleicht Flexibilität mit der Biegsamkeit eines Baumes, der fest verwurzelt ist: TAKE 5 Becker 6/0'50 "Die Vorteile der Flexibilität bestehen ja darin, daß man starken Stürmen durch Biegsamkeit trotzen kann. Wenn man in dem Bild bleibt, kann man sagen: es muß etwas Festes geben im Leben, damit man flexibel und beweglich sein kann. Und in Zeiten, in denen nicht nur die Arbeitsverhältnisse unsicher geworden sind, sondern auch andere Halt gebende Strukturen in der Gesellschaft ist das eine offene Frage. Und viele Arbeiter und Manager von Unternehmen haben das Gefühl, daß alles ins Schwimmen gekommen ist. Und daß es keinen festen Anker mehr gibt, und deshalb wird die Flexibilität in Deutschland jedenfalls sehr kritisch gesehen. Und eher als ein Fluch als ein Segen wahrgenommen, nicht von allen und nicht immer und nicht im gleichen Maß, aber überwiegend skeptisch, glaube ich." Erz. Ob Arbeitnehmer Flexibilität positiv beurteilen können, das hängt - so Hans-Jörg Becker - zu einem guten Teil davon ab, ob sie die Veränderungen nur passiv erleben und erleiden oder aktiv gestalten können. Allerdings, wenn die Veränderungen zu schnell von statten gehen, kann dies zu einem massiven Verlust an Vertrauen führen. TAKE 6 Becker 6/3'32 "Also ich glaube, daß dieser Bruch im Vertrauen darauf zurückzuführen ist, daß in Deutschland in der traditionellen Unternehmenskultur die Leute nicht nur einen lebenslangen Arbeitsplatz und eine sichere Rente hatten, sondern ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Unternehmen. Die hatten sich nach den Unternehmen genannt, 'Opelaner' haben die Leute sich genannt, oder 'Kruppianer' oder so. D.h. man bekommt nicht nur Arbeitsplatzsicherheit, sondern ein Zugehörigkeitsgefühl. Das gibt es in der Form nicht mehr, weil die Arbeitsplatzsicherheit nicht mehr garantiert ist und die Mitarbeiter das Gefühl haben, wir sind dem Unternehmen eigentlich egal." Seite 5 Erz. Im Zuge der Globalisierung verändern sich die Anforderungen: Unternehmen müssen Produkte ständig weiterentwickelen, Arbeitnehmer müssen sich, um attraktiv zu bleiben, weiterqualifizieren. Und dennoch: die meisten zittern vor der nächsten Umstrukturierung: TAKE 7 Becker 7/3'10 "Wer zwei- oder drei- oder viermal eine Strukturierung überstanden hat, lebt in der beharrlichen Angst und arbeitet in der beharrlichen Angst, ich könnte der nächste sein… Dann entsteht ein Gefühl von Sinnlosigkeit und unter dem Gefühl von Sinnlosigkeit zu arbeiten, ist nicht sehr produktiv, also es gibt da massive Produktivitätsverluste." Erz. Arbeitnehmer brauchen eine neue Art von Sicherheit, die ihnen hilft, langfristig in Beschäftigung zu bleiben und die Veränderungen aktiv zu meistern. In Dänemark wurde dazu das Modell der sog. "Flexicurity" entwickelt, Flexibilität und "security" werden dabei auf neuartige Weise kombiniert. Einen geringeren Kündigungsschutz gleichen die Dänen durch eine hohe Arbeitslosenunterstützung und eine aktive Arbeitsmarktpolitik aus. An die Stelle des Kündigungsschutzes tritt also die Sicherheit, schnell wieder Arbeit finden zu können. Damit die Arbeitnehmer sich in der Lage sehen, mit den ständigen Veränderungen mitzuhalten, lauten die Schwerpunkte von "Flexicurity": aktive Arbeitsmarktstrategien, lebenslanges Lernen, individuelle Betreuung der Arbeitssuchenden sowie Chancengleichheit von Männern und Frauen. Gegen eine derartige soziale Absicherung wirkt allerdings, wie Hans-Jörg Becker weiß, der Druck der Investoren, die auf beschleunigte Veränderung dringen: TAKE 8 Becker 7/2'11 "Ich glaube, daß die Umstrukturierungsprozesse von Unternehmen sehr