Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus

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Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
I. „Sozialistische Marktwirtschaft“ –
Name und Gehalt eines Umsturzprojekts
China ist ein harter Brocken für den politischen Sachverstand. Es irritiert die Fachleute für „Entwicklung“
und „gute Regierung“, daß die Volkswirtschaft, die
weltweit die größten Wachstumsraten aufweist, von
einer „kommunistischen Partei“ diktatorisch regiert
wird. Der Erfolg der Chinesen – nicht was sie tun oder
was sie wollen – gibt zu denken. Müssen sich anläßlich des „asiatischen Modells“ die Berater korrigieren,
die den Ländern der Dritten Welt ein ums andere Mal
die pluralistische Demokratie und den Verzicht auf
Dirigismus als die allerbesten „Rahmenbedingungen“
für den Weg vom Entwicklungsland zur konkurrenzfähigen Nationalökonomie empfehlen? Müssen „wir“
den Nutzen der Despotie bei Errichtung und Beförderung „unseres“ weltweit gültigen Wirtschaftsmodells
anerkennen? Oder handelt es sich beim chinesischen
gar nicht um einen Fall unseres freiheitlichen Wirtschaftens, – auch wenn deutsche Industriekapitäne
noch so eifrig im Gepäck des Kanzlers hinpilgern,
kaufen, verkaufen und investieren? Es wirkt auf den
deutschen Betrachter nicht gerade vertrauensbildend,
daß die Politgrößen aus Peking darauf beharren, ihre
Öffnung zum Weltmarkt und die Umstellung ihres
Wirtschaftens auf freie Preise und Gewinnmaximierung seien Sozialismus – nach offizieller Lesart sogar
„der chinesische Marxismus der gegenwärtigen Epoche“. Das ordentliche Abschwören, wie „wir“ es bei
Gorbi und Jelzin so geschätzt haben und nun weltweit
erwarten, ist das nicht. Geradezu alarmierend ist es
jedoch, daß sich die Chinesen „unserem“ Drängen auf
Respekt vor den Menschenrechten widersetzen. Womöglich ist das Land mit dem wahnsinnigen Zukunftsmarkt, auf dem „wir“ präsent sein müssen, doch
kein echter Partner, sondern ein verkappter Feind,
dem man unsere Hochtechnologie besser vorenthalten
sollte?
Nationale Moral und nationales Interesse sind bezüglich Chinas im Streit, weil beide nicht so recht feststehen: Menschenrechtsaktivisten geißeln mit einiger
Resonanz einen unmoralischen Materialismus der
Außenpolitik – und deutsche Außenpolitiker machen
sich in Peking zum Sprachrohr dieses Protests, wenn
sie neue Handelsverträge und Kreditlinien aushandeln. Es sind die praktischen politischen Unsicherheiten im Umgang mit der „entstehenden asiatischen
Weltmacht“, die das Bedürfnis nach seiner theoretischen Einsortierung in die Schubladen der bekannten
Systeme hervorbringt; den unbefriedigenden Ausgang
dieses Versuchs aber ebenso. Man kann an den chinesischen Geschäftsgelegenheiten nicht vorbei – aber
auch nicht an der souveränen Macht der chinesischen
Führung mit ihren unübersehbaren Vorbehalten gegen
westliche „Werte“. Man hat dieses Land wirtschaftlich und politisch nicht im Griff wie die anderen Mitglieder der Staatenfamilie – junge Tiger und Entwick-
lungsländer sowieso. Deswegen wissen die wissenschaftlichen Politikberater auch nicht so recht, woran
sie sind: Kommunistische Despotie oder kapitalistisches Wachstumsvorbild? Mit diesem Einordnungswahn klären sie nichts, sondern vollziehen nur das
praktische Bedürfnis nach Unterordnung theoretisch
nach.
„Den Tiger reiten!“ – Das Reformprojekt, wie seine Macher es sehen
Es fällt allerdings auf, daß sich der Vater der seit Anfang der 80er Jahre betriebenen Reformpolitik, Deng
Xiaoping, selbst der Systemfrage stellt. Er dementiert
strikt, daß die ökonomischen Neuerungen auf die Einführung des Kapitalismus und die Abschaffung des
Sozialismus zielen wie die russischen Reformen. Seine Definition der angepeilten „Entwicklungsstrategie
ganz eigener Art, die nicht in eines der Welt bis heute
bekannten Muster paßt,“ [1] kommt zustande durch
Anleihen bei, aber auch durch Abgrenzungen von
allen bisherigen politökonomischen Systemen. Deng
verspricht für China die guten, vor allem aber die
schlechten Erfahrungen nutzbar zu machen, die andere Länder mit dem Realsozialismus, mit dem Kapitalismus und mit dem Status von Entwicklungsländern
gemacht haben.
Es ist natürlich ein Leichtes, angesichts eines Investitionsbooms von Auslandskapital, angesichts von Kreditschwindel, Aktienspekulation und 150 Millionen
Arbeitslosen die Phrase von der „sozialistischen
Marktwirtschaft“ als Lippenbekenntnis und nicht sehr
ernst gemeinte Verbeugung vor der hergebrachten
linken Staatsdoktrin abzutun. Die beliebte Aufteilung
der programmatischen Äußerungen in wirklich Gemeintes und bloß Gesagtes stellt sich aber taub gegen
die Aufgabenstellungen und Überlegungen, die sich
die chinesischen Reformer vornehmen und in denen
sie sich z.B. von ihren sowjetischen Kollegen unterscheiden.
„Zur Unterscheidung, ob etwas sozialistisch oder
kapitalistisch ist, gibt es drei Kriterien: Dient es der
Entwicklung der Produktivkräfte der sozialistischen
Gesellschaft? Dient es der Erhöhung der nationalen
Stärke des sozialistischen Staates? Dient es der Steigerung des Lebensstandards des Volkes?“ [2]
Das ist pfiffig: Wenn Staat und Gesellschaft ohnehin
sozialistisch sind, dann ist alles Sozialismus, was China nützt, seine Macht und seinen Reichtum mehrt.
Kapitalismus dagegen ist alles, was China schwächt
und schädigt. Diese gekonnte Unterscheidungshilfe
verrät einerseits, wie sehr die in China bisher geläufigen Systemunterschiede – Plan statt Markt, Versorgung statt Profit – verwischt werden sollen. Sie gibt
andererseits eine erste Definition dessen, was der So-
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
zialismus, an dem China nach wie vor festhalten will,
bedeutet: Sozialismus ist erstens Nationalismus – und
Kapitalismus nationale Selbstentäußerung. Das steht
durchaus in der Tradition der chinesischen Revolution. Seit dem Opiumkrieg der Briten gegen das „Reich
der Mitte“ bis zum kommunistischen Sieg 1949 haben
die Chinesen immer wieder erfahren, daß die Herrschaft der kapitalistischen Weltmächte den nationalen
Ruin Chinas bedeutet und auch dem Volk nicht gut
bekommt; einmal wurde China zum Schlachtobjekt
imperialistischer Expeditionen, ein anderes Mal das
Volk zu Arbeitssklaven der Japaner gemacht. Soviel
„Sozialismus“ liegt allemal im Antiimperialismus von
nationalen Befreiungsbewegungen: Sie kämpfen für
einen eigenen Nationalstaat, der sich dem eigenen
Volk und seinem Fortschritt verpflichtet weiß und auf
seine einheimischen Kräfte baut; der in seinen
Volksmassen seine Basis, weil in deren Arbeit sein
einziges selbst mobilisierbares Mittel hat. Der militärische Sieg über die „fremden Teufel“, ihre Vertreibung aus der chinesischen Wirtschaft und das „Bauen
auf die eigene Kraft“, haben erst die Nation konstituiert, d.h. die „unverbrüchliche Einheit von Volk und
kommunistischer Partei“ hergestellt, die den Staat
trägt. Nach der Logik des Anti-Imperialismus hat
China seine Selbständigkeit eifersüchtig, ja feindselig
auch gegen „das sowjetische Bruderland“ gehütet und
sich ihrer schon unter Mao mit der Atombombe versichert.
Rückblickend bekennen sich auch die heutigen Reformer zu Maos Antiimperialismus – er war nötig zur
Durchsetzung und Errichtung des autonomen China –
und zur bleibenden Notwendigkeit, diese Errungenschaft zu hüten. Anders als die russischen blicken die
chinesischen Reformer nicht auf einen einzigen nationalen Irrweg zurück, wenn sie heute die „fremden
Teufel“ wieder zum Investieren einladen. Sie sehen
keinen Anlaß, etwas zurückzunehmen, und werden
unzufrieden nur wegen ihres Erfolgs; denn sie sehen
ihr gelungenes Werk unvollendet. Vom Standpunkt
der konsolidierten Nation aus wird der Nationalismus,
der den antikapitalistischen Kampf ums neue China
getragen hatte, unzufrieden mit dem Sozialismus der
Mao-Zeit, mit der Abschottung und dem Programm
„Auf die eigene Kraft bauen!“, mit Planwirtschaft und
Landkommunen.
„Das oberste Ziel Deng Xiaopings ist es, zu seinen
Lebzeiten die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß China sich zu
einer starken und wohlhabenden Weltmacht entwickelt und künftig wieder den Platz als „Reich der
Mitte“ der Welt einnimmt.“ [3]
Müßig zu fragen, ob die Wiedergewinnung des
„Reichs der Mitte“ und die Herabsetzung des Rests
der Welt zur Peripherie immer schon der ganze Inhalt
der chinesischen Sozialismusdefinition gewesen waren. Die Zusammenfassung der demoralisierten und
hungernden Bauernmassen zu einem Volk und zur
Basis einer Nation hat seinerzeit schon etwas mehr
erfordert als die Sehnsucht nach nationaler Größe:
nämlich die von der Partei geleistete Organisation des
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Lebens und des Lebensunterhalts. Ob diese Interessensidentität von Volk und Führung – der Gehalt des
chinesischen Sozialismus und der Grund für die
Macht der Partei – von allem Anfang an nur das Mittel der Wiedererrichtung eines großen China, oder
auch ein bißchen der Zweck des kommunistischen
Umsturzes war, die Parteileute sind die Letzten, die
den Unterschied begreifen würden.
Mit den Reformbeschlüssen von 1978 jedenfalls
nimmt die politische Führung Maß an den schon etablierten Weltmächten. An ihrem Reichtum und ihrer
Bewaffnung liest sie ab, was zur Ausstattung eines
ordentlichen, modernen Staats gehört. Gemessen an
deren Macht, deren Reichtum und der Fähigkeit, ihn
ständig zu steigern, kommt ihr das sozialistische China mit seinen Wachstumsraten als armes, zurückgebliebenes Land vor. Weil es Weltmacht werden soll,
definiert Deng Xiaoping es als „Entwicklungsland“,
das im Ausland – bei den „entwickelten Ländern“
eben – den Maßstab des Reichtums und die Methode,
ihn zu mehren, vorfindet; ihrem Vorbild muß es folgen, ihnen muß es gleich werden. Angesichts des
hoffnungslosen „Entwicklungsrückstands“ muß es
sich die Reichtumsquellen seiner technologisch fortgeschrittenen Feinde erschließen und kann nicht mehr
darauf setzen, allein in der heimischen Arbeit und
ihren schrittweisen Aufbauleistungen die Mittel seines
Fortschritts zu finden. Das alte Motto „Auf die eigene
Kraft bauen!“ bekommt damit eine ganz neue Bedeutung.
Denn gerade weil die KP-Führer den Reichtum des
Kapitalismus bewundern, weil sie sich von ihm darüber belehren lassen, wie Entwicklung geht, hegen sie
zweitens einen Vorbehalt. Wer sich den Reichtum
zugänglich machen will, der auswärts schon existiert,
muß sich einem fertigen Weltmarkt stellen, den die
„entwickelten Länder“ schon in jeder Hinsicht besetzt
halten. Und da lehrt das Beispiel der anderen „Entwicklungsländer“, die sich unter die Betreuung der
kapitalistischen Weltmächte begeben und dem Kapitalismus geöffnet haben, die ehemalige Vormacht der
Dritten Welt nichts Gutes: Für Nationen, die den
Weltmarkt nicht beherrschen, sondern sich an den
Profitmaßstäben und den politischen Handelsregelungen bewähren müssen, die andere vorgeben, bedeutet
die Öffnung nur allzu oft den nationalen Ruin. Den
Agenten des Weltmarkts die Landesprodukte anzubieten, ihnen den weltweiten Vergleich von billigster und
bester Ware zu erlauben und die nationale Produktion
davon abhängig zu machen, was diese Leute kaufen
wollen; ihnen Land und Leute als Investitionsgelegenheiten anzubieten, den Standortvergleich zu erlauben und sie entscheiden zu lassen, was und ob überhaupt etwas im Lande produziert wird: Das hat den
meisten „Entwicklungsländern“ weder nationalen
Reichtum noch politische Größe gebracht, sondern sie
zu Absatzmärkten, Rohstofflieferanten und zum „Hinterhof“ der kapitalistischen Hauptmächte degradiert.
China will sich ebenfalls dem Weltmarkt öffnen, es
bekennt den Bedarf nach Entwicklungshilfe durch die
fortgeschrittenen Nationen, aber es will den Welt-
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Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
markt zu seinem Vorteil benutzen und dem Schicksal
der übrigen Entwicklungsländer entgehen. Die „Politik der Öffnung“ hat den Weltmarkt zum Entwicklungshelfer Chinas ernannt. Seit diesem Beschluß
befaßt sich das Politbüro mit dem Problem, wie China
den auswärtigen Kapitalismus zum Instrument seiner
Modernisierung machen kann, ohne sich seinen Gesetzen und den politischen Erpressungen durch die
einschlägigen Staaten gleich so zu ergeben, daß ein
nationaler Aufbau gar nicht mehr im Ermessen der
politischen Führung liegt, sondern total bestimmt wird
von Entscheidungen ausländischer Kapitalisten und
Machthaber. Moderne Technologie sollte ins Land
geholt werden, mit Billigware und Billigarbeit wollte
man bezahlen; aber dem Wertgesetz des Weltmarkts
sollte nicht gleich das Urteil darüber überlassen werden, was und ob sich überhaupt etwas in China zu
produzieren lohnt.
„Wenn der Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus
die Überlegenheit gewinnen will, muß er die modernen Bewirtschaftungs- und Verwaltungsmethoden, die
die allgemeinen Gesetze der modernen vergesellschafteten Produktion und der Warenwirtschaft aller Länder der Welt, einschließlich der entwickelten kapitalistischen Länder, zum Ausdruck bringen, mutig übernehmen und davon profitieren. Ausländisches Kapital,
ausländische Ressourcen, Technologien und Fachkräfte und die Privatwirtschaft, die uns zur nützlichen
Ergänzung dienen, müssen und können für den Sozialismus verwendet werden. Da die Macht in den Händen des Volkes liegt und es eine starke volkseigene
Wirtschaft gibt, kann das Obengenannte dem Sozialismus nicht schaden, sondern zur Entwicklung des
Sozialismus beitragen.“ [4]
Sozialismus hat also die zweite Bedeutung eines Vorbehalts nationaler Souveränität nach außen: Gerade
weil man die Potenzen des Auslands für den Fortschritt der Nation nutzen will, muß man um so mehr
darüber wachen, ob Grad und Art der kapitalistischen
Einflüsse die Nation auch voranbringen. In den frühen
Jahren der Reform waren sich die Macher, die „den
Tiger reiten“ wollten, dessen bewußt, daß sie einen
höchst unsicheren, womöglich alles gefährdenden
Weg der „Entwicklung“ beschritten hatten:
„Unsere Arbeit muß darauf beruhen, große Risiken
einzugehen und Gegenmaßnahmen vorzubereiten, so
daß der Himmel nicht einstürzen wird, wenn wir auf
ein großes Risiko stoßen.“ [5]
Die KP will China den Gesetzen des Weltmarktes
aussetzen, aber nur soweit sie selbst das will; die Beibehaltung eines überwiegenden Anteils „volkseigener
Wirtschaft“, vor allem aber die ungeschmälerte
Kommandogewalt der Partei gelten ihr als Rückversicherung ihrer Handlungsfreiheit und deshalb als erste
Reformpotenz, die mit dem Fortschritt der Reformen
keinesfalls beschädigt werden darf:
„Ohne politische Stabilität ist die Gesellschaft labil,
so daß Reform und Öffnung und der Wirtschaftsaufbau nicht möglich wären. Wir müssen an den vier
Grundprinzipien (am sozialistischen Weg, an der Diktatur des Volkes, an der Führung der KP, am Mar-
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xismus-Leninismus und den Mao-Zedong-Ideen) festhalten und alle Faktoren beseitigen, die in China Unordnung, ja sogar Aufruhr auslösen könnten. Gleichzeitig wäre es unmöglich, zu einer unverbrüchlichen
Einheit und Stabilität zu gelangen, wenn wir nicht auf
dem Wirtschaftsaufbau als Mittelpunkt beharrten, die
Reform- und Öffnungspolitik nicht durchsetzten und
wenn es keine Wirtschaftsentwicklung gäbe.“ [6]
Die Macht der Partei über die Gesellschaft soll ihr die
Fähigkeit sichern, alle Reformschritte und eingeführten Elemente von Kapitalismus hinsichtlich des nationalen Ertrags zu überprüfen, ihren förderlichen Seiten
freie Bahn zu schaffen, die Entfaltung der nachteiligen Seiten jedoch politisch zu verbieten; im Extremfall macht man einfach alles rückgängig.
„Sind Wertpapiere oder Aktien gut oder nicht? Ausprobieren! Sind sie nur für den Kapitalismus gut?
Zwei Jahre ausprobieren, wenn falsch, Experiment
abbrechen!“ [7]
Darin steckt ein radikales Bekenntnis zur politischen
Gewalt, ebenso aber ein Idealismus bezüglich ihrer
Allmacht.
Kapitalistische Managementmethoden zur Stärkung der sozialistische Wirtschaft – ein Mischsystem?
Ein freies Auswählen aus dem Angebot der Systeme,
von dem sich China nur das Beste nimmt und den
Rest liegen läßt, so sehen die chinesischen Politiker
ihre Wirtschaftsreform [8] : Weil sie selbst in der
Staats- und Parteiführung es sind, die sich den Weltmarkt zunutze und dafür die heimische Wirtschaft fit
machen wollen, betrachten sie die Elemente des Kapitalismus, die sie „unideologisch“ und experimentierend einführen und bei Nichtgefallen ebenso leicht
wieder absetzen möchten, ebenso wie die beibehaltenen Elemente ihrer alten Planwirtschaft als sowohl
alternative wie kombinierbare Methoden staatlicher
Wirtschaftslenkung. Ihre neue „korrekte Fassung der
Beziehung von Plan und Markt“ soll den „Teufelskreis, daß Kontrolle zu Stagnation führt und Flexibilität zu Chaos“ [9] , durchbrechen. Ihnen selbst erscheint ihre Wende gar nicht so fundamental, sie achten neben den alten Wirtschaftsindikatoren jetzt „nur“
auf noch einen weiteren:
„Wir sind übergegangen von einer Politik, die nur auf
hohe Entwicklungsgeschwindigkeit aus war, zu einer,
die sich die Verbesserung der wirtschaftlichen Ergebnisse zur Hauptaufgabe macht... Das Ziel der Vervierfachung des industriellen und agrikulturellen Bruttoprodukts (bis zum Jahr 2000), das der 12. Kongress
der kommunistischen Partei Chinas aufgestellt hat,
unterstellt die kontinuierliche Verbesserung der ökonomischen Ergebnisse, oder besser, ohne sie wäre es
kaum zu erreichen, oder es würde, wenn es erreicht
würde, keinen Sinn machen. Wir müssen freilich einräumen, daß es viele Landsleute bisher nicht geschafft
haben, ihr Denken den neuen Umständen anzupassen,
und daß sie immer noch, bewußt oder unbewußt, Stei-
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gerungen des Outputs und hohe Entwicklungsgeschwindigkeit zu erreichen suchen.“ [10]
Nicht nur Chinesen fällt es schwer zu verstehen, was
„ökonomische Ergebnisse“ sind, wenn nicht die Vergrößerung des Produkts und die Geschwindigkeit der
industriellen Entwicklung; noch schwerer fällt es zu
verstehen, warum sogar die Vervierfachung des Nationalprodukts, das von der Partei gesetzte Entwicklungsziel, sinnlos wäre, wenn nicht durch die „Verbesserung der ökonomischen Ergebnisse“ erzielt. Mit
dieser Formel bezeichnet der Wirtschaftsfachmann im
Unterschied zum „Output“ das Verhältnis von „Input“
und „Output“ – „Verbesserung der ökonomischen
Resultate durch Steigerung der Erträge und Senkung
der Aufwendungen.“ Was da wie noch ein Indikator
für Produktivität vorgetragen wird, verordnet der chinesischen Wirtschaft tatsächlich einen ganz neuen
Zweck. Die Produktion von Stahl und Maschinen,
Lebensmitteln und Häusern wird daran gemessen, ob
sie einen Überschuß an Geld erwirtschaftet, denn anders sind Vorprodukte und Arbeit als „Input“ mit dem
Endprodukt als „Output“ überhaupt nicht zu vergleichen. Die nationale Führung sieht den ökonomischen
Fortschritt nicht mehr im von ihr organisierten wachsenden Gesamtergebnis aller produktiven Beiträge,
sondern verordnet jeder Arbeit in jedem Metier, daß
sie Geldüberschuß über einen Vorschuß produziert,
daß also an jeder Stelle Profit produziert wird, den die
Führung als einen neuen Typus Wirtschaftswachstum
national bilanziert. Diesen neuen Produktionszweck
will die Führung aber nicht als Systemwechsel verstanden wissen, sondern als Instrument letztendlich
doch wieder nur zur „Beschleunigung der Entwicklung“:
„Jetzt beschleunigen wir auf allen Ebenen die Maßnahmen und unternehmen alles, um in den 90er Jahren das neue System der sozialistischen Marktwirtschaft noch in den Grundzügen aufzubauen... Nun
fragen sich einige ausländische Freunde, ob es nicht
widersprüchlich sei, wenn China einerseits am Sozialismus festhält und andererseits die Marktwirtschaft
entwickelt. Bei dieser Frage geht es in Wirklichkeit
darum, wie man den Sozialismus und die Marktwirtschaft versteht. Unserer Ansicht nach sind sowohl der
Plan als auch der Markt ökonomische Instrumentarien, nicht Merkmale eines Gesellschaftssystems. Die
sozialistische Wirtschaft bedeutet nicht einfach schon
die Planwirtschaft. Meines Erachtens läßt sich das
Wesen der sozialistischen Wirtschaft hauptsächlich in
zwei Punkten erklären: Beim ersten handelt es sich
um einen hohen Nutzeffekt des Einsatzes von Ressourcen und um eine hohe Arbeitsproduktivität. Beim
zweiten geht es um die Wahrung der gesellschaftlichen Gerechtigkeit sowie die Verwirklichung eines
gemeinsamen Wohlstandes. Zieht man einen Vergleich zwischen der Plan- und der Marktwirtschaft als
zwei unterschiedlichen Methoden zum Einsatz von
Ressourcen, so ist die letztere effizienter als die erstere. Dies ist ein wichtiger Grund, warum wir sowohl
am Sozialismus festhalten, als auch eine Entscheidung
für die Marktwirtschaft gefällt haben. Die Erhaltung
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der gesellschaftlichen Gerechtigkeit und die Realisierung eines gemeinsamen Wohlstandes sind die sozialistischen Ideale. Im Vergleich zwischen zwei verschiedenen Eigentumsformen, in denen hauptsächlich
das Gemeineigentum, bzw. das Privateigentum dominiert, ist die Eigentumsform mit dem Gemeineigentum
als Haupteigentumsform der Erhaltung der gesellschaftlichen Gerechtigkeit und der Realisierung eines
gemeinsamen Wohlstandes dienlicher. Aus diesem
Grund halten wir an der sozialistischen Marktwirtschaft fest, d.h. hinsichtlich der Eigentumsformen
betonen wir das Gemeineigentum als Haupteigentumsform und hinsichtlich der Wirtschaftsabläufe
führen wir die Marktwirtschaft ein.“ [11]
Sie führen selbstbewußt und – man möchte sagen:
ehrlich – den Unterschied ein zwischen dem, was ein
Arbeiter von seiner Arbeit, und dem, was die entwicklungsbedürftige Nation davon hat. Billige Arbeit, lange Arbeitsstunden, und die Beschränkung der Beschäftigung auf das Minimum wirklich benötigter
Arbeitskräfte: Das ist der effiziente Ressourceneinsatz, den der Markt stimuliert und der den Ertrag steigert – für die Nation. Die chinesischen Apostel der
Effizienz, die damit auf Zweckmäßigkeit von Arbeitsteilung und Arbeitseinsatz anspielen, verheimlichen
gar nicht groß, daß diese Zweckmäßigkeit keine für
den Arbeiter ist, sondern ihn und seinen Lebensunterhalt unter die Ausgaben rechnet, die effizientes Produzieren knapp zu halten hat. Wenn sie ihr gleichzeitiges Festhalten am Gemeineigentum als einem Korrektiv mit „sozialistischen Idealen“ von Wohlstand
und sozialer Gerechtigkeit begründen, räumen sie ein,
daß die sozialistische Nation ihre Arbeiter halt ausbeuten will. Die Eigentumsform hält einen politischen
Vorbehalt gegen das kapitalistische Rechnen im Inneren fest, das die Partei zum Mittel der Nation machen
will, ohne die Nation – dafür stehen die Ideale des
sozialen Zusammenhalts – darüber Zerreißproben
auszusetzen, die den nationalen Erfolg des „Modernisierungsprogramms“ in Frage stellen [12] : Es soll
kapitalistisch gerechnet werden, aber nicht von regelrechten, erbberechtigten Kapitalisten, die gegenüber
der Politik ein unbeschränktes Recht auf die Monopolisierung der Produktionsmittel in ihrer Hand geltend
machen könnten. Die Lizenz zur privaten Ausnutzung
der nationalen Produktion wird auf Zeit erteilt und ist
kündbar.
Das Selbstbild der KP von ihrem „Mischsystem“ und
ihrer Kunst, mehreren und entgegengesetzten Staatszielen zugleich zu entsprechen, ist nicht die Wahrheit
des Verhältnisses. Es ist ja nicht so, daß da gleichrangige Gesichtspunkte konkurrieren würden. Der soziale
Zusammenhang ist nicht auch ein Ziel neben Effizienz, Gelderwirtschaftung und „Entwicklung“: Nur
durch das Reformprogramm ist er gefährdet; und er
wird auch nicht als gleichwertig konkurrierendes
Staatsziel gegen die Öffnung für Weltmarkt und Kapitalismus zur Geltung gebracht, sondern nur insoweit
als die Führung meint, das sei für diesen Kurs nötig.
Die Vorsicht, all das experimentierende, staatlich
kontrollierte Voranschreiten der Reformpolitik steht
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Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
nicht für einen bleibenden Restvorbehalt gegen das
Neue, sondern für den Willen, damit die chinesische
Weltmacht auch wirklich voranzubringen. Der Sozialismus, der nicht abgeschafft werden soll, wenn zur
Marktwirtschaft übergegangen wird, bekommt eine
dritte Bedeutung: Was wie ein Vorbehalt gegen
Weltmarkt und Kapitalismus aussieht und ausgegeben
wird, ist schon wieder nichts anderes als Umsicht der
Führung bei seiner Einführung. Sie will den Kapitalismus als Mittel der Nation, sie verlangt von den
Kapitalisten, die sie hereinläßt und aufpäppelt, daß sie
auch der Nation dienen, und nicht nur die ihnen. Und
noch nicht einmal das ist die ganze Wahrheit.
Die Einführung des Kapitalismus ist selbst keiner
Die KP hält vor allem deshalb am Gemeineigentum
fest, weil es in dem maoistischen Land gar keine Privateigentümer gibt. Die chinesischen Reformer tragen
der Tatsache Rechnung, daß es in ihrem Riesenreich
keinen Standpunkt und kein Interesse gibt, das die
Einführung der „Marktwirtschaft“ gefordert, gewollt
und als Chance begriffen hätte, außer dem der Partei
selbst. Sie gehen davon aus, daß sie mit der Einführung von freien Preisen und Gewinnkalkulationen
keinem Interesse im Volk „dienen“, und daß sie die
gesellschaftlichen Verhältnisse, über die sie gebieten
wollen, selbst herstellen müssen. Sie haben ein Bewußtsein davon, daß alles, was an Markt, freien Preisen, Gewinnen und Weltmarkterfolgen zustandekommt, die Tat des „sozialistischen“ Staates ist und
bleibt und sie nichts, was sie in Gang setzen, einfach
aus der Hand geben können, wenn sie es zur Teilhabe
am Weltmarkt bringen wollen.
Darin unterscheiden sich die Chinesen dann endgültig
von den Russen. Diese sahen die Sowjetunion als
entwickeltes Industrieland und wähnten sich eigentlich reich; sie meinten zur vollen Entfaltung und Nutzung ihrer Potenzen fehle nur noch das freie Spiel der
Kräfte, der Zugang und die rückhaltlose Öffnung zum
Weltmarkt. Herausgekommen ist darüber etwas anderes, nämlich daß das entwickelte Industrieland, das die
UdSSR war, nach den Maßstäben kapitalistischen
Reichtums – weltmarktgängige Ware und weltweit
gefragtes Geld – überhaupt keinen Reichtum hervorgebracht hat und hervorbringt. Der russische Staat hat
sich, um dem Privatinteresse Raum zu schaffen, ersatzlos aus seiner Wirtschaft zurückgezogen – einer
Wirtschaft, die nur er „unternommen“, deren arbeitsteiliger Zusammenhang nur im Staatsplan bestanden
hatte. Er verordnete, daß Kombinate und Betriebe auf
eigene Rechnung wirtschaften sollten und gebot
ihnen, das Stück national notwendiger Arbeit, das sie
verrichteten, und den Bedarf danach ganz allein zu
ihrem Nutzen auszuschlachten – er erntete Chaos und
industrielle Brache. Die Russen haben schließlich
beschleunigt „privatisiert“, um endlich wirkliche Privateigentümer im Land zu schaffen – und haben damit
keine Geschäfte in Gang gebracht, sondern den überkommenen nationalen Reichtum organisierten Banden
zum Ausschlachten freigegeben. Die russischen Reformer haben gemeint – im Irrglauben, mit Industria-
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lisierung alle notwendigen Bedingungen für das Mitmachen am weltweiten Kapitalismus zu besitzen –,
das kapitalistische Wachstum würde sich von selber
einstellen, wenn man nur die Abschottung gegen Außen und die innere Kommandowirtschaft abschafft.
Ganz anders die Chinesen. Sie definieren China als
armes Entwicklungsland, dem alles zur erfolgreichen
Teilhabe am Weltmarkt fehlt. Sie gehen keineswegs
davon aus, daß die Marktkräfte, wenn man sie nur
läßt, von selbst die blühenden Landschaften produzieren würden, sondern davon, daß die politische Gewalt
eine Produktion für den Weltmarkt herbeizwingen
muß, wenn sie zustandekommen soll. Sie erlauben
nicht Privatwirtschaft und Privatinteressen, sondern
verordnen Mehrprodukt und Exportproduktion. Sie
haben also eine Ahnung davon, daß die Einführung
des Kapitalismus keine „Liberalisierung“ ist. Sie war
es nicht bei der „ursprünglichen Akkumulation“ der
Produktionsmittel und der ursprünglichen Enteignung
der Landbewohner im England des 16. und 17. Jahrhunderts; und sie ist es schon gleich nicht für eine zu
spät gekommene Nation, die sich die Reichtümer eines schon fertigen Weltmarkts zugänglich machen
will und nur durch dauerhafte Außenhandelserfolge
einen Einstieg schaffen kann.
Das also ist die vierte und letzte Bedeutung des „Sozialismus“, an dem die KP trotz Einführung der Marktwirtschaft festhält: Die Partei ist das alleinige Subjekt
der Einführung der neuen Produktionsweise. Sie dient
damit weder Kapitalisten, noch sonst einem ihr gegenüberstehenden Privatinteresse, sondern nur ihrem
Projekt der Entwicklung zur Großmacht. Sie anerkennt deswegen kein über der Exekutive stehendes
Recht der Bürger und keinen Dienst des Staates daran;
sie organisiert keine Demokratie, in der die Herrschaft
auf die Zustimmung der reicheren und ärmeren Privateigentümer bauen kann, weil sie deren Konkurrenz
sichert. Die KP errichtet jetzt die „Entwicklungsdiktatur“, die man ihr immer vorgeworfen hat, und setzt die
Macht über das Volk ein, um es zur Erwirtschaftung
von Überschüssen zu zwingen. Dafür „plant“ sie alle
Entwicklungsschritte und Elemente der Weltmarktstrategie und setzt sich mit Mitteln der Kommandowirtschaft dafür ein, daß die nötigen Leistungen für
den Export zustandekommen. Keines der Gesetze der
„freien Marktwirtschaft“ wirkt von selbst und sorgt
dafür, daß der private Erwerbstrieb automatisch auch
den Staat bereichert und die nationalen Mittel mehrt;
alles will erstens politisch angeordnet, zweitens zum
Funktionieren verpflichtet und drittens hinterher auf
seinen Effekt begutachtet werden. Schrittweise und
als ihr Projekt schafft die Partei die Bedingungen für
Kapitalismus in China. Es kann gar nicht sein, daß
sich dieses Projekt selbst als bloße Dienerschaft an
einer kapitalistischen „Wirtschaft“ oder bloße Eingliederung in einen „freien Weltmarkt“ versteht. Es ist
ja auch wirklich nicht das erste Mal, daß nationale
Anstrengungen den Ehrentitel Sozialismus tragen.
„Bereichert Euch!“ – eine chinesische Moralkampagne – wohl die letzte
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
Wie sehr die Einführung kapitalistischen Wirtschaftens in einem sozialistischen Land vom fertigen Kapitalismus differiert, verrät nicht zuletzt die Kampagne,
mit der die KP in schönster chinesischer Tradition
auch diesmal ihr Volk auf die Veränderungen einstellt. Gegen die einprägsamen Imperative, mit denen
die Partei schon immer ihre Linien- und Richtungswechsel dem Volk erläuterte, setzt Deng einen neuen,
der nichts weniger beinhaltet, als das antisozialistische
Verbrechen von gestern zur neuen Bürgerpflicht zu
erheben: Sich auf Kosten anderer bereichern! Dieser
kapitalistischen Einstellungen abgeschaute Imperativ
beweist mehr die Differenz zum erst noch einzuführenden Vorbild als die Identität. Ein Aufruf zu kapitalistischen Einstellungen verrät nämlich ihre Abwesenheit und ist im Kapitalismus ebenso unnötig wie unangebracht. Mit dem Privateigentum ist das Bereicherungsmotiv automatisch gegeben, ja es ist gar kein
Motiv im subjektiven Sinn, sondern eine Notwendigkeit für alle Eigentümer, die ihr Eigentum nutzen wollen; man braucht es also nicht zu propagieren. Und die
Verwalter des kapitalistischen Gemeinwohls werden
sich hüten, diejenigen, denen die Bereicherung wegen
fehlendem Vermögen nicht offensteht, auch noch auf
die ungesetzlichen Gedanken zu bringen, die sie sowieso schon hegen. Kapitalismus funktioniert per
Eigentumsordnung als ein Sachzwang für alle Beteiligten, moralische Appelle zu dessen Befolgung gibt
es nicht und braucht es nicht. Deren Feld ist einerseits
die Rechtfertigung der bestehenden Reichtums- und
Armutsverteilung – ‚Man soll nicht neidisch sein,
Leistung muß sich eben lohnen!‘–; andererseits die
Ermahnung zur Relativierung des selbstverständlichen
Privatmaterialismus – ‚Solidarität mit der Armut tut
not!‘. In China umgekehrt: Ohne das Eigentum und
sein Privileg, die Gesellschaft mit ihren Lebensbedürfnissen zu Diensten zu erpressen, ist Bereicherung
offenbar kein selbstverständliches und einleuchtendes
Motiv; die Chinesen haben das Recht dazu nicht von
ihrer Regierung gefordert – die Regierung hat die
Bereicherung von ihren Untertanen gefordert. Die
Führung war im Unterschied zu ihrem Volk unzufrieden mit dem unter Mao erreichten Stand von Landwirtschaft und Industrie – und besonders unzufrieden
mit der Zufriedenheit ihres Volkes über die Sicherung
der Ernährungs- und Versorgungslage auf dem niedrigen, die Hunger-, Kriegsjahre aber weit überragenden
Niveau. Die Forderung, man dürfe sich mit dem Erreichten nicht zufriedenzugeben, legt sich mit dieser
Bescheidenheit an. Denn sie lokalisiert gerade in der
erreichten Identität von Nation und Massen die Fessel
für den Fortschritt der Nation und ihren Nutzen aus
deren Arbeit:
„Armut ist kein Sozialismus. Da gleichzeitiger Wohlstand für alle unmöglich ist, ist es statthaft und verdient ermutigt zu werden, daß einige Gebiete und ein
Teil der Bevölkerung zuerst zu Wohlstand gelangen,
um damit eine stets wachsende Zahl von Gebieten und
Menschen allmählich zu einem gemeinsamen Wohlstand zu führen.“ [13]
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Im Namen des Kampfes gegen die Armut wird da
massenhafte Armut angekündigt – und immer noch
vor den alten egalitär-sozialistischen Maßstäben gerechtfertigt: Um ein Problem der Ungleichzeitigkeit
der Wohlstandsfortschritte soll es sich handeln, wo
tatsächlich der sozialistische Staat ein neues Verhältnis zu seiner arbeitenden Basis einnimmt. Mit der
verlogenen Erlaubnis, die Bürger dürften ihren Materialismus vom Gemeinwesen abtrennen und gegeneinander mehr für sich herausholen, kündigt die Führung tatsächlich die materiellen Garantien, die das
kommunistische China ausgemacht hatten. Jeder soll
sich um seinen Fortschritt kümmern und dadurch
demjenigen Chinas dienen; der Fortschritt der Nation
umgekehrt schließt den der Bürger nicht mehr ein.
Solange China nur das Leben und Arbeiten seiner
Bürger organisiert und seine Bürger im wesentlichen
nur dafür gearbeitet hatten, konnte sich der Staat die
Mittel wachsender Größe nicht beschaffen; die Parteiführung sieht den Staat von dieser kommunistischen
Gleichung geradezu ausgebeutet: Es war dahin gekommen, „daß die Betriebe aus dem großen Topf des
Staates und die Arbeiter und Angestellten aus dem
großen Topf der Betriebe essen.“ [14] Man möchte die
Reformer fragen, wo der Staat den großen Topf her
hat, den die Untertanen so schamlos plündern konnten.
„Um dieses Hindernis zu beseitigen, müssen wir das
sozialistische Prinzip ‚Jedem nach seiner Leistung‘
anwenden und aufhören, jeden aus der gemeinsamen
Reisschüssel essen zu lassen. Zuerst sollten wir Maßnahmen ergreifen, um die Einkommensabstände angemessen zu vergrößern, damit eine Anzahl von Leuten eher als andere reich werden kann. Natürlich ist
die Vergrößerung der Einkommensunterschiede kein
Selbstzweck, nur um die Arbeitsproduktivität zu steigern. Sie ist nur Mittel zu dem Zweck, alle reich zu
machen, so daß auf lange Sicht die soziale Gleichheit
des Kommunismus verwirklicht werden kann.“ [15]
Unverhohlen teilt die Partei ihrem Volk mit, daß seine
Ernährung der Nation zur Last fällt und nur noch gegen gesteigerte Arbeitsleistungen, bzw. nur noch für
diejenigen in Frage kommt, die auch tatsächlich für
den Fortschritt der Nation gebraucht werden und also
leisten dürfen. Das alles – auf lange Sicht, versteht
sich! – zum Besten der Milliarde Chinesen, die zu
ihrem Glück gezwungen werden müssen.
Das Volk läßt sich den neuen Imperativ bisher ebenso
einleuchten wie alle vorherigen, und quittiert die neuen Arbeits- und Lebensbedingungen mit der „Einsicht“, daß jetzt eben Bereicherung sozialistischpatriotische Pflicht ist. Die Umgestaltung nützt mit
dieser Kampagne eine besondere Macht der chinesischen KP über ihr Volk aus, die es anders nicht so
leicht gibt. Stets wenn die Parteiführung in der Vergangenheit neue Parolen herausgegeben hat, wurden
sie überzeugt befolgt, gleichgültig wie gut oder
schlecht diese Überzeugungen begründet sein mochten. In letzter Instanz begründet waren sie durch die
guten Erfahrungen, die die Chinesen mit der kommunistischen Führung gemacht hatten: Ihre Unterstüt-
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
zung der Partei hatte die antikoloniale Befreiung und
den Aufbau einer nationalen Ökonomie gebracht, die
ihr Riesenvolk ernähren konnte, und an der alle
Volksgenossen Anteil hatten. Daß Moral in China
nicht bloße Moral war – keine hohe Gesinnung gegenüber ganz anders gearteten materialistischen Kalkulationen und Handlungen –, daß der Beitrag zum
Ganzen nicht in Gegensatz zum eigenen Nutzen stand,
sondern diesen irgendwie bedingte, hat der Partei eine
Meinungsführerschaft und die Unterstützung ihrer
Politik durchs Volk gesichert. Mao hatte in der Kulturrevolution die Massen aufgerufen, sie sollten die
„Kader, die den kapitalistischen Weg gehen“, entmachten und ihnen Schandhüte aufsetzen. Die Massen
haben es getan. Am Ende sogar im Übermaß, so daß
neue Parolen ihren Eifer wieder bremsen mußten. 10
Jahre später setzt Deng Xioaping einen neuen, kapitalistischen Imperativ in Umlauf, der die gewohnte Parteitreue ausnutzt und ihr zugleich die Grundlage entzieht. Die Identität von Volksgenossen und Nation,
die den moralischen Gehorsam als für jeden nützlich
begründet hatte, wird durch die Befolgung des Reformimperativs aufgelöst. Indem die KP die moralische Macht, die sie mit ihrer Revolution erworben
hatte, für den neuen Kurs instrumentalisiert, zerstört
sie sie. Kein Wunder, daß, je größer die „Einkommensunterschiede“ werden, der „sozialistischen Erziehung“ um so größere Bedeutung beigemessen wird.
Die Leute sollen das „Wir alle“ als Zweck und Perspektive der kapitalistischen Reform um so mehr festhalten, je mehr jeder Gehalt von Gemeinsamkeit gekündigt wird.
II. Die systematische Revolutionierung
der chinesischen Ökonomie
Die Agrarreform – Geldwirtschaft auf dem Land
Mit freien Preisen die Ernte in nationalen Geldreichtum verwandeln!
Die ersten Adressaten der Wirtschaftsreform werden
die Bauern – wer auch sonst in dem Agrarland China,
dessen Ökonomie zum Leidwesen der Reformer noch
weitgehend mit Landwirtschaft zusammenfällt. Darin
unterscheiden sich die jetzigen Umwälzungen, die die
bisherige sozialistische Staatsplanung der Ökonomie
aufkündigen, erst einmal nicht von ihren Vorgängern
in der Partei.
Mit dem Programm und Versprechen der Bauernbefreiung war schon die Kommunistische Partei unter
Mao angetreten, um das von kolonialer Abhängigkeit
befreite „Neue China“ zu stiften. Die Partei schaffte
die persönliche Hörigkeit der Bauern und das feudale
Pachtwesen auf dem Lande ab, um die einzige Produktivkraft, über die China „aus eigener Kraft“ verfügte, zur Grundlage der künftigen Wirtschaftsentwicklung der Nation zu machen; der Ertrag der Landarbeit sollte – ungeschmälert durch private Nutznießer
– dem Projekt, China zu industrialisieren, zugute
kommen. Die Partei übernahm selbst die Verantwortung für die Produktivität der Landwirtschaft. Sie
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organisierte eine neue kooperative Gestaltung der
ländlichen Arbeit und faßte die bäuerlichen Massen in
ländlichen Volkskommunen zusammen, setzte also
auf einen ökonomischeren Einsatz der bäuerlichen
Arbeit, der die fehlenden Mittel wettmachen sollte. So
weit sich der staatliche Verwalter der Ökonomie dazu
in der Lage sah, stattete er die ländlichen Produktionseinheiten dann auch mit elementaren technischen
Produktionsmitteln aus. Mehr an Produktivitätssteigerung kam allerdings nicht zustande. Als Gegenleistung für den Arbeitseinsatz der Massen verbürgte die
Partei der Landbevölkerung die Grundversorgung
ihrer Lebensbedürfnisse und ein Minimum an sozialen
Sicherheiten. Auch wenn das nur für ein kärgliches
Leben reichte, war das eine Lebensgarantie, die den
Bauern vorher noch nie zuteil geworden war. Mithilfe
staatlicher Preisfestsetzungen und der niedrigen Vergütung der Ernteerträge der Volkskommunen gelang
es der Partei, aus der unentwickelten und relativ unproduktiven chinesischen Landwirtschaft Mittel zum
Aufbau einer nationalen Industrie abzuzweigen.
Mao selbst ging dann dieser Weg zu einer autarken
Wirtschaftsmacht Chinas zu langsam voran. Mit dem
„Großen Sprung nach vorn“ verpflichtete er die bäuerlichen Massen auf ein neues nationales Experiment.
Unmittelbar neben und zusätzlich zu ihrer Landarbeit
verlangte die Partei den Bauern ab, als Agenten für
die industrielle Entwicklung der Nation tätig zu werden: Sie sollten in den Volkskommunen eine ländliche
Industrie aufbauen, Dörfer z.B. ihren eigenen kleinen
Hochofen betreiben. Der Versuch endete mit Produktionseinbrüchen bei der Landwirtschaft und dem Zusammenbruch der staatlichen Volksernährung samt
Hungersnöten, während die dörflichen Ansätze zu
einer „Industrie“ sich als völlig unproduktiv und unbrauchbar erwiesen. Diese Mißerfolge und die in ihrem Gefolge ausgebrochenen bürgerkriegsähnlichen
Zustände haben den Reformern später das Argument
geliefert, nach Maos Tod mit der „Viererbande“ auch
gleich das frühere staatliche Planungswesen des
„Großen Steuermanns“ abzuschaffen.
Die widersprüchlichen Versuche Maos, das Agrarland
China möglichst schnell zu einem Industriestandort zu
machen, der den Vergleich mit entwickelten Nationen
aushält, offenbart eine objektive Notlage der Nation
und ihrer Fortschrittsplaner. Der größte Teil der nationalen Arbeit wird aufgewendet für das Leben und
Überleben erstens der Landbevölkerung – die sich
insoweit nur selbst ernährt – und zweitens der relativ
dazu wenigen Städter. Wo der größte Teil der nationalen Arbeit auf die zum Verbrauch bestimmten Lebensmittel verwendet wird, ist wenig Raum für die
Schaffung und Akkumulation eines Reichtums an
freien Mitteln, die zum industriellen Aufbau und zur
Herstellung höherer Arbeitsproduktivität verwendet
werden könnten. Das Übergewicht der Landwirtschaft
gegenüber der Industrie ist nicht nur Indiz der nationalen Unterentwicklung, sondern auch das entscheidende Hemmnis bei allen Versuchen ihrer Überwindung.
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
Die Mao-Nachfolger geben vor, sich mit ihren Reformen eigentlich nur diesem objektiven Problem
aller chinesischer Fortschrittsbemühungen zu widmen,
und zwar auf eine bessere, effektivere Art als die gescheiterten Versuche ihres Vorgängers; sie würden
bloß die gemeinsame Aufgabe endlich richtig angehen
und lösen, die Produktivität der Landwirtschaft so zu
fördern, daß genügend Mittel und Kräfte für eine industrielle Entwicklung frei würden. Der Weg, den sie
eingeschlagen haben, beruht allerdings gar nicht auf
einer neuen oder gar besseren Methode, um die
Schranken der unproduktiven Landwirtschaft schrittweise zu überwinden, sondern unter dem Titel „Steigerung der Produktivität“ werden die bäuerlichen
Massen einer völlig neuen Zwecksetzung unterworfen, die überhaupt nicht mehr mit einer Vermehrung
der nützlichen Produkte ihrer Arbeit zusammenfällt.
Die neue Lösung, auf die die Nachfolger Maos verfallen sind und die seit nunmehr 15 Jahren praktiziert
wird, ist nämlich die Einführung des Geldes als Ergebnis und Endzweck der Arbeit, die auf dem Land
verausgabt wird. Dadurch soll die Unzufriedenheit des
Staates mit dem – gemessen an seinen Ansprüchen –
stets mangelhaften Produktionsergebnis der Landwirtschaft beseitigt und die Entfaltung des Reichtums der
Nation von der sie beschränkenden „natürlichen“
Grundlage emanzipiert werden.
Der neue Produktionsmaßstab Geld als einzig zählendes Ergebnis der bäuerlichen Arbeit ist nicht zu verwechseln mit der Recheneinheit der bisherigen staatlichen Wirtschaftslenkung gleichen Namens. Mit dieser
hatte der sozialistische Staat die geplanten wirtschaftlichen Aktivitäten bilanziert und die bei ihm versammelten Beträge gemäß seinen Planungsvorhaben wieder den Unternehmen und Landkommunen als deren
Mittel zugeteilt, damit sie ihre Produktion fortführen
konnten. Mit dem sozialistischen Geld, seinen Preisfestsetzungen und Zuteilungen, hat der chinesische
Staat seiner Wirtschaft die ihm genehmen materiellen
Produktionsergebnisse abzwingen wollen. Der neue
Auftrag lautet jetzt genau umgekehrt, die Ernteerträge
als Waren, also als Anweisungen auf Bezahlung zu
behandeln und für sie Käufer zu suchen, also eigenständig Geld zu verdienen. Wirkliches Geld soll die
Landwirtschaft abwerfen: Das heißt, daß es nicht
mehr als Mittel des staatlichen Kommandos zur Förderung und Lenkung der Produktion gehandhabt werden soll, sondern daß umgekehrt die Produktion dem
Anspruch unterworfen wird, ohne staatliches Zutun,
in privater Hand wachsende Geldvermögen hervorzubringen, und daß ihre Ergebnisse nur noch soweit als
brauchbarer Reichtum zählen, wie dies gelingt. Geld
als Grundlage und Zweck jeder Anstrengung soll
künftig darüber entscheiden, welche Arbeitsverausgabung sich überhaupt noch lohnt, weil sie an irgendeiner Stelle in der Gesellschaft in Geldüberschuß endet.
Die Partei hat also den abstrakten Reichtum zum einzigen Zweck und zum alleinigen Ergebnis der ländlichen Produktion gemacht. Das ist auch schon ihr einziger Beitrag zur Behebung der von ihr beklagten
mangelnden Produktivität der Landwirtschaft. Sie
kümmert sich nicht um eine Verbesserung der Pro-
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duktivität auf dem Land, sondern definiert den Produktivitätsmaßstab neu.
An dem Geld, das die bäuerliche Arbeit ausschwitzen
soll, besticht die Reformer, daß es anders als ein
Mehrprodukt an Gebrauchswerten ein Reichtum ist,
der universell verwendbar und einsetzbar ist, sich,
seinen eigenen Sachgesetzen folgend, aus sich heraus
vermehrt – und dem Staat damit wachsenden Zugriff
und eine unbeschränkte Verwendungsfähigkeit, also
echten nationalen Reichtum beschert. Denn es wird
gar nicht verschwiegen, daß der Beweggrund des
Staates für die neue Zweckbestimmung allen Produzierens darin liegt, sich zu bereichern, indem er den
auf private Reichtumsvermehrung ausgerichteten
Bauern Geld abnimmt. [16]
Ein Angebot an die Massen mit Zwangscharakter
und staatlicher Absicherung
Eingeführt wird diese neue Verpflichtung der ehemaligen „blauen Ameisen“ allerdings in Form eines
großartigen Angebots: Sie „brauchen“ nicht mehr für
den Staat, die Gemeinschaft und ihre Volkskommune
zu arbeiten – jedenfalls nicht mehr ausschließlich, und
perspektivisch überhaupt nicht mehr (s.u.), sondern
„dürfen“, weitgehend befreit aus alten sozialistischen
Fesseln und staatlichen Abgabepflichten, in die eigene
Tasche wirtschaften. Ein Vorzug, den die Reformer
ihrem Volk, das gar nicht nach der Erlaubnis zu mehr
„privater Initiative“ verlangt hat, zugleich als großartigen Dienst an der Gemeinschaft anpreisen, als ginge
es um eine Neuauflage einer Moralkampagne aus
vergangener sozialistischer Zeit. Nach eigenem Bekunden wollen sie mit dem Angebot zum privaten
Geldverdienen ihre bisherige Volksfürsorge nur um
ein zusätzliches Anreiz- und Stimulanzmittel ergänzt
haben; und zwar um ein besonders schlagkräftiges,
weil es den waldursprünglichen Nutzenegoismus der
bäuerlichen Massen anstachelt. Vor ihrem Volk beschimpfen sie sich, die fortschrittsfördernde „Privatinitiative“, die im Geld ihre Bestätigung und ihr Betätigungsfeld findet, bislang durch einen gegen naturgegebene Unterschiede des Geschicks und des Leistungswillens rücksichtslosen Versorgungsegalitarismus – siehe die „eiserne Reisschüssel“ – erstickt zu
haben. [17]
Die Partei verkündet unentwegt das Lob des Eigeninteresses und seiner wunderbaren Wirkungen und lädt
die Chinesen ein, den neuen Zwang zum Geldverdienen und das Ende der staatlichen Arbeits- und Lebensgarantien mit einer persönlichen Erfolgsgarantie
sowie mit „blühenden Landschaften“ und anbrechendem Volkswohlstand zu verwechseln:
„Hat man eine Produktionsgruppe erst einmal mit
Entscheidungsbefugnissen hinsichtlich ihrer eigenen
Produktion betraut, dann werden ihre Mitglieder und
Kader keinen Schlaf finden, so lange nicht das kleinste Stück Land bebaut, der kleinste Teich für die Produktion genutzt wird, und alle werden über eine Lösung nachdenken. Stellt euch doch nur einmal vor,
wieviel Reichtum geschaffen werden könnte, wenn alle
Menschen in den Hunderttausenden von Betrieben
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
und in den Millionen von Produktionsgruppen ihren
Kopf anstrengen! Wird mehr Reichtum für den Staat
geschaffen, so sollten die Einkünfte der Einzelpersonen ein wenig angehoben und die kollektive Wohlfahrt
einigermaßen verbessert werden.“ (Deng Xiaoping,
Ausgewählte Schriften, Beijing 1983, S.175)
Dieser Ausmalung ist wie jeder Idylle die Verlogenheit auf die Stirn geschrieben. Wenn es, wie behauptet, um die Steigerung der Produktivität der Landarbeit und die Mehrung der agrarischen Gebrauchsgüter
ginge, dann ist ja wohl ein bißchen mehr verlangt als
Millionen privat angestrengte Köpfe. Ausgerechnet
der ersatzlose Wegfall staatlicher Planvorgaben, einer
wie schlecht auch immer durchgeführten Organisation
nach allgemeinen Interessen, die Streichung aller Produktionsgarantien, also die blanke Verpflichtung auf
ein Eigeninteresse an Gewinn, dem seine Mittel abgehen, soll dieses Wunder bewerkstelligen? Wie die
Partei an der Staatsspitze künftig ihr Verhältnis zum
Volk bestimmt, spricht Deng immerhin offen aus: Nur
insoweit die Massen dem Staat zu bleibendem Geldreichtum verhelfen, finden sie in seinen Kalkulationen
Berücksichtigung.
Den Lobreden auf die Reichtum fördernde Macht der
privaten „Entscheidungsbefugnisse“ ist also unschwer
die Verpflichtung auf einen neuen staatlichen Zweck
zu entnehmen. Die Werbung der Partei für ihre Reformabsicht ist eben nur die passende Begleitmusik
für ihr tatsächliches Programm, die bäuerlichen Leistungen am Geldertrag für die Nation zu messen und
sie darauf festzulegen. Darüber wird das Angebot,
Geld verdienen zu können, zum Zwang, Geld verdienen zu müssen; zu einer Überlebensnotwendigkeit, je
mehr der Staat ihre Privatinitiative dadurch anreizt,
daß er bislang gewährte soziale Lebensgarantien entfallen läßt. Die chinesische wäre freilich nicht die
erste Landreform, die mit einer „Bauernbefreiung“
beginnt und mit einem gigantischen Bauernlegen endet. Die Besonderheit dieses „Angebots“ aber liegt
darin, daß es die Bauern gar nicht aus feudaler Abhängigkeit befreit – das haben 40 Jahre vorher die
Kommunisten erledigt –, sondern aus einer sozialistischen Plan- und Versorgungswirtschaft, die zumindest
das Überleben der ländlichen Bevölkerung gesichert
hat. Die Agrarreform beginnt mit der Zerschlagung
der ländlichen Volkskommunen und ihrer Produktionsbrigaden und entzieht damit der landwirtschaftlichen Produktion die Sicherheit, auf der sie bisher
beruht hatte. An ihre Stelle treten ländliche Kleinpächter staatseigenen Bodens, die auf den ihnen zugewiesenen Landparzellen beweisen können, ob sie
den neuen Auftrag „Bereichert euch!“ für sich nützen
können.
Die chinesischen Reformer wissen schon, welchen
Umsturz aller Arbeits- und Lebensverhältnisse sie
dem nationalen Nährstand zumuten. Deshalb vollziehen sie diesen Umsturz auch nicht auf einmal und
nicht gleich total. Der Staat sorgt zwar nicht mehr für
die geordnete Versorgung des ganzen Volks, aber er
sorgt sich gerade deswegen darum, daß die Versorgungsleistungen der Landwirtschaft für die Nation
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nicht dem neuen gewinnorientierten Produktionswesen zum Opfer fallen. Das traut er nämlich entgegen
der eigenen Propaganda der freigesetzten „Privatinitiative“ wohlweislich nicht zu, daß sie automatisch das
Land mit allen notwendigen Angeboten versorgt.
Deshalb hält er an einer staatlichen Ablieferungspflicht von Teilen der landwirtschaftlichen Produktion
fest.
In einem ersten Schritt macht der Staat statt des gesamten Dorfes einzelne Familien für die Ablieferung
der nun vereinbarten Ernteerträge an staatliche Sammelstellen verantwortlich. Das „vertragsgebundene
Verantwortungssystem für dörfliche Haushalte“ läßt
den einzelnen Bauern Sollerfüllung und Fehlmengen
direkt spüren und belohnt die individuelle Leistung.
Für die vereinbarten Ablieferungen bezahlt der Staat
garantierte Preise und sichert bei Erfüllung der Abgabepflicht für diesen Teil des Anbaus die Lieferung
von Saatgut, Düngemitteln etc. ebenfalls zu Planpreisen. Soweit die Ernte die Ablieferungspflicht übersteigt, dürfen die Bauern sie frei verkaufen und sich
dafür so viel bezahlen lassen, wie sie können. Die
„Bereicherung“ der Bauern soll zu Anfang auf die für
die nationale Lebensmittelbasis unwichtigen Restund Nebenprodukte beschränkt bleiben. Die alte Sicherheit der Dorfkommune wird also nicht gleich
ganz gestrichen, den größten Teil der Ernte nimmt der
Staat zu festen Preisen ab; die Einkünfte aus freiem
Verkauf stellen einen Zusatz, ein echtes Mehr dar.
Erst im nächsten Schritt macht die Reform aus der
Gelegenheit eine Notwendigkeit, indem die Partei den
frei verkauften Ernteanteil ausdehnt und dafür die
Pflichtablieferungen einschränkt. Endgültig sichert die
Staatsvergütung nicht mehr den Lebensunterhalt.
Aber der Staat schafft Ersatz: Die Verringerung der
Ablieferungen setzt zwar einen weiteren Teil der bäuerlichen Arbeit dem „Marktrisiko“ aus, sie schafft
aber auch den Markt, indem sie der städtischen Bevölkerung einen Teil ihrer Lebensmittelversorgung
entzieht und sie zwingt, für bisher zugeteilte Produkte
freie Preise zu bezahlen. So wird auch die städtische
Bevölkerung mit dem „Geldkreislauf“ bekannt gemacht, den sich die Reformer zum Wachstumsautomaten der chinesischen Ökonomie erkoren haben.
Eine Zeitlang genossen die Verkäufer der landwirtschaftlichen Produkte das Privileg, als einzige in der
Planwirtschaft freie Preise verlangen und eine gewisse
Umverteilung des Nationalprodukts genießen zu dürfen. Danach wurden sie mit der Kehrseite ihrer neuen
Freiheit vertraut gemacht: Sie sollten freie Preise nicht
nur kassieren, sondern auch bezahlen – für Saatgut,
Düngemittel und alles andere – und die staatliche
Verwaltung faßte sie mehr und mehr als Steuerquelle
ins Auge.
Von dem, was ihnen die Parteiverwaltung noch abkauft und vergütet, können die Pächter der Parzellen
nicht mehr leben; also sind sie auf das Angebot, zusätzlich Geld zu verdienen, angewiesen. Das verwandelt die Arbeit auf dem Land und die Arbeitsmoral der
Bauern gründlicher, als es jede Moralkampagne der
Partei bisher vermocht hatte. Die Mehrarbeit, mit der
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Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
dem Boden Ernteprodukte abgerungen werden, die
nicht mehr in den Staatsplan eingehen, sondern auf
städtischen Märkten verhökert werden können, gerät
zum Inbegriff der überhaupt noch lohnenden auf dem
Land verausgabten Arbeit. Das neue Recht zur Bereicherung und die neue Pflicht, zu sehen, wo man
bleibt, erzwingen jede Menge Mehr- und Überarbeit
der Bauern. Jetzt ist eben das „produktiv“! Stadt-, also
marktnahe Bauernarbeit, die sich leichter in Geld
verwandeln läßt, ist „produktiver“ als die im stadtfernen Hinterland; Arbeit auf guten Böden bringt mehr
Geld; schlechte Erträge auf unfruchtbaren Böden sind
das Privatproblem derer, die darauf sitzen, und belasten nicht mehr die gesellschaftliche Ertragsrechnung.
So vollbringt der neue Produktionsauftrag der Partei
an ihre Bauernmassen eine Scheidung in eine Minderheit, die aus dem neuen Recht zum freien Verkauf
etwas machen und sich bereichern kann – und in eine
große Mehrheit, die unter den neuen Bedingungen nur
ihre alte Versorgungssicherheit verliert und im freien
Geldverdienen keinen Ersatz dafür findet.
Das neue Landleben in China: Der Geldauftrag
findet seine Funktionäre
Die Auflösung der kollektiven Arbeitsorganisation
und der Lebensverhältnisse der Bauern fällt ebenso
wenig idyllisch aus wie die gewaltsame Beseitigung
der feudalen Grundherren, aus deren Abhängigkeit die
Partei einst die Bauern befreit hatte. Sowohl die Zerschlagung der Landkommunen wie die Neuaufteilung
des Landes auf private Pächter ist ein Gewaltakt der
Partei, dieses Mal gegen die ländlichen Massen, selbst
wenn die der Bereicherungsverheißung der Partei
Glauben schenken.
Die „Kompetenz“, diese Aufteilung vorzunehmen,
fällt den Mächtigen im Dorf zu; und das sind die Parteifunktionäre, die bislang vor Ort die Planung der
kollektiven Landarbeit verantwortet haben. Daneben
setzt die Umstellung der Landwirtschaft die mächtigen Familien im Dorf – eine hergebrachte höhere
Schicht, die auch Maos Kommunismus weniger abgeschafft als eingespannt hat – unter neuen Vorzeichen
wieder ein Stück weit in ihre einstige Rolle ein. Jetzt
haben die Funktionsträger der Partei keine Gemeinschaftsaufgaben und keine Gemeinschaftsvergütung
mehr zu verteilen – dabei werden sie wohl auch früher
sich und ihren Familien den besseren Part zugeschoben haben –, jetzt geht es um Armut und Reichtum,
und das neue Programm schreibt vor, daß jeder sich
nach Kräften bereichern soll. Politische Macht vor Ort
verschafft nun den Zugriff auf das erste bäuerliche
Produktionsmittel. Manche Parzellen fallen größer aus
als andere, manche Böden sind besser, manche Äcker
bewässert, gut erreichbar, andere nicht. Die Zuweisung der Parzellen entscheidet darüber, welcher Bauer
das Bereicherungsgebot erfolgreich beherzigen kann
und wer verdammt ist, in Armut abzusinken.
Aber es sind nicht nur die Böden. Die Aufteilung der
anderen Produktionsmittel funktioniert genauso. Auch
die innere Arbeitsteilung der Landkollektive wird
privatisiert, ihre Funktionen werden im Namen einer
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„Spezialisierung“ einzelnen „Schlüsselhaushalten“
zugeteilt. Wer sich jetzt auf Fischzucht und Obstanbau konzentrieren kann, hat einen Bereicherungsvorsprung vor anderen Dorfhaushalten, da dieser Nebenerwerb zuerst in den Genuß des freien Marktes
kommt. Wer sich die handwerklichen Gerätschaften,
das zur Reparatur nötige Werkzeug und die ländlichen
Dienstleistungsangebote aneignet, verfügt damit über
die Gelegenheit, an den Bauern zu verdienen. „Spezialisierte“ Verwaltungsaufgaben der alten Kommunenwirtschaft werden Gewinnquelle ihrer neuen Träger; diese Chance fällt vorzüglich den Parteifunktionären zu, die diese Aufgaben schon vor der Landreform verantwortet haben. „Schlüsselhaushalte“, die
sich die wenigen Fahrzeuge unter den Nagel reißen,
„spezialisieren“ sich auf Transport und Verkauf. Sie
verwandeln sich in Händler, die ihr Geld damit verdienen, daß sie zwischen den Bauern und dem staatlichen Abnehmer oder dem Markt vermitteln. Den
Bauern geben sie von ihren Erträgen ab, was ihnen
gefällt. Die neue Verwaltung der überkommenen Kreditgenossenschaften, bei der einst die Bauern einen
Teil ihrer Einkünfte angespart hatten und die das dem
Dorf zugewiesene staatliche Geld nach Arbeitspunkten auf die Dorfbevölkerung verteilt hatten, macht aus
dieser Grundlage ein Geschäft mit den Geldnöten der
neuen Kleinpächter; ganz im Sinne der befohlenen
Umstellung der Landwirtschaft auf Geldbeziehungen.
In der rudimentär entwickelten, auf den Dörfern angesiedelten „ländlichen Industrie“ ändern sich Besitzverhältnisse und Produktionsweise, auch bei Beibehaltung der kollektiven Eigentumsform. Die Betriebsdirektoren sind nun Agenten des neuen Gewinnzwecks; der Rest der alten Arbeitskollektive verwandelt sich in freie Arbeitskräfte, die gegen Lohn den
Betriebsgewinn mehren dürfen. Seit 1985 ist die freie
Anstellung von Lohnarbeitern in unbeschränkter Zahl
erlaubt. Die Parteiideologen machen sich um den
Nachweis verdient, daß es sich bei dieser „hired labour“ um keinen Rückfall in kapitalistische Zustände
handelt.
Die Pflichtproduktion für den Staat wird zu Festpreisen an die örtlichen Machtträger abgeliefert – anders
existiert „der Staat“ auf dem flachen Land gar nicht.
Das, was noch an ländlichen Produktionsmitteln staatlich zugeteilt wird, läuft befreit vom bisherigen
Kommando zum großen Teil über Beziehungen, die
über Möglichkeit und Erfolg der Parzellenarbeit entscheiden. Für ihre Ablieferungen an die staatliche
Verwaltung werden die Bauern von den Ortsbonzen
bezahlt – häufig mit Schuldscheinen, die ihnen niemand mehr einlöst. Die Herren in den Dörfern rücken
Geld an die Bauern nur ungern heraus, dafür aber
sammeln sie es unter immer neuen Titeln ein und
halten sich nicht an die Pekinger Vorgabe, die Besteuerung der Bauern dürfe 5% des Durchschnittseinkommens nicht übersteigen. Von der gleichen Zentrale ist ihnen ja auch der andere Auftrag erteilt worden,
die Verwandlung der dörflichen und regionalen Wirtschaft in Geldreichtum selbständig zu betreiben. Sie
erheben ganze Litaneien von exotischen Sondersteuern [18] und haben längst entdeckt, daß auch die
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Landvergabe zur Einkommensquelle derer werden
kann, die darüber bestimmen. Jetzt bekommt Grund
und Boden einen Pachtpreis, weil die Verfüger über
das Bebauungsrecht sich dieses Recht bezahlen lassen. Wo die Bauern in Konkurrenz zu potenteren Interessenten an diesem Gut geraten – etwa in den Sonderwirtschaftszonen mit ihrem von ausländischen
Investoren, die für so anspruchsvolle Vorhaben wie
Hotels und Golfplätze Baugrund beanspruchen, angeheizten Immobilienboom –, wird für sie die Scholle
unbezahlbar, wenn sie nicht gleich gewaltsam vom
Land vertrieben werden. [19]
Die lokalen Größen werden darüber zu Geschäftsleuten und zu Großbauern, die ihre Flächen ausdehnen
und diejenigen hinzupachten, die „freiwillig zurückgegeben“ worden sind. [20] Auf diesen Flächen dürfen
die Bauern, die vergeblich von ihnen zu leben versuchten, dann als Tagelöhner wieder antreten. So kehren – verwandelt – ökonomische Verhältnisse zurück,
von denen die Kommunisten die Bauern einst befreit
hatten. Die Einführung des Geldes und kapitalistischer
Rechnungsweisen auf dem Land führt also nicht zu
Formen moderner, rechtlich geregelter und korrekt
verwalteter Ausbeutung, sondern zu einer Art feudaler
Abhängigkeitsverhältnisse: zur ökonomischen Ausbeutung und politischen Unterdrückung durch denselben Herren. In einem Land, in dem Funktionäre der
Geldbereicherung nicht vorhanden sind, ist die Staatsgewalt, die diese Umwälzung befiehlt, selber die Instanz, die diese Funktionäre in Gestalt der Parteifunktionäre vor Ort stiftet, indem sie deren Machtbefugnisse in Hebel der Geldvermehrung verwandelt – und
die Parteimitglieder in die ersten Kapitalisten im
Land.
Auf der anderen Seite werden Millionen ehemaliger
Mitglieder bäuerlicher Kommunen arbeits- und brotlos. Die neuen Mächtigen teilen ihnen unzureichend
oder gleich gar kein Land zu, nehmen ihnen die Ernte
zu Niedrigpreisen ab, bezahlen nicht und treiben
Geldtribute ein. Für die auf das Gelddiktat umgestellte
agrarische Produktion sind Massen zuviel, finden aber
keinen Arbeitsersatz. Davon geht auch die Partei aus.
Die „Befreiung der Bauern“ aus sozialistischer
Gleichmacherei ergänzt sie um die Befreiung aus der
einst rigide durchgesetzten Pflicht, in dem Dorf zu
bleiben, zu dem man gehört; die Bauern „dürfen“
wegziehen. Das zeitigt die Wirkung, die aus der Geschichte der europäischen Bauernbefreiungen bekannt
ist: Die Bauern verelenden ohne die Pflicht, auf dem
überkommenen Land weitermachen zu müssen, aber
auch ohne die Garantie, es auf Dauer zu dürfen. Denn
auch als Arbeitskräfte sind sie den neuen Herren entbehrlich. Die rücksichtslose Mehrarbeit und das Auspressen der anderen Bauern macht sie überflüssig und
bringt darüber hinaus eine Akkumulation von Vermögen zustande, die gewisse Mittel zur Steigerung der
Produktivität mittels Maschinen freisetzt und damit
weitere Arbeitskräfte überzählig macht. Millionen
verlassen das Land von sich aus. Andere, die mit ihrem Ackerbau oder ihren Behausungen mächtigeren
Interessen im Weg stehen, werden einfach vertrieben.
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Beide Gruppen vermehren das Heer der Arbeitslosen
im ländlichen Raum oder machen sich auf in die großen Städte und in die Sonderwirtschaftszonen. [21]
Die geschätzten 150 Millionen Wanderarbeiter bevölkern die Slums um die Wachstumszentren herum und
stehen bereit, sich zu jedem noch so niedrigen Entgelt
zu verdingen. Die massenhaften Vagabunden auf der
Suche nach Arbeit bedrohen die ohnehin niedrigen
Löhne in den Industriestädten und ziehen sich die
Feindschaft der Eingesessenen zu. Die boomenden
Küstenstädte erlassen wegen ihrer „Übervölkerung“
Zuzugsverbote für „Wirtschaftsflüchtlinge“ und
zwingen deren Überlebenswillen auf kriminelle Pfade.
Gewaltverbrechen boomen in China ebenfalls – und
Todesurteile.
Die politische Freisetzung des Geschäftssinns ruft
die Kontrollgewalt der Partei auf den Plan
Die Staatsführung bilanziert lauter Erfolge bei der
Umstellung der Landwirtschaft auf Geldgeschäfte.
Das Land schwitzt Geld aus, die neuen Geldbesitzer
nehmen den Bereicherungsappell wahr und beteiligen
sich am Warenhandel, investieren in Spekulationsgeschäfte, werden Mitinhaber der ländlichen Industrieunternehmen. Die ländliche Industrie, deren Geschäftsgrundlage staatsunabhängige, also besonders
niedrige Löhne sind, erzeugt heute fast 30% des nationalen Wirtschaftsprodukts. Über die Jahre hinweg
hat es die Partei erreicht, die Preise für fast sämtliche
Agrarprodukte freizugeben und dem Schacher zu
überantworten und die staatlichen Subventionen für
die landwirtschaftliche Produktion zu verringern. In
den jährlichen Rechenschaftsberichten vermeldet die
Partei ein Wachstum der ländlichen Produktion von 58%. Das verfügbare Ernteprodukt wächst eben auch
durch privat erzwungene Mehrarbeit. Und jeder Überzählige, der nicht mehr automatisch miternährt wird,
schlägt positiv zu Buche. Die Partei beklagt zwar das
Zurückbleiben der agrarischen Produktivität hinter
den industriellen Wachstumsraten; das beweist ihr
aber umgekehrt auch, daß sich die in Gang gesetzte
Entwicklung der nationalen Ökonomie mehr und
mehr von der sie beschränkenden landwirtschaftlichen
Grundlage emanzipiert.
Dennoch zeigt sich die Parteiführung, wo immer sie
auf die Lage der heimischen Landwirtschaft und auf
den aktuellen Zustand der Agrarreform zu sprechen
kommt, regelmäßig unzufrieden. Was sie da kritisiert
und abzuhelfen verspricht, folgt der Logik einer sauberen Zweiteilung. Auf ihr Projekt läßt sie nichts
kommen; umso mehr entdeckt sie an der Reformrealität bekämpfenswerte Mißstände:
„In einigen Regionen seien die Einkommen der Bauern nicht gestiegen, sondern trotz Produktionssteigerungen gesunken. Auch hätten die Bauern in vielen
Gebieten Probleme beim Getreideverkauf, und die
Praxis der Ausgabe von Schuldscheinen anstelle von
Bargeld beim Getreideankauf sei weit verbreitet. Zugenommen habe auch das Problem der willkürlichen
Erhebung von Gebühren und Abgaben. Über die niedrigen staatlichen Getreideankaufspreise sowie die
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Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
steigenden Abgaben hätten sich die Bauern bereits
beklagt... Bei der Beschleunigung der wirtschaftlichen
Entwicklung hätten einige Abteilungen und Regionen
die Rolle der Landwirtschaft als Grundlage der Gesamtwirtschaft vernachlässigt. Die Förderung von
Industrie und Dienstleistungssektor zu Lasten der
Landwirtschaft sei eine verfehlte Strategie und könne
längerfristig nicht erfolgreich sein. Die in vielen Gebieten zu beobachtende Hast bei der Errichtung von
Entwicklungszonen, dem Ausbau des Immobiliensektors, des Baus von Bürogebäuden und Hotels habe zu
einer hohen Inanspruchnahme von landwirtschaftlichen Nutzungsflächen geführt. Damit sei ein Einsatz
der für die landwirtschaftliche Entwicklung bestimmten Mittel in anderen Bereichen verbunden gewesen.
Um Investitionen für industrielle Entwicklungszonen
und den Immobiliensektor bereitzustellen, wären in
manchen Gebieten die Investitionen für Landwirtschaft reduziert und von den Bauern zusätzliche Abgaben erhoben worden. Auch seien die für den staatlichen Ankauf von Agrarprodukten reservierten Mittel
in den Banken und Kreditgenossenschaften für andere
Zwecke absorbiert worden.“ [22]
Die Regierung wird mit der herbeiregierten „Modernisierung“ des Landes nicht deshalb unzufrieden, weil
sie es seitens der Bauern und von den zur Durchsetzung der Reform ermächtigten Parteifunktionären mit
Widerstand gegen ihre Reformabsicht zu tun bekommen hätte, sondern weil ihr Auftrag, sich an der bäuerlichen Arbeit zu bereichern, auf offene Ohren gestoßen ist und Aktivisten gefunden hat. Jetzt laboriert
die Partei daran, daß die auftragsgemäß in Gang gekommene private Bereicherung sich mit der Reformabsicht, aus der Landwirtschaft eine Geldquelle für
die Entwicklung der Nation und ihrer industriellen
Potenz zu machen, nicht deckt. Die unteren Ebenen
des Staats- und Parteiapparats beuten die Bauern nach
ihrem Gutdünken zum eigenen regionalen oder individuellen Sondernutzen aus. An ihrem Staatshaushalt
erfährt die Zentralgewalt, daß die durch das Reformkommando erzeugten Geldsummen ihrer vorgesehenen nationalen Verwendung entzogen werden. Umgekehrt enden die staatlichen Mittel für die Entwicklung
der Landwirtschaft, die über die neuen Geldrechnungen nicht ihren weiteren Dienst für die nötige Lebensmittelversorgung des Landes versagen soll, in den
Taschen der Parteigrößen vor Ort, die dafür eine bessere Verwendung wissen. Deren privater Bereicherungswille mißt sich nicht an der Sorge der Partei vor
Versorgungseinbrüchen, Hungersnöten und Aufständen der verelendeten Bauern und verarmten städtischen Bevölkerung. Die Umverteilung der nationalen
ökonomischen Potenzen zu Lasten des ländlichen
China nehmen die Staatsbeauftragten der neuen
Geldwirtschaft in die eigenen Hände; mit der Folge,
daß die zentralen Industrialisierungsvorhaben in Konflikt mit dem unkontrollierten Wildwuchs der regionalen Wirtschaftsprojekte geraten, mit denen die lokalen
Größen aus ihrer Region ein Stück „modernes China“
und entsprechenden Reichtum machen wollen.
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Alle Klagen der Parteiführung über ihr eigenes Projekt laufen auf die eine Entdeckung hinaus, daß auf
dem Land und bei den lokalen Herrschaftsvertretern
der nationale Standpunkt keine verläßliche Stütze
mehr hat: Der Erfolg der Agrarreform setzt die Hoheit
ihres leitenden Subjekts aufs Spiel. Die Reformer
haben die Verwirklichung der Landreform ihren lokalen Parteiapparaten übertragen; die sollen ihre Weisungsbefugnis dazu benutzen, den Bauern das Geldgebot unausweichlich zu machen, sie selbst dürfen
sich in die ersten Agenten und Subjekte des neuen
Geldreichtums verwandeln. Diese Gleichsetzung von
Macht und Geldgeschäft machen die Angesprochenen
wahr und stellen darüber ihren Einfluß auf dem Land
auf eine neue Grundlage. Was sie auf den Dörfern
erzwingen und was ihr Wort bei den Bauern vermag,
kommt nicht mehr ausschließlich dank der ihnen von
der Partei verliehenen Autorität zustande, sondern
gründet vornehmlich auf die durch ökonomische und
politische Macht hergestellten privaten Abhängigkeitsverhältnisse – und das macht sie tendenziell unabhängig von den Weisungen der Partei und unempfindlich gegen die Vorhaltungen aus Peking. Weniger
von den Bauern – obwohl zur Reformrealität seit den
letzten Jahren auch Bauernaufstände gehören – als
von der eigenen Machtbasis geht die Gefahr aus, so
daß für die Reformer heute die Aufrechterhaltung der
Staatsgewalt zum obersten Gesichtspunkt dafür geworden ist, ob die „Modernisierung“ Chinas gelingt.
Der derzeitige Reformbedarf manifestiert sich in den
Bemühungen der Regierung, ihre Kontrolle über das
von ihr freigesetzte Wirtschaftsleben und die Lokalbonzen zu erhalten oder wieder in die Hand zu bekommen, ohne allerdings irgendetwas von den
Grundsätzen außer Kraft zu setzen, denen die unliebsamen Wirkungen zu verdanken sind. Daß die Verlaufsformen der Umwälzung auf dem Land den Reformabsichten zuwiderlaufen ist die eine Seite, daß
der staatlich beabsichtigte Zweck und die kritisierten
„Mißbräuche“ nicht voneinander zu trennen sind, die
andere Seite.
Die Parteiführung reagiert auf die reformbedingte
Entmachtung ihrer Befehlsgewalt zu allererst damit,
daß sie den eingerissenen Zuständen nachträglich
recht gibt, um sie durch Legalisierung zu beschränken. Nachdem die Lokalfürsten schon jahrelang den
Bauern für das zugewiesene Stück Land eine Pacht
abverlangt hatten, wurde diese Praxis 1988 erlaubt
und dem Pachtzins eine offizielle Höhe zugewiesen.
Nachdem diejenigen, die Land verwalten, seinen Verkauf schon jahrelang illegal zur Einkommensquelle
gemacht haben, soll nun „ein neues Gesetz Landverkäufe und Spekulationen in geordnete Bahnen lenken.“ (FAZ, 31.9.1994). Den Parteimitgliedern
kommt die Regierung mit Antikorruptionskampagnen
und ewig wirkungslosen Aufrufen zur Parteidisziplin
und bescheidener Lebensführung. Wenn sie einmal
ein demonstratives Durchgreifen anordnet, weitet sich
das unter Umständen zu einer halben Kriegsaktion
gegen örtliche Privatarmeen aus. Wenn die nationale
Lebensmittelversorgung einbricht – wegen Dürre oder
Überschwemmungen, wegen der Einschränkung der
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
Getreideproduktion zugunsten frei verkäuflicher Agrarprodukte oder wegen des Verlusts von Anbauflächen dank des Baubooms –, wenn in den Städten
Hunger droht und die Lebensmittelpreise hochschnellen, dann schreibt der Staat auch einmal wieder mehr
Getreideanbau vor, erhöht die Quoten der Naturalabgaben und die Garantiepreise; dann verbietet er befristet den Schacher mit Lebensmitteln, bis sich die Situation wieder „entspannt“ und die „Preisreform“ wieder
fortgesetzt werden kann. [23] Ihr eigenes Reformwerk
stellt die Partei also nicht in Frage, auch wenn darüber
in der Gesellschaft Verhältnisse einreißen, die ihre
staatliche Ordnungsgewalt auf eine harte Probe stellen.
Ursprüngliche Akkumulation auf chinesisch
Auf diese Weise haben die chinesischen Reformer in
den letzten 15 Jahren durch die Verwandlung der Lebensmittel in Waren die ganze Gesellschaft auf Geld
und Gelderwerb festgelegt und viele Millionen Menschen aus ihrem national unergiebigen ländlichen
Dasein herausgerissen. So kommen in China die aus
der Vorgeschichte der europäischen kapitalistischen
Nationen bekannten Leistungen der ursprünglichen
Akkumulation zustande: Akkumulation von Geldvermögen und Eigentum auf der einen Seite, Akkumulation einer vom Boden gewaltsam befreiten Masse
eigentumsloser Arbeitskräfte auf der anderen. Die
Besonderheit dieses gewaltsamen Übergangs zu einer
neuen Produktionsweise in China liegt darin, daß sich
der Staat dabei auf keinerlei schon vorhandenes gesellschaftliches Bedürfnis nach Vermehrung des abstrakten Reichtums beziehen kann. Wegen des Mangels an Geldaktivisten in Form von Händlern, Geldverleihern, Pächtern, Manufakturbesitzern findet der
Übergang durch die Partei allein statt. Aus ihrem
Herrschaftspersonal entsteht der Keim der chinesischen Kapitalistenklasse. Die politische Gewalt der
Partei stiftet die fehlenden Interessen und Subjekte
des ökonomischen Prinzips, das künftig jede wirtschaftliche Aktivität und jede Lebensmöglichkeit
bestimmen soll.
Einer Landwirtschaft, deren Produktion bislang weder
dafür geplant noch darauf ausgerichtet war, wird
Reichtum in Geldform abgezwungen. In den wenigen
Händen, in denen sich dieser Reichtum versammelt,
hat die neue Geldwirtschaft die zu ihr passenden
Funktionäre gefunden; den Parteikadern verschafft
ihre politische Verfügungsgewalt ökonomische
Macht. In der Form des staatlichen Eigentums an
Grund und Boden versteckt werden Freiheiten des
privaten Grundeigentums etabliert und Grundeigentümer ins Leben gerufen, die sich wiederum vorzugsweise aus den Reihen der Partei rekrutieren. Durch die
Reform kommt also die angestrebte Akkumulation
aus den Erträgen einer rückständigen Landwirtschaft
in Gang. Zwar landen massenhaft Überschüsse nicht
bei der nationalen Zentrale, die sie nach ihren Wachstumsplänen einsetzen will, sondern bei lauter lokalen
Instanzen, die sich bereichern und ihre Gelder nach
Gutdünken verwenden. Aber so wird dezentraler,
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privater Reichtum geschaffen, der selbständig nach
Vermehrung strebt, und eine „ländliche Industrie“
wächst aus diesen Überschüssen heran. Bei allem
Widerspruch gegen die Entwicklungsideale der Parteiführung – wie anders könnten sich die Lebensmittel
der Bauern in Geldreichtum neuer Herren verwandeln,
als durch die Gewalt von dazu befugten Lokalgrößen?
Die Nation schafft den neuen Reichtum ja nicht durch
die Steigerung der Produktivität der bäuerlichen Arbeit, sondern zwingt einer Arbeit, die von sich aus
keine Überschüsse abwirft, Gelderträge ab. Und
schließlich vollzieht auf diese Weise ein großer Teil
der Bauernschaft den Übergang in den Status einer
freien Lohnarbeitermannschaft, unabhängig davon,
daß das Kapital für ihre Anwendung gar nicht vorhanden ist, vermehrt also die absolute Armutsbevölkerung und die wachsende industrielle Reservearmee.
Die gewollte Freisetzung von Volksteilen für andere
als landwirtschaftliche Aufgaben findet also statt;
vielleicht nicht als das geplante, halbwegs harmonische Resultat von bäuerlicher Mehrarbeit, wachsender
Produktivität der Landarbeit und staatlichem Bedarf
an Arbeitskräften. Aber was haben planwirtschaftliche
Ideale auch mit der Einführung der Geldwirtschaft zu
schaffen?
Öffnungspolitik und Sonderwirtschaftszonen –
Auslandskapital als Entwicklungsmotor
Die chinesischen Entwicklungspolitiker haben die
Ergebnisse der Agrarreform nicht abgewartet. Ihnen
war klar, daß die Überschüsse, die sie einer unproduktiven Bauernarbeit durch Rücksichtslosigkeit und
Verelendung abringen können, quantitativ bescheiden
bleiben. Der freie Reichtum, der zu weiterem Wachstum wieder eingesetzt werden kann, der über alle Mittel der Welt gebietet und deshalb die lohnende Kombination von Arbeit und Maschinerie hinbekommt –
dieser Reichtum kommt so viel zu wenig und viel zu
langsam zustande. Um diesen Mangel eines im kapitalistischen Weltmaßstab zurückgebliebenen Landes zu
beheben, wollen die chinesischen Nationalisten das
internationale Kapital in ihren Dienst stellen. Das
schon akkumulierte Kapital des Auslands soll eine
Akkumulation in China anstoßen, die, einmal in Gang
gesetzt, dann selbst so ein Wachstumsautomat werden
soll, wie es das Kapital des Weltmarkts ist. Die vorhandenen und konzentrierten Geldvermögen der Multis sollen sich zum Diener einer chinesischen Bildung
von ebensolchen Vermögen machen.
Alle Errungenschaften der Weltzivilisation?
Zu diesem Standpunkt, den sie mit der Politik der
Öffnung praktizieren, arbeiten sich die chinesischen
Reformer theoretisch allerdings erst hin:
„Es ist hervorzuheben, daß die Öffnung nach außen
für die Reform und den Aufbau unerläßlich ist, daß
alle fortgeschrittenen zivilisatorischen Leistungen, die
von den verschiedenen Ländern der Welt, darunter
auch den entwickelten kapitalistischen, geschaffen
wurden, für die Entwicklung des Sozialismus einge-
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
führt und genutzt werden sollen und daß Abkapselung
nur zur Rückständigkeit führen kann.“ [24]
Mit „zivilisatorischen Leistungen“ anderer, von denen
man sich nicht abkapseln sollte, scheint nach einer
ersten Lesart so etwas wie Technik und Know-How
gemeint zu sein:
„Angesichts der heutigen sozialen Produktivkräfte ist
kein Land der Welt mehr in der Position, alle Ressourcen und Verfahren selbst zu besitzen, die es für
seine Entwicklung braucht. Dies gilt besonders für ein
Entwicklungsland, dem es gewöhnlich an Mitteln und
Kenntnissen fehlt. Deshalb wird die Politik der Öffnung gegenüber der Außenwelt und die Ermutigung
des ökonomischen und technischen Austauschs sein
Wachstum steigern und seine Fähigkeit, auf eigenen
Füßen zu stehen, befördern.“ [25]
Die Dialektik einer Teilnahme am Welthandel vom
Standpunkt des nationalen Mangels aus lehrt die Öffnungspolitiker aber, daß es gar nicht einfach Technik
und Kenntnisse sind, die ihnen fehlen, sondern Geld,
das diese „Ressourcen“ zugänglich macht:
„Der Sinn des Exports ist der Import von Gütern und
Materialien für den inländischen Bedarf. In der Vergangenheit lag daher das Gewicht auf dem Konzept:
Exportieren, um zu importieren, oder verkaufen, um
zu kaufen. Das heißt, wir konnten nur im Rahmen
unserer Fähigkeit zum Export importieren und die
Importe nur auf Grundlage wachsender Exporte steigern. Das aber genügt nicht; wir müssen unsere Aufmerksamkeit ebenso der anderen Seite der Frage zuwenden, d.h.: Importieren, um zu exportieren.“ [26]
Ihnen reicht die sehr beschränkte Fähigkeit zum internationalen Kaufen nicht, die ihnen der Export von
heimischen Erzeugnissen verschafft, die sie zustandebringen und der inländischen Verwendung entziehen.
Ihr Einkaufsbedarf ist größer als ihre Fähigkeit dazu;
deshalb müssen sie noch viel mehr einkaufen, nämlich
die Produktionsmittel für eine Exportproduktion. Nur
womit? Den Reichtum, mit dem man sich das alles
beschaffen kann, hat das Land nicht. Es kann Kapital
von anderen Nationen leihen, muß dafür aber einen
dauerhaften Abfluß von Reichtum durch den Schuldendienst akzeptieren. Das hat China einst als Verlust
der Souveränität und Einstieg in kapitalistische Abhängigkeit abgelehnt, und scheinbar ganz in dieser
Tradition ist den Neuerern ein anderes Mittel eingefallen, das die problematische Verschuldung in Grenzen
halten und dennoch den Zugang zu den auswärtigen
Wachstumspotenzen eröffnen soll:
„China ist ein sozialistisches Land, das die Mittel für
sein Modernisierungsprogramm im wesentlichen
selbst aufbringen muß. Im Verhältnis zu seinen natürlichen und menschlichen Ressourcen ist seine Ausstattung mit Kapital aber unzureichend und stellt ein
dauerhaftes Problem dar. Ein rationaler Gebrauch
von ausländischem Kapital ist deshalb von großer
Bedeutung für unser Land.“ [27]
Die Not, einen für nötig befundenen Warenimport
nicht bezahlen zu können, wollen sie mit Kapitalimport begegnen, also dadurch, daß ausländisches Geld
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ins Land geht und nationale Ressourcen nutzt. Das
stellt sich ihnen wie eine einzige Ersparung an nationalen Kosten und wie ein Stück quasi kostenloser
Aufbau einer eigenen weltmarktfähigen Wirtschaft
durch befähigtere Agenten dar, die im eigenen Interesse Chinas vorhandene Produktionspotenzen nutzen
und entwickeln:
„Wir sollten uns bemühen, den Anteil ausländischer
Direktinvestitionen zu erhöhen. Solche Investitionen
können auf sehr flexible Art und auf verschiedenen
Wegen vorgenommen werden, indem Chinesen und
ausländische Partner Unternehmen gemeinsam gründen und betreiben. Diese Art der Zusammenarbeit hat
viele Vorteile: Der Erfolg der Gründung liegt direkt
im Interesse des Investors; Risiken werden von beiden
Parteien getragen; in der Aufbauphase müssen keine
Zinsen bezahlt werden; unsere Infrastruktur und unsere existierenden Produktionsanlagen können genutzt werden; ein Joint Venture fördert den Import
von fortgeschrittener Technologie und die technische
Umrüstung der Betriebe; es erleichtert das Erlernen
der betriebswirtschaftlichen Wissenschaft; und vergrößert die Konkurrenzfähigkeit von Produkten, die
dadurch instandgesetzt werden, den Weltmarkt zu
betreten.“ [28]
Es ist unerheblich, ob diese Form der „Nutzung ausländischen Kapitals“ für China eine weniger schwere
Last bedeutet als eine negative Handelsbilanz; denn
was sich wie eine Alternative ausnimmt, ist keine; und
was sich wie ein Weg präsentiert, die Exportfähigkeit
der Nation zu steigern – womöglich immer noch, um
dringend benötigte Importe bezahlen zu können –,
geht weit über diesen angegebenen Zweck hinaus.
Ginge es einfach darum, dann wäre das Opfer der
Nation für diese Steigerung der internationalen Kaufkraft noch größer als früher, wo im Inland benötigte
Produkte für den Export abgezweigt wurden, oder wie
in den realsozialistischen Staaten, wo ganze Industrien
von inländischen Planaufgaben ausgenommen wurden, um Exportprodukte herzustellen und damit die
planmäßigen Importe zu bezahlen. China hätte so
gesehen entscheidende nationale Produktionspotenzen
ihrer bisherigen nationalen Verfügung entzogen und
den anspruchsvollen Berechnungen internationaler
Standortvergleicher anheimgestellt.
Aber das China der Reformära rechnet eben längst
ganz anders. Es schielt nicht mehr auf partielle Benutzung des Weltmarkts, sondern will sich ganz prinzipiell in ihn einklinken, es will nicht einfach Ware und
Technologie importieren, sondern das kapitalistische
Produktionsverhältnis. China will das akkumulierte
Kapital importieren, das es nicht hat und nicht von
sich aus zustande bringt. Das würde in den Augen der
Reformer auch die Import-Export-Probleme und die
Frage des Defizits lösen; ein attraktiver Kapitalstandort hat da ihrer Meinung nach ganz andere Freiheiten. [29] Es kommt nur noch darauf an, daß die eingeladenen Auslandskapitalisten auch kommen und China den Dienst tun, das Land zum kapitalistischen
Standort zu entwickeln; daß sie seine Infrastruktur,
Produktionsstätten und seine Arbeitermassen zu ech-
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
ten Profitquellen umbauen und China die materielle
Basis einer Weltmacht verschaffen. Diese Einladung
aber hat es in sich, denn Kapitalisten pflegen keine
Entwicklungsaufgaben zu übernehmen: Sie nutzen
vorhandene Gewinnchancen und vorhandene Standortbedingungen, aber sie stellen diese nicht her. Das
verschweigen die chinesischen Erfolgsbilanzen zwar,
darauf haben sich die Reformer praktisch aber durchaus eingestellt.
Die Abtrennung der Sonderentwicklungszonen
vom Kernland – eine Antwort auf den Widerspruch, ausländische Kapitalisten zur Aufbauhilfe
zu verpflichten.
Das wissen die chinesischen Neuerer nämlich auch,
daß sie ausländischen Kapitalisten anders als dem
heimischen Menschenmaterial keine Vorschriften
machen können, sondern Angebote präsentieren müssen. Und sie können überhaupt nicht übersehen, daß
sie ihr Land damit einem Vergleich ausetzen, den die
ausländischen Kapitalisten zwischen einem weltweiten Standortangebot anstellen, das von den etablierten
Heimatländern des Weltkapitals, die sich ihrer Attraktivität sicher sind, weil sie schon jede Menge Geschäft
beherbergen, bis zu den Sonderangeboten jener DrittWelt-Länder reicht, die gleich auf jede nationale Teilhabe an dessen Erträgen, auf Besteuerung und auf die
Garantie der Wiederanlage der Gewinne im Land
verzichten, um Kapital anzulocken. Chinas Wirtschaftsplaner wollen die nötige Standortattraktivität
zustandebringen, obwohl China den Kapitalisten erst
einmal wenig von dem bieten kann, was diese gewohnt sind. Dieses Wenige organisieren sie in Reservaten: Um den Vergleich zu bestehen, haben sie ganze
Wirtschaftsregionen vom Rest des Landes abgetrennt
und so zugerichtet, daß die internationalen Geschäftsinteressen auf ihre Rechnung kommen können.
Es sind erst einmal – und blieben die 80er Jahre hindurch – vier Küstenprovinzen, die Chinas Reformer
zu „Sonderzonen“ erklärt und für die Aufgabe abgestellt haben, Auslandskapital zu attrahieren. Mit den
vier Küstenstädten stellen sie die entwickeltsten Gebiete des Landes der kapitalistischen Erschließung zur
Verfügung, also das Beste, was an „Industrielandschaft“ und Infrastruktur in sozialistischer Zeit zustandegekommen ist. In diesen Sonderzonen garantieren sie, soweit es in ihrer Macht steht, im Gegensatz
zu den Verhältnissen im übrigen China, einschlägige
Geschäftsbedingungen. Das Land versorgt die kapitalistischen Inseln weiterhin mit den Leistungen der
verschmähten Planwirtschaft – zu Preisen der Planwirtschaft. Ehe die ausländischen Geschäftsleute zugreifen, entwickelt der chinesische Staat Industriezonen, Hafenanlagen, Telephon-, Verkehrsnetze und
Flughäfen auf eigene Rechnung. Mit gesetzlichen
Auflagen und mit Unkosten aber hält er sich gegenüber den eingeladenen Kapitalisten zurück. Sie bekommen hingestellt, was sie brauchen, beim Steuerzahlen werden sie übergangen bzw. stark privilegiert;
bei ihnen verzichtet der Staat auf sein Außenhandelsmonopol und lockert seine Devisenbewirtschaftung.
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Die ganze Nation muß mit Steuern und Gewinnablieferung die Mittel für die Entwicklung der Sonderzonen aufbringen, wird also in ihrer eigenen Leistungsfähigkeit entsprechend belastet und ihrerseits bei der
Zuweisung von Mitteln benachteiligt. [30] Den Wirtschaftspolitikern ist für die Entwicklung ihrer kapitalistischen Inseln nichts zu teuer oder zu schade. Was
sie an Vorleistungen für das Weltkapital da reinstecken, ist gut investiert. Und wo sie es abzwacken, da
ist es für Fortschritt und Zukunft der Nation ohnehin
unnütz; ihrem Urteil nach haben sie einen guten Gebrauch von diesen Leistungen gemacht, wenn sie sie –
und sei es per Besteuerung – nutzbar machen können
für die Attraktion von Kapital in den Sonderzonen.
Dann machen die hereingeholten Kapitalisten sogar
aus planwirtschaftlichem Stahl, handgemähtem Reis
und innerchinesischen Bastelarbeiten irgendwie echten Geldreichtum. In China trifft also kein Anleger
von Haus aus auf günstige Konkurrenzbedingungen
innerhalb eines nationalen Herrschaftsbereichs; er
bekommt sie vom chinesischen Staat durch gesonderte politische Anstrengungen geliefert – allerdings erst
einmal nur in den vom sonstigen Land getrennten
Sonderwirtschaftszonen.
Diese Trennung erfolgt einmal aus Vorsicht. Die Aufgabe, sich für die anspruchsvollen Auslandskapitalisten zurecht zu machen, soll schließlich nicht zu einem
„nationalen Ausverkauf“ führen, ein Problem, daß
sich den neuen Weltmarktsanwärtern notwendigerweise ganz anders stellt als den alten Kritikern des
Weltmarkts. Mit dem begrenzten räumlichen Umfang
und dem relativ zum großen China geringen Gewicht
des Experiments achtet die Wirtschaftspolitik darauf,
daß nicht von vornherein alle Berechnungen in Bezug
auf einen nationalen Nutzen des Projekts über den
Haufen geworfen werden und daß sie Herr über das
einheimische Wirtschaftsleben bleibt. [31] Dieses wird
von den Sonderzonen, die als Wirtschaftsausland galten, durch Grenzen und Grenzkontrollen abgeschottet.
Während im nur langsam von Reformen ergriffenen
Hinterland die Planwirtschaft erst einmal fortgesetzt
wird, dürfen in den Sonderzonen die Kapitalisten
schalten und walten, wie sie wollen; alles Regieren
wird in den Dienst an ihnen gestellt. Auf der anderen
Seite waren Importe aus den Sonderzonen ins chinesische Hinterland anfangs streng verboten bzw. nur in
Sonderfällen erlaubt, in denen es sich um vom Plan
gebrauchte Mangelwaren handelt. Betriebe und Konsumenten sollten die knappen Devisen, die China
verdient, nicht unkontrolliert in den nationalen Weltmarktsinseln verausgaben. [32] Den hereingeholten
Geschäftsleuten mußte Konkurrenz auf einem innerchinesischen Markt im ersten Jahrzehnt der Öffnungspolitik nicht groß verboten werden. Den gab es
nicht, die Investitionen des Auslandskapitals zielten
ohnehin auf eine Produktion für den Weltmarkt, wo es
Geld zu verdienen gab.
Ein Hauptargument in der Standortkonkurrenz:
Extrem billige Arbeit!
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
Die chinesischen Reformer gewinnen durch die Trennung zweitens dem Nachteil, noch gar kein Standort
von Kapital zu sein, für ihre Sonderzonen einen ganz
eigenen Vorteil ab. Die Trennung der kapitalistischen
Inseln vom Hinterland ist Grundlage für ein Sonderangebot in Sachen kapitalistischer Kostpreis: China
bietet den Kapitalisten der Welt Arbeiter an, deren
Monatslohn zwischen 2 und 5 Hundertsteln des deutschen liegt. In dem Maß, in dem die moderne Fabrikarbeit auf stupide Handgriffe reduziert ist, die jedermann ohne Ausbildung verrichten kann, hat sich das
Kapital vom Bildungsstand und der industriellen Tradition der Arbeiter freigemacht. Durch diesen „Fortschritt der Produktivkräfte“ werden Angebote wie das
einer extrem billigen chinesischen Arbeitskraft interessant, die an den modernen Automaten – so objektiv
ist der Produktionsprozeß geworden – nicht schlechter
funktioniert als die deutsche oder türkische. Darauf
rechnen die Herren über die „blauen Ameisen“, denen
sie die alte Rolle einer, ja der nationalen Produktivkraft nicht mehr zubilligen. [33]
Der Tageslohn von knapp 5 Mark ist dabei seiner
ökonomischen Qualität nach kein Hungerlohn wie in
vielen anderen Ländern der Dritten Welt; denn die
Arbeitskräfte, die mit ihrer Arbeit Teil des Weltmarkts sind, bleiben mit ihrem Leben noch eine Zeitlang Teil des sozialistischen Versorgungsstaates –
sowohl ihren subjektiven Konsumansprüchen wie
auch den objektiven Lebenshaltungskosten nach. Der
Lohn, der in Kanton oder Shenzhen in den Joint Ventures bezogen wird, geht ein in die Kosten der Weltmarktunternehmen, er muß aber selbst keine Preise
bezahlen, die einen kapitalistischen Kostpreis samt
Gewinn enthalten. Er muß seinem Empfänger nur die
Leistungen der „unproduktiven“ Kommandowirtschaft mit ihren Planpreisen zugänglich machen. Die
Häuser, in denen die Arbeiter wohnen, die Lebensmittel, die sie konsumieren, die sozialen und medizinischen Dienste, die sie in Anspruch nehmen, sind immer noch Versorgungsleistungen der sozialistischen
Wirtschaft, die bezahlbare Niedrigpreise haben sollten. Um ausländische Kapitalisten anzulocken,
schenkt ihnen China also arbeitskrafterhaltende Reproduktionsleistungen seiner Kommandowirtschaft,
die es abschaffen möchte. Gemessen an den Kosten
für Wohnen und Essen und verglichen mit den darauf
berechneten Löhnen in der Staatswirtschaft, vor allem
im Hinterland, [34] erscheinen die Beschäftigten der
Joint Ventures sogar noch als gut bezahlt und privilegiert. Millionen entwurzelter Landbewohner wandern
in die Provinzen an der Südküste und stellen sich für
solche Jobs an.
Damit die Multis zugreifen, bietet China die Arbeit
nicht nur nahezu zum Nulltarif; es sorgt auch dafür,
daß die ins Land gebetenen Herren Arbeitgeber die
eingekaufte Ware exzessiv nutzen können. Alle Versorgungsleistungen, die von den sozialistischen
Staatsbetrieben noch irgendwie verlangt werden, werden dem freien Kapital erlassen; Gesundheitsdienst,
Kinderkrippen, Kaufläden, mit denen die Planwirtschaftsbetriebe ihren Belegschaften das Leben erleich-
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tern, kommen nicht in Frage. Sozialistische Arbeitsplatzgarantien schon gleich nicht, ebensowenig aber
auch die im Kapitalismus üblichen vertraglichen Umstände des Heuerns und Feuerns, die man „Interessensausgleich“ nennt. Im Interesse der Konkurrenzfähigkeit des Standorts wird so ziemlich auf alle Formen
behördlicher Aufsicht, auf Arbeitszeitregelung, Gesundheits- und Arbeitsschutz verzichtet; [35] Gewerkschaften sind im „sozialistischen China“, wo es das
nicht braucht, sowieso verboten. Die am „Kapital“
von Marx geschulten Wirtschaftspolitiker wissen
schon, wie man einen Manchesterkapitalismus aufzieht. Es wird eben einiges getan, um sich in der Konkurrenz der Billiglohnländer zu behaupten.
Die Reformer sind zufrieden mit ihren Leistungen:
„Die Wirtschaftssonderzonen befinden sich in der
vordersten Reihe der Öffnung Chinas nach außen, sie
stellen einen besonderen Kanal des Landes zur Aufnahme und Nutzung ausländischen Kapitals, zur Einführung von modernen Technologien und zum internationalen Markt dar und zählen zu den umfassenden
Versuchsfeldern der chinesischen Reform.“ [36]
So bilanzieren sie den Erfolg ihrer Politik der wirtschaftlichen Sonderzonen. Von Sorgen über einen
„nationalen Ausverkauf“ ist nichts zu spüren, um so
mehr vom Stolz, daß die internationale Geschäftswelt
die Einladung wahrgenommen hat, die China ihr präsentiert. Die auswärtigen Kapitalisten können auf
chinesischem Boden Profit machen, von ihm aus und
für China Devisen verdienen, sie machen aus chinesischen Menschen und Produktionsmitteln Kapital –
und das nicht nur für sich selbst, sondern zur Hälfte
stets auch für den Staat, der diese Bedingungen in die
Gemeinschaftsunternehmen einbringt und dadurch
selbst Kapitalist wird. Was immer die chinesische
Seite an Gebäuden und Anlagen einbringt [37] in die
Joint Ventures, durch politische Definition ist es die
halbe Investitionssumme.
Das ganze Land zur Sonderentwicklungszone machen – überall Auslandsinvestitionen forcieren!
Die Trennung der Sonderzonen, die 1992 um zwei
weitere und 14 „offene Städte“ an der Küste vermehrt
werden, vom chinesischen Riesenreich hat neben den
genannten Gründen noch einen weiteren: Für mehr als
diese Fälle kann China trotz all seinem Besteuern,
Abzwacken und Abzweigen von „Surplus“ die Investitionsmittel zur Herstellung der Standortqualitäten
nicht aufbringen, die es braucht, um internationales
Kapital anzulocken. Das riesige China kann den nötigen Ausbau von Infrastruktur, Verkehr, Energieversorgung und Grundstoffindustrien nur in ganz wenigen, ausgesuchten Bezirken leisten. [38]
Die Entwicklung, die in den paar Sonderzonen voranstürmt, hat deshalb den Haken, daß sie im Maßstab
des chinesischen Riesenreiches peripher bleibt. Sie
vergrößert eher das „Entwicklungsgefälle“ zwischen
Küste und Hinterland – durch das, was sie das Land
kosten, und durch das, was bei ihnen wächst –, als daß
automatisch und in großem Maßstab der „trickle
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
down“-Effekt eintreten würde, auf den das Programm
der Sonderzonen gesetzt hat:
„Außerdem hätten die zahlreichen Investitionen ausländischen Kapitals in den Küstengebieten den Abstand zwischen diesen und dem Landesinneren vergrößert.“ „Dong sagte, die Gebiete im Landesinneren
würden in den kommenden Jahren noch mehr Naturressourcen für ausländisches Kapital öffnen, um diesen Abstand zu den Küstengebieten zu verkleinern.“ [39]
Der Import von Akkumulation ist der Königsweg, so
sehen es die Reformer, wie das auf dem Weltmarkt zu
spät gekommene Land seine ursprüngliche Akkumulation abkürzt. Man müßte es nur viel mehr und überall im Land so machen können. Aber das wunderbare
Konzept läßt sich nicht so leicht verallgemeinern. Die
Zentrale kann die Investitionsmittel nicht aufbringen,
die für die infrastrukturellen Vorleistungen nötig wären, um dem Auslandskapital das Bett zu machen. [40]
Sie kann andererseits das potente, Weltmarktgewinne
machende Kapital in den Sonderzonen nicht mit den
staatlichen faux frais für die Herstellung oder gar die
landesweite Ausdehnung ihrer Geschäftsbedingungen
belasten; die zum Jahreswechsel 1994 angekündigte
steuerliche Gleichstellung von einheimischen und
ausländischen Firmen bzw. Joint Ventures hat zu einem Sturm der Entrüstung bei den Ausländern – und
daraufhin zu einem Rückzieher der Regierung geführt. [41]
Die Regierung weiß Abhilfe. Angesichts der Erfolge
der Sonderzonen, erscheint ihr der Standpunkt der
Vorsicht weitgehend überflüssig. Sie hat beschlossen,
mehr von ihrem Land, mehr von ihren Ressourcen
und mehr von ihren Entwickungsvorhaben dem internationalen Kapital als Standortangebot zu überantworten. Sie erlaubt die Prospektion von Bodenschätzen –
eine Art der „Zusammenarbeit“, die sie früher für
koloniale Ausbeutung gehalten hätte – und überläßt,
da sie die Mittel dafür selbst nicht aufbringt, ausländischen Konsortien sogar die Erstellung der Infrastruktur – sonst eine gehütete Staatsaufgabe, deren Erfüllung darüber entscheidet, was ein Standort wert ist.
Die Regierung läßt sich jetzt Autobahnen, Eisenbahnlinien und Flughäfen hinstellen und „bezahlt“ die
Ausländer dafür mit dem Recht, diese Anlagen 15
Jahre lang geschäftlich zu nutzen. [42]
Das Interesse der Multis an derlei Angeboten dient
den Reformern als Beweis, wie richtig sie mit ihrer
weiteren Öffnung liegen. Die internationalen Anleger
haben nämlich zugegriffen und beglaubigen damit in
den Augen der chinesischen Wachstumsstrategen, daß
sich kapitalistisches „Know how“ auch für Infrastrukturprojekte nützlich machen läßt, und das sogar ohne
zusätzliche staatliche Verschuldung. Allerdings verlangen diese Geschäfte dem Staat schon wieder einige
Leistungen ab. Wenn sich die Multis auf eine solche
Form der Bezahlung einlassen, dann setzen sie darauf,
daß von den Anlagen, die sie hinstellen, ein reger
Gebrauch gemacht wird durch Leute, die bezahlen
können – und das mit einem ordentlichen Geld, das
sich von multinationalen Konzernen zu verdienen
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lohnt. Der chinesische Staat muß die Austauschbarkeit
garantieren und den Ausländern die Vorteile der Konvertibilität bieten, auch wenn er das mit seinem Nationalkredit eigentlich gar nicht kann. Den internationalen Großkonzernen eröffnet er damit die Spekulation
auf einen „riesigen chinesischen Zukunftsmarkt“, sich
selbst eine wachsende Abhängigkeit von deren Investitionsentscheidungen . Auch da verbuchen die chinesischen Entwicklungsfanatiker aber vorläufig lauter
Erfolge. Die internationalen Geschäftssubjekte und
ihre politischen Betreuer setzen auf China. Gleichgültig, ob die Kaufkraft im Land schon das hergibt, was
sich die investierenden Kapitalisten davon versprechen, oder ob sie auf eine noch gar nicht gewisse Zukunft spekulieren, China hat sie und ihre Kreditgeber
jedenfalls von der Perspektive des „riesigen chinesischen Marktes“ überzeugt – und das ist ein gewaltiger
Unterschied zu der Zeit, als die Öffnung nur Entwicklungsinseln erfaßte, in denen Exportprodukte gefertigt
und Devisen verdient werden sollten, da es im noch
sozialistischen China nichts zu verdienen gab. Diesen
Fortschritt haben nicht allein und nicht einmal vornehmlich die Sonderwirtschaftszonen bewirkt, sondern die Entschlossenheit der Parteiführung, das ganze Land dem Geld zu unterwerfen und auch die Errungenschaften der „sozialistischen industriellen Akkumulation“ in den Dienst einer ursprünglichen Akkumulation des Kapitals zu stellen.
Profit, Kredit, Staatsschuld – Der Kampf um die
Umwidmung der vorhandenen Industrie
Die Partei attestiert inzwischen dem Land, als Anlageplatz von Kapital geeignet zu sein, und verpflichtet
im Prinzip die ganze Gesellschaft darauf, sich
„marktwirtschaftlicher“ Methoden zu bedienen. Freilich trägt sie dabei dem Umstand Rechnung, daß die
Verordnung des neuen Wirtschaftszwecks ein Zerstörungswerk gegen das alte Funktionieren ist, und
kümmert sich deshalb darum, die Funktionsfähigkeit
der überkommenen nationalen Industrie nicht zu ruinieren.
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
Kapitalismus – wie er im Buche steht
Die Unternehmensreform
Der Staat will die Industrie nicht mehr als sein Projekt
betreiben, er will ihre Versorgung mit Investitionsmitteln sowie Materialien und die Versorgung der Belegschaften mit Lebensmitteln nicht mehr organisieren,
sondern eine von ihm getrennte Wirtschaft schaffen,
die sich selbst um Kosten und Erträge kümmert, damit
die Zentrale sich als Steuerstaat leichter und vermehrt
daran bedienen kann. Dafür trennt er die Wirtschaftseinheiten von sich ab und führt den Standpunkt des
Privatreichtums sowie die nötigen Verfügungsrechte
über die Produktionsmittel ein, um ihn zu betätigen.
Die erste Tat der Reform besteht in der Ersetzung des
ganzen Systems von Kennziffern, an denen bis dahin
die Planerfüllung der Betriebe gemessen und nach
denen die Prämien verteilt wurden, durch die eine
entscheidende „Kennziffer“ Gewinn. Diese „Kennziffer“ ist keine bloße neue Abrechnungsmethode zwischen dem Staat und seinen Betrieben, sondern wird
zum Eigeninteresse der verselbständigten Einheiten
gemacht, damit sie ihren neuen Auftrag von sich aus
erfüllen: Gewinne werden nicht mehr abgeliefert,
sondern besteuert; die Amortisationsfonds werden
nicht mehr zentral verwaltet, sondern bilden das Kapital des Betriebs, mit dem er wirtschaften und seine
Ertragslage verbessern soll. Die sozialistischen Betriebsleiter werden zu Gewinnbeauftragten des Staates. Sie bekommen dafür mehr Rechte gegenüber Partei und Belegschaft, dürfen ein Vielfaches des Normallohns verdienen und über die Verwendung des im
Betrieb verbliebenen Gewinns entscheiden. Weil es
keine herrschende Klasse gibt, die sich als der natürliche Auftragnehmer für das neue Programm anböte,
ernennt der Staat als Eigentümer der im Sozialismus
aufgebauten Industrie ihre Betriebsleiter halb zu Managern in seinen Diensten, halb zu Pächtern, die mit
dem Amt – und solange sie es haben – das Recht erwerben, sich durch die Gewinne ihrer Firmen zu Kapitalisten zu mausern. Daneben sollen und dürfen
neue Unternehmen gegründet werden; zuerst nur von
den existierenden Wirtschaftseinheiten und staatlichen
Behörden, dann zunehmend von jedermann, der die
Investitionsmittel aufbringt.
Dafür wird der Umgang mit der Arbeit „liberalisiert“:
Anfangs dürfen wiederum nur Gründungen der
Staatsbetriebe Arbeiter zu den üblichen Bedingungen
einstellen; „freiwirtschaftende Personen“ dürfen 1, 2,
später 14 Helfer und Lehrlinge haben, bis Lohnarbeit
allmählich normal wird. Seitdem sind die Garantien
der „eisernen Reisschüssel“ – lebenslange Beschäftigung, Zugang zu sozialer und medizinischen Versorgung durch den Betrieb – ein Auslaufmodell, das zuerst in den freien Betrieben, später überall abgeschafft
wird. Der Arbeiter wird frei verfügbar: Er wird bezahlt, wenn sein Einsatz Gewinn verspricht, und gekündigt, wenn nicht. Das Ideal einer zum freien Arbeitsmarkt gehörigen staatlichen Arbeitslosen- und
Krankenversicherung wird auf unabsehbare Zeit Ideal
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bleiben – weder der bezahlte Lohn noch die Staatseinkünfte vertragen die Belastung durch den neuartigen Pauperismus des Kapitals. Wollte man die Paupers ernähren, hätte man sie ja gar nicht erst zu schaffen brauchen. Die Produktivität der neuen Wirtschaftsweise und ihr Unterschied zu den früheren
bescheidenen nationalen Wirtschaftsfortschritten besteht in nichts anderem als in der Trennung der Armut
der benutzten und unbenutzten Volksteile vom Reichtum, der sich anderswo sammelt: Die Wirtschaft befreit sich von der Ernährung der Massen; Arbeit, die
nur den Lebensunterhalt des Arbeiters erwirtschaftet,
wird nicht mehr zugelassen; bezahlt wird nur die Arbeit, die für Wirtschaft und Nation mehr abwirft, als
sie kostet; Überschuß wird zur Bedingung der Arbeit,
die das Lebensnotwendige schafft. Mit durchschlagender Wirkung: Statt daß die Industrie die freigesetzte Landbevölkerung aufsaugt, produziert sie selber
massenhaft Mitglieder der Reservearmee. Bis zum
Jahr 2000 erwarten die Planer für China 300 Millionen Arbeitslose, doppelt so viele wie jetzt und knapp
die Hälfte ihrer arbeitsfähigen Bevölkerung. Das ist
der Unterschied zu Maos ärmlichen Volkskommunen.
Das Kreditwesen
Die Reformer wußten schnell, oder haben es sich von
den real existierenden Vorbildern abgeschaut, daß
eine vom Staat abgetrennte Profitmacherei, die ihre
Investitionsmittel selbst aufbringen muß, Kredit
braucht. Damit die nationale Akkumulation überhaupt
richtig in Gang kommt, dürfen das Eröffnen von neuen Geschäften und das Investieren nicht davon abhängig sein, wieviel Geld der aussichtsreiche Geschäftsmann schon verdient und angesammelt hat. Nicht das
vorhandene Vermögen darf entscheiden, ob ein Geschäft zustande kommt, vielmehr soll sich an den
Gewinnchancen entscheiden, ob Geld dafür vorhanden ist. Das war gewissermaßen der Mangel der sozialistischen Wirtschaft und der Grund ihrer zu langsamen Akkumulation, daß sie ihre Fortschritte immer
nur aus den zusätzlichen Produktionsmitteln gewinnen
konnte, die sie vorher selbst hervorgebracht hatte. Nur
der kapitalistische Schwindel, die „Finanzierung“ von
Geschäften und die Beschaffung der Produktionsmittel durch spekulative Vorwegnahme der Gewinne,
garantiert das solide kapitalistische Wachstum. Ganz
besonders in China, wo ein privates Investieren anheben soll, ohne daß es schon die Vermögen gibt, die
sich anlegen könnten. Nicht nur die verselbständigte
Staatsindustrie, sondern jeder kleine Betreiber einer
Garküche oder eines Taxis muß erst mit dem Stoff
ausgestattet werden, von dem alle Geschäfte ausgehen
und zu dem sie zurückkehren.
Der Staat schafft dafür ein privat kalkulierendes Kreditwesen, indem er seine alte Kasse, die „People’s
Bank of China“, auflöst, der in der Planwirtschaft die
zentrale Verfügung und Verteilung aller erwirtschafteten Ressourcen oblag. Unter ihrem Namen gründet er
eine neue Zentralbank, der er eine ganze Welt von
Geschäftsbanken gegenüberstellt. Die erste Tat der
Zentralbank besteht darin, den neuen Geschäftsban-
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
ken ein Gutteil ihrer eingesammelten Spareinlangen
zu überschreiben, damit diese ein Vermögen haben,
mit dem sie rechnen können. Ihr selbst wird die Aufgabe der direkten Kreditierung von Unternehmen
entzogen, sie vergibt Kredite nur noch an Banken und
betreibt „makroökonomische Steuerung“ mit Zinsrate,
Mindestreserven und Geldmengenpolitik. Die Geschäftsbanken sollen mit ihrem Kapital wuchern, Kredit schöpfen und damit den Geldbedarf der Betriebe
befriedigen. Daraus dürfen sie ihrerseits eine Gewinnquelle machen und sich per Zins an dem von ihnen
„finanzierten“ Wachstum bereichern.
Die Staatsschuld
Der vom Staat in die Welt gesetzte geschäftsmäßige
Kredit soll ihm – abgesehen vom Stiften des fehlenden Kapitals – noch einen weiteren, nicht weniger
wichtigen Dienst leisten: die Befriedigung seines eigenen Finanzbedarfs. Der Staat gibt jetzt nicht mehr
„Kredit“ – das war ein realsozialistischer Name für
Mittelzuweisungen an Betriebe –, sondern nimmt ihn.
Er ergänzt den beschränkten Standpunkt des Steuerstaats, der sich per Abgaben an der von ihm getrennten Wirtschaft bedient, durch den des Schuldenstaats. [43] So entgrenzt auch er seine ökonomische
Handlungsfreiheit, d.h. er befreit sie von der Schranke
schon eingenommener Steuern und bezahlt seine Einkäufe mit Schulden, die er aufschreibt und verzinst.
Damit bringt er das Kreditschöpfen und GewinneVorwegnehmen, mit dem in seiner Gesellschaft Kapital geschaffen werden soll, erst recht in Schwung.
Die Aktien- und Rentenbörse
Zu Beginn der neunziger Jahre entdecken die Reformpolitiker schließlich die Vorzüge der letzten spekulativen Errungenschaften des Kapitalismus, die die
erste Reformgeneration noch zu dessen üblen Seiten
gezählt und für China abgelehnt hatte. Anders als die
Russen machen sie eines der „ambitioniertesten Privatisierungsprogramme der Welt“ zum Schlußstein ihrer
Reformen und nicht zu deren Anfang. Damit korrigieren sie ihren alten Vorbehalt und geben den Verdacht
auf, das Privateigentum würde sich Gemeinschaftsaufgaben entziehen und nur das nationale Leben zum
Privatvorteil ausbeuten. Sie tun dies, weil in der Zwischenzeit von manchen Bürgern ordentlich Geld verdient und Vermögen gebildet worden ist. Das wollen
die Reformer in den Dienst am nationalen Wachstumsprogramm stellen, indem sie es einsammeln und
zu Kapital machen. Mit der Einrichtung von Börsen
sowohl für Aktien wie für Staatsschuldtitel erheben
sie die private Spekulation auf zukünftige Erträge zu
der Finanzquelle für Staat und Betriebe. Sie erlauben
eine Konkurrenz um diese Anrechtstitel auf Zins und
Dividende, erlauben ihre Auf- und Abwertung im
Handel und befreien damit Staat wie Unternehmen
von dem Beweis ihres Werts. Zum richtigen Kurs
gekauft und verkauft, lohnen sie sich für die Sieger
dieser Konkurrenz auf jeden Fall.
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Die Verteidigung der nationalen Gebrauchswerte
gegen die „Gesetze des Marktes“
Damit ist eigentlich alles beisammen, was zu einem
ordentlichen Kapitalismus gehört. Der Parteibefehl
zur Errichtung der ökonomischen Institutionen, die
die Reformer vom Vorbild systematisch kopiert haben, trifft in China aber auf eine Gesellschaft, die
anders funktioniert, der also das neue Prinzip erst
aufgezwungen werden muß. Die Freisetzung der diversen Profitgeier eröffnet lauter Gegensätze zum
alten Funktionieren und zum neuen Auftrag. Den Auftrag, die Betriebe sollten auf eigene Kosten wirtschaften, ergänzt die Partei daher um einen Kampf um
Kontrolle, damit das wunderbare Prinzip der „Selbststeuerung durch den Markt“ auch dahin steuert, wo sie
es will.
Das Kommando, bzw. die Erlaubnis an die Industrie,
von nun an Gewinne zu machen und sie wieder zu
investieren, führt unter den gegebenen Bedingungen
der Plan- und Mangelwirtschaft, die ihrem Veranstalter immer zu wenig Überschuß geliefert hat, keineswegs zur gewünschten Beschleunigung eines allseitigen Wachstums, sondern zu Wucher. Der Befehl zur
Plusmacherei wird unter Ausnutzung der eingerichteten Abhängigkeiten durch Preiserhöhungen verwirklicht; die Betriebe müssen gar keinen über das bisherige Produkt hinausgehenden Überschuß produzieren,
sie stellen ihn ihren Kunden einfach in Rechnung. Die
Bereicherung an einer Stelle, die so zustande kommt,
beruht auf dem Ruin an anderer. Das widerspricht
nicht grundsätzlich dem Sinn der Reform: Wie anders
als durch Wucher sollte in einer Mangelsituation die
geforderte Geldakkumulation gelingen? Die Partei
aber, die den gesamtnationalen Fortschritt im Auge
hat, muß entscheiden, welchen Wucher sie haben will
und welchen nicht. Wenn Käufer sich Produkte, die
sie brauchen, nicht mehr zugänglich machen können,
dann reagiert die Partei – aber differenziert: Kann die
Bevölkerung manche gewohnten Lebensmittel nicht
mehr bezahlen, dann muß sie sich eben einschränken
und der Zukunft des Landes Opfer bringen; wenn aber
Industriebetriebe unter dem Regime der Preistreiberei
die nötigen Vorprodukte, Maschinen und Ersatzteile
nicht mehr beschaffen können, dann sieht die Reaktion anders aus. Es bringt die Nation und ihre Geldquellen nämlich nicht voran, wenn die Akkumulation des
einen Betriebs nur dadurch gelingt, daß die anderer
verunmöglicht wird. Die Reformer überlassen daher
die Entscheidung, welche und wieviel Industrie es in
China geben soll, nicht dem Schacher mit den notwendigen Produktionsbedingungen. Sie warten die
ruinösen Wirkungen der Preisfreigabe gar nicht erst
ab, sondern setzen vorweg politisch fest, wie sich die
Profitmacherei zur unverzichtbaren Reproduktionsfähigkeit der nationalen Industrie ins Verhältnis zu setzen hat. Sie trennen den Bereich, in dem die Betriebe
trotz des Gewinnauftrags ihre arbeitsteiligen Leistungen erbringen sollen, von einem Überplanbereich, in
dem sie ohne Rücksicht darauf Geld machen dürfen.
Wie bei den Bauern führen die Reformer ein „vertragsgebundenes Verantwortungssystem“ ein: Der
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
Betrieb übernimmt eine Produktionspflicht und bekommt dafür die staatliche Abnahme seines Produkts
zu festen Preisen sowie die planmäßige Versorgung
mit Produktionsmitteln und Rohstoffen zugesichert.
Soweit seine Produktion das mit dem Staat vereinbarte Quantum übersteigt, darf er es zu freien Preisen
losschlagen, muß allerdings die dafür nötigen Rohstoffe auch zu freien Preisen kaufen. Nach demselben
Gesichtspunkt führen sie eine zweite Trennung zwischen verschiedenen Abteilungen der nationalen Industrie ein: Die kleineren, national weniger wichtigen
Konsumgüterproduzenten dürfen unbeschränkt hinterm Geld her sein – was die Nation am wenigsten
braucht und was am leichtesten verzichtbar ist, eignet
sich von Anfang an am besten für den neuen Produktionsauftrag. Die große, national entscheidende Industrie dagegen, zu der vor allem die Grundstoff- und
Stahlindustrie, die Energieversorgung und die Infrastrukturbetriebe zählen, bleibt mehr oder weniger in
Planpflichten eingebunden und wird mit Vorprodukten versorgt. Die Sicherung der reproduktiven Leistungen der Wirtschaft verlangt den bedingten Verzicht
auf freie Preise und unbedingtes Gewinnemachen. So
kommt dann Geldakkumulation zustande – bei denen,
denen die Planer das freie Zulangen beim Verkauf
erlauben, und auf Kosten derer, denen die gleiche
Erlaubnis verweigert wird. [44]
Mit der Einbindung der von der Größe her weit überwiegenden Staatsindustrie in geplante Pflichten und
Leistungen sichern die Reformer im Unterschied zu
den Liquidatoren des Ostblocks zwar die materielle
Funktionsfähigkeit der Wirtschaft. Dabei verzichten
sie aber keineswegs darauf, die Staatsbetriebe auch in
den weiterhin nach staatlichen Vorgaben arbeitenden
Bereichen unter den Imperativ „wirtschaftlicher Ergebnisse“ zu setzen. Wenn Staatsbetriebe aufgrund
dieses Auftrags ihre Produktionspalette umschichten,
die Herstellung von Waren mit Preisbindung, die sich
wenig lohnt, einschränken, andere „lohnende“ Produkte vermehren, [45] dann reagiert der Staat wieder
planend, aber ohne direktive Vorgaben. Er setzt das
Gewinninteresse des Betriebs als Hebel der Produktionslenkung ein. Er erhöht die Preise von Waren, die
er bekommen will, oder besteuert sie weniger als diejenigen, die bloß „der Markt nachfragt“. Betrieben,
deren Produktion er fördern will, gibt er leichter Kredite zu niedrigeren Zinsen als anderen. [46] Außerdem
handelt er statt prozentualer Steuern mit jedem einzelnen Betrieb für einen Zeitraum einen fixen Abgabebetrag aus, der sich danach richtet, ob der Betrieb mehr
vorangebracht oder mehr als staatliche Melkkuh behandelt werden soll. So wird bei Teilen der Staatsindustrie eine eigene Akkumulation politisch in Gang
setzt.
Freilich nur bei Teilen. Denn auf der anderen Seite
sind den Abteilungen der Wirtschaft, die der Staat in
Planpflichten hält, die Gelegenheiten zur Preistreiberei bewußt versagt; sie sollen die zur Gewinnerwirtschaftung berechtigten freien Betriebe billig mit Vorprodukten und Leistungen versorgen, damit bei denen
Gewinne zustande kommen. Soweit Staatsbetriebe
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aber wiederum auf Produkte der „Freien“ angewiesen
sind, müssen sie natürlich die hohen freien Preise
bezahlen. Die Hälfte der Staatsindustrie schreibt wegen der Reformen rote Zahlen. Daß die Staatsbetriebe
den nötigen Stahl, Strom etc. abliefern, wird ihnen
also nicht damit gedankt, daß das Rechnen unterbliebe. Ihre unverzichtbaren Betriebsleistungen werden
als Verlust verbucht, für den der staatliche Gesamtkapitalist vorläufig und bedauernd aufkommt. [47]
Die Verluste definieren den weiteren Reformbedarf.
Die Wirtschaftspolitik gibt sich keineswegs damit
zufrieden, daß sie an einer Stelle für Gewinne sorgt,
indem sie andere Industriebereiche in den Dienst der
Gewinnbringer stellt und mit deren Verlusten lebt.
Dies ist ein erster Schritt, der den zweiten verlangt,
den Umbau der Staatsindustrien zu ebensolchen Gewinnbringern. Zug um Zug werden nun auch hier die
sozialistischen Beschäftigungsgarantien abgeschafft
und die sozialen Nebenfunktionen, die zu den Kombinaten gehörten, aufgegeben. [48] Profitable Betriebe
dürfen im Prinzip mit den sozialen Unkosten ihres
Funktionierens nicht belastet werden, was die Wirtschaftspolitiker prompt vor die Frage stellt, welche
Rücksicht auf die „soziale Stabilität“ angesichts der
massenhaften Arbeitslosen sie dann doch für unverzichtbar halten...
Die gepriesene Kombination von Plan und Markt ist
also nichts anderes als das Hin und Her der Partei
zwischen ihren beiden Aufträgen an die Staatsindustrie, die sie beide zugleich und gegeneinander gelten
läßt. Dem Zwang zum Gewinn steht eine Rücksicht
auf ihre Versorgungsfunktionen gegenüber. Die Sicherstellung ihrer Funktionen verbucht Peking andererseits als wachsende Staatsschuld – für nur konservierende statt für investive Aufgaben. 1994 wurden
alle Reformschritte gestoppt, 1995 soll mit 100 großen Staatsbetrieben ein „Versuchsprogramm zur Einrichtung einer modernen Unternehmensstruktur“ gestartet werden, um sie – was sie dem Buchstaben nach
längst sind – „unabhängig von administrativen Einflüssen und verantwortlich für die eigenen Gewinne
und Verluste zu machen, damit sie mit der Entwicklung der Marktwirtschaft Schritt halten.“ [49]
Der Kampf gegen „Überhitzung“ oder: Wo liegt
das rechte Maß der fiktiven Akkumulation?
Die Reformpolitik hat den Standpunkt des Privatbankiers geschaffen und Staatsfunktionäre mit der Ausfüllung dieser Rolle betraut. Nun richtet sich die Geldund Kreditvermehrung nicht mehr nach politischen
Gesichtspunkten, sondern nach solchen des Gewinns.
Des erwarteten Gewinns, versteht sich! Man hat sich
die Spekulation auf zukünftige Gewinne zum entscheidenden Hebel des Wachstums gewählt – und mit
den Potenzen des Kredits sich auch dessen Risiken
eingehandelt.
Die Banken wuchern mit den ihnen zugewiesenen
Mitteln, sie entdecken schnell die Verschuldungstechniken, die aus beschränkten Einlagen eine unbeschränkte Kreditexpansion machen, und treten damit
einen Gründerboom los. Für jede Geschäftsidee gibt
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
es Geld, alles engagiert sich in Neugründungen:
Staatsbetriebe, die Gewinne in Nebenbetrieben anlegen und dort wegrationalisierte Betriebsangehörige
unterbringen, Behörden wie das Militär, Joint Ventures, aber auch entlassene Beschäftigte der Planwirtschaft, die „sich selbständig machen“. Wieviele Fehlversuche darunter sind, stellt sich erst später heraus,
und zwar durch die Tat der Bank, die bei Verlusten
entscheidet, ob es sich um Anfangsverluste handelt,
die durch weitere Investitionsmittel und Zahlungsaufschub überwunden werden, oder um Pleiten, die durch
Kreditentzug zu vollstrecken sind. Sobald die Kredite
vergeben sind, stehen die Banken zu ihrer Kundschaft
wie der Staat als ganzer zur Wirtschaft: Sie verteidigen ihr verliehenes Geld und ihre Zinseinkünfte mit
weiterer Kreditgewährung an ihre Kunden. Das gilt
schon gleich von Regionalbanken, die für ihre besondere Region, konkurrierend zu anderen Landesteilen,
genau den Entwicklungsstandpunkt einnehmen, den
der Staat sich vorbehalten wollte.
In einer gigantischen, zeitweise „galoppierenden Inflation“, zu der der Staat mit der Finanzierung der
Staatsunternehmen selbst nicht wenig beiträgt, bilanzieren die Wirtschaftslenker in Peking Erfolg und
Gefährdung ihres Projekts. Die Betriebe nehmen das
Geld nicht mehr als Abrechnungs- und Zirkulationsmittel, sondern haben kapiert, daß es beim Produzieren aufs Kassieren ankommt, und erhöhen nach Kräften die Preise. Soweit der Erfolg, den das rabiate
Wachstum der Geschäfte und die daraus folgende
Knappheit von Grundstoffen und Infrastrukturleistungen einerseits, der leicht zugängliche Kredit andererseits erlauben. Die Geldentwertung zeigt aber auch,
daß die Betriebe zwar ihr Einkommen, aber noch lange nicht im gleichen Maß den materiellen Reichtum
mehren. Der Zwang, den Markt mit Waren zu bedienen, um sich seiner Kaufkraft zu bedienen und Geld
zu verdienen, wird durch die ungebremste Kreditexpansion außer Kraft gesetzt. Der Kredit tut den Dienst
am Wachstum der nationalen Produktion gar nicht, für
den er freigesetzt worden ist, sondern ersetzt Wachstum. Und das nicht an dieser oder jener Stelle, sondern ziemlich grundsätzlich: Die Spekulation setzt
sich nicht auf ein vorhandenes Geschäftsleben drauf
und treibt es weiter, sie ist weitgehend Ausgangspunkt
und einzige Basis des Geschäfts. Das gefährdet nicht
nur das reale Wirtschaftswachstum, sondern auch die
Zuverlässigkeit des nationalen Geldes – den Inbegriff
des Reichtums und das Instrument staatlicher Finanzkraft. Im Immobilienboom wird der Geldwertverfall
selbst zur Profitquelle: Mittels Kredit werden Bürohochhäuser und Entwicklungsprojekte hochgezogen,
die nur unter der Bedingung lohnende Geschäfte sind,
daß die Preise für Immobilien im gewohnten Tempo
weiter steigen. [50] Daraus, daß die Geldzuwächse
kein zuverlässiger Ausdruck des gewachsenen Reichtums mehr sind, erwächst der Zweifel, daß die beeindruckenden Zahlen über das reale Wachstum Fälschungen sein könnten. [51]
Seit Jahren bekämpft die Pekinger Zentrale immer
wieder die von ihr ins Leben gerufene Kreditexpansi-
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on als Gefährdung eines stetigen produktiven Wachstums der Nationalökonomie – als „Überhitzung“ –
und versucht diverse Bremsmanöver. Dazu schafft
und verfeinert sie die „Instrumente der Makrosteuerung“, die sie sich von auswärts abschaut: Zentralbankzinsen, die Pflicht der Banken, Bareinlagen zu
beschaffen und einer Mindestreserve zuzuführen etc.
Sie muß jedoch feststellen, daß diese Zentralbankinstrumente eher unwirksam sind, weil sich die Geschäfts- und Regionalbanken mit ihren Techniken der
Kreditschöpfung den Vorgaben entziehen. [52] Die
Partei hat mit der Errichtung des Kreditwesens sich
gegenüber einen Interessenstandpunkt geschaffen und
mit der Macht über die Geldvermehrung ausgestattet,
der nun seine eigenen Entwicklungsprojekte und seinen Reichtum gegen die zentralen Kreditbeschränkungen verteidigt, die stets Saldierung, also die Aufgabe von Projekten bedeuten. Die Zentrale sieht sich
in ihrer Sorge um die Stabilität der Spekulation nicht
einfach ungeregelten Beziehungen zwischen Zentralbank und Geschäftsbanken gegenüber, sondern einem
mächtigen Interesse, gegen das sie um die Durchsetzung ihrer Kontrolle kämpfen muß. Sie greift, um den
national erwünschten Gebrauch der Freiheiten des
Kredits zu erzwingen, zu Verboten. Im Zuge ihrer
Bremsmanöver kriminalisiert sie genau die Finanztechniken, die sie vorher als wachstumsfördernd gelobt hatte. Den Kollektiv- und Staatsbetrieben verbieten die Wirtschaftspolitiker die Praxis des wechselseitigen Anschreibens von Forderungen und Lieferungen. Die „Dreiecksverschuldung“, die sich aus dem
Nichtausgleich der Bilanzen ergeben hat, hat das Kreditwachstum von den Banken unabhängig und
dadurch unkontrollierbar gemacht. Jetzt müssen die
Staatsbetriebe ihre Fehlbeträge in offizielle Kreditbeziehungen zu Banken verwandeln und bedienen. Die
Banken aber geraten selbst genauso außer Kontrolle:
Gegen sie ergeht daher ein
„landesweit publik gemachter Aufruf, den vier Arten
des Chaos ein Ende zu setzen: dem illegalen Aufbringen von Investitionskapital, der illegalen gegenseitigen Kreditgewährung der Banken untereinander, den
illegalen Hochzinskrediten und der Gründung illegaler Pseudofinanzinstitute. ... Keine Filiale der People’s Bank of China, ja überhaupt kein Finanzinstitut,
so Zhu, dürfe irgendwelche Kredite für Investitionsprojekte gewähren, die nicht ausdrücklich von der
Zentralregierung abgesegnet worden seien.“ [53]
In der Notlage greift die Wirtschaftspolitik auf die
Praxis zurück, die ihre Kreditreform gerade aufgegeben hat: die zentrale Genehmigung aller Investitionsvorhaben – nun aber nicht mehr zwecks Planung und
Verteilung der nationalen Produktion, sondern zur
Rettung des Kreditwesens.
Wenn dann die Zentrale entscheidet, wofür es im
Land Kredit geben soll, darf sie allerdings nicht allzu
konsequent auf Kreditbeschränkung und Stabilisierung des Geldwerts achten. Die Staatsindustrie muß
weiter Kredite bekommen, und auch die vielen neugegründeten Privatgeschäfte sind pleite, wenn sie ihre
Rentabilität aktuell beweisen müssen; schließlich
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
beruht das ganze Wachstum auf Kredit. Frühere
Bremsmanöver haben zu tiefen Einbrüchen und massenhaften Firmenschließungen geführt. So kommt es
zu einem Hin und Her von Kreditbeschränkung und
erneutem Gewährenlassen der spekulativen Aufblähung und zur unauflösbaren Suche nach dem rechten
Maß beider. [54] Das Ideal der „weichen Landung“
steht hoch im Kurs. [55]
Die Entstehung der Finanzkapitalisten über die
Börse
Zwangsanleihen und Rentenmarkt
Zur „Finanzierung“ seiner Aufgaben genehmigt sich
der Staat eine rasch wachsende Staatsschuld. Er will
das Geld für seinen Bedarf nicht einfach drucken und
der unkontrollierten Kreditexpansion der Banken noch
die freie Geldvermehrung durch den politischen GeldHüter hinzufügen, denn das würde sein Bemühen um
die Stabilisierung des Geldwerts schon gleich untergraben. Da der chinesische Staat keinen Kapitalmarkt
hat, auf dem er das Nötige „aufnehmen“ könnte, fingiert er ein korrektes Verhältnis von Leihkapital und
staatlicher Verschuldung bei seiner Gesellschaft. In
Wirklichkeit sammelt er zwangsweise bei seinen Bürgern Geld ein gegen zugewiesene, niedrig verzinste,
nicht handelbare Staatsschuldtitel – eine einigermaßen
brutale Form der „Plazierung“ der Staatsschulden. [56]
Mit Gewalt läßt sich das Manko überwinden, daß es
noch kein großes Finanzkapital gibt, das sein Geschäft
mit Staats- und anderen Schulden macht; daß andererseits das Geld der Regierung nicht so viel Vertrauen
bei den kleinen Sparern genießt, daß sie es gerne langfristig festlegen würden. Die Zwangsanleihe hat nur
einen Mangel: So ausgestattete und plazierte Staatspapiere verhindern schon gleich, daß Geldbesitzer ihr
Geld freiwillig verleihen. Sie bleibt also ein Notbehelf.
Nachdem die Wirtschaftspolitiker jahrelang zwangsweise Staatsbonds unters Volk gebracht haben, wechseln sie den Kurs, zahlen höhere Zinsen bei kürzeren
Laufzeiten auf neue Emissionen und legalisieren den
Handel mit den alten. Da die zum verlustbringenden
Zwangssparen verurteilten Lohnempfänger ihre Papiere unbedingt loswerden wollen, ergibt sich daraus
für die etwas größeren Geldbesitzer [57] eine prima
Geschäftsgelegenheit. Bewertet und zu entsprechend
niedrigen Kursen gehandelt, rentieren sich sogar diese
Schuldtitel und bewirken eine radikale Konzentration
der Geldvermögen. [58] Für diesen Effekt, die Schaffung großer Finanzkapitalisten, muß der Staat nicht
einmal höhere Zinsen anbieten, sondern nur eine Börse einrichten und den Handel mit diesen Papiere zulassen. Mit ihnen entsteht dann der Kapitalmarkt,
dessen sich der Staat bedienen will.
Privatisierung und Aktienbörse
Um für die Finanzierung und Modernisierung der
Staatsindustrie an das inzwischen angesammelte Geld
zu kommen, macht der Staat den Sparern der Nation
das Angebot, sie sollten ihm diese Industrie abkaufen
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– zu Teilen wenigstens, denn die Mehrheitsbeteiligung behält er sich zur Sicherstellung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen überall vor. Auf dieses Angebot,
dem Staat Geld zu geben, melden sich nicht zu wenige Bürger, sondern zu viele; offenbar gibt es nach 15
Jahren Geldverdienen nicht nur zuwenig große Geldbesitzer, sondern auch zuviel kleine. Kaum daß die
ersten Börsen erlaubt sind, setzt ein ungeheurer Run
auf sie ein. In regelrechten Volksaufständen und Massenschlägereien fordern Maos Enkel, Aktionäre werden zu dürfen – die bloße Eintrittskarte zur Börse wird
zum Gegenstand einer Spekulation [59] und überall im
Land entstehen illegale Handelsplätze. [60] Das Volk
ist noch nicht fertig in Reiche und Normalverbraucher
sortiert: Während deutsche Bürger ganz gut wissen,
daß sie mit ihren Sparbüchern höchstens bei der Sparkasse, keinesfalls aber an einer Börse antreten können,
will sich in China noch der letzte Kleinsparer am Projekt Kapitalismus beteiligen und selbst „Kapitalist“
werden. Jedenfalls stellt sich ihm das Angebot, Anteilscheine an Staatsbetrieben erwerben zu können, als
Gelegenheit dar, das rapide sich entwertende Geld in
etwas „Reelles“ einzutauschen und sich der Inflation
zu entziehen.
Die Aktienkurse schießen also in den Himmel, weil es
jede Menge potentieller Käufer gibt. Sobald der Staat
aber größere Teile der Staatsindustrie anbietet, reagieren die Börsen instabil und empfindlich gegen die
Ausweitung des Angebots. [61] Das verrät, daß das
„Reelle“, was es da zu kaufen gibt, erstens seinen
Wert hauptsächlich aus einem Vergleich mit dem
verfallenden Wert des Renminbi bezieht und zweitens
nichts ist als eine gewagte Spekulation auf künftige
Gewinne der vielfach Verluste machenden Staatsindustrie – eine Spekulation, die dadurch um nichts
aussichtsreicher wird, daß sie der chinesische Staat
nicht mehr alleine betreibt, sondern Aktionäre daran
teilnehmen läßt. [62]
Die Regierung muß sich entscheiden, ob diese Geburtswehen des Finanzkapitals eher recht sind, oder
ob die unberechenbaren Kurse eher stabilisiert gehören wegen der Attraktion neuen Geldes. Gelassenheit
angesichts chaotischer Renten- und Aktienkurse verbietet sich für die Regierung schon deswegen, weil die
Errichtung der Kapitalmärkte auf die Attraktion nicht
nur der heimischen Spargelder, sondern auswärtigen
Finanzkapitals zielt. Die Aktien wurden in A- und BAktien getrennt, wobei die B-Aktien Ausländern vorbehalten bleiben. Die Trennung soll einen Teil der
Aktien vor der Nachfrage in minderwertigem heimischen Geld bewahren und zu Devisenbringern machen; und sie soll andererseits den inneren Handel
vom Ver- oder Mißtrauen ausländischer Anleger
schützen. Allerdings läßt sich durch noch so gekonnte
Manöver keine positive Aktienspekulation garantieren, schon gar nicht was die internationalen Anleger
betrifft. [63] Inzwischen hat die Regierung anerkannt,
daß die Aktienprivatisierung viel langsamer gehen
muß, wenn sie der Entwertung des Geldes nicht die
Entwertung der Privatisierungsobjekte hinzufügen
soll. Jetzt rettet sie die Kurse und dient der Börse
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
durch den Verzicht auf ihre Nutzung: Sie unterläßt bis
auf weiteres Aktienemissionen. [64]
Der Renminbi und der Weltmarkt
Alle aufs Geld bezogenen Aktionen – Techniken korrekter Staatsverschuldung, Bankgesetze, Offenmarktpolitik, die Errichtung von Renten- und Aktienbörsen
und die neue Mehrwertsteuer – haben einen Grund:
China hat, wie andere Staaten auch, die politische
Projekte mit Staatsschuld „bezahlen“, ein Problem mit
der Solidität des Nationalkredits; und es hat dieses
Problem in besonderem Maß, weil seine Schulden
eine erstmalige Akkumulation von Kapital und Profit
herbeikommandieren. Das Problem, dessen Bewältigung sich freilich nicht an den Techniken von Bilanzierung und Plazierung der Staatsschuld entscheidet,
verrät den Zweck: Die Führung will ein Geld etablieren, das auch außerhalb des Landes Reichtum repräsentiert und Zugriff auf anderen Reichtum eröffnet. Es
genügt ihr keineswegs, daß sie ihren Chinesen die
Zirkulation der Zettel gesetzlich vorschreiben und
ihnen deren Entwertung aufbürden kann. Die Staatszettel sollen den Zugang zum Weltmarkt eröffnen und
den Vergleich mit anderen nationalen Geldern aushalten, ja diesen Vergleich zum nationalen Vorteil geraten lassen. Deshalb sind sich die Wirtschaftsführer der
Konfrontation ihres Geldes mit den etablierten Geldern des Weltmarkts und mit den dort erzielten Renditen sicher. An diesem Prüfstein entscheidet sich, ob
ihnen die Etablierung eines Geldes gelingt, das international Wert hat, weil die Staatsschuld, auf der es
beruht, genug erfolgreiche Geschäfte in Gang setzt.
Diesem Vergleich setzt die chinesische Führung ihr
Geld nicht einfach aus; sie gestaltet ihn mit ihrer Hoheit. Den Bürgern verbietet sie den privaten Vergleich
des einheimischen Geldes mit fremdem, also seinen
freien Umtausch und den Kauf von ausländischen
Waren. Die Erlaubnis zum Umtausch, das weiß sie
nämlich, stellt die Austauschbarkeit der Währung
nicht her, sondern ruiniert, wenn die Währung den
Vergleich nicht aushält, ihre begrenzte internationale
Brauchbarkeit. Die Fähigkeit, Weltmarktware zu kaufen, behält die Regierung durch die strikte Trennung
von innerer und äußerer Zirkulation sich und ihren
Zielen vor. Chinesen dürfen keine Devisen besitzen
und halten, auch dann nicht, wenn sie durch Exporte
verdient worden sind. Bis vor kurzem mußten sie bei
der Staatsbank zum offiziellen Kurs gegen Yuan abgegeben werden, bis auf eine erlaubte Quote, die der
Staat seinen Devisenbringern für ihre Beschaffung
von Maschinerie und Vorprodukten auf dem Weltmarkt ließ. Umgekehrt teilte der Staat den Unternehmen, die nicht exportieren, für förderungswürdige
Investitionen Kontingente aus dem kassierten Devisenschatz zum offiziellen Kurs zu. Schöpften Unternehmen die ihnen zustehende Devisenquote nicht aus,
durften sie die nicht gebrauchten Devisen über Versteigerungen anderen Unternehmen überlassen, die
mehr Devisenbedarf hatten, als der Staat ihnen genehmigte.
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Wie stets beim langfristig angelegten Systemwechsel
in China sind auch beim Wechselkurs gerade die politischen Mittel, die die Benutzung des Weltmarkts in
Gang setzen und schützen, zugleich ein Indiz der
Schwäche und Hindernis einer weitergehenden Nutzung des Weltmarkts. China kann sich eben nicht auf
ausreichende, überlegen konkurrenzfähige Exportgeschäfte verlassen. Die Trennung von innerer und äußerer Zirkulation, d.h. die politische Reservierung der
im Export verdienten Devisen für nationale Aufbaubedürfnisse führt dazu, daß Exportunternehmen Auslandskonten einrichten und ihre Verdienste der Nation
gleich ganz vorenthalten, sie führt zu Kapitalflucht
und zu einem Schwarzmarkt, der beweist, daß es mehr
investiven oder konsumtiven Bedarf nach Weltmarktware gibt, als die Nation befriedigt.
Weil auch die Führung eine weitergehende Nutzung
des Weltmarkts will, experimentiert sie mit dem besagten Test herum, ohne ihm endgültig das Urteil über
den Außenwert ihres Geldes zu überlassen. Versuche,
einen freien Devisenhandel zuzulassen, haben zum
radikalen Kursverfall des Yuan, zu unkontrollierten,
national unnützen Importen geführt und wurden
schnell wieder ausgesetzt. Gegenwärtig wird ein Zwischenschritt zur Konvertibilität ausprobiert: Abschaffung der Devisenquoten, der Swapmärkte und der
Devisenzuteilung. Stattdessen gibt es eine Deponierungspflicht aller Devisen bei chinesischen Banken;
diese versteigern über einen Interbankenhandel die
eingegangene Fremdwährung an die Nachfrager.
Ausgerechnet von den Joint Ventures wird diese
„Öffnung“ abgelehnt. Die ausländischen Multis machen sich zu Fürsprechern der Zwangsbewirtschaftung
von Devisen. Sie vermissen jetzt den garantierten
Staatskurs, zu dem sie sich die für ihre Geschäfte nötigen Devisen zu günstigen Preisen beschaffen können.
Technische Änderungen der Wechselkurspolitik führen die Konvertibilität des Yuan nicht herbei, sie zeigen höchstens an, wie weit es China mit der Weltmarkttauglichkeit seines Geldes gebracht hat oder
eben nicht. Die Frage, ob den Chinesen die national
erfolgreiche Einführung des Kapitalismus, und das
heißt die Schaffung eines echten Geldes gelingt, entscheidet sich überhaupt nicht an der inneren Verschuldung, ihrem Grad und ihren Techniken, sondern
– das zeigt die immer noch gültige Trennung von
innerer und äußerer Zirkulation – am Export. China
muß sich über eine längere Frist so erfolgreich als
Exportnation etablieren, also mehr exportieren als
importieren, daß es genug Nachfrage nach der eigenen
Währung im Ausland stiftet und Ausländer ihr Geld
gegen das chinesische umtauschen wollen; China muß
so profitabel sein, daß es sich wachsend in China anlegen will. Nur wenn die ausländischen Händler und
Kapitalisten die Benutzung chinesischen Geldes lohnend finden, dann ist das, was die Regierung als
Schulden in Umlauf setzt und was sich in China mit
beängstigender Geschwindigkeit vermehrt, nicht bloß
spekulative Aufblähung und unsolide Schuldenwirtschaft, sondern echtes Geld. Die freie Konvertibilität
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
des Renminbi bleibt Ziel der Partei, aber keines, das
sie dekretiert, sondern eines, das sich als Resultat der
Welthandelserfolge einstellt, wenn es soweit ist. [65]
Falls es soweit kommt.
Bis jetzt jedenfalls ist China sehr erfolgreich dabei,
internationales Kapital zu attrahieren, sich zur Exportnation, zum Standort und zum Spekulationsobjekt
der gesamten kapitalistischen Welt zu machen. Daß
die chinesischen Kommunisten mit politischer Gewalt
für alle Funktionen des Kapitals selbst gesorgt und
diese nicht den Kalkulationen von Privateigentümern
überlassen haben, daß sie den freihändlerischen Ratschlägen des IWF also nicht folgen wollten, hat ihnen
das Vertrauen der internationalen Geschäftswelt erschlossen – und das der Regierungen dazu. Kommunisten, die sehenden Auges ihr Volk konkurrenzlos
günstig zur Ausbeutung freigeben, und das auch noch
zu berechenbaren Geschäfts- und internationalen Austauschbedingungen, verdienen sich den Respekt der
freien Unternehmer. Wenn ihr diktatorisches Regime
die Leute auf den Dienst an der Nation und am angelockten Kapital festlegt oder sie in ein nicht störendes
Elend verbannt, dann wird das nicht als kommunistische Unfreiheit verurteilt, sondern als politische Stabilität geschätzt. Tatsächlich honoriert der Boom ausländischer Investitionen, der sich seit 1989 noch einmal verstärkt hat, das Massaker vom Tien-an-menPlatz.
III. Die Bilanz
Was die Umwälzungen, die die Partei gemacht hat
und macht, dem Normalchinesen bringen, ist eine
Sache; eine andere ist es, ob die Nation, die groß gemacht werden sollte, davon profitiert. Auch in dieser
Hinsicht ist nicht einfach Erfolg zu bilanzieren. Gerade dann nicht, wenn man den regen Zuspruch des
Auslands und seine hochgesteckten Erwartungen für
die chinesische Zukunft in Rechnung stellt. Denn die
chinesische Führung ist in doppelter Hinsicht nicht
mehr Herr der Lage, die sie hergestellt hat.
Nach außen: Immer mehr Abhängigkeit
Der Staat, der alles anders machen wollte, hat sich
halt doch ausgeliefert an die Konjunkturen des Weltmarkts, den Zustand von Kredit und Spekulation.
Gewiß haben spekulative Kapitalanlagen China in den
letzten Jahren einen stetigen Zustrom von Investitionen und dadurch einen Kredit eingetragen, der eine
100-Mrd.-$-Verschuldung „angemessen“ und einigermaßen solide erscheinen läßt. Aber Spekulation ist
es schon, wenn sich Weltfirmen auf den „größten
Wachstumsmarkt der nächsten Jahrzehnte“ werfen,
weil sie nicht fehlen dürfen, wenn es dort erst einmal
richtig losgeht, ohne daß der innere Markt des Landes
jetzt schon so überaus viel Zahlungsfähigkeit zu bieten hätte. Eine Spekulation übrigens, die mehr der
verbissenen Suche nach „Wachstumsmärkten“ entspringt, als daß China selbst sie rechtfertigen würde.
Das Land hat es geschafft, Spekulationsobjekt des
internationalen Kapitals zu werden und damit genau
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der Souveränität verlustig zu gehen, die es zu Anfang
der Reformen so eifersüchtig zu hüten wußte. Die
zuerst vorsichtige Öffnung zum Weltmarkt und die
Konzentration der eigenen Kräfte darauf, ihm gerecht
zu werden, hat mit wachsenden Erfolgen dazu geführt,
daß die Nation ihre eigentlichen Wachstumspotenzen
immer mehr aus dem Interesse auswärtiger Kapitalisten bezieht. Der Kredit Chinas, also der Inbegriff seiner ökonomischen Macht, hängt von deren Einschätzung des Landes als Zukunftsmarkt ab. Der Erfolg des
Kurses entscheidet sich nicht mehr an chinesischem
Regieren, Spekulieren und Arbeiten, sondern an Kalkulationen ausländischer Kapitalisten. Die aber hängen von allem Möglichen ab – nicht zuletzt davon,
wieviel die imperialistischen Staaten China auf den
von ihnen dominierten Weltmarkt exportieren lassen.
Auch von deren gutem Willen hat China sich abhängig gemacht; nun muß es sich lauter Vertrauensfragen
stellen lassen – nach dem Geld und seiner Konvertibilität, nach Öffnung und Demokratie – und kann nicht
mehr wie früher abwinken. China weiß schon, warum
es als „Entwicklungsland“ Mitglied im GATT werden
möchte, und die anderen wissen, warum sie den Zugang unter dieser Bedingungen verweigern. China
möchte die Marktzugänge – z.B. die Meistbegünstigung, die die USA vorerst und nach großem Hin-undHer gewähren – als Pflichten der Handelspartner und
internationales Recht festgeschrieben bekommen. Die
USA und andere verlangen, daß das Land dafür genau
die Besonderheiten aufgibt, die für seine erfolgreiche
Nutzung des Welthandels verantwortlich sind, [66]
weil sie die Zulassung von In- und Export, von Kapitalinvestition [67] und Währungsvergleich unter das
Kriterium der nationalen Bilanz stellen. Die kapitalistischen Hauptländer sind zwar darauf aus, die entstandenen oder erwarteten Chancen des chinesischen
Marktes zu nutzen, aber sie sind nicht bereit, China
eine „Sonderrolle“ in ihrem Weltmarkt zu gestatten,
mit der es sich „unfair“ stärken kann, anstatt sich
ihnen zu ergeben.
Nach innen: Lauter offene Gewaltfragen
Schneller noch als alles andere wächst im Land der
Kontrollbedarf. Die Umwälzungen haben überall neue
Gegensätze gestiftet, die mit Gewalt ausgetragen bzw.
unterdrückt werden: die Vertreibung von Bauern oder
Bewohnern der „Sanierungsgebiete“ großer Städte;
die Millionen Vagabunden, die sich gegen den Willen
der Einheimischen festsetzen wollen; Streiks, mit
denen sich Arbeiter der Staatsindustrie gegen ihre
Betriebsleiter wehren; Bauernaufstände; ethnische
Feindseligkeiten oder die studentische Demokratiebewegung 1989. Aufruhr jeder Art wird rigoros zerschlagen. Das moralische Einverständnis zwischen
der Partei und den „Volksmassen“ ist dahin, das Parteileben in Ortsgruppen und niederen Gliederungen
tot. Die Partei verbindet nicht mehr oben und unten
im Land. Ihre Diktatur unterdrückt das Volk; die
„Einheit“, die sie organisiert, ist nur noch die der herrschenden Mannschaft.
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
Doch auch die steht auf dem Spiel. Die Partei führt
mit ihrer Autorität und militärischen Macht die kapitalistische Revolution durch, und überträgt ihren Kadern
dafür zugleich die Rolle der Kapitalisten und die
Kommandoposten der Staatsgewalt. Den Funktionären in ihrer Doppelrolle erteilt sie den Auftrag, sie
sollten ihren Betrieb, ihre Stadt oder Provinz – und
dadurch nicht zuletzt sich selbst – konkurrierend zu
anderen Einheiten bereichern. Die Trennung der
Macht des Geldes von der Macht des Staates, die es
braucht, damit beide sich wechselseitig so wunderbar
dienen, kommt in dieser chinesischen Parteiherrschaft
nicht zustande; eine Konkurrenz der wirtschaftlichen
und staatlichen Einheiten schon – freilich eine eigentümliche, in der die Funktionsträger ihre doppelten
Befugnisse zum Einsatz bringen.
In der Konkurrenz, die das Reformprogramm hervorgebracht hat, geht es zwar um Reichtum, ausgefochten
aber wird sie mit Mitteln der politischen Gewalt. Sie
stellt die politischen Unterabteilungen und Institutionen des Landes gegeneinander und gegen den Zentralstaat – und zwingt keineswegs Privatleute, ihren Vorteil durch Produktivitätssteigerung und Preissenkung,
also durch verbesserte Dienste an der Nation zu suchen. Selbst in der Parteiführung gibt es als Linienstreit geführte Machtrivalität, so daß die bekundete
Sorge, wie es mit der Partei nach Dengs ableben weitergeht, nicht unbegründet ist.
Die Parteibüros, die Chefs der Betriebe und politischen Spitzen der Regionen fördern mit ihrer Hoheit,
ihren Besteuerungsrechten und ihren dezentralisierten
Kreditbefugnissen ihre Unternehmen. Sie organisieren
die nötigen Erlaubnisse, aber auch die Produktionsmittel, Rohstoffe und Kredite für den Erfolg „ihrer“
lokalen Reichtumsquellen. [68] Und damit alles gut
geht, schützen sie diese vor Konkurrenz, die ihnen das
Geschäft vermasseln und den heimischen Markt streitig machen könnte. Ganz China ist durchzogen von
Zollgrenzen und Verkaufsverboten, die die Regionen
und Städte gegeneinander aufrichten. Anordnungen
der Zentrale werden ignoriert und umgangen. [69] Sie
muß seit Jahren ohne klare Entscheidung mit den Regionen um das Steueraufkommen kämpfen; ganze
Küstenregionen leben vom Schmuggel, den sie nicht
unterbinden kann.
Gewalt wird auch direkt zur Reichtumsquelle, ursprünglich sogar auf allerhöchste Anregung hin: Seit
Jahren schützt die Armee nicht nur den Staat und seine Grenzen, sondern erwirtschaftet Gewinn. Einige
der größten chinesischen Konzerne sind Institutionen
der Armee, die mit unbezahlter Arbeit der Soldaten
und in interessanten Bereichen, vor allem im Waffenexport, Geschäfte machen. [70] Andere Abteilungen
der bewaffneten Kräfte nehmen den Auftrag zur Bereicherung in dem Sinn ernst, daß sie auch beim
Dienst an den Außengrenzen Geschäftssinn entwickeln. Marineverbände organisieren und schützen
einen lohnenden Freihandel, der aus der Sicht der
Zentrale Schmuggel ist; zum Ausgleich treiben sie auf
eigene Faust Zölle und Tribute von der internationalen
Schiffahrt ein und requirieren ihrerseits „Schmuggel-
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gut“; andere Nationen beklagen sich und nennen das
Seeräuberei. [71]
Die Staatsführung in Peking erfährt eine eigentümlich
Ohnmacht ihrer Diktatur. Sie muß sich gegen ihre
eigenen Funktionäre und nachgeordneten Parteigliederungen durchsetzen und tut sich schwer damit, weil
sie auf das Land keinen direkten Durchgriff hat, sondern nur über den Willen und durch die Tat dieser
Funktionäre vor Ort wirksam wird. Sie entdeckt daher
das Bedürfnis nach so etwas wie einem Gewaltmonopol und ruft die „Trennung von Partei und Staat“ und
eine Verrechtlichung der Kompetenzen als neue Reformziele aus. [72] Von einer Trennung zwischen der
politischen Partei und den Institutionen des Rechts,
sowie einer dem Recht unterworfenen Verwaltung,
verspricht sich die Führung, das Land bis in den letzten Winkel in den Griff zu bekommen und Eigenmächtigkeiten der Provinzführungen zu unterbinden.
So eine Teilung der Verantwortlichkeiten sollte dann
auch die Partei von Konflikten entlasten, die sie zu
zerreißen drohen.
Dazu aber kommt es nicht, weil die Partei in China
nach wie vor der Staat ist. Statt Partei und Staat zu
trennen, sieht sich die Führung vor die Aufgabe gestellt, alle Gegensätze, die sie stiftet, in den eigenen
Reihen zu halten und durch Parteidisziplin zu erledigen. Eine der Hauptbeschäftigungen des Politbüros
besteht nicht mehr in der Wirtschaftsreform, sondern
in der Rettung und Wiederherstellung der inneren
Einheit der Partei. Laufend wird – absurd angesichts
des Auftrags, den die Partei ihren Funktionären erteilt
– „die Kaderarbeit verbessert, die Disziplin und sozialistische Moral erhöht“. Die Partei betont ihren marxistischen Charakter und meint damit die Einschwörung der Kader auf den Dienst an der Nation als ganzer. Auf der anderen Seite praktiziert sie das einzige
Mittel, das jedem Staat in einer solchen Lage zu Gebote steht: Sie kriminalisiert, was ihr nicht paßt. In
einer Dauerkampagne gegen Korruption bestraft sie
den unerwünschten Gebrauch der Freiheiten, die sie
ihren Funktionären eingeräumt hat. Die werdende
bürgerliche Staatsgewalt setzt mit demonstrativen
Hinrichtungen auch hochgestellter Persönlichkeiten
die Geltung von Kartell- und Aktienrecht, Zoll- und
Devisenvorschriften etc. durch. Jedenfalls versucht sie
es.
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
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[1] China’s Economy in 2000, Beijing 1987, S.32, im
Folgenden zitiert als: „China 2000“
[2] Deng, China aktuell, 4/92
nalen Erfolgsweg nicht in Frage stellen, gelten sie
auch nicht als Einwände. So funktional sehen die chinesischen Kommunisten ihre sozialen Ideale.
[3] China aktuell, 4/92
[13] Jiang Zemin auf dem XIV. Parteitag der KPCh,
in: China aktuell, 10/92
[4] XIV. Parteitag der KPCh, in: China aktuell, 10/92
[5] Deng, nach E.Zander, China am Wendepunkt zur
Marktwirtschaft?, Heidelberg 1992
[6] In der Zusammengehörigkeit von privatwirtschaftlichen Wirtschaftsreformen und der Aufrechterhaltung der diktatorischen Parteikontrolle darüber
sieht Deng die entschiedene Abgrenzung gegenüber
der reformerischen Selbstzerstörung des Ostblocks:
„Auch jene, die in der Sowjetunion und in Osteuropa
regierten, haben sich als kommunistische Partei bezeichnet. Wieso konnten sie gestürzt werden? Wieso
haben selbst jene, die ihren Namen änderten, nichts
zustande gebracht? Das Kernproblem besteht eben
darin, daß sie ihre Wirtschaft nicht nach oben gebracht haben; und je mehr sie am politischen System
herumfummelten, desto chaotischer wurde es. Die
kommunistischen Regime in Osteuropa stürzten, weil
sie keine oder nur unzureichende Wirtschaftsreformen
durchführten und deswegen wirtschaftlich schwach
blieben, und weil sie politisch zu nachgiebig waren
gegenüber der demokratischen Opposition.“ (Deng
im Süden, April 1992)
[7] China aktuell, 10/92
[8] „Der Zweck von Chinas Öffnungspolitik besteht
exakt darin, die nützlichen Elemente des Kapitalismus
aufzunehmen, um die Entwicklung der sozialistische
Ökonomie hin zu ihrem letzten Ziel zu unterstützen,
der frühzeitigen Realisierung des erhabenen Ideals
des Kommunismus. Keine, wie auch immer geartete
‚Liberalisierung‘ ist damit verbunden. Nur Sozialismus kann China retten.“ China 2000, S.536
[9] China 2000, S.54
[10] China 2000, S.27f
[11] Peking-Rundschau 21/93, S.15
[12] „Immerhin ist China ein sozialistisches Land –
ein Faktum, das die Möglichkeit eines völligen Ignorierens der vorrangigen Beachtung der sozialen
Gleichheit und der Wohlfahrt des Volkes bei der Formulierung der Entwicklungsstrategie ausschließt.
Dies erklärt, warum trotz negativer Phänomene, die
immer wieder im ökonomischen Leben Chinas auftraten, die vielen sozialen Übel, die im Zug der Industrialisierung in vielen Entwicklungsländer beobachtet
wurden wie Ungleichheit der Verteilung, dauerhafte
Arbeitslosigkeit, hartnäckige Inflation und wachsende
Auslandsverschuldung – alles Begleiterscheinungen
der konventionellen Entwicklungsstrategie – in China
entweder gar nicht vorgekommen sind, oder nur ausnahmsweise.“ China 2000, S.22. Auf den Ausnahmecharakter dieser sozialen Übel war der Interpret der
Reformen noch 1987 stolz. Inzwischen sind sie auch
in China zur Regel geworden. Solange sie den natio-
[14] XII. ZK der KPCh, 1984.
[15] ebd., S.52
[16] Die nationalökonomischen Dolmetscher machen
gar kein Geheimnis, daß es um diese Dienste des
Landvolks an der Akkumulation eines nationalen
Geldreichtums geht, und sehen dabei in ihrem Eifer
über die unterschiedliche Qualität der alten und neuen
„Transfer“-Bilanzen hinweg. Sie verhandeln die ländlichen Massen als die einzige frei verfügbare Bereicherungsquelle der Nation in Vergangenheit und Zukunft – obwohl sich jedem einzelnen Bauern nur eine
unglaublich mickrige Summe abnehmen läßt. Hier
macht’s die Masse. Zu Beginn der Reformen im Jahr
1981 wurden nur „13-14 Mrd. Yuan, die 7-8% des
totalen Überschusses darstellten, von der Landwirtschaft direkt abgeliefert...Chinas Überschußproduktion fällt gegenwärtig eindeutig mager aus. Dies gilt
besonders für die Landwirtschaft, wenn man die riesige Menschenmenge bedenkt, die an der Landarbeit
teilnimmt. Die durchschnittliche jährliche Überschußproduktion eines Bauern steht in China bei nur
40 oder 50 Yuan. Dies ist der Hauptgrund für die
ungenügende Erwirtschaftung von Akkumulationsmitteln... Der Wert der Überschüsse, die die Bauern (indirekt) durch Umverteilungspreise und in der Form
von Abgaben zum Staat beigesteuert haben, betrug in
der Periode von 1953 bis 1981 über 700 Mrd. Yuan.
Diese und die etwa 100 Mrd., die in derselben Zeit
von den Landkommunen akkumuliert wurden, ergeben
zusammen 800 Mrd. Yuan. Die Akkumulation durch
Bauern macht mehr als die Hälfte der gesamten Akkumulation des Landes aus. In der Periode von 1953
bis 1981 betrugen staatliche Investitionen in die
Landwirtschaft nur etwa 80 Mrd. Yuan. Der Beitrag
der Bauern zu Staat und Industrie in Form ihres
Mehrprodukts war größer als das, was sie von Staat
und Industrie erhalten haben, selbst wenn man in
Rechnung stellt, daß die Ausgaben für Verteidigung,
Verwaltung, Kultur und Erziehung zurecht von den
Bauern getragen werden müssen. Da dem Staat auch
jetzt die Mittel fehlen, wird es auch in der nahen Zukunft nicht möglich sein, die Preise für Landprodukte
anzuheben oder diejenigen für industrielle Gebrauchsgüter zu senken. Der Beitrag des bäuerlichen
Mehrwerts, der in die Industrie transferiert wird,
dürfte sogar noch steigen“ (China 2000, S.372f.)
[17] „Zuerst wurden 1978 private Parzellen, Nebenbeschäftigungen und der Handel auf Bauernmärkten
wieder eingeführt. Den Produktionsbrigaden gab man
größere Entscheidungsbefugnisse und experimentierte
mit verschiedenen Formen der Verantwortlichkeit, die
sich schließlich zum vertragsgebundenen Verantwortungssystem für Haushalte entwickelt haben, das die
Entlohnung eng mit dem Output verknüpft. All diese
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
Maßnahmen stellen einen fundamentalen Wandel in
der Landwirtschaftspolitik dar. Sie haben die chinesische Ökonomie aus einer langen Stagnation befreit
und zu prosperierender Entwicklung befähigt...Warum
ist dieses System so populär und so wirksam?...Es
definiert klare Pflichten, begünstigt den Bauern direkt
und macht den höchstmöglichen Gebrauch von Eifer
und Interesse der bäuerlichen Massen, indem es ihnen
Entscheidungsfreiheit im Rahmen ihrer Produktion
zusichert und das Verteilungssystem vom Einfluß der
Gleichmacherei befreit.“ (China 2000, S.162f.)
[18] Die folgende Liste lokaler Sondersteuern, die
vom Zentralstaat ohne großen Erfolg verboten wurde,
beweist nur, was allgemeine Praxis ist: „So werden an
erster Stelle 27 willkürlich erlassene Zusatzsteuern
erwähnt, die man sofort abschaffen müßte: Steuern
auf öffentliche Beleidigungen, Zwangsabgabe für
einen Fonds, um Filmvorführungen für die bäuerliche
Bevölkerung zu finanzieren; eine andere, um den Zustand der Toiletten auf dem Land zu verbessern; Zusatzsteuern für Fischerboote oder um Arzneimittel
bezahlen zu können; Abgaben für Straßenunfälle, für
die Bekämpfung der Bodenerosion oder gegen die
Verwüstungen, die durch Hasen angerichtet werden“... (Le Monde diplomatