x-Spezial: Geschichte Die Anfänge der Genetik: Die Lücke in Darwins Theorie (Nägeli und Mendel) Der Grund, warum die Evolutionstheorie oft falsch angewandt wurde, lag darin, dass der Vererbungsmechanismus im neunzehnten Jahrhundert nicht durchschaut worden war. Der Glaube Spencers an eine schnelle Änderung menschlicher Verhaltensweisen wie auch der von Galton an die Verbesserung der menschlichen Rasse durch ein schnell und ohne Schwierigkeiten durchzuführendes Programm der Zuchtwahl entstand aus einer Unwissenheit, die sie mit den Biologen ganz allgemein teilten. Tatsächlich stellte sich das mangelnde Verständnis der Natur des Vererbungsmechanismus als die bedauernswerteste Schwäche in Darwins Theorie heraus. Kurz gesprochen handelte es sich um folgendes: Darwin nahm an, dass es ständig zufällige Varianten unter den Jungtieren jeder Art gäbe und dass sich einige davon besser als andere der Umwelt anpassten. Die junge Giraffe mit längstem Hals würde sich am besten ernähren können. Wie aber konnte man sicher sein, dass der längste Hals auch vererbt wurde? Die Giraffe würde sich genauso gut ein Partnertier mit langem wie mit kurzem Hals suchen können. Alle Erfahrungen, die Darwin mit der Zucht von Tieren gemacht hatte, führte ihn zu der Annahme, dass es zu einer Vermischung von Merkmalen kam, wenn Tiere gekreuzt wurden, die diese in extremer Ausprägung besaßen. Wenn sich also eine langhalsige Giraffe mit einer kurzhalsigen kreuzte, ergäben sich Giraffen, deren Hälse eine mittlere Länge besäßen. Mit anderen Worten: Die nützlichen Eigenschaften, die sich durch Zufall ergäben, würden durch eine ebenso zufällige Kreuzung der Tiere wieder wettgemacht und führten zu einem Mittelmaß, so dass nichts übrig bliebe, an dem die natürliche Zuchtwahl eingreifen und evolutionäre Änderungen hervorbringen könne. Einige Biologen machten Anstrengungen, um diesen schwachen Punkt zu erklären, jedoch ohne großen Erfolg. Der Schweizer Botaniker Karl Wilhelm von Nägeli (1817 - 91) war ein begeisterter Anhänger des Darwinismus und erkannte diese Schwierigkeit. Er nahm daher an, dass es einen inneren Vorgang geben müsse, der die evolutionären Änderungen in einer bestimmten Richtung triebe. Wie man aus Fossilfunden wusste, stammte das Pferd von einem Tier in der Größe eines Hundes ab, welches vier Hufe an jedem Fuß hatte. Im Laufe der Zeit wurden die Nachkömmlinge allmählich größer und verloren einen Huf nach dem anderen, bis sich das heutige große einhufige Pferd entwickelte. Nägeli glaubte an ein dem Tier innewohnendes Streben, sich beständig in der Richtung auf Vergrößerung und weniger Zehen zu entwickeln. Diese Entwicklung würde sich sogar bis zum Schaden des Pferdes fortsetzen, so dass es zu groß und unbeweglich würde, seinen Feinden zu -1- x-Spezial: Geschichte entrinnen. Eine beständige Dezimierung der Pferde wäre die Folge, so dass sie schließlich aussterben müssten. Man nennt diese Theorie „Orthogenese“. Sie wird von den heutigen Biologen nicht anerkannt. Aber ihre Existenz in Nägelis Vorstellung erwies sich als unerwartet schädlich, wie wir jetzt sehen werden. Die Mendelschen Erbsen: Die heute anerkannte Lösung des Problems ergab sich im Verlauf der Arbeiten des österreichischen Mönchs und Botanikers Gregor Johann Mendel (1822-84). Mendel war sowohl an der Mathematik als auch an der Botanik interessiert und vereinigte beide Gebiete zur statistischen Untersuchung von Erbsen, die sich von 1857 über acht Jahre hinzog. Sehr sorgfältig führte er eine Selbstbestäubung bei verschiedenen Pflanzen durch, um sich so zu vergewissern, dass eventuell vererbte Eigenschaften nur von einem Elternteil stammen konnten. Ebenso sorgfältig sammelte er die von jeder so befruchteten Erbsenpflanze erzeugten Samen, pflanzte sie getrennt und beobachtete die neue Generation. Dabei ergab sich, dass aus den Samen von niedrigwüchsigen Erbsen immer wieder solche entstanden. Die von dieser zweiten Generation erzeugten Samen ergaben ihrerseits auch wieder nur niedrigwüchsige Erbsen, sie bildeten einen „reinen Stamm“ (oder „reine Linie“). Die Samen von hohen Erbsenpflanzen verhielten sich nicht immer in gleicher Weise. Einige der hohen Erbsenpflanzen (ungefähr der dritte Teil derjenigen seines Gartens) pflanzten sich rein fort, indem sie Generation auf Generation hohe Pflanzen erzeugten. Der Rest verhielt sich aber anders. Einige der Samen von diesen hohen Pflanzen ergaben wieder hohe, ein anderer Teil aber niedrige Pflanzen. Es wurden dabei immer ungefähr zweimal soviel hohe wie niedrige Pflanzen erzeugt. Offensichtlich gab es zwei verschiedene Typen von hohen Erbsenpflanzen, die reinen und die nicht reinen Linien. Mendel kreuzte reine niedrige mit reinen hohen Pflanzen und fand dabei, dass der Samen jedes entstandenen Bastards wieder hohe Pflanzen