240 VIII. Integralrechnung in mehreren Veränderlichen VIII. Integralrechnung in mehreren Veränderlichen 55. 56. 57. 58. 59. 55 Das Lebesgue-Maß auf Rn Das Lebesgue-Integral auf Rn Der Satz von Fubini Die Transformationsformel Γ -Funktion und Integralberechnungen 240 243 248 253 257 Das Lebesgue-Maß auf Rn 55.1 Flächeninhalte und Volumina. a) Für Zahlen aj ≤ bj in R ist durch Q := n Q j=1 [aj , bj ] (1) ein Quader in Rn gegeben. Sein Lebesgue-Maß wird definiert als λ(Q) := λn (Q) := n Q (bj − aj ) . (2) j=1 Im Fall n = 2 ist λ2 (Q) der Flächeninhalt des Rechtecks Q , im Fall n = 3 ist λ3 (Q) das (anschauliche) Volumen des Quaders Q . b) Man möchte nun das Maß λn auf eine möglichst große Klasse M(Rn ) von Teilmengen des Rn fortsetzen; für λn : M(Rn ) → [0, ∞] sollten dann die folgenden einleuchtenden Eigenschaften gelten: (A1) Für Quader Q in Rn gilt Formel (2). (A2) Für M ∈ M und eine Translation τ : x 7→ x + b des Rn gilt auch τ (M) ∈ M und λ(τ (M)) = λ(M) . (A3) Für M ∈ M und eine Drehung oder Spiegelung ρ des Rn gilt auch ρ(M) ∈ M und λ(ρ(M)) = λ(M) . (A4) Für M, N ∈ M gilt auch M ∪ N , M ∩ N ∈ M , und man hat λ(M ∪ N) + λ(M ∩ N) = λ(M) + λ(N) . c) Für n ≥ 3 gibt es keine Abbildung λ : P(Rn ) 7→ [0, ∞] , die auf allen Teilmengen des Rn definiert ist und (A1) - (A4) erfüllt. Das Lebesgue-Maß wird daher (in 55.5) nur auf gewissen Teilmengen von Rn erklärt; dort hat es dann die Eigenschaften (A1) - (A4), wobei (A4) sogar noch wesentlich verschärft werden kann (vgl. Satz 55.6). 55.2 Polygone. a) Liegen rechtwinklige Dreiecke T (mit den Seitenlängen a, b ) in M(R2 ) , so ergibt sich aus (A1) - (A4) sofort λ(T ) := 1 2 ab. (3) 55 Das Lebesgue-Maß auf Rn 241 Für beliebige Dreiecke D mit einer Seite s = s1 + s2 und zugehöriger Höhe h erhält man daraus λ(D) = 21 s1 h + 21 s2 h , also 1 2 λ(D) = (4) sh. b) Polygone P ⊆ R2 sind endliche Vereinigungen von Dreiecken. Man kann P = r S Dj als disjunkte Vereinigung von Dreiecken schreiben (Strecken sind entar- j=1 tete Dreiecke !) und setzt dann r P λ(P ) := j=1 λ(Dj ) . (5) Dieser Ausdruck ist von der Wahl der Zerlegung von P in disjunkte Dreiecke unabhängig und somit wohldefiniert, und der Flächeninhalt λ : Po 7→ [0, ∞) auf der Klasse Po aller Polygone erfüllt die Eigenschaften (A1) - (A4). Ein Beweis dieser anschaulich einleuchtenden Tatsachen ist recht mühsam. c) Allgemeinere Mengen M ⊆ R2 können durch Polygone einerseits ausgeschöpft und andererseits eingegrenzt werden; bereits Archimedes (287–212 v. Chr.) konnte so Flächeninhalte berechnen. 55.3 Äußeres Maß. a) Zur Konstruktion des Lebesgue-Maßes benutzt man Eingrenzungen und Ausschöpfungen durch Folgen von Quadern. Die Verwendung nur endlich vieler Quader würde eine weniger leistungsfähige Theorie ergeben. ∞ S b) Wegen Rn ⊆ [−k, k]n gibt es zu jeder Menge A ⊆ Rn Folgen (Qk )k∈N von k=1 ∞ S Quadern mit A ⊆ Qk . Die Zahl k=1 λ∗ (A) := λn∗ (A) := inf { ∞ P ∞ S λ(Qk ) | A ⊆ k=1 Qk } ∈ [0, ∞] (6) k=1 heißt dann äußeres Maß von A . c) Das äußere Maß ist subadditiv: Für eine Folge (Aj ) von Teilmengen des Rn und A⊆ ∞ S j=1 Aj gilt λ∗ (A) ≤ ∞ P j=1 λ∗ (Aj ) . (7) 55.4 Nullmengen. a) Eine Menge N ⊆ Rn heißt Nullmenge, N ∈ N(Rn ) , falls λ∗ (N) = 0 gilt. Dazu ist äquivalent, daß es zu jedem ε > 0 eine Folge (Qk ) von Quadern mit N ⊆ ∞ S k=1 Qk und ∞ P λ(Qk ) < ε gibt. k=1 b) Für eine Folge (Nj ) in N(Rn ) und N ⊆ ∞ S j=1 Nj ist nach (7) auch N ∈ N(Rn ) . c) Eine Menge A heißt abzählbar, wenn es eine Folge (aj )j∈N in A gibt mit A= ∞ S {aj } . Äquivalent dazu ist die Existenz einer Surjektion f : N 7→ A . Nach b) j=1 sind also abzählbare Mengen in Rn stets Nullmengen. Allgemeiner sind abzählbare Vereinigungen von Nullmengen wieder Nullmengen. 242 VIII. Integralrechnung in mehreren Veränderlichen d) Die Menge Q der rationalen Zahlen ist abzählbar, die Menge R dagegen nicht. e) (Achsenparallele) Geraden in R2 sind zweidimensionale Nullmengen. Allgemeiner gilt Rn−1 := {(x′ , 0) | x′ ∈ Rn−1 } ∈ N(Rn ) . f) Es seien D ⊆ Rn offen und f ∈ C 1 (D, Rn ) . Für eine Nullmenge N ⊆ D ist dann auch f (N) eine Nullmenge in Rn . Dies gilt i. a. nicht, wenn f : N 7→ Rn nur stetig ist (vgl. 49.1 d)). g) Nach e) und f) sind die Bahnen von C 1 -Wegen für n ≥ 2 Nullmengen im Rn , entsprechend Flächen Nullmengen im R3 usw. Das äußere Maß ist nicht additiv auf der Potenzmenge P(Rn ) . Man definiert daher (vgl. (A4)): 55.5 Definition. Eine Menge M ⊆ Rn heißt Lebesgue-meßbar, M ∈ M(Rn ) , falls für alle Quader in Rn gilt: λ(Q) = λ∗ (Q ∩ M) + λ∗ (Q\M) . (8) Für M ∈ M(Rn ) wird das Lebesgue-Maß durch λ(M) := λn (M) := λ∗ (M) definiert. 55.6 Theorem. a) Das System M(Rn ) ist eine σ -Algebra, d. h. es hat die folgenden Eigenschaften: (α) (β) Rn ∈ M(Rn ) , A ∈ M(Rn ) ⇒ Ac = Rn \A ∈ M(Rn ) , (γ) (Ak )k∈N ⊆ M(Rn ) ⇒ A := ∞ S Ak ∈ M(Rn ) . k=1 b) Das Lebesgue-Maß λ = λn : M(Rn ) 7→ [0, ∞] ist σ -additiv, d.h. für eine disjunkte Folge (Ak )k∈N in M(Rn ) und A := λ(A) = ∞ P ∞ S Ak gilt k=1 λ(Ak ) . (9) k=1 55.7 Theorem. a) Für das Lebesgue-Maß λ = λn : M(Rn ) 7→ [0, ∞] gelten die Eigenschaften (A1) - (A4). b) Offene und abgeschlossene Teilmengen von Rn sind meßbar. c) Zu A ∈ M(Rn ) und ε > 0 gibt es eine offene Menge U und eine abgeschlossene Menge C mit C ⊆ A ⊆ U und λ(U\C) < ε . 55.8 Beispiel (Vitali). Durch x ∼ y := x − y ∈ Q wird eine Äquivalenzrelation auf R definiert. Es sei E ⊆ [0, 1] eine Menge, die aus jeder Äquivalenzklasse genau ein Element enthält. Dann gilt [0, 1] ⊆ S {E + r | r ∈ Q ∩ [−1, 1]} ⊆ [−1, 2] , (10) wobei die Vereinigung abzählbar und disjunkt ist. Nach (A2) folgt aus E ∈ M(R) auch E + r ∈ M(R) und λ(E + r) = λ(E) für alle r ∈ Q , aus (9) und (10) also 1 ≤ ∞ P λ(E) ≤ 3 . k=1 Dies ist sowohl für λ(E) = 0 als auch für λ(E) > 0 unmöglich, und somit kann E nicht Lebesgue-meßbar sein.