viel weniger von irgendjemand gesteuert sind, als man das eigentlich glaubt. Auch das Management handelt unter einem massiven Druck, von der Eigentümerseite, von der Investorenseite her, und es werden dann schnell, schnell Unternehmensberater reingeholt. Wenn die drin sind, dann hat die Kapitalseite den Eindruck, aha da geschieht was, der Aktienkurs geht nach oben. Aber das geschieht manchmal unter so massivem Druck, daß keine Zeit bleibt für vernünftige Planung und vernünftige Restrukturierungen, sodaß man hinterher mehr Opfer zu beklagen hat, als daß man auf die Gewinnerseite gekommen ist." Seite 6 Erz. Flexibilität wird von zwei Seiten gefordert: einmal von den Unternehmen, die sich auf verändernden Märkten behaupten müssen, zum anderen von den zunehmenden Ansprüchen, Beruf und Familie vereinbaren zu können. Aus Unternehmenssicht ist Flexibilität ein "Muss", aus Beschäftigtensicht kann sie eine Zumutung, aber auch eine Chance sein. In Dänemark wurden deshalb die Übergänge sowohl für Arbeitgeber wie für Arbeitnehmer erleichert. Zum Beispiel die Übergänge von einer Arbeit in die andere, von Phasen der Arbeit zu Phasen der Nichtarbeit - sie sind sozialstaatlich abgesichert. TAKE 9 Dingeldey 4'47 "Es gibt eine Sicherheit auf Beschäftigung, aber nicht auf einen Arbeitsplatz, einen bestimmten." Erz. Irene Dingeldey ist Sozialwissenschaftlerin am Zentrum für Sozialpolitik in Bremen und hat sich seit Jahren mit dem dänischen Modell beschäftigt: TAKE 10 Dingeldey 0'14 "Dänemark ist ja ohnehin das Land des parteiübergreifenden Konsens, das auch die Gewerkschaften weitgehend einschließt, und dieses Flexicurity-Modell ist auch älter als die letzten 10 Jahre. Also Dänemark zeichnet sich schon immer durch einen niedrigen Kündigungsschutz aus, der aber gekoppelt ist mit hohen Transferleistungen." Seite 7 Erz. Einen Arbeitsplatz zu kündigen macht nicht Angst, sondern wird als Chance gesehen. In Dänemark ist es beinahe ein Volkssport, den Job zu wechseln. Etwa ein Viertel der Beschäftigten wechselt jährlich den Arbeitsplatz. Mehr als ein Drittel der Beschäftigten bezieht jährlich einmal oder sogar mehrfach Arbeitslosengeld, meist nach kurzer Arbeitslosigkeit. Da das Arbeitslosengeld 80 Prozent des Gehaltes beträgt und für vier Jahre bezahlt wird und zudem den arbeitslos Gewordenen aktiv geholfen wird, wieder einen neuen Job zu finden, stellt Arbeitslosigkeit die Menschen nicht sofort in Frage. In Deutschland sei das anders, meint der Frankfurter Betriebsrat Günther Kraus: TAKE 11 Kraus 2/ 6'53 "Bei uns muß man eines sehen, daß nach wie vor es so ist, daß auf der qualifizierten Techniker-Facharbeiter-Ingenieursebene - muß es den kontinuierlichen Lebenslauf geben. Wenn da Brüche entstehen, dann wird das sofort negativ ausgelegt. Das ist der eine Grund, und der andere Grund ist natürlich, daß bei uns, wenn jemand arbeitslos wird - nach wie vor ist das ein absoluter Makel, dann fällt er nach einem Jahr aus dem Leistungsbezug heraus, und wird Hartz-IV-Empfänger, was eine totale Entwertung der Menschen ist, und es wird auch nicht aktiv groß geguckt." Erz. Eine länderübergreifende Umfrage ergab, daß sich in Deutschland 36 % der Beschäftigten Sorgen um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes machten, in Großbritannien waren es 26 %, in Dänemark dagegen gerade mal neun Prozent. Die gute soziale Sicherung macht sich dort in der Bereitschaft zu größerer beruflicher Mobilität bemerkbar. Nicht zuletzt haben in Dänemark viele Menschen mit Arbeitsplatzwechseln positive Erfahrungen gemacht. "Flexicurity", also die Aufgabe, "Sicherheit in der Flexibilität" zu finden, hat allerdings ihren Preis: Dänemark zahlt fast zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für aktive Arbeitsmarktpolitik, insbesondere Qualifizierungsmaßnahmen, und unterscheidet sich darin sehr deutlich von Deutschland. Die Sozialwissenschaftlerin Irene Dingeldey: Seite 8 TAKE 12 Dingeldey 12'20 "Deutschland zeichnet sich bisher bei dieser Umsetzung des Idealmodells eines aktivierenden Staates primär durch Leistungskürzungen aus, also sowohl was die Transferleistungen in Form von Abschaffung der Arbeitslosenhilfe durch Arbeitslosengeld II betrifft, als auch durch diesen Rückbau der Qualifizierungsmaßnahmen, der ABM-Maßnahmen usw., während die andere Seite, die da eigentlich auch dazugehört, und die Dänemark sehr exzessiv gefördert hat, diese Maßnahmen der Wiedereingliederung, der Arbeitsmarktbefähigung, bis hin zu Kinderbetreuung, aber insbesondere durch Qualifizierung - das findet in Deutschland bisher im Prinzip nicht statt. Wir haben nur bedingt eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik." Erz. Die bundesdeutschen Hartz-Gesetze haben die Leistungen für Arbeitslose gekürzt, die Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe gesenkt und den Arbeitszwang für Langzeitarbeitslose verschärft. Damit hat sich Deutschland vom "Flexicurity"-Modell deutlich entfernt. Bestehende, qualitativ hochwertige Programme der beruflichen Weiterbildung wurden außerdem stark zurückgefahren. Die öffentlichen Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik unterscheiden sich sehr deutlich: in Dänemark sind sie dreimal so hoch pro arbeitsloser Person wie in Deutschland. Offenbar wird die "Arbeitsmarktbefähigung" von Arbeitslosen hierzulande nicht als vorrangiges Ziel angesehen. Irene Dingeldey: TAKE 13 Dingeldey 9'58 "Was in Dänemark z.B. auch dazu gehört, ist das umfassende Angebot von Kinderbetreuungseinrichtungen. Die Dänen machen keine spezifischen Maßnahmen für die Wiedereingliederung von Frauen, weil die Frauen ohnehin im Arbeitsmarkt sind. 90 % der Mütter mit kleinen Kindern sind erwerbstätig. Das sind sie, weil Kinderbetreuungseinrichtungen, Ganztagsschulen bzw. Horte zur Verfügung stehen, und das ist eben auch ein Element der Arbeitsmarktbefähigung, also der Möglichkeit, am Arbeitsmarkt teilzuhaben." Erz. Die hohe Frauenerwerbstätigkeit schafft wiederum neue Arbeitsplätze: Seite 9 TAKE 14 Dingeldey 20'08 "Denn um zu gewährleisten, daß Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt haben, müssen eben in umfassender Weise soziale Dienste angeboten werden, also sowohl Altenpflege als auch Kinderbetreuung, und das wiederum tun überwiegend Frauen, und von daher wird Frauenbeschäftigung nachgefragt, in den Bereichen der sozialen Dienstleistungen, die immer noch überwiegend öffentlich sind, und das schafft auch Arbeitsplätze. Und finanziert wird das über die hohen Steuereinnahmen, indem beide Partner erwerbstätig sind." Erz. Mit seinem "Flexicurity"-Modell hat Dänemark nahezu Vollbeschäftigung erreicht, und zwar bei ausgeglichenen Staatsfinanzen. Möglicherweise war das leichter zu verwirklichen, weil in dem kleinen Land die Wege kürzer und einfacher sind und aufgrund der langen Konsenskultur die Gewerkschaften immer eingebunden waren. Deutschland dagegen, urteilt Irene Dingeldey, ähnele mit seiner Politik der Leistungskürzung für Langzeitarbeitslose inzwischen mehr Großbritannien als Dänemark. Insgesamt gesehen hat das abgefederte dänische Modell der "Flexicurity" dem Land großen volkswirtschaftlichen Nutzen gebracht. Deutschland könnte sich viel von seinem nördlichen Nachbarn abschauen.