erzeugte. Die Eigenschaft des Niedrigwuchses schien sich verloren zu haben. Als nächstes nahm Mendel eine Selbstbestäubung jeder Bastardpflanze vor und beobachtete den dadurch erzeugten Samen. Alle diese Bastardpflanzen erwiesen sich als nicht reinstämmig Ungefähr ein Viertel ihrer Samen ergaben reine niedrigwüchsige, ein anderes Viertel reine hochwüchsige und die restliche Hälfte nicht reinstämmige hochwüchsige Pflanzen. Die Mendelsche Erklärung ging von der Annahme aus, dass jede Erbsenpflanze zwei Erbfaktoren (oder Anlagen) für ein Merkmal, z. B. für die Höhe, enthalte. Der männliche Teil der Pflanze enthält einen Erbfaktor, der weibliche Teil den -2- x-Spezial: Geschichte anderen. Bei der Bestäubung vereinigten sie sich und die neue Generation hatte dann ein Erbfaktorenpaar (von jedem Elternteil ein Faktor, wenn sie durch Kreuzung zweier Pflanzen entstanden wären). Reine niedrige Pflanzen hatten nur den Faktor ‚niedrig’ und eine Kombination dieser durch Kreuzung oder Selbstbestäubung erzeugte nur niedrigwüchsige Pflanzen. Hohe Reinzuchten hatten nur die Anlage ‚hoch’ und eine Kombination erzeugte wiederum nur hochwüchsige Pflanzen. Die Kreuzung einer reinstämmigen hohen mit einer reinstämmigen niedrigen Pflanze hätte die Kombination der Erbanlage ‚hoch’ mit ‚niedrig’ zur Folge, und als nächste Generation würden Bastarde entstehen, die alle hochwüchsig wären, weil die dominierende Anlage ‚hoch’ die Wirkung der Anlage ‚niedrig’ überdeckte. Aber die Anlage ‚niedrig’ würde immer noch vorhanden und nicht verschwunden sein. Wenn solche Bastarde entweder gekreuzt oder durch ihren eigenen Blütenstaub befruchtet werden, erweisen sie sich als nicht reinstämmig, weil sie beide Erbfaktoren besitzen, die in einer Vielzahl von Möglichkeiten kombiniert werden können (dies geschieht rein zufällig). Eine Anlage ‚hoch’ könnte sich mit einer anderen Anlage ‚hoch’ kombinieren, um reine Stämme zu erzeugen. Das würde sich in einem Viertel aller Fälle ereignen. Genauso oft ergäbe die Kombination ‚niedrig’ mit ‚niedrig’ wieder eine niedrigwüchsige Pflanze. Die restliche Hälfte aller Kombinationen wären die Fälle ‚hoch’ mit ‚niedrig’ oder ‚niedrig’ mit ‚hoch’, die zu nicht reinen Stämmen führten. Mendel zeigte dann, dass die Vererbung anderer Eigenschaften als die der Höhe in ähnlicher Weise erklärt werden könne. Bei allen von ihm untersuchten Merkmalen ergab sich, dass bei einer Kreuzung extrem verschiedener Merkmale diese sich nicht gegenseitig ausglichen. Jedes Extrem blieb erhalten. Wenn in einer Generation ein Merkmal verschwand, tauchte es in der nächsten wieder auf. Das war von zentraler Bedeutung für die Evolutionstheorie (obgleich Mendel niemals daran dachte, seine Ideen auf diese Theorie anzuwenden), denn danach glichen sich zufällige Variationen einer Art im Laufe der Zeit nicht aus, sondern erschienen immer wieder, bis die natürliche Auslese das Ihre getan hatte. Der Grund, warum sich Merkmale nach willkürlicher Kreuzung auszugleichen schienen, war der, dass die meisten von Pflanzen und Tierzüchtern zufällig beobachteten Merkmale in Wahrheit Kombinationen von Merkmalen waren. Die verschiedenen Komponenten können unabhängig voneinander weiter vererbt werden. Obgleich jede Komponente in der Weise ‚ja’ oder ‚nein’ vererbt werden kann, ist das Erscheinungsbild der Kombination einiger ‚ja’ und einiger ‚nein’ ausgeglichen. Mendels Resultate beeinflussten auch die Vorstellungen von der Vererbungslehre (Eugenik). Ein unerwünschtes Merkmal durch Züchtung zu eliminieren, war nicht so leicht wie man hätte glauben können. War es in der einen Generation nicht erschienen, so konnte es dennoch in der nächsten auftreten. Eine Zuchtwahl musste daher sorgfältiger und auch länger durchgeführt werden, als noch Galton geglaubt hatte. -3- x-Spezial: Geschichte Die wissenschaftliche Welt sollte jedoch all diese Resultate vorerst noch nicht kennenlernen. Mendel schrieb zwar die Ergebnisse seiner Experimente sorgfältig auf, glaubte aber als unbekannter Amateur auf das Interesse und die Unterstützung eines bedeutenden Botanikers nicht verzichten zu können. In den auf 1860 folgenden Jahren schickte er daher seine Arbeiten an Nägeli. Dieser las und kommentierte sie ungerührt. Nägeli war nicht von Theorien beeindruckt, die sich auf die Auszählung von Erbsenpflanzen gründeten, sondern zog vielmehr einen verschwommenen wortreichen Mystizismus vor, wie z. B. seine eigene Orthogenese. Mendel war entmutigt. Er publizierte seine Arbeiten im Jahre 1866, führte aber seine Versuche nicht weiter fort. Ohne Nägelis Unterstützung blieb seine Untersuchung unbeachtet. Mendel hatte das begründet, was wir heute Genetik (Vererbungslehre) nennen (die Untersuchung des Vererbungsmechanismus). Aber damals wusste das weder er noch sonst irgend jemand. -4-