Schweizer Hochdeutsch - schlechtes Hochdeutsch? Scharloth, Joachim (2006): Schweizer Hochdeutsch – schlechtes Hochdeutsch? In: Dürscheid, Christa/Businger, Martin (Hgg.): Schweizer Standarddeutsch. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 81-96. 0 Überblick Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie Deutschschweizer die schweizerischen Varianten des Standard deutschen bewerten und was dies für den Status des Schweizerhochdeutschen als nationale Varietät bedeutet. Im ersten Abschnitt wird erörtert, welchen Beitrag die linguistische Theoriebildung bei der Konstruktion des Gegenstandes ,nationale Varietät' hat. Nach der Darstellung der Forschungslage zum Standarddeutschen in der Schweiz im zweiten und zum Untersuchungsdesign im dritten Abschnitt werden die Ergebnisse eines Wahrnehmungsexperimentes vorgestellt, in dessen Rahmen Schweizer Probanden nationale Varianten des Standarddeutschen bewerten sollten. Der fünfte Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage, welche Ursachen sich für die beobachteten Bewertungsschemata angeben lassen. Abschliessend wird diskutiert, was aus den Ergebnissen für den Status linguistischer Kodifizierungsbemühungen im Spannungsfeld von deskriptiver Linguistik und sprachpolitischem Eingriff folgt. 1 Schweizerhochdeutsch: Zwischen Sprachgebrauch und linguistischer Gegenstandskonstruktion Wer den mündlichen oder schriftlichen Gebrauch der Standardsprache in der Schweiz beobachtet, der stellt fest, dass es zahlreiche Varianten gibt, die sich im Gebrauch der Standardsprache in Österreich oder Deutschland nicht finden. Am auffälligsten sind lexikalische und phraseologische Besonderheiten, aber auch im Bereich der Morphologie und Syntax zeigen sich Unterschiede zum Sprachgebrauch der anderen deutschsprachigen Länder. 1 Diese Eigenheiten des Sprachgebrauchs wurden in der Linguistik lange Zeit als Abweichungen von einer einheitlich normierten deutschen Standardsprache 1 Zu den Eigenheiten des Schweizerhochdeutsch vgl. auch Amnion (1995: 251-282), Ammon et al. (2004), Arens (1985), Christen (2001), Falk (1965), Fenske (1973), Häcki Buhofer/Burger (1998: 113-120), Heuer (1999), Kaiser (1969/70), Meyer (1989, 1994), Rash (2002: 150-180) und Rupp (1983). Grundsätzliche Überlegungen zur Plurizentrizität des Deutschen finden sich bei Ammon (1995), von Polenz (1999b: 412-453), Muhr (1997) und Clyne (1984). betrachtet. So etwa erschien die lange Zeit einzige umfassende monographische Darstellung zur Standardsprache in der Schweiz von Stephan Kaiser (1969/70) in einer Duden-Reihe mit dem Titel „Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Ausland". Der Reihentitel impliziert, dass es eine in Deutschland beheimatete, einheitliche Standardnorm gebe, von der im Ausland bisweilen abgewichen werde. Mit dem Aufkommen der Sozio-linguistik in der 1970er Jahren und der damit einhergehenden sprachsoziologischen Wendung des Standardsprachenbegriffs jedoch wandelte sich die Perspektive. Was als Standard gilt, ist demnach das Ergebnis sprachsoziologischer Prozesse. Diese Prozesse spielen sich in einem sozialen Kräftefeld ab, das von sozialen Rollen wie Normautoritäten, Modellsprechern bzw. -Schreibern, Sprachexperten und Kodifizierern gebildet wird (vgl. Ammon 1995: 73-82). Weil das Agieren dieser sozialen Rollen im Falle Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zumindest teilweise nationenspezifisch ist und dadurch teilunabhängige Kräftefelder konstituiert werden und weil für das Standarddeutsche zudem national abweichende Gebrauchsnormen existieren, die in Kodizes beschrieben sind, gilt das Deutsche als plurizentrische Sprache.2 Die Varianten des Sprachgebrauchs in der Schweiz sind demnach nicht mehr Abweichungen von einer einheitlich imaginierten Norm des Standarddeutschen, sondern bilden als Ensemble eine nationale Varietät. So schlüssig diese Konzeptualisierung des Sprachgebrauchs in der Schweiz auf den ersten Blick klingen mag, so umstritten ist sie doch in der Linguistik. Die Debatte entzündet sich vor allem an der Frage, ob die standardsprachliche Variation tatsächlich