MB2_Biodiversitaet_30062001_SYN

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> Biodiversität in Fliessgewässern
Wörter: ca. 15'660 (inkl. Leerschläge); Unterstrichen: Glossarbegriffe
Silke Werth, Maria Alp, Theresa Karpati, Walter Gostner, Christoph Scheidegger, Armin Peter
Vielfältige und dynamische Lebensräume sind eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Erhaltung
der Artenvielfalt in Flusslandschaften. Beide machen einen Teil des Begriffs Biodiversität aus. Dieses
Merkblatt stellt eine Reihe wichtiger Aspekte der Biodiversität vor und leitet einige Empfehlungen für
die Praxis ab, die für die Erhaltung der Biodiversität berücksichtigt werden sollten.
Titelbild
Was ist Biodiversität?
Der Begriff Biodiversität bezeichnet die Vielfalt der Arten mit ihrer genetischen Vielfalt, die Vielfalt der
Lebensräume, sowie die Vielfalt der ökologischen Funktionen einschliesslich der Ökosystemleistungen
(nach Biodiversitäts-Konvention, 2005). Nicht nur die allgemeine Vielfalt der Arten, sondern auch das
Vorhandensein charakteristischer und seltener Arten ist ein wichtiger Bestandteil der Biodiversität.
Beispiele solcher charakteristischer Arten sind in Tabelle 1 und Abbildung 1 ersichtlich.
Genetische Vielfalt
Biodiversität ist auf ganz verschiedenen Ebenen wichtig. Auch die genetische Vielfalt, die auf
Unterschieden im Erbgut von Individuen basiert, hat eine hohe Bedeutung für die Erhaltung stabiler
und adaptationsfähiger Populationen. Genetische Vielfalt ist direkt mit der Grösse der einzelnen
Populationen und ihrer Vernetzung mit anderen Populationen verbunden. Kleine und sehr stark
isolierte Populationen sind oft genetisch verarmt und dadurch weniger widerstandsfähig gegenüber
Störungen - sei es Klimaänderungen, Lebensraumfragmentierung oder natürliche Störungen wie z.B.
starke Hochwasser.
Lebensräume und Lebensraumvielfalt
2 Biodiversität in Fliessgewässern
Eine Reihe Umweltfaktoren bestimmen den Lebensraum für jede Art. Je mehr verschiedene
Lebensraumtypen in einem Flussgebiet vorhanden sind, desto mehr Nischen können durch
verschiedene Organismen besetzt werden, und desto höher ist die lokale Biodiversität. Allgemein ist
Lebensraumvielfalt eine der Grundvoraussetzungen für die Vielfalt der typischen Artengemeinschaften
der Flussgebiete (BOX 1). Einige besonders wertvolle Lebensräume in Flussgebieten, wie Auen oder
Amphibienlaichräume, sind vom schweizerischen Bund inventarisiert und geschützt.
Für aquatische Organismen sind solche Aspekte der Lebensraumvielfalt wie die Variabilität der
Wassertiefe, der Fliessgeschwindigkeit, der Substratkorngrösse und der Temperatur, sowie das
Vorhandensein von Strukturen im Fluss wie Totholz relevant. Viele dieser Faktoren werden durch
Flussverbauungen stark beeinflusst (BOX 1). Für uferbewohnende Organismen sind weitere
lebensraumbezogene Faktoren wie die Uferbeschaffenheit, die Höhe über dem Normalwasserstand,
das Vorhandensein und die Korngrösse der Kiesbänke sowie aufgrund des hohen Raumbedarfs vieler
terrestrischer Arten die räumliche Ausdehnung der verfügbaren Lebensräume wichtig.
Zusammenhang zwischen Lebensraum- und Artenvielfalt
Traditionell geht man davon aus, dass mit erhöhter Lebensraumvielfalt auch die Artenvielfalt zunimmt
und somit wird eine Erhöhung der Biodiversität als Ergebnis der Flussrevitalisierungen, die neue
Habitate schaffen, erwartet. In der Tat zeigen viele Studien, sowie unsere Untersuchungen an der
Bünz und der Sense, dass Lebensraum- und Artenvielfalt nicht immer korreliert sind. Es gibt mehrere
Faktoren, die die Ursache solcher Diskrepanz darstellen könnten. Einerseits können
Lebensraumaspekte wie schlechte Wasserqualität bestimmend sein und viele empfindliche Arten
ausschliessen. Anderseits sind Besiedlungsprozesse für die lokale Biodiversität von einer hohen
Bedeutung. Dabei spielen die Ausbreitungsfähigkeit von Arten, das Vorhandensein von
Quellpopulationen, sowie die Lage des spezifischen Standortes innerhalb des Flussnetzwerkes eine
sehr wichtige Rolle. Auch Barrieren – künstliche sowie natürliche – können die Zuwanderung von
Arten behindern, und somit können die positiven Effekte einer z.B. durch Flussrevitalisierungen
erhöhten Lebensraumvielfalt auf die Artenvielfalt auf sich warten lassen oder gar ausbleiben (siehe
MB Vernetzung). Abhängigkeit von der Durchlässigkeit eines Flusssystems können die
Einwanderungsprozesse Jahre oder Jahrzehnte benötigen, bis sich stabile Populationen etablieren
können.
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2 Biodiversität in Fliessgewässern
Verzahnung der Lebensräume
Auch die Vernetzung der aquatischen und terrestrischen Lebensräume spielt eine grosse Rolle.
Terrestrische Lebensräume sind beispielsweise wichtig für den Eintrag von organischem Material in
Fliessgewässer. So dient das Falllaub als Nahrungsbasis für viele aquatische Invertebraten, während ins
Wasser fallende terrestrische Invertebraten ein wichtiger Teil der Nahrung von beispielsweise
Bachforellen sind. Die enge Verbindung der aquatischen und terrestrischen Nahrungsketten gilt auch in
der anderen Richtung – viele Vögel, Eidechsen, Fledermäuse und Uferinvertebraten ernähren sich im
Sommer von frisch geschlüpften aquatischen Insekten (Abb. 2). Ein weiteres Beispiel für die gegenseitige
Beeinflussung terrestrischer und aquatischer Lebensräume ist die Rolle der durch Ufervegetation
bedingten Beschattung für die Temperaturbedingungen im Fluss. Flüsse (besonders kleinere), an
welchen die natürliche Ufervegetation abgeholzt wurde, weisen eine erhöhte Wassertemperatur auf, was
eine direkte Auswirkung auf Flusslebensräume und auch auf die Verbreitung bestimmter
Krankheitserreger haben kann (z.B. die proliferative Nierenerkrankung bei Salmoniden). Somit ist es
wichtig, nicht nur Lebensräume im und am Fluss, sondern auch die sogenannten Ökotone, die
Übergangszonen zwischen Ökosystemen, zu schützen.
Dynamische Aspekte der Flusslebensräume.
Eine wichtige Eigenschaft der Flusslebensräume ist ihre Dynamik: Saisonale Schwankungen des
Abflusses, des Geschiebetransports, und der Wassertemperatur. Natürliche Flussdynamik ist
entscheidend für die Erhaltung und Förderung verschiedener Lebensräume und deren Vernetzung (im
Raum sowie in der Zeit). So sind z.B. vor der Laichzeit von kieslaichenden Fischen
geschiebeführende Hochwasser von grosser Bedeutung für die Reinigung der Flusssohle.
Die Flussdynamik ist aber auch von herausragender Bedeutung für seltene, flussspezifische
Organismen, wichtige Indikatoren für Biodiversität. So ist zum Beispiel für terrestrische Arten die
Wiederkehrzeit der Hochwasser entscheidend. Die Häufigkeit der grossen Hochwasser bestimmt das
Sukzessionsstadium der Vegetation von Kiesbänken und Auenbereichen. Vor allem
konkurrenzschwache flussbegleitende Pflanzenarten benötigen Pionierstandorte zur Keimung ihrer
Samen und zur erfolgreichen Etablierung von Jungpflanzen. Wenn die Störungen (Hochwasser)
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ausbleiben, kann es für solche Arten problematisch werden, da keine neuen Lebensräume geschaffen
werden, und alte Lebensräume mit dem Fortschreiten der Sukzession nicht mehr geeignet sind. Somit
unterbleibt die Etablierung neuer Bestände, und die Arten können sich langfristig nicht am Fluss
halten (Beispiel: Myricaria germanica, BOX 2).
Dynamische Aspekte der Lebensgemeinschaften
Zu verschiedenen Zeitpunkten sind Organismen auf unterschiedliche Lebensräume angewiesen. Das
kann zum Beispiel mit der spezifischen Lebensphase zu tun haben. So benötigen viele Fische und
aquatische Insekten für die Reproduktion und die Entwicklung von Jugendstadien unterschiedliche
Lebensraumtypen. Viele aquatische Insektenarten müssen zum Beispiel für ihre Eiablage grosse, aus
dem Wasser ragende Steine suchen. Der Erfolg ihrer Reproduktion hängt von der Verfügbarkeit
solcher Substrate ab. Auch bestimmte Fische, wie die Salmoniden, wandern zu spezifischen
Lebensräumen zum Laichen, etwa an Seitengewässer oder die Oberläufe der Fliessgewässer.
Verschiedene Lebensräume können ausserdem auch im Tageszyklus oder im Jahreslauf benötigt
werden. Ein bekanntes Beispiel sind viele Fischarten, die am Tag und in der Nacht oder im Sommer
und Winter unterschiedliche Lebensräume bewohnen. Dies bedeutet, dass, wenn nur ein Teil dieser in
unterschiedlichen Momenten benötigten Lebensräume vorhanden ist, bzw. die Lebensräume nicht
miteinander vernetzt sind, die Erhaltung der Populationen gegebenenfalls nicht gewährleistet ist.
Zusammenfassung der wichtigsten Schlussfolgerungen für die Praxis:
1) Biodiversität wiederherzustellen ist viel schwieriger, als sie zu erhalten. Somit ist die Erhaltung von
vorhandenen Populationen und Lebensräumen wesentlich sinnvoller als aufwändige
Massnahmen, um im Gebiet ausgestorbene Arten wieder anzusiedeln.
2) Um den ökologischen Erfolg von Revitalisierungen zu gewährleisten, muss die Gesamtheit der
den Lebensraum bestimmenden Faktoren berücksichtigt werden. Für die Priorisierung der zu
revitalisierenden Strecken müssen ausser morphologischer Lebensraumdiversität Faktoren wie
das hydrologische Regime, die Wasserqualität, die Vernetzung im Flussnetz sowie das
Vorhandensein von nahe liegenden Quellpopulationen mitbetrachtet werden. Starke Defizite in
einem dieser Faktoren können die Wiederbesiedlung für viele Arten unmöglich machen, auch wenn
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ein Teil der Lebensraumansprüche dank der Revitalisierungsmassnahmen erfüllt werden. Die Lage im
Flussnetz kann das Erfolgpotential stark mitbestimmen: Revitalisierungen von Strecken unterhalb der
natürlichen und artenreichen Flussabschnitte bringen für die Erhaltung und Förderung der
Biodiversität viel mehr als solche an stark isolierten Standorten ohne Verbindung zu
Quellpopulationen.
3) Die Massnahmen zum Schutz und Management der Gewässer und der Uferzonen müssen
unbedingt zusammen geplant werden. Lokale Erhaltung und Wiederherstellung der natürlichen
Ufervegetation kann im ganzen Einzugsgebiet positive Auswirkungen auf Lebensraumverfügbarkeit
haben.
Literatur
Baxter, C.V., Fausch, K.D., Saunders, C.W. (2005) Tangled webs: reciprocal flows of invertebrate prey
link streams and riparian zones. Freshwater Biology 50, 201-220.
Bruno Baur (2010). Biodiversität. UTB, Bern.
Greet J.O.E., Webb, J.A. & Cousens, R.D. (2011) The importance of seasonal flow timing for riparian
vegetation dynamics: a systematic review using causal criteria analysis. Freshwater Biology 56, 12311247.
Herzog, C. (2010) Is morphological diversity reflected in biodiversity? Semesterarbeit, ETH Zürich.
Jaehnig, S.C., Brabec. K., Buffagni, A., Erba, S., Lorenz, A.W., Ofenböck, T., Verdonschot, P.F.M.,
Hering, D. (2010) A comparative analysis of restoration measures and their effects on
hydromorphology and benthic invertebrates in 26 central and southern European rivers. Journal of
Applied Ecology 47, 671-680.
Meili, M., Scheurer, K., Schipper, O., Holm, P. (2004) Dem Fischrückgang auf der Spur. Fischnetz
Schlussbericht. Fischnetz.
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Schönborn, W. (1992) Fliessgewässerbiologie. Gustav Fischer Verlag Jena, Stuttgart.
Secretariat of the Convention on Biological Diversity (2005) Handbook of the convention on biological
diversity including its cartagena protocol on biosafety, 3 edn. Friesen, Montreal, Canada.
http://www.cbd.int/handbook/
Staeheli, T. (2008) Revitalisierungen an der Bünz: Zusammenhänge zwischen Hydromorphologie und
Makrozoobenthos. Diplomarbeit, ETH, Zürich.
http://www.rivermanagement.ch/rivermanagement/publ-de.ehtml#dipl
Weitere nützliche Internetseiten
http://www.bafu.admin.ch/schutzgebiete-inventare/index.html?lang=de
http://www.bafu.admin.ch/umwelt/status/03991/index.html?lang=de
Biodiversität belebt (2010). Umwelt, 2. Bundesamt für Umwelt, BAFU.
http://www.bafu.admin.ch/dokumentation/umwelt/10342/index.html?lang=de
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#TEXTE FÜR BOXEN/TABELLEN#
BOX 1 Lebensraumvielfalt
Eine natürliche Aue bietet den aquatischen und terrestrischen Organismen eine Vielfalt
unterschiedlicher Lebensräume an, diese werden von verschiedenen Organismen zu verschiedenen
Zeiten Ihres Lebenzyklus und für verschiedene Aktivitäten (z.B. Reproduktion, Ausruhen, Ernährung)
benutzt. Verschiedene Temperaturbedingungen tragen auch zur Lebensraumdiversität bei. So haben
Studien gezeigt, dass Fischlebensgemeinschaften in Lebensräumen mit unterschiedlichen saisonalen
und täglichen Mustern in Temperaturbedingungen sich deutlich unterscheiden. Auch die Variabilität
der Breiten- und Tiefenverhältnisse spielt eine bedeutende Rolle, wobei sie die Variabilität in
Fliessgeschwindigkeiten und Korngrössen, wichtige Parameter des aquatischen Lebensraums,
bestimmt. Monotone Flussprofile bieten sehr wenige und eher harsche (im Sinne der
Fliessgeschwindigkeit) Lebensräume, die nur für wenige Generalisten-Arten geeignet sind.
Illustrationen für BOX 1 siehe Dokument Abbildungen
BOX 2: Dynamik der Flusssysteme
Die Studie von Walter Gostner hat den Überschwemmungsgrad der Kiesbänke bei verschiedenen
Abflüssen an der Sense bei Plaffeien simuliert, um die von der Deutschen Tamariske besiedelten
Habitate hydrologisch zu charakterisieren. Die Studie demonstrierte, dass diese Pflanzenart sich nur
auf Kiesbänken etablieren kann, die mit einer bestimmten Häufigkeit (alle 5 Jahre) überschwemmt
werden. Bei den häufiger überschwemmten Kiesbänken schaffen es junge Tamariskenpflanzen nicht,
genügend starke Wurzeln zu entwickeln, um Hochwasser zu überstehen. Werden Kiesbänke viel
seltener überschwemmt, wird die Tamariske im Lauf von wenigen Jahrzehnten von anderen,
konkurrenzstärkeren Gehölzarten verdrängt.
Illustrationen für BOX 2 siehe Dokument Abbildungen
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Tabelle 1 Charakteristische Arten der naturnahen Wildflusslandschaften.
Deutscher Name
Lateinischer Name
Rote Liste Status
Artengruppe
Laufkäfer
Bembidion eques
Vom Aussterben bedroht (CR)
Arthropoden
Laufkäfer
Bembidion foraminosum
Vom Aussterben bedroht (CR)
Arthropoden
CH: ausgestorben (RE)
Arthropoden
Gefleckte Schnarrschrecke Bryodemella tuberculata
Kiesbankgrashüpfer
Chorthippus pullus
Vom Aussterben bedroht (CR)
Arthropoden
Fluss-Strandschrecke
Epacromius tergestinus
Vom Aussterben bedroht (CR)
Arthropoden
Dornschrecke
Tetrix tuerki
Vom Aussterben bedroht (CR)
Arthropoden
Zierliche Moosjungfer
Leucorrhinia caudalis
Vom Aussterben bedroht (CR)
Arthropoden
Flussuferwolfspinne
Arctosa cinerea
DE: Vom Aussterben bedroht (CR)
Arthropoden
Springspinne
Heliophanus patagiatus
DE: Vom Aussterben bedroht (CR)
Arthropoden
Springspinne
Sitticus distinguendus
DE: Vom Aussterben bedroht (CR)
Arthropoden
Flussuferläufer
Actitis hypoleucos
Stark gefährdet (EN)
Wirbeltiere
Kreuzkröte
Bufo calamitas
Stark gefährdet (EN)
Wirbeltiere
Flussregenpfeifer
Charadrius dubius
Verletzlich (VU)
Wirbeltiere
Laubfrosch
Hyla arborea
Stark gefährdet (EN)
Wirbeltiere
Buntes Birnmoos
Bryum versicolor
Vom Aussterben bedroht (CR)
Pflanzen
Alpen-Knorpelsalat
Chondrilla chondrilloides
Stark gefährdet (EN)
Pflanzen
Deutsche Tamariske
Myricaria germanica
Potentiell gefährdet (NT)
Pflanzen
Sanddorn
Hippophäe rhamnoides
Nicht gefährdet (LC)
Pflanzen
Reifweide
Salix daphnoides
Nicht gefährdet (LC)
Pflanzen
Einfacher Igelkolben
Sparganium emersum
Verletzlich (VU)
Pflanzen
Verzweigter Igelkolben
Sparganium erectum
Stark gefährdet (EN)
Pflanzen
Kleiner Rohrkolben
Typha minima
Stark gefährdet (EN)
Pflanzen
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