1 Kulturelle Evolution Gerhard Schurz @ Copyright by Gerhard Schurz 1. Verallgemeinerte Evolutionstheorie Die biologische Evolutionstheorie, die auf Charles Darwin zurückgeht, war lange Zeit umkämpft und wurde mehrfach fehlinterpretiert. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, speziell seit der Entdeckung der DNS, ist sie in umfassender Weise bestä1 tigt worden. Aber kann man die Evolutionstheorie in gewinnbringender Weise auf die Evolution der menschlichen Kulturgeschichte übertragen? Ich meine, ja, und um diese Frage soll es in meinem Vortrag gehen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wurden ja bereits Verallgemeinerungsversuche der Evolutionstheorie unternommen, allerdings in sehr fragwürdiger Weise. Lassen Sie mich gleich zu Beginn meines Vortrages die drei weitverbreitetsten Missverständnisse der Evolutionstheorie anführen: Erstens gibt es in der Evolutionsdynamik keinen Automatismus zur Höherentwicklung, wie in Herbert Spencer's Sozialdarwinismus, zweitens unterliegt Evolution keinem Gesetz des Überlebens des Stärksten im egoistischen Sinne, sondern fördert auch die Evolution kooperativer Systeme, wie schon Charles Darwin gezeigt hat, und drittens dient biologische Evolution nicht der Art- oder Rassenerhaltung, sondern, wie Richard Dawkins gezeigt, der Reproduktion der Gene. Aufgrund solcher und anderer ideologischer Mißdeutungen wurde es um die Evolutionstheorie in der Mitte des 20. Jahrhunderts eher ruhig; sie war im geisteswissenschaftlichen Lager verpönt und es teilweise auch heute. Still und leise wurde sie seit den 40er Jahren jedoch zu einer mathematisch formulierbaren Theorie weiterentwickelt. Als dann die umwerfenden Erfolge der Entdeckung des genetischen Codes hinzukamen war, zumindest in den Naturwissenschaften der Erfolg perfekt. Im Über1 Vgl. Futuyama 1979, Sober 1993, Ridley 1993, Maynard-Smith und Szathmáry 1996, Mayr 1982, Dawkins 1998 u.a.m. 1 2 2 schwang entstand in den 60er Jahren die Disziplin der Soziobiologie, mit Edward O. Wilson als Hauptvertreter, welche die Evolution der menschlichen Kultur biologischgenetisch zu erklären trachtete, d.h., in den zivilisierten Verhaltensmustern des Menschen die Überreste instinktgesteuerten Verhaltens. Im geisteswissenschaftlichen Lager stießen solche biologistischen Reduktionsversuche auf heftigen Widerstand. In der Tat, wenngleich vieles im Menschen angeboren sein mag, so ist ebenso vieles im Menschen allein seiner geistigen und sozialen Erfindungskraft zuzuschreiben, sodaß biologistische Reduktionsversuche der Kulturentwicklung ein sehr verzerrtes Bild ergeben. Die Disziplin, um die es mir im folgenden vielmehr geht, ist stattdessen die sogenannte verallgemeinerte Evolutionstheorie. Diese ist ein vergleichsweise junges Forschungsprogramm, welches auf Dawkins' (1989, orig. 1976) Konzeption der Meme – als kulturellem Gegenstücke der Gene – zurückgeht und von zahlreichen Autoren 2 weiterentwickelt wurde. Im Gegensatz zur Soziobiologie wird in der verallgemeinerten Evolutionstheorie Evolution nicht auf die genetisch-biologische Ebene reduziert bzw. von daher zu erklären versucht. Es wird vielmehr eine eigene Ebene der kulturellen (sozialen, technischen) Evolution postuliert. Dabei sei betont, daß ich im folgenden unter "Kultur" immer "Kultur" im weiteren Sinne verstehe, als Gegenbegriff zur Natur: Kultur ist alles Menschengeschaffene, das nicht auf seine genetisch-biologische Konstitution zurückführbar ist; in diesem Verständnis beinhaltet "Kulturgeschichte" auch Sozialgeschichte, politische und Rechtsgeschichte, sowie insbesondere Evolution von Wissenschaft und Technik. Wenn ich dagegen über Kultur im Sinn von Moral und Religion, Kunst und Literatur rede, werde ich von "Kultur im engen Sinne" sprechen. Kulturelle Evolution, im Verständnis der verallgemeinerten Evolutionstheorie, beruht auf der Evolution von Memen, worunter menschliche Ideenkomplexe und Fertigkeiten zu verstehen sind, die durch den Mechanismus der kulturellen Tradition 2 Z.B. Boyd und Richerson 1984, Cavalli-Sforza und Feldman 1981, Millikan 1984, ch.1-2, Dennett 1997, Diamond 1998, Durham 1990, Blackmore 2000, Becker 2003. 3 reproduziert werden. Trotz aller Unterschiede zwischen genetischer und kultureller Evolution läßt sich Evolution auf allen Ebenen abstrakt durch folgende drei gemeinsame Module beschreiben: 1. Reproduktion: Evolution Systeme (zB Organismen, Menschen, Informationssysteme) sind offene (aus der Umgebung ihre Energie bzw. Nahrung beziehende) Systeme, die sich in Zyklen von aufeinanderfolgenden Generationen reproduzieren. Dabei wird nicht alles, aber Wesentliches reproduziert. 2. Variation: Durch verschiedene Prozesse kommt es zu Variationen in diesen evolutiven Systemen, und zwar zu Variationen, die mitreproduziert und somit an die nächste Generation weitergegeben werden. 3. Selektion: Der Reproduktionsrate sind durch Ressourcenbegrenzung der Umgebung obere Grenzen gesetzt. Dadurch kommt es zur Konkurrenz zwischen evolutiven Systemen um Ressourcen innerhalb sogenannter ökologischer Populationen. Aufgrund des resultierenden Selektionsdrucks resultiert, daß sich gewisse Varianten schneller reproduzieren als andere und dadurch die anderen nach und nach verdrängen. Die sich schneller reproduzierenden evolutiven Systeme werden auch die fittesten genannt. Auf der Ebene der biologischen Evolution ist die Wirkungsweise dieser drei Prinzipien ja wohlbekannt: Die evolutiven Systeme sind hier die Organismen (Tiere, Pflanzen, Einzeller), und die Klassen evolutiver Systeme sind die biologischen Spezies und höhere taxonomische Kategorien wie Familien, Gattungen etc. Jene biologischen Entitäten, die sich direkt voneinander reproduzieren bzw. kopieren, sind nicht die Organismen selbst, sondern die Gene bzw. allgemeiner die Genotypen. Die Organismen mit ihren Merkmalen heißen dagegen Phänotypen. Die biologisch-genetische Evolution ist durch bestimmte Zusatzbedingungen charakterisiert, die nicht auf alle Evolutionsarten zutreffen, wie z.B. Gen-Variation durch biologische Mutation und Rekom- 3 4 4 bination, geschlechtliche Gen-Reproduktion und doppelter Chromosomensatz, usw. Die verallgemeinerte Evolutionstheorie abstrahiert von solchen biologischen Besonderheiten sie verlangt eine gedankliche Abstraktionsleistung. Um die Unterscheidung Genotypen versus Phänotypen zu verallgemeinern, spreche ich von Reprotypen versus Phänotypen. Die Reprotypen sind jene Bestandteile eines evolutiven Systems, die auf einer gegebenen Evolutionsebene an die nächste Generation weitergegeben werden. In der kulturellen Evolution sind dies die Meme, also erworbenen menschlichen Ideensysteme. Die Phänotypen der kulturellen Evolution sind dagegen die kulturellen oder technischen Produkte bzw. Institutionen, die aus solchen Memotypen, Ideen und Fertigkeiten, hervorgehen, und wirtschaftlich oder gesellschaftlich umgesetzt werden. Aber bevor ich näher auf kulturelle Evolution eingehe, lassen Sie mich einige allgemeine Merkmale der Evolutionstheorie herausarbeiten und an vertrauten biologischen Beispielen illustrieren. Das Wirken des Selektionsgesetzes kann durch die auf Haldane u.a. zurückgehenden Gleichungen der Populationsdynamik mathematisch nachvollzogen (Ridley 1993, 93ff). Angenommen, zu einem Gen einer Antilopenspezies bildet sich durch Mutation eine neue Genvariante, welche einen geringfügigen Selektionsvorteil bewirkt, etwa durch höhere Fluchtgeschwindigkeit aufgrund längerer Beine. Dann wird – ceteris paribus - unabhängig von den Ausgangshäufigkeiten der Gene und unabhängig von der Größe des Selektionsvorteils (wenn dieser nur positiv ist), nach einer hinreichend hohen Zahl von Generationen der neue Phänotyp der längerbeinigen Antilope den alten Phänotyp der kürzerbeinigen Antilope fast völlig verdrängt haben. Deshaln nur fast, weil es auch eine geringe Rückmutationswahrscheinlichkeit, sodaß sich das Populationsgleichgewicht bei einer geringen Restfrequenz von 'abnormalen' kurzbeinigen bzw. andersbeinigen Antilopenvarianten einpendelt. Solche Modellrechnung konnten an ausgewählten empirischen Beispielen gut bestätigt werden (Ridley 1993, 107f, 95f). Der Bestand von im gegebenen Umweltmilieu nicht-optimalen bzw. ‚abnormalen’ Varianten ist für die Evolution sehr bedeutsam. Damit wird u.a. verhindert, daß eine 5 Spezies bei Änderung der Umweltbedingungen nicht rasch genug reagieren kann und ausstirbt. Wenn beispielsweise aufgrund eines Klimawechsels oder aufgrund Überbevölkerung ganze Antilopenscharen in ein gebirgiges Gelände auswandern, wo keine schnellen Räuber mehr vorhanden sind, aber die kürzeren und stämmigeren Beine das Vorwärtskommen sehr erleichtern, dann wird dort der minimale Restbestand von Antilopen-Kurzbeinern nach hinreichend vielen Generationen die Langbeiner verdrängt und eine neue Antilopen-Spezies erzeugt haben. Dieses Beispiel zeigt zwei allgemeine Charakteristika evolutiver Systeme. Erstens, dass evolutive Systeme durch Normalfallgesetze beschrieben werden: normalerweise haben Vertreter der Spezies die und die Merkmale – denn diese Merkmale wurden durch Evolution herausselektiert – aber es gibt immer Ausnahmen. Zweitens, dass Evolution unter gleichen Selektionsbedingungen nicht Vielfalt produziert, sondern Vielfalt eher eliminiert; statt Vielfalt gibt es nur den besagten Restbestand von Abnormalität neben der Normalität durch (relativ zum Milieu) disfunktionale Mutationen. Nur wenn sich Populationen auf unterschiedliche ökologische Nischen, also auf Umgebungen mit unterschiedlichen Selektionsanforderungen aufteilen, und sich damit tendenziell separieren, entsteht eine echte Vielfalt ein sogenannter Polymorphismus, wie man in der Evolutionstheorie sagt. Auf ein Schlagwort gebracht: Keine Vielfalt ohne partielle Separation. Es gibt Katzen, und Mäuse, Kühe und Pferde, aber keine kontinuierliche Reihe von Zwischenwesen. Dies wird sich für die spätere Übertragung auf die kulturelle Evolution als bedeutend erweisen. Die Evolutionstheorie macht keine teleologischen Annahmen, wonach Variation und Selektion gemäß einem zielgerichteten Plan zusammenarbeiten. Dass sich die Bewegungsapparatur von Tieren den veränderten Umweltbedingungen anpaßt, sodaß sich die Gliedmassen schwimmender Säugern in Flossen umformen, ist kein Automatismus, sondern entwickelt sich nur, wenn das trial-und-error-Spiel der Variationen hinreichend, also Millionen Jahre Zeit besitzt, und auch dann nur mit Wahrscheinlichkeit. Es gibt eine Unmenge selektiv neutraler Mutationen (z.B. selektionsneutrale Aminosäurenevolution, vgl. Ridley 1993, 141ff) oder disfunktionalen Mutationen, 5 6 6 die schnell wieder aussterben. Evolution bewirkt auch nicht, daß Organismen optimal oder perfekt angepaßt sind, sondern nur, daß die derzeit lebenden Speziesvertreter besser angepaßt sind als ihre Speziesvorgänger, und das nur bei gleichbleibenden Selektionskriterien der Umgebung, und nur mit Wahrscheinlichkeit. Ein Beleg dafür ist das Auftreten von nichtfunktionalen Homologien überall in der Evolution, wie etwa der gemeinsame anatomische Bauplan aller Wirbeltiere, weshalb auch die Flossen der Wale oder die und Flügel der Vögel fünf funktionslose ‚Zehenknochenfortsätze’ besitzen usw. Das Auftreten solcher nichtfunktionaler Homologien ist eine wesentliche Bestätigungen der evolutionären Abstammungslehre gegenüber dem sogenannten 'Kreationismus' denn wären die Lebewesen von einem göttlichen Konstrukteur designed worden, dann wären solche Nichtfunktionalitäten nicht erklärbar. Es gibt in der Evolutionstheorie auch nichts, was ein Gesetz der „Evolution zum Höheren“ impliziert, nicht einmal eine „Evolution zum Komplexeren“ (vgl. Maynard-Smith und Szathmáry 1996, 3), obwohl letzteres Prinzip unter bestimmten Bedingungen plausibel ist. Die vor ca. 400 Millionen Jahren beim Überwechseln vom Wasser aus Land einsetzende Entwicklung zu immer komplexeren Vielzellern, Pflanzen und Wirbeltieren, ist spezifisch äquilibrierten ökologischen Umweltbedingungen zu verdanken und kein Muß. Sollten in der nächsten Milliarde von Jahren sich auf der Erde wieder ‚rauhere’ Bedingungen einpendeln etwa Temperaturschwankungen von mehreren 100 Graden, was im Vergleich zum Rest des Universums noch immer äußerst gering ist dann muß es nicht sein aber kann es sein, daß sich letztlich nicht die Menschen, sondern die Insekten oder gar die Prokaryonten, das Meeresplankton, als die langfristig reproduktionserfolgreichsten Kreationen der Evolution erweisen. Obwohl Evolution also kein bestimmtes Ziel der Entwicklung impliziert, ist sie andererseits in ihrem Verlauf nicht tautologisch-beliebig. Was die drei Evolutionsbedingungen implizieren, ist dies: evolutionäre Prozesse besitzen immer Richtungen. Diese Richtungen sind Resultat des nachhaltigen Wirkens stabiler selektierender Umgebungsparameter. Diese Richtung impliziert natürlich nicht, daß Evolution linear ist; die ‚Richtungen’ der Evolution äußern sich vielmehr als bevorzugte Äste des gro- 7 ßen Verzweigungsbaumes von Abstammungslinien. Nicht alle Spezies konkurrieren ja miteinander, sondern sie sind wie gesagt ökologisch auf Nischen mit unterschiedlichen Selektionsparametern verteilt. Z.B. fand unter den Vertebraten eine Entwicklung auf immer komplexere Nervensysteme hin statt, was nicht heißt, daß deswegen die Insekten ausstarben. Evolutionäre Prozesse sind damit quasi-teleologisch: aus ihrer selektiven Gerichtetheit scheint sich ein Ziel zu ergeben, das angestrebt wird. Die Gerichtetheit, selbst innerhalb einer Abstammungslinie, verdankt sich aber nur der Stabilität der selektierenden Umgebungsparameter über viele Generationen hinweg. Wenn sich diese stark ändern, wird sich als Folge auch die Richtung der Evolution selbst ändern. Auch dann kann man immer noch von Evolution sprechen - von gerichteten Prozessen mit gelegentlichem Richtungswechsel. Nicht mehr von Evolution sprechen kann man dagegen dort, wo die selektierenden Parameter komplett instabil sind, wo ständig Richtungswechsel stattfinden, sodaß sich keine erkennbare Selektion bzw. Entwicklungsrichtung mehr ergibt, sondern nur mehr dnamisches Chaos. Die Änderungsrate der Selektionsparameter der Umgebung muss also im Vergleich zur Variationsrate entweder gering sein, oder aber zumindest regulärvoraussagbar sein diese ist eine weitere und vierte Grundbedingung für das Zustan3 dekommen evolutionärer Prozesse. Das gleichzeitige Zutreffen aller vier Evolutionsbedingungen ist notwendig, damit Evolution im hier verstandenen (‚Darwinschen’) Sinn überhaupt zustande kommt. Fehlt nur eine der Bedingungen, so kommt Evolution nicht zustande. Das gleichzeitige Zutreffen aller vier Evolutionsbedingungen ist im Universum aber eine extrem seltene, wenn nicht einzigartige Erscheinung ist; dieses gleichzeitige Zutreffen Ward und Brownlee kommen in ihrem Buch zum "Rare Earth" zum Schluss, dass die 3 An der Formulierung ist die Schwierigkeit dieser Bedingung erkennbar. Man unterscheidet in der Evolution Spezialisten und Generalisten; letztere passen sich an wechselnde Bedingungen an (vgl. Sober 1993, 21). Einfaches Beispiel ist die Anpassung an Jahreszeiten; ein komplexes Beispiele ist das amphibischen Pfeilkraut, dessen Blätter unter Wasser seegrasähnliche, auf dem Wasser seerosenblattähnliche und auf dem Land pfeilförmige Form annimmt (Wilson 1998, 185f). Die wechselnden Bedingungen dürfen aber weder unvoraussagbar sein noch eine zu große Schwankungsbreite umfassen, sonst wird Adaptation unmöglich (vgl. Futuyama 1979). 7 8 8 Wahrscheinichkeit des Evolution von hörerem Leben im Universum, im Gegenteil zu früheren Annahmen, als sehr gering zu bewerten ist. Wäre unsere Sonne nur ein bißchen grösser oder kleiner als sie es ist, wäre die Erde in einer etwas anderen Umlaufbahn, hätte sie etwas weniger Eisen und dafür mehr Wasser, hätte sie kein Magnetfeld und keinen Mond, der ihre Erdachse stabilisiert, usw.usf., dann wäre Evolution höheren Lebens vermutlich gar nicht zustandegekommen. Möglicherweise ist der Mensch die einzige intelligente Spezies im ganzen Universum umso grösser die Verantwortung, die er trägt. 2. Kulturelle Evolution Zunächst kann man sich fragen, warum wir die Evolutionstheorie auf die Kulturwicklung überhaupt übertragen sollen; warum brauchen wir sie? Als ein Grund dafür kann genannt werden, daß die mehr oder weniger idealistischen Machbarkeitsparadigmen der Kulturentwicklung, die aus der Aufklärungsphilosophie heraus entstanden sind und die allesamt Kulturgeschichte unter gewisse globale Pläne subsumieren, mehr oder weniger gescheitert sind, also Kulturentwicklung nicht richtig beschreiben. Betrachten wir drei Beispiele: Beispiel 1: das wissenschaftlich-technische Machbarkeitsparadigma Francis Baconscher Provenienz. Die planvolle Verfügbarmachung der Natur durch Wissenschaft und Technik. Aber, kann eine technische Entwicklung rational genannt werden, die sukzessive unsere Umwelt zerstört? Sind technische Erfindungen wirklich zum Wohle der Menschheit produziert worden, zur Beseitigung von Nöten; oder sind es nicht vielmehr unkontrollierte technische Innovationen, durch anonyme Marktdynamik hervorgebracht, die fortwährend im Menschen neue Bedürfnisse und zugleich neue Gefahren erzeugen? Beispiel 2: das humanistische Aufklärungsparadigma Kantischer, Lockescher oder Rousseauscher Provenienz. Die Emanzipation der Vernunft von Religion und Absolutismus. Die planvolle Gestaltung einer guten gerechten Gesellschaftsordnung durch 9 Vernunft und Bildung. Aber: Kann eine Gesellschaft vernünftig genannt werden, in der Demokratie nur dort funktioniert, wo sie auf den Reichtum der Länder gegründet ist, während drei Viertel der Weltbevölkerung in Armut lebt? Eine Gesellschaft, die nie ihr Bevölkerungswachstum in Griff kriegt? Die die Ressourcen verpraßt und somit auf Kosten aller zukünftigen Generationen lebt? Ist das heutige Massen-TV der Kulminationspunkt des kulturellen Bildungsauftrags? Beispiel 3: die marxistische Geschichtsauffassung, die sich wohl am offen- sichtlichsten selbst widerlegt hat. Wenn sich also menschliche Kulturgeschichte nicht als die Entfaltung globaler rationaler Pläne begreifen lässt, dann fragt sich wie sonst? Ist die Menschheit stattdessen dem Wirken anonymer Entwicklungsgesetze ausgeliefert? Muß es so sein, daß wenn die natürliche Bevölkerungskontrolle durch die Fortschritte von Technik und Medizin etc. wegfällt, dann eine Spezies einfach solange weiterwächst, bis alle Vorräte verbraucht sind, und sie dann zusammenbricht? Die Evolutionstheorie liefert hier eine Alternative: ihr zufolge wird Entwicklung weder durch globale Pläne bestimmt, noch durch anonyme Entwicklungsgesetze, die mit Naurnotwendigkeit ablaufen. Alles hängt vielmehr von den Selektionsparametern ab, und wenn sich diese ändern, ändert sich die Entwicklung. Es ist freilich fraglich, in welchem Maß die Menschheit ihre eigenen Selektionsparameter bezielt verändern kann. Jedenfalls gibt es Gründe genug für den Versuch, Kulturentwicklung mit den Mitteln der modernen Evolutionstheorie zu beschreiben. Die Reprotypen der kulturellen Evolution sind, wie gesagt, Meme oder Memotypen, also Ideensystem oder praktische Fertigkeiten. Memotypen werden direkt voneinander reproduziert, durch Imitation, Lernen, durch jede Art von Informationsweitergabe in Form von Kommunikation. Die wichtigste Form kultureller Reproduktion ist die Weitergabe der ‚Meme’ von einer Generation an die nächste, die kulturelle Tradition in Form von Erziehung, Ausbildung, usw. Boyd und Richerson (1985, 63ff) sprechen von kulturellen ElternKind-Beziehungen; kulturelle Eltern sind all jene Personen, die dem Kind Kulturgut vermitteln, primär die biologischen Eltern, sekundär Lehrer und Ausbildner, tertiär 9 10 10 Fernsehen und Medien, usw. Kulturelle Kinder haben also viele Eltern; kulturelle Reproduktion ist sozusagen ‚multi-parental’ und multi-sexuell, wenn man so viel. Variationen in der kulturellen Evolution beruhen nicht nur auf Zufall ,sondern wesentlich auf der menschlichen, praktischen und gedanklichen Kreativität. Insbesonsdere scheint dem Drang aller jungen Generationen, Neues auszuprobieren, scheint tatsächlich der menschlichen Art eine gewisse kulturelle Variationsfreudigkeit angeboren zu sein, die für das Zustandekommen kulturelle Evolution von großer Wichtigkeit ist; bei aller Betonung von Tradition – das ist in der Evolutionstheorie eben kein Widerspruch. Reproduktion und Variation kombinieren sich in der Traditionsübernahme, insofern die junge Generation das, was sie übernimmt, zugleich verändert. Aber das ist ja auch typisch für die biologische Evolution: bei der Reproduktion treten die meisten Variationen auf. Kommen wir schließlich zur kulturellen Selektion. Generell werden sich jede Memotypen am schnellsten verbreiten, deren Phänotypen, also technischkulturellen Umsetzungen, am meisten Anhänger finden. Im Bereich der Technik wird die Selektion in der Entwicklungsphase eines technischen Produktes vom technischen Konstrukteur, in der Verwertungsphase dann aber vom ökonomische Markt und insbesondere von der Nachfrage der Käufer ausgeübt (vgl. Basalla 1988). Die Nachfrage der Käufer wiederum wird auch durh Werbung beeinflusst, und generell ist Werbung für die Reproduktion von Memotypen von grosser Bedeutung. Im Bereich sozialer Strukturen und Rechtssysteme sind es die an den Hebeln der Macht sitzenden Bevölkerungsschichten, und in der Demokratie auch die gesamte Wählerschicht, welche selektiert, also z.B. bestimmt, welche Partei das Ruder übernimmt. Natürlich sind immr auch strukturelle Bedingungen, z.B. geographischer, ökologischer oder genetischer Art, an der Selektion von Memotypen und kulturellen Phänotypen beteiligt. Es gibt zwei Hauptargumente gegen die Anwendbarkeit der Darwinschen Evolutionstheorie auf die Kulturentwicklung, die aber – wie ich jetzt zeigen möchte – keine echten Einwände sind. Der erste Einwand besagt, dass die Variationen der kulturellen Evolution nicht, 11 wie biologische Mutation und Rekombination, zufällig und ‚blind’ sind, sondern rational geplant und zielgerichtet, denn sie beruhen auf zielgerichteter menschlichen Experimentier- und Erfindungskraft. Doch darin liegt kein Hinderungsgrund für die Anwendung der Evolutionstheorie. Menschliche Kreationen sind zwar nicht blindzufällig, sondern rational-zielgerichtet, doch sie sind immer imperfekt und sukzessiver Verbesserung durch evolutive Selektion fähig. Wenngleich auch jede einzelne neue Idee, jede individuelle kulturelle Variation, das Resultat von Intentionen sein mag, so entspricht doch das langfristige Resultat kultureller Evolution keinem irgendwie gearteten globalen Plan, sondern ist nur durch die ständigen Iteration evolutiver Variations- und Selektionsprozesse erklärbar. Am deutlichsten belegt dies die Evolution der Technik. Hätte der Erfinder des ersten Automobils auch nur im Traum ahnen können, wie ein heutiger PKW funktioniert, der Erfinder des ersten Kühlgerätes sich einen heutigen Kühlschrank ausdenken können? Nicht im geringsten die der kontinuierlicher, viele Generationen andauernd technische Optimierungsprozess vermagt die unglaubliche Leistungskraft heutiger Technik zu erklären. Dass Variationen nicht völlig ‚blind‘, sondern ‚zielgerichtet‘ erfolgen, bedeutet impliziert lediglich, daß die Evolution wesentlich schneller verläuft, weil nicht so viele disfunktionale Variationen erprobt werden müssen. In der Tat läuft die kulturelle Evolution um Zehnerpotenzen schneller ab als die biologische Evolution, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil wie gesagt weniger disfunktionale Variationen eliminiert werdenb müssen, und zweitens, weil kulturelle Variationen wesentlich häufiger stattfinden als biologische Mutationen. Der zweite Einwand gegen die Anwendbarkeit der Evolutionstheorie auf die Kulturentwicklung besagt, dass es in kulturellen Evolution eine Besonderheit gibt, die in der biologischen Evolution nicht auftritt: daß nämlich die selektierten Entitäten, menschliche Ideensysteme, zugleich zu einem erheblichen Anteil die Selektion bewerkstelligen. Ich spreche hier von Autoselektion. Sie liegt z.B. vor, wenn derselbe techniche Ingineur, der neue technische Produktvarianten erfindet und erprobt, auch darüber entscheidet, welche verworfen und welche auf den Merkt gelangen sollen. 11 12 12 Nun auch Autoselektion ist kein Grund, warum die Evolutionstheorie nicht anwendbar sein sollte. Wesentlich ist nur, daß die Selektionskriterien, nach denen selektiert wird, für längere Zeit vergleichsweise stabil bleiben. Wenn beispielsweise für lange Zeit Automobile in Hinblick auf sparsamen Energieverbrauch hin optimiert werden, so ist das Resultat einer solchen Evolution unabhängig davon, wodurch bzw. von wem diese Selektionskriterien vorgegeben werden, entscheidend ist, dass sie wirksam sind. Nur ein Umstand kann das ‚normale‘ Zusammenwirken von Variation, Reproduktion und Selektion, das für Evolution erforderlich ist, erschüttern: wenn nämlich der Fitnessgrad vom faktischen Reproduktionserfolge der selektierten Variante negativ beeinflußt werden - im einfachsten Fall etwa, wenn die Selektion von bunten Kleidern in dem Moment, wo buntgekleidete Leute einigermaßen gehäuft zu sehen sind, wieder in eine gegenteilige Selektion von Schwarz-Weiss-Tönen hin umkippt, und umgekehrt. Das Resultat davon ist dann eine periodische Pendelbewegung, die wir ‚Mode‘ nennen, aber keine gerichtete Evolution. Negative Feedbacks zwischen Populationshäufigkeit und Selektionsrate können aber nicht nur zu periodischen Pendelbewegungen, sondern auch zu chaotischen Prozessen, oder Prozessen des kompletten Aussterbens führen. In allen diesen Fällen ist die vierte Bedingung der Stabilität der Selektionskriterien verletzt, und gerichtete Evolution kommt nicht zustande. Nichts illustriert die gewaltige und jegliche menschliche Einzelleistung millionenfach übersteigende Kraft der kulturellen Evolution besser als Technik und Wissenschaft Man stelle sich als ein Gedankenexperiment vor, von einer Generation zur anderen würden schlagartig alle bisher akkumulierten Informationen und alle technischen Geräte vernichtet werden: die folgende Generation wäre wieder auf die Stufe des Steinzeitmenschen versetzt. Hunderttausende von Jahren würde es brauchen, diesen Rückstand wieder aufzuholen – und nur ‚Gott‘ kann wissen, ob eine solche ‚zweite‘ kulturelle Evolution in eine ähnliche Situation hinein evolvieren würde wie jene, in der sich die Menschen gegenwärtig befinden. Umgekehrt, katapultiert man ein Kleinkind der wenigen noch auf steinzeitlicher Stufe lebenden Stämme in Afrika 13 oder Polynesien etc. in die westliche Zivilisation, so wird es den ‚Zeitsprung’ von Hunderttausenden von Jahren durch Erwerb der zivilisierten Tradition ohne größere Mühe aufholen. Stellen wir uns an dieser Stelle die interessante Frage, was den Menschen von höheren Primaten oder anderen höheren Säugern grundsätzlich unterscheidet, was ihn zum eigentlichen Menschen macht? Ist es sein Verstand, seine Sprache, seine Technik, seine Fähigkeit zur Moral? Nun - man weiß heute, dass Primaten und andere höhere Säugetiere all diese Fähigkeiten in sehr rudimentärer Weise besitzen. Ist es vielleicht die Fähigkeit zur kulturelle Evolution, die den Menschen grundätzlich vom Tier unterscheidet? Das wäre eine verlockende Antwort, aber auch sie ist leider falsch denn auch bei höheren Tieren konnte man kulturelle Evolution beobachten, z.B. die Weitergabe von erlernten Fähigkeiten wie das Waschen von Nahrung im Fluss über viele Generationen hinweg. Ich möchte dagegen auf die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet, eine typisch evolutionstheoretische Antwort gegen: der evolutionäre 'Quantensprung', die 'kritische Masse', setzte beim Menschen als erstes ein. Nach sagen wir weiteren 5 Millionen Jahren nach homo erectus hätte eine solche Entwicklung durchaus auch in anderen Spezies stattfinden können, aber Mensch hat bis dahin schon alles ausgerottet oder auf nicht-evolutionsfähige Reservate reduziert. Mit anderen Worten, es ist das Tempo der Evolution, welches darüber entscheidet, welche Entfaltungsmöglichkeiten Wirklichkeit werden dürfen, und welche nicht. 3. Technologische Evolution Man kann heutzutage von einer zeitlichen Asynchronisation von gleich drei Bereichen der Evolution sprechen. Zum einen ist, seit vielen tausend Jahren, die kulturelle Evolution der genetischen davongelaufen: die Gene des Menschen haben sich in den letzten 10.000 Jahren kaum verändert – sie haben noch nicht einmal die Agarrevolution richtig ‚verkraftet’: d.h. auf der Ebene der Gene sind wir im wesentlichen immer noch Jäger und Sammler. Seit etwa einem Jahrhundert ist darüber hinaus die techno- 13 14 14 logisch-wissenschaftliche Evolution in beängstigendem Tempo der kulturellen Evolution im engeren Sinne, insbesondere der Evolution und Moral und Politik, davongelaufen. Die rasante technologische Entwicklung bewirkt derzeit rapide Änderungen der Selektionsbedingungen für sozio-kulturelle Traditionen. Angesichts der Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz, Cyberspace und virtueller Bedürfnisbefriedigung, Genveränderung und medizinischer Manipulation des menschlichen Körpers unlängt wurde die ersten Transplanation des Gesichtes einer Toten auf eine Lebende durchgeführt angesichts all dieser technischen Möglichkeiten ist unser Kulturbewußtsein ratlos, denn auf der Ebene der Kultur sind wir immer noch Sucher nach höheren quasi-religiösen Wahrheiten – und vielleicht wird das immer so bleiben. In jedem Fall ist die Entwicklung von Technik und Wissenschaft geradezu ein Paradestück des Wirkens der Evolutionsgesetze im verallgemeinerten Sinne. Wie Basalla betont, sind die Selektionsparameter der technologische Evolution von menschlichen Grundbedürfnissen nur wenig abhängig. Welcher Ureinwohner glaubt, Autos, Kühlschränke oder Handies zu bedürfen, bevor er davon erfährt? Überhaupt, mit der Evolution des Automobiles hat es so seine Bewandtnis. Die westlichen Gesellschaften ersticken heute fast unter der Flut von Automobilen und ihren Abgasen wie konnte es so weit kommen? Um die Jahrhundertwende war das Automobil primär ein Spielzeug für Wohlhabende; wenig verbreitet verglichen zur Dampflok, Kutsche oder zum Dampfschiff. 1900 wurden in den USA etwa 4912 Autos produziert, davon 1681 Dampfautos, 1575 elektrische Autos, nur 936 Benzinautos. Warum haben sich die Bezinautos durchgesetzt? Zunächst hatten Benzinautos am Markt kaum einen Selektionsvorteil; sie waren teurer, mußten aber seltener aufgetankt werden und waren etwas schneller. Nach und nach stellt sich Gesellschaft und Wirtschaft immer mehr darauf ein. Das Auto wird zum Fortbewegungsmittel für längere Entfernungen, der LKW wird erfunden; ältere Fortbewegungsmittel verschwinden. Bald ist es ein massiver Selektionsnachteil für den, der kein Auto hat. Jetzt wird aus dem Luxus ein Notzustand. Die Technologie wandelt nicht einen Notzustand in Luxus um, sondern sie wandelt umgekehrt den ehemaligen Luxus in eine Not um. 15 Viele technische Erfindungen waren ursprünglich zu einem ganz anderen Zweck gedacht als jenem, mittels dem sie dann von der Gesellschaft Besitz ergriffen haben. Edisons Phonograph war als Diktiergerät geplant und wurde erst von anderen zum kommerziellen Plattenspieler gemacht. Das Internet war ursprünglich als schneller Informationstransfer für Wissenschaftler gedacht. Der Hauptgrund der technologischen Evolution ist weniger Erfindungskraft als positive Selektion der Erfindungen. Dies ist der Grund, warum technologische Evolution rapid nur in gewissen geographischen Regionen, obwohl kein Unterschied im Intelligenzquotient der Menschenpopulationen vorliegt. Warum fand beispielsweise die technisch-industrielle Revolution in Europa, und nicht in anderen Ländern wie z.B. China statt? Um 1000nC war China dem westlichen Mittelalter technisch noch voraus; schon 1600 lag China weit zurück warum? Das Aufkommen des freien Unternehmertums in staatlich nicht behinderten Markwirtschaften westlichen Typs sorgte für die Beschleunigung der technologischen Evolution. In China herrschte dagegen von 3000 vC bis 2000 nC Monarchie, und verlangsamte den den wirtschaftlich-technischen Fortschritt. Die Frage, warum die industrielle Revolution von den Europäern erfunden wurde, ist falsch gestellt. Vermutlich hätte sie sich auch in China entwickelt, nur viel langsamer und daher viel später. Bevor sie sich noch entwickeln konnte, wurde diese mögliche Entwicklung durch die wirtschaftliche Kolonialisierung des Westens verhindert. Wieder sehen wir, dass das Tempo einer Entwicklung evolutionär entscheidend ist. Wie Jared Diamond eingehend bescheibt, hat die europäische Gesellschaft aufgrund ihres schnellsten Tempos die anderen Völker mit ihren technisch-industriellen Errungenschaften überlaufen und deren weitere Evolution verhindert stattdessen wurden die anderen Völker erst politisch-militärisch und dann zumindest noch wirtschaftlich kolobisiert. Dieselbe Argumentation kann man übrigens auch auf den sogenannten Niedergang sozialistischer Gesellschaften anwenden. Es ist klar, daß sozialistische Planwirtschaften im Tempo der industriellen Entwicklung langsamer waren als kapitalistische. Dadurch gerieten sie ins Hintertreffen. Sie müßten immer rigidere Zwangsmaßnahme einführen, um ihr Volk bei der Stange zu halten, Massenabwande- 15 16 16 rung zu verhindern, bis schließlich 1989 der Zusammenbruch erfolgte. Aber was wäre passiert, wenn sich die sozialistischen Gesellschaften ohne die übermächtige wirtschaftlich-ökonomische Konkurrenz des Kapitalismus entwickelt hätten? Vielleicht hätten sie in 500 Jahren dasselbe ökonomisch-technische Niveau erreicht wie westliche Gesellschaften heute, aber in sanfterer und ökologisch vertretbarer Weise? Jedenfalls scheint es, als ob die technologische Evolution und die damit einhergehenden Gefahren durch planerischen Maßnahmen kaum steuerbar ist, jedenfalls nicht im den westlichen Systemen der freien Marktwirtschaft. Aufgrund der bisherigen Entwicklung ist voraussagen, daß bei gleichbleibender ökonomischer Verfassung weiterhin alle technologisch möglichen Innovationen (wie künstliche Intelligenz, Robotik biomedizinische Ersatzteillager, gezielte Genmanipulation, u.a.m.) tatsächlich auch umgesetzt werden gemäss Anders’ ‚zynischem’ Imperativ „Können impliziert Sollen“ (1995, §2) und zwar ohne jede Rücksicht auf die gerechtfertigten ethischen Bedenken der meisten kritisch denkenden Zeitgenossen, solange solche ‚ethischen Bedenken’ auf die selektierenden Parameter der Ökonomie keinen Einfluß besitzen. 4. Kulturelle Evolution im engeren Sinne Im Gegensatz zu Technik und Wissenschaft haben sich die Felder der Kultur im engeren Sinne, also Religion, Ethik und Kunst, wesentlich weniger rapide entwickelt. Während wir heute die Physik der alten Griechen belächeln, sind ihre ethischen und literarischen Schriften nach wie vor aktuell. Speziell die Religionen haben sich kaum verändert. In der Malerei und Musik war das etwas anders, da gewisse Techniken hierzu erst nach und nach gelernt werden mußten, dennoch ist mit Blick auf die sagen wir letzten vier Jahrhundert ähnliches zu konstatieren. Daß die Evolution in diesem Bereichen langsamer von statten ging, kann mehrere Ursachen haben. Zum einen, daß die Selektionsparameter auf der Ebene der kulturellen Evolution schwankend und uneindeutig sind, sodass weniger gerichtete Selektion als die Erzeugung von Vielfalt stattfindet. Dies trifft auf einige Bereiche der Kunst 17 zu, oder der Bräuche und Moden zu. Zum anderen sind gewisse kulturelle Grundmuster deshalb historisch so stabil, weil sie wesentlich mehr an die genetische Verfassung des Menschen rückgebunden sind als wissenschaftlich-technische Denksysteme. Wilson stellt folgende Überlegung an. Je stärker die zeitlichen Veränderungen in einem gegebenen Kulturbereich seit der agrikulturellen Revolution von zirka 12.000 Jahren waren, desto weniger stark wird man diesen Kulturbereich als an die Gene gebunden ansehen können. Da sich die Ethiken und Religionen, aber auch Teile der Kunst bzw. Ästhetik, seit den uns bekannten Frühkulturen wesentlich weniger verändert als Wissenschaft und Technik, kann vermutet werden, daß es zumindest rudimentäre genetische Anlagen für Ethik, Religion und Ästhetik gibt (zu genetischen Grundlagen der Religion s. Wilson 1998, 341ff; Wenegrat 1990; Reynolds und Tanner 1983), während Wissenschaft und Technik sich am weitesten von den genetischen Anlagen entfernt haben bzw. am wenigsten davon bestimmt sind. Die ethischen und religiösen Systeme, welche die Menschheit in ihrer kulturellen Evolution hervorgebracht hat, sind einerseits bemerkenswert vielfältig. Morallehren wurden zumeist religiös begründet, und Wilson schätzt, dass es in der Geschichte der Menschheit gab es zirka 100.000 verschiedene religiöse Glaubenssysteme gegeben hat, von denen die meisten gewaltsam ausgerottet wurden (Wilson 1998, 325). Andererseits gibt es einen gemeinsamen Kern aller ethischen und religiösen Systeme, der anthropologisch invariant zu sein scheint. In allen ethischen Systemen geht es um sanktionierten Regelungen von sozialen Beziehungen; um die Stabilisierung sozialer Kooperation und die Reduktion von gewaltsamen Konfliktaustragungen innerhalb des gegebenen sozialen Verbandes allerdings mit sehr verschiedenen., z.B. monarchischen, oligarchischen oder demokratischen, Mitteln. Und in allen Religionen geht es um den Glauben höchste überirdische Autoritäten, die den Menschen gleichzeitig lenken und schützen, und nötigenfalls auch bestrafen. Die universelle Präsenz von Religionen ist überhaupt eine evolutionstheoretisch eigenartige Tatsache, da sie sich in gewissen Gegensatz zur sogenannten evolutionären Erkenntnistheorie befindet, derzufolge die Evolution menschlicher Weltbilder eigentlich mehr und mehr zur Wis- 17 18 18 senschaft streben müsste. Jahrhunderte der explosiven Evolution von Wissenschaft und Aufklärung haben immer wieder religiös begründete Auffassungen widerlegt oder zumindest sehr fragwürdig gemacht; sowohl Auffassungen über soziale Praktiken, z.B. heiliger Krieg, Herrschaft des Mannes über das Weib, Teufelsaustreibung und Hexenverbrennung, Keuschheits- oder Beschneidungsrituale, wie ebenso Auffassungen über die natürlichen Welt (Seelenwanderungslehre, Wunderglauben, Schöpfungsgeschichte, Geozentrismus, usw.), die man aus kognitiver Sicht als kaum haltbar ansehen muß. All das hat zu einem Verlust der Autorität von kodifizierten religiösen Weltbildern und zu zunehmenden Kirchenaustritten geführt. Und dennoch ist das religiöse Bedürfnis des Menschen im High Tech Zeitalter nach wie vor massiv vorhanden, was sich unter anderem in der hohen Zahl religiöser Verbände und Sekten in den USA als technologisch fortgeschrittenstem Teil der Welt zeigt. Ganz zu schweigen von den islamischen Ländern. Worin kann der stabile evolutionäre Vorteil religiöser Weltbilder bestanden haben, der zu einer derart hartnäckigen Verankerung in unserem Kulturgut und vermutlich auch in unseren Genen geführt hat? Die wesentliche, und kulturell vermutlich einzigartige, Leistung von Religionen wurde von Ernst Topitsch (1979) in seinem Begriff des „plurifunktionalen Führungssystems“ herausgearbeitet. Topitsch geht von der Dreiteilung menschlicher Bedürfnis- und Handlungsdimensionen in kognitive, praktisch-normative und ästhetischemotive aus, gemäß der Kantischen Dreiteilung der universalen Fragen „was können wir wissen?“, „was sollen wir tun?“, und „was dürfen wir hoffen?“. In der kognitiven Dimension geht es um die Stillung des menschlichen Bedürfnisses nach Erklärung und kognitiver Orientierung in einer gefahrvollen Wirklichkeit; in der moralischnormativen Dimension geht es um die Regulation des sozialen Handlungsgefüges durch Recht und Ethik, und in der emotiven Dimension um die seelisch-emotive Erfüllung und Absicherung. Sinnstiftung, Konstruktion von Lebenssinn, besteht nun wesentlich in einer gleichzeitigen (‚plurifunktionalen’) Regulierung aller drei Dimensionen. Religionen haben gerade diese plurifunktionale Führungsfunktion vortrefflich und vermutlich unübertroffen zu leisten vermögen. Denn der Glaube an einen Gott, 19 der alles schuf, stillt nicht nur unsere kognitiven Orientierungsbedürfnisse und beantwortet letzte Warum-Fragen, sondern stabilisiert zugleich unsere Bindung an ein letztlich von Gott abstammendes ethisches Regelsystem, und gibt uns zuguterletzt noch die Hoffnung auf ein jenseitiges Leben und die darin stattfindende ausgleichende Gerechtigkeit gegenüber irdischem Unrecht, was dem Menschen ein hohes Maß an seelischem Halt und emotiver Stärke verleiht, mit dem er auch härteste Schicksalslagen gut bestehen kann. Im Verlauf der Evolution unserer fortgeschrittenen Zivilisation und der Ausbreitung von ‚aufgeklärter’ Rationalität kommt es jedoch, so Topitsch, zu unvermeidlichen Spannungen, ja Unvereinbarkeiten, zwischen den drei Bereichen des Kognitiven, Moralischen und Emotiven.. Die Spannung zwischen Wissenschaft und Moral äußert sich am deutlichsten in der Unmöglichkeit, aus deskriptivem Faktenwissen ethische Gebote herzuleiten (das ‚Sein-Sollen’ Problem; s. Schurz 1997); die Spannung zwischen Moral und emotiv-ästhetischer Subjektivität liegt in der Untergrabung der Moral durch die ‚Befreiung der Kunst’ vom moralischen Gebot; und die wechselseitige Entfremdung zwischen Wissenschaft und Kunst ist eine Folge der notwendigen Abstraktion wissenschaftlicher Sprachen von ästhetisch-emotiven Bedeutungskomponenten. So ist der Zerfall der plurifunktionalen religiösen Führungssysteme der Preis, den die Menschheit für das nie dagewesene Ausmaß materieller Freiheit und voralledem für den ungeheuren wissenschaftlich-technischen Fortschritt tendenziell bezahlen muß. Dass dennoch die religiöse Disposition des Menschen weiterhin ungebrochen besteht, spricht umso mehr für den hohen kulturellen Selektionswert von Religionen sowie für deren genetische Verankerung. Zweifellos hat es im Bereich der Kultur im engeren Sinn ebenfalls grosse substantielle Veränderungen gegeben, aber wenn man genau hinsieht, sind die meisten davon Folgen der technisch-industriellen Evolution sowie der zunehmenden Expansion und Globalisierung der Weltbevölkerung. Das augenfälligste Beispiele der Kulturveränderung durch technologische Evolution, dem wir gegenwärtig ausgesetzt sind, ist die weltweite Ausbreitung des Fernsehens, der televisionären Massenunterhaltung. Sehr 19 20 20 kraß beschrieben ist dies im Werk von Anders (1994/95). Immer längere Zeit ihrer Existenz verbringen die Menschen in einer virtuellen Welt von Scheinobjekten. Sie befriedigen mehr und mehr elementare Bedürfnisse der Kommunikation und der Auslebung von Gefühlen nicht ‚real’, sondern ersatzweise, in der virtuellen Welt der elektronischen und die Realität an Perfektion um ein Vielfaches übersteigenden Bilder. Ja, das Fernsehen erzeugt eine latente Schizophrenie (134), die uns gar nicht auffällt - wenn wir, nach acht Stunden Berufswelt unter der Maxime freundlicher Coolness und sprachlicher Diplomatie dann in die virtuellen Welt gewalt- und sexgeladener TV-Bilder eintauchen, um uns zu entspannen und den seelischen Ausgleich wieder herzustellen. Die Fernsehsucht hat die Menschheit in kollektiver Weise befallen. Zugleich geht die neue massenmediale Evolution mit einem hohenKulturverlust einher. Immer weniger Menschen lesen Bücher. Flusser (1997, 54) konstatiert die tendenzielle Verdrängung des Wortes durch das Bild: wir seien dabei, unsere Sprache aufzugeben; in gewisser Weise seien wir im gegenwärtigen ‚posthistorischen’ Klima, wie er sagt, „alle nicht mehr richtig da“ (39). Die Befriedigung unserer Bedürfnisse durch simulierte Perfektionswelten, statt auf ‚natürlichem’ Weg, war in der biologischen Evolution jedenfalls nicht ‚vorgesehen’. Und doch kann man sie auch im Tierreich künstlich erzeugen. Stellt man virtuelle Weibchen oder Männchenattrappen von übersteigerter Perfektion in eine Gruppe sich paarender Tiere, so wenden sich die Werbenden überwiegend nur mehr den Attrappen zu, und das reale Paarungsverhalten bricht fast völlig zusammen (Wilson 1998, 308ff). Ich möchte abschließend etwas zur Frage der kulturellen Vielfalt aus evolutionstheoretischer Perspektive sagen. Evolutionstheoretisch setzt Vielfalt, wie gesagt, eine gewisse Separierung, eine Spezialisierung auf ökologische Nischen voraus. Dies trifft, wie ich meine, auch auf die kultureller Ebene zu. Durch die globale Ausbreitung westlicher Technologien und Lebensstandards, durch die ständige Zusammenführung von ethnischen Gruppen aufgrund des Tourismus, und der wohlstandsgefälle-bedingten Migrationsflüsse von der 1. in die 3. Welt, speziell aber durch die mo- 21 derne TV-Industrie, die auch die ärmsten Länder mit den immergleichen Bildern versorgt – durch all das findet tendenziell eine permanente kulturelle Uniformierung statt. Kulturelle Vielfalt degeneriert im postmodernen Stadium westlicher Gesellschaften zu einem Konsumgut für Wohlhabende. Doch den Versuchen, kulturelle Vielfalt zu konsumieren, ergeht es ähnlich wie der Idee eines sanften Tourismus. Wer die Reste unberührter Natur bewundert und in Werbungen für sanften Tourismus den Konsumenten damit entzückt, sorgt bereits im Ansatz für das Verschwinden dieser Reste unberührter Natur. Und wer kulturelle Vielfalt konsumieren will, und zu diesem Zweck bunt vermischt, sorgt bereits im Ansatz für die Reduktion kultureller Vielfalt. Es gibt eben Dinge, die nur dann bestehen können, wenn wir uns ihrer nicht zu bedienen versuchen. Umgekehrt ist augenfällig, wie hartnäckig Kulturen, um weiterzubestehen, zur Separation tendieren. Das sieht man seit Jahrzehnten schon in den USA, speziell am Völkerpool Kalifornien. Vietnamesen, Mexikaner, etc., leben über Generationen lang in bestimmen Vierteln fast ausschließlich unter sich. Mittlerweile bilden sich auch in deutschen Städten zunehmenden Türkenviertel bzw. Ausländerviertel aus. Aber die regionale Separierung genügt nicht, um die kulturelle Differenz aufrechtzuerhalten. Denn das freie Fernsehen trägt fortwährend zur kulturellen Uniformierung bei. Die staatliche Kontrolle des Fernsehen, die in vielen islamischen Staaten praktiziert wird, kann dies nur teilweise verhindern. Wenn aber kulturelle Absonderung unmöglich ist, und prämoderne Kulturen sich der modernen Tendenz der Uniformisierung verweigern, dann entsteht jener Kampf der Kulturen, den Huntington (1996) in seinem vieldiskutiertem Werk diagnostiziert hat, und den wir heute der erschreckender Form des islamistischen Fundamentalismus zu spüren bekommen. Mit diesen Worten trete ich nicht für kulturelle Separierung ein, sondern weise lediglich auf das Problem hin. Im Zeitalter der Globalisierung müssen kulturelle Separierungsversuche nur Unfrieden, Hass oder gewaltsamen Konflikt erzeugen. Wir benötigen ganz im Gegenteil eine weltweite Besinnung auf universale, alle Menschen und Kulturen verbindende Maßstäbe, um angesichts der gegenwärtigen Weltsituati- 21 22 22 on, in der prämoderne religiös begründete Kulturen und demokratisch-postmoderne Kulturen auf engem Raum zusammenleben müssen, die Gefahr einer kriegerischen Eskalation abzuwehren. Im Bereich von Technologie und Wissenschaft hat diese Universalisierung längst stattgefunden.Auch islamische Fundamentalisten bedienen sich ohne Umschweife der modernen westlichen Wissenschaft und Technologie. Im Bereich der Moral und Politik haben ebenfalls massive Vorstösse zu einer universell verbindlichen Grundlage stattgefunden, insbesondere die UNO-Erklärung der Menschenrechte von 1948. Allerdings werden diese universalen Menschenrechte in vielen Ländern nicht eingehalten, und ein Hauptgrund dafür ist eben, dass sich die Kulturen dieser Länder noch auf sozusagen mittelalterlicher Stufe bewegen, auf der die Regeln einer Kultur durch religiöse bzw. kirchliche Autorität begründet werden. Wir können aber nicht weitere 500 Jahre warten, bis sich die islamischen Länder von selbst in eine moderne demokratische Gesellschaft umgewandelt haben sofern sie das überhaupt tun würden (vgl. Huntington 1996 vs. Inglehart 1998). Was die Menschheit gegenwärtig benötigen würde, um den Menschenrechten zur weltweiten Durchsetzung zu verhelfen und den Weltfrieden zu befördern, wäre, dass eine ähnliche Besinnung auf universale Grundlagen auch im Bereich der Religionen stattfindet. Nötig wäre verbindliche Einigung aller Religions- und Kirchenführen auf einen gemeinsamen Kern aller Religionen, der Ehrfurcht vor der Schöpfung, Nächstenliebe, Toleranz, und Gewaltverzicht ins Zentrum stellen würde. Würden solche, sozusagen vom Rat der Weltreligionen abgesegnet Wertvorstellungen dann von allen religiösen Fernsehanstalten, also auch von den islamischen, propagiert werden, im Religionsunterricht aller Schulen unterrichtet werden, usw., dann könnte der Konflikt der Weltkulturen weitgehend entschäft werden. Mit dieser Vision beschließe mich meinen Vortrag. 23 Literatur Anders, G. (1994/95): Die Antiquiertheit des Menschen, Band 1 (1994), Band 2 (1995), Beck, München (Original 1956). Axelrod, R. (1984): Die Evolution der Kooperation, Oldenbourg, München (engl. Original 1984). Basalla, G. (1988): The Evolution of Technology, Cambridge Univ. Press. Becker, A. et al (2003), Gene, Meme und Gehirn, Suhrkamp, Frankfurt/M. Blackmore, Susan (2000): The Meme Machine. 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