nationenspezifisch sei, wie es das Konzept der nationalen Varietäten suggeriert. Reiffenstein (2001) wies darauf hin, dass die Räume standardsprachlicher Variation nicht den Grenzen der heutigen Nationalstaaten entsprächen. So konvergierten die oberdeutschen Dialektregionen in Deutschland und Österreich im Gebrauch des Standarddeutschen stärker als die Regionen Deutschlands im Ganzen. Retti (1999) zeigte entsprechend, dass die meisten Varianten des „österreichischen Deutsch" nicht auf das österreichische Sprachgebiet beschränkt sind.3 Entsprechend wird vorgeschlagen, statt von der Plurinationalität von der Pluriarealität der deutschen Standardsprache zu sprechen (vgl. Scheuringer 1997: 339ff., Koller 1999: 154f., Reiffenstein 2001: 88 und von Polenz 1999a). Die Kritiker des Konzeptes der nationalen Varietäten führen also vor allem die komplexe räumliche Verteilung und mangelnde Konvergenz der standardsprachlichen Varianten ins Feld und plädieren dafür, regionale Aspekte stärker zu berücksichtigen (vgl. Spiekermann 2005). Die Zweifelhaftigkeit der Konstruktion nationaler Varietäten zeigt sich für sie auch darin, dass das 2 Michael Clyne, Vater der modernen Plurizentrizitätsauffassung, definierte den Begriff wie folgt: „The term pluricentricity indicates that a language has more than one centre, each providing a national variety with its own norm" (Clyne 1989: 358). 3 Für einen Überblick über unterschiedliche Variantentypen des österreichischen Deutsch vgl. Retti (1999:18-54), Ammon (1995:101-116) und Muhr (1997). Deutsch der DDR nach 1990 praktisch über Nacht verschwunden sei (vgl. Bspaß 2005). Die Debatte ist deshalb so kontrovers, weil die an ihr Beteiligten von verschiedenen Voraussetzungen ausgehen und unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgen. Während die Kritiker des Konzeptes nationaler Varietäten die komplexe Sprachwirklichkeit im Blick haben, scheinen die Befürworter vor dem Hintergrund einer Standardsprachauffassung zu argumentieren, in der die Linguistik nicht nur Beobachterin und treue Chronistin standardsprachlicher Entwicklungen, sondern Akteurin im Prozess der Standardisierung ist und zudem an der Konstruktion des Gegenstandes mitwirkt. Inwiefern aber konstruiert die Linguistik den Gegenstand Standardsprache' und inwiefern ist sie Akteurin im Prozess der Standardisierung? In Ammons Modell des sozialen Kräftefelds der Standardsprache ist die Linguistik insofern massgeblich beteiligt, als sie zwei der vier Positionen des Kräftefelds prototypisch repräsentiert: die der Sprachexperten und die der Kodifizierer. Dadurch, dass Linguistinnen und Linguisten in Beratungsgremien zu Sprachfragen sitzen und selbst Wörterbücher und Grammatiken verfassen, wirken sie aktiv mit an der Auswahl jener sprachlichen Formen, die als standardgemäss gelten. Die Linguistik ist aber nicht nur Akteurin im Prozess der Standardisierung, sondern konstruiert auch über die Bestimmung des Standardsprachbegriffs den Gegenstand ihrer Untersuchung. Nach Ulrich Ammon etwa zeichnet sich eine Standardsprache durch die Merkmale Schriftlichkeit, Überregionalität, Oberschichtlichkeit, Ausgebautheit und Invarianz aus. Das wichtigste Kriterium für die Existenz einer Standardsprache ist aber die Kodifiziertheit (vgl. Ammon 1986). Durch diese - nicht unbegründete -Setzung sind Standardsprachen immer kodifizierte Sprachen, Varietäten ohne Kodizes hingegen keine Standardsprachen. Das Standarddeutsch in den neuen Bundesländern der BRD etwa ist mangels Kodifizierung seit dem Beitritt der DDR allerhöchstens Gegenstand der Regionalsprachenforschung, obwohl es vorher den Rang einer nationalen Varietät hatte. Ebenso wirkt sich das Konzept der plurizentrischen Standardsprache aus. Dieses hat sich von einer Beschreibungskategorie für standardsprachliche Variation zu einem Faktor im sprachenpolitischen Diskurs verselbständigt, indem es die Entstehung nationaler Kodizes begünstigt und damit die Aufwertung ehemals regionaler Varianten zu nationalen Varianten ermöglicht (vgl. Ammon et al. 2004). Auch hier ist also die Linguistik Akteurin im selbst geschaffenen, sozialen Kräftefeld der Standardsprache. Diese Wechselwirkung von linguistischer Gegenstandskonstruktion und Kodifizierungspraxis dürfte charakteristisch sein für die Standardisierungsprozesse vieler europäischer Nationalsprachen. In diesem Aufsatz will ich der Frage nachgehen, ob die Konstruktion nationaler Varietäten das Musterbeispiel eines Prozesses ist, in der „sich Theorien ihre Wirklichkeit selbst schaffen", um einen Aufsatztitel von Werner König (2000) zu zitieren. Dies soll anhand der Frage beantwortet werden, ob für Deutschschweizer die von der Linguistik entwickelte Kategorie „Schweizerhochdeutsch" auch eine Handlungskategorie ist bzw. ob sie sich einer Norm des Schweizerhochdeutschen bewusst sind. Dabei gehe ich von einer Kritik des Ammon'schen Standardsprachenkonzeptes aus, das für den Plurizentrizitätsdiskurs in der Germanistik massgeblich ist. Die Gleichsetzung des Bestehens standardsprachlicher Normen mit der Existenz von Kodizes halte ich für problematisch. Nach Klaus Gloy ist eine Standardnorm nämlich „das Wissen um die Gesamtheit derjenigen kollektiven Realisierungen des Sprachsystems, die von der Gesellschaft als richtig und vorbildlich aufgefasst werden" (Gloy 1975: 11). Es sind also zuallererst kollektive Vorstellungen von Richtigkeit und Vorbildlichkeit, die Varianten zu standardsprachlichen Varianten machen. Ein Kodex schreibt diese Varianten dann fest, verleiht ihnen Dauer und wirkt durch diese Festschreibung auf die kollektiven Vorstellungen von Richtigkeit und Vorbildlichkeit. Ein Kodex ist also ein nicht zu vernachlässigender Faktor bei der Modellierung jener Prozesse, die zu standardsprachlichen Normen führen. Seine Existenz ist aber nicht per se mit der Existenz einer dem Kodex gemäs-sen standardsprachlichen Norm gleichzusetzen, sondern erst dann, wenn der Kodex in der Bevölkerung akzeptiert wird und eine entsprechende Reichweite hat. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich also mit der Frage, ob die von der Linguistik kodifizierten Normen des Schweizerhochdeutschen von Schweizer Sprecherinnen und Sprechern akzeptiert werden. Diese Frage soll anhand einer empirischen Untersuchung beantwortet werden, in denen die Einstellungen zu deutschländischen und schweizerischen Varianten des Standarddeutschen ermittelt wurden. 2 Forschungslage Darstellungen zur Sprachensituation in der Deutschschweiz enthalten in der Regel auch Bemerkungen zu den Einstellungen zum Standarddeutschen. Diese beruhen jedoch meist ausschliesslich auf persönlichen Beobachtungen der Autorinnen und Autoren. Viel zu selten sind die Darstellungen durch empirische Studien fundiert. Ausnahmen bilden die Untersuchungen von Peter Sieber und Horst Sitta (1986) zum Thema Hochdeutsch in der Schule, die breit angelegte Studie von Robert Schläpfer, Jürg Gutzwiller und Beat Schmid (1991) und die Arbeit Werner Kollers (1992) zum Thema „Deutsche in der Deutschschweiz", in der auch die Einstellungen der Deutschschweizer zum Standarddeutschen thematisiert werden. Sieber/Sitta (1986: 29-34) nehmen Einstellungen von Deutschschweizern in den Blick, um die subjektiven Faktoren beim Erlernen bzw. Aneignen der Standardsprache in der Schule zu berücksichtigen. Dabei stellen sie unter anderem fest, dass die verbreitete Ansicht, Standarddeutsch sei eine Fremdsprache, ein wichtiges Hemmnis bei der Aneignung des Standarddeutschen darstellt. Die am breitesten angelegte Studie zu den Einstellungen der Deutschschweizer zum Standarddeutschen legten Robert Schläpfer, Jürg Gutzwiller und Beat Schmid (1991) vor. Ihre Ergebnisse beruhen auf einer Fragebogenerhebung, die 1985 im Rahmen der pädagogischen Rekrutenprüfung durchgeführt wurde. Dabei handelt es sich um eine Prüfung, mit der das Schweizer Militär sich einen Aufschluss über den Stand der Ausbildung der dienstpflichtigen männlichen Jugend verschaffen möchte. Zwar ist an dieser Stichprobe problematisch, dass nur Männer einer bestimmten Altersklasse befragt wurden. Die Instrumentalisierung der Rekrutenprüfung für linguistische Zwecke ermöglichte es Schläpfer, Gutzwiller und Schmid jedoch, ein umfangreiches Sample zu erheben: Sie untersuchten 1'982 Probanden. Ihre Untersuchung ergab, dass die Befragten eine ablehnende Haltung gegenüber dem Standarddeutschen artikulierten, das mit einer negativen Bewertung von Deutschen und Österreichern korrelierte (vgl. Schläp-fer/Gutzwiller/Schmid 1991:154ff.). Deutsche und österreichische Sprecher rangierten unter den Rekruten am Ende der Sympathierangliste (vgl. Schläp-fer/Gutzwiller/Schmid 1991: 147f.). Zwar bestand in der Gruppe der Befragten Konsens darüber, dass es nötig sei, Standarddeutsch zu beherrschen, um an den Entwicklungen im deutschen Sprach- und Kulturraum partizipieren zu können; dennoch hielten es die meisten Probanden für unnötig, die Standardsprache zu fördern (vgl. Schläpfer/Gutzwiller/Schmid 1991: 157). Gestützt auf eine Erhebung der COOP Schweiz (1983), eine Befragung des Forschungsdienstes des Schweizer Fernsehens (1987) und auf die Untersuchung von Schläpfer/Gutzwiller/Schmid (1991) kommt Peter Sieber (1990,1992) zu dem Ergebnis, dass - trotz aller Vorbehalte - das Standarddeutsche gut in der Bevölkerung verankert sei. Die negativen Haltungen dem Standarddeutschen gegenüber führt er auf die negativen Einstellungen zu den Deutschen zurück (vgl. Sieber 1992: 32). Ähnlich erklärt auch Werner Koller (1992: 41-51) das gespaltene Verhältnis der Deutschschweizer zu ihrer Standardsprache. In den negativen Einstellungen zur Standardsprache, die als Fremdsprache und als Sprache der Deutschen empfunden wird, sieht er die Ursache für die Integrationsschwierigkeiten von in der Schweiz lebenden Deutschen. Sämtliche Einstellungsuntersuchungen kommen also zu dem Ergebnis, dass Deutschschweizer ein tendenziell problematisches Verhältnis zur Standardsprache haben, und stellen fest, dass diese negative Haltung mit einer negativen Einstellung zu den Deutschen korreliert. Die Frage nach den Einstellungen zum Schweizerhochdeutschen, zu den nationalen Varianten des Standarddeutschen also, blieb dagegen bislang weit gehend unerforscht. 4 Auf diesen Aspekt werde ich im nächsten Abschnitt eingehen. ' Ausnahmen bilden die Arbeiten von Di Paolo (2001: 85-105), die sich mit dem Helvetismenbewusstsein in der Schweiz befasst, und meine eigenen Arbeiten (Scharloth 2004, 2005), die das Plutizentrizitätsbewusstsein in der Deutschschweiz untersuchen. 3 Das Wahrnehmungsexperiment: zu Methode und Anlage der Untersuchung Um die Einstellungen von Deutschschweizern zu jenen Varianten der Standardsprache zu messen, die von der Linguistik als „Schweizerhochdeutsch" gekennzeichnet werden, wurde ein Wahrnehmungsexperiment unter 50 Probandinnen und Probanden durchgeführt. Ein Wahrnehmungsexperiment ist eine der Sozialpsychologie entlehnte Methode, bei der eine Stichprobe mit einem bestimmten Stimulus konfrontiert wird und die Reaktionen der Testpersonen dokumentiert werden. Wahrnehmungsexperimente, so genannte subjedive-evaluation-tests, eignen sich besonders dafür, unbewusste Bewertungsschemata ans Licht zu bringen, und werden daher in der Soziolinguistik immer häufiger eingesetzt (vgl. Chambers 2000). Besonders auf dem Gebiet der folk linguistics, die sich mit dem Wissen von Laien über Sprache befasst, erfreut sich diese Testmethode immer grösserer Beliebtheit (vgl. Niedzielski/Preston 2000), denn sie ermöglicht es - anders etwa als direkte Erhebungsmethoden wie Fragebögen -, sprachbezogenes Wissen zu erfassen, ohne dass den Testpersonen bewusst wird, was eigentlich Gegenstand der Untersuchung ist. Im von mir durchgeführten Wahrnehmungsexperiment waren die Probandinnen und Probanden aufgefordert, 96 Sätze daraufhin zu bewerten, ob es sich um standardsprachliche Formen handelte. Die Liste der Sätze enthielt eine Mischung kodifizierter deutschländischer und schweizerischer Standardformen, Formen überregionalen Substandards und schweizerischer Dialektismen. Die Beispielsätze wurden so gewählt, dass die morphologischen, lexikalischen und phraseologischen Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen möglichst umfassend getestet werden konnten. Die Probanden waren aufgefordert, die Sätze den Kategorien „gutes Hochdeutsch", „korrektes, aber schlechtes Hochdeutsch" oder „fehlerhaftes Hochdeutsch" zuzuteilen. Die Sätze wurden den Probanden nicht schriftlich vorgelegt, sondern lediglich in akustischer Form vorgespielt. Das Besondere an der Versuchsanlage bestand nun darin, dass die Sätze teilweise von einem deutschen Sprecher, teilweise von einem Schweizer mit mittlerem bis starkem schweizerischen Akzent gesprochen wurden. Eine Kontrollgruppe bekam dieselben Sätze ausschliesslich von einem Schweizer Sprecher gesprochen vorgespielt. Die Probanden wurden nicht darüber aufgeklärt, dass mit Hilfe dieses Experiments das Plurizentrizitätsbewusstsein und die Einstellungen gegenüber den nationalen Varianten des Schweizerhochdeutschen getestet werden sollten. Die Ergebnisse wären sonst möglicherweise durch sprachpatriotische Haltungen beeinflusst worden. Den Probanden wurde daher vor dem Test schriftlich mitgeteilt, es handle sich um ein Experiment, mit dem die kognitive Verarbeitung auditiv rezipierter grammatikalischer Strukturen getestet werden solle. Weil dieses Projekt in Kooperation mit einer deutschen Hochschule durchgeführt werde, würden die Testsätze teils von einem deutschen, teils von einem schweizerischen Sprecher stammen. Getestet wurden insgesamt 50 Personen, davon 15 in der Kontrollgruppe. Die Tests fanden im April und Mai 2003 in Zürich statt. Um sich in einem ersten Angang einen Überblick zu verschaffen, welche der ausgewählten Varianten als Helvetismen erkannt werden, wurde ein Pre-Test unter 14 Deutschschweizern durchgeführt. 4 Die Bewertung schweizerhochdeutscher Varianten Um die Einstellungen gegenüber schweizerhochdeutschen Varianten zu untersuchen, wurden in die Testreihe 18 Sätze aufgenommen, die Varianten erhielten, die im Pre-Test von der Mehrheit der Probanden als Helvetismen, d.h. als nur in der Schweiz gebräuchlich kategorisiert wurden. Diese 18 Sätze wurden vom Schweizer Sprecher gesprochen und über die gesamte Versuchsreihe verteilt. Sie enthielten lexikalische Varianten wie „Der Postler macht sich jeden Morgen um sieben Uhr auf seine Tour", aber auch grammatikalische wie die Wahl des Hilfsverbs sein bei der Perfektbildung im Satz: „Nachdem er sich ein Bein gebrochen hatte, ist Fritz sechs Wochen lang im Bett gelegen." Das Ergebnis ist bemerkenswert: Nur 28% der Sätze mit Helvetismen wurde als „gutes Hochdeutsch" bewertet. Dagegen wurde ein Drittel der Sätze (6 von 18) als korrektes, aber schlechtes Standarddeutsch kategorisiert, rund 39% (7 von 18) sogar als fehlerhaft. Im Durchschnitt wurden damit 72% der Sätze mit schweizerhochdeutschen Varianten als schlechtes oder fehlerhaftes Standarddeutsch kategorisiert. Dies kann als starker Beleg dafür gewertet werden, dass schweizerhochdeutsche Varianten unter Deutschschweizern ein geringes Sprachprestige besitzen. Besonders schweizerhochdeutsche Varianten aus dem Bereich der Wortbildung (z.B. Komposita ohne Fugenmorphem in Sätzen wie „Er stopfte das Mausloch mit einem Taschentuch zu") wurden mit 83% negativ bewertet. Lexikalische Varianten wurden durchschnittlich in 71% der Fälle als schlechtes oder fehlerhaftes Hochdeutsch kategorisiert, syntaktische Varianten zu 67%. Vom deutschländi-schen Standard abweichende Formen (z.B. die Wahl des Kopulaverbs in der Perfektbildung) wurden zwar insgesamt am wenigsten negativ bewertet, dennoch lag auch hier die Quote bei 62%. Weil es sich bei den getesteten Varianten durchweg um solche handelte, die im Pre-Test mehrheitlich als nur in der Schweiz gebräuchliche Standardformen kategorisiert wurden, sind die Ergebnisse ein deutlicher Beleg dafür, dass die Testpersonen entweder kein Plurizentrizitätsbewusstsein hatten und die Standardformen als Dialektismen einordneten oder über kein Bewusstsein von der Gleichwertigkeit der nationalen Varianten verfügten. Wo liegen aber nun die Ursachen für diese Einstellungen gegenüber den in der Linguistik als nationale Varianten beschriebenen sprachlichen Phänomenen? Um diese Frage zu beantworten, wurden die Testsätze so ausgewählt und angeordnet, dass sie es erlaubten, den Einfluss des Sprechers auf die Bewertung der Varianten mit einzubeziehen. 5 trollgruppe die gleichen Sätze in gleicher Reihenfolge, aber ausschliesslich aus dem Mund des Schweizer Sprechers vorgespielt. Ursachen für die Bewertung schweizerhochdeutscher Varianten Die in Relation zum deutschländischen Standard negative Bewertung schweizerhochdeutscher Varianten hat seine Ursache darin, dass Deutschschweizer die eigene Hochdeutsch-Kompetenz und die ihrer Landsleute tendenziell für schwach halten, insbesondere im Vergleich mit deutschen Sprechern. Dies belegen weitere Ergebnisse des Wahrnehmungsexperiments, die den Einfluss des Sprechers auf die Bewertung der Varianten wie folgt erfassten: Bei 22 Variablen wurden die schweizerische und die deutschländische Variante je von einem deutschen und einem Schweizer Sprecher gesprochen (44 Sätze) und den Probanden in relativ kurzer Zeit nacheinander vorgespielt. Die Besonderheit bestand darin, dass die Probanden stets zuerst die deutschländische Form aus dem Mund des deutschen Sprechers zu hören bekamen, danach die schweizerische Variante aus dem Mund der Schweizers. Um zu verhindern, dass die Probanden das Experiment als eine Untersuchung ihres Plurizentrizitätsbewusstseins aufdeckten, wurden die betreffenden Varianten nicht in identischer Satzumgebung getestet und auch nicht unmittelbar hintereinander abgefragt. Vielmehr wurden den betreffenden Phänomenen eine jeweils andere sprachliche , Verpackung' gegeben und die schweizerische nationale Variante in einem moderaten Abstand zur deutschländischen vorgespielt. Der folgende Auszug aus der Liste der Testsätze mag die Versuchsanordnung illustrieren: Die Auswertung (vgl. Tabelle 1) ergab, dass die Probanden im Durchschnitt 14 von 22 Sätzen mit deutschländischer Variante (63%) besser bewerteten als die Sätze mit der schweizerischen Variante. Gleich bewerteten sie im Durchschnitt 5,8 Sätze (27%). Nur in durchschnittlich 2,2 Fällen (10%) gaben sie der schweizerischen Variante den Vorzug vor der deutschländischen. Um den Einfluss der Nationalität des Sprechers zu überprüfen, bekam die Kon- Tatsächlich fiel hier die Bevorzugung deutschländischer Varianten in der Kontrollgruppe weniger stark aus: Im Durchschnitt wurde mit 11,5 Sätzen nur in etwas mehr als der Hälfte (52%) der Fälle der deutschländischen Standardvariante der Vorzug gegeben. Das sind 18% weniger als in der Gruppe der Probanden. Noch grösser sind die Differenzen bei der Bevorzugung schweizerischer Standardformen. Hier liegt der Wert in der Kontrollgruppe um 31% höher. Allerdings wurden auch hier von den 22 Satzpaaren gerade einmal rund drei Sätze mit schweizerischer Variante besser bewertet. Ähnlich gross ist der Unterschied zwischen Probanden und Kontrollgruppe bei der Anzahl von Varianten, die gleich bewertet wurden: Im Durchschnitt gaben die Testpersonen der Kontrollgruppe in 7,6 Fällen keiner Variante den Vorzug, während die Probanden sich nur in 5,8 Fällen für keine der beiden Varianten entscheiden mochten. Auch hier liegt der Wert der Kontrollgruppe damit um 31% höher. Die Differenz zwischen der Gruppe der Probanden und der Kontrollgruppe ist ein Indiz dafür, dass dem deutschen Sprecher eine grössere standardsprachliche Kompetenz zugesprochen wird. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Kompetenz des Schweizer Sprechers aufgrund seiner Herkunft als geringer eingeschätzt wird. Die Differenzen von Probanden und Kontrollgruppe zeigen also, dass das Prestige der deutschländischen Varianten durch ein Sprachprestige deutscher Sprecher ergänzt wird. Dieser Befund lässt sich durch weitere Daten erhärten. Im Rahmen des Wahrnehmungsexperiments wurden sieben Variablen abgefragt, bei denen der deutsche Sprecher die schweizerische Variante sprach und in kurzem Abstand danach der Schweizer Sprecher die deutschländische Variante. Dies illustriert der folgenden Auszug aus der Satzliste: Während in der Kontrollgruppe, die die Sätze ausschliesslich aus dem Mund des Schweizer Sprechers vorgespielt bekam, die deutschländischen Formen erwartungsgemäss bevorzugt wurden, zeigte sich in der Gruppe der Probanden eine bemerkenswerte Verteilung: Hier wurden deutschländische und schweizerische Formen etwa gleich bewertet, es zeichnet sich sogar eine leichte Bevorzugung der schweizerischen Form ab (vgl. Tabelle 2). Das Sprachprestige des deutschen Sprechers überlagert also das Prestige der deutschländischen Varianten.5 Das Experiment zeigt demnach, dass Deutschschweizer ihre nationalen Standardformen gegenüber den deutschländischen Standardformen abwerten, d.h. als schlechteres oder gar fehlerhaftes Standarddeutsch kategorisie-ren. Das Prestige, das die deutschländischen Standardformen gemessen, korrespondiert auch mit einer generellen Hochschätzung der Kompetenz deutscher Sprecher und wird teilweise sogar von dieser überlagert. Ein ähnliches Bild ergab auch eine Befragung der 35 Probanden, die im Anschluss an das Wahrnehmungsexperiment mittels eines Fragebogens durchgeführt wurde. Gerade einmal 8% schätzten die standardsprachliche Kompetenz des Durchschnittsschweizers als gut ein, 43% hielten sie für massig und fast die Hälfte (49%) gab an, sie sei schlecht.6 Auch der persönliche Umgang mit dem Standarddeutschen erwies sich als nicht unbelastet: 42% der Probanden fühlen sich gehemmt, wenn sie Standarddeutsch sprechen, 51% fühlen sich sicherer im standarddeutschen Gespräch mit Nicht- muttersprachlern als im Gespräch mit Deutschen und 71% gaben an, im Gespräch mit Deutschen mehr zu überlegen, um Fehler zu vermeiden. Dass deutschen Sprechern grundsätzlich die grössere Kompetenz zugetraut wird, zeigt sich auch darin, dass 71% der Probanden glaubten, Deutsche könnten variabler mit der Sprache umgehen,7 80% waren der Meinung, Deutsche machten weniger Fehler und 97% gar vertraten die Ansicht, das beste Standarddeutsch spreche man in Deutschland. Kombiniert man nun die im Fragebogen gegebenen Antworten mit den Ergebnissen des Wahrnehmungsexperimentes, erhält man ein differenzier-teres Bild zum Umgang mit schweizerhochdeutschen Varianten in den Reihen der Probanden. Zwei Variablen sind dabei besonders aufschlussreich: Die Einschätzung der eigenen Kompetenz und die Zustimmung bzw. Ablehnung zur Aussage „Ich fühle mich sicher im Umgang mit dem Standarddeutschen". Als Bezugsgrösse dient im Folgenden die relative Bevorzugung der deutschländischen Standardformen. Die ,relative Bevorzugung' bezeichnet die Häufigkeit der Bevorzugung deutschländischer Standardformen abzüglich der Häufigkeit der Bevorzugung schweizerischer Standardformen. 8 Angesichts der relativ kleinen Fallzahlen schien es ratsam, nur zwei Kategorien zu bilden: Unter die erste fallen jene Personen, die weniger als zehn 7 5 6 Auch in der Bewertung von Nonstandardphänomenen zeigten sich ähnliche Ergeb nisse: Im Durchschnitt wurden nur 35% der vom deutschen Sprecher produzierten Nonstandardphänomene als schlechtes oder fehlerhaftes Deutsch kategorisiert, hin gegen 69% des Schweizer Sprechers. In der Kontrollgruppe hingegen waren die Zahlen annähernd gleich. Die eigene Kompetenz hingegen hielten rund zwei Drittel der Befragten für gut. Vgl. Tabelle 3. 8 60% waren der Ansicht, Deutsche hätten daher auch Vorteile in Diskussionen. Diese Grösse eignet sich besser als Bezugsgrösse für weitere Untersuchungen als die absolute Häufigkeit, weil Antwortmuster wie das folgende zu Fehlschlüssen verleiten könnten: Es wäre etwa möglich, dass ein Proband elf Mal der deutschländischen Variante den Vorzug gibt und genauso häufig der schweizerischen. Berücksichtigte man die absolute Häufigkeit, sässe man dem Fehlschluss auf, dass der Proband die deutschländischen Formen positiver bewertet, obwohl keine echte Präferenz für die deutschländische Standardvarietät zu konstatieren wäre. Mal die deutschländische Form präferierten, unter die zweite jene, die dies zehn Mal oder öfter taten. Zunächst zum Einfluss der Einschätzung der eigenen Kompetenz auf die Bewertung der nationalen Varianten (Tabelle 3). Die generelle Tendenz lässt sich so beschreiben: Wer seine eigene Kompetenz für gut hält, bevorzugt stark deutschländische Formen. Wer hingegen seine eigene Kompetenz als „mässig" oder gar als „schlecht" bezeichnet, präferiert seltener deutschländische Formen. Eine beinahe gleiche Verteilung zeigt sich, wenn man den Einfluss des sub- 6 jektiven Sicherheitsgefühls im Umgang mit dem Standarddeutschen mit der relativen Bevorzugung deutschländischer Varianten untersucht (Tabelle 4). Die Favorisierung der deutschländischen Standardvarietät korreliert demnach mit der Einschätzung, man spreche sicher und man spreche gutes Standarddeutsch. Die Beherrschung des Standarddeutschen - dies legen die Zahlen nahe - wird in der Schweiz mit dem Beherrschen von deutschländischem Deutsch identifiziert. Schweizerhochdeutsch: Zwischen deskriptiver Linguistik und Sprachpolitik Auch wenn in der vorliegenden Untersuchung eine stärkere Differenzierung zwischen mündlichem und geschriebenem Standarddeutsch und einzelnen Gebrauchsdomänen wünschenswert gewesen wäre, so ist doch deutlich geworden, dass es in der Deutschschweiz in standardsprachlichen Fragen eine tiefe Kluft zwischen den kollektiven Vorstellungen von Richtigkeit und Vorbildlichkeit und den kodifizierten Sprachnormen gibt. Während die Kodizes schweizerische und deutschländische Varianten häufig als gleichberechtigt aufführen, empfinden viele Sprecherinnen und Sprecher diese Varianten als ,schlechtes' oder gar als fehlerhaftes Standarddeutsch. Dies hat gewiss zum Teil seine Ursache in der besonderen Sprachensituation in der Schweiz: in der Standard-Dialekt-Diglossie und im asymmetrischen Verhältnis des Schweizer Standards zum deutschländischen. Indes muss aber doch gefragt werden, ob nicht die Kodifizierung von vorwiegend in der Schweiz gebräuchlichen Varianten und ihre Beschreibung als ,nationale Varietät der deutschen Standardsprache' durch Linguistinnen und Linguisten an den Normvorstellungen der Sprecherinnen und Sprecher vorbeigeht. Immerhin verweisen die Zahlen darauf, dass von einem Plurizentrizitätsbewusstsein, einem Bewusstsein von der Existenz gleichberechtigter nationaler Varietäten, kaum die Rede sein kann. Für die Theorie der Standardsprache bedeutet dies, dass ,Kodifiziertheit' kein hinreichendes Kriterium für die Existenz einer (nationalen Varietät einer) Standardsprache ist. Nicht die Beschreibung der gebräuchlichen Formen in Kodizes, sondern die Akzeptanz und Reichweite dieser Kodizes müsste als Kriterium für die Existenz (einer nationalen) Standardvarietät herangezogen werden. Indem aber die Linguistik - orientiert am Konzept der nationalen Varietäten - Kodizes erstellt und regionale Varianten zu nationalen erklärt, greift sie als Akteurin in die Prozesse standardsprachlicher Normenbildung ein. Werden die von ihr erstellten Kodizes in der Bevölkerung akzeptiert, bestehen gute Chancen, dass auch ihre Theorien zu Handlungskategorien der Sprecher werden. Am Fall der Schweiz lässt sich also beobachten, wie die Linguistik an der Konstruktion eines Gegenstandes (mit)arbeitet: durch Kodifizierung, durch die intensive Bewerbung der Kodizes und durch eine entsprechende Ausbildung von Normautoritäten wird der Gegenstand einer eigenständigen schweizerischen Standardvarietät geschaffen. Die Deutung standardsprachlicher Varianten als nationale Varianten ist dann freilich nicht nur Gegenstand der deskriptiven Linguistik, sondern zugleich ein sprachpolitischer Akt, ein gerichteter Eingriff in Korpus und Status der Standardsprache. Es wäre ein interessantes Feld für künftige Untersuchungen, herauszuarbeiten, aus welchen Motiven dieser sprachpolitische Eingriff vorgenommen wird. Literatur Ammon, Ulrich (1986): Explikation der Begriffe ,Standardvarietät' und Standardsprache' auf normtheoretischer Grundlage. In: Holtus, Günter/Radtke, Edgar (Hgg.): Sprachlicher Substandard. Tübingen: Niemeyer, 1-63 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 36). Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich et al. (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin, New York: de Gruyter. Arens, Peter (1985): Des Schweizers Deutsch. Bern: Hallwag. Chambers, Jack (2000): Sociolinguistic uses of subjective evaluation tests. In: Deminger, Szilvia et al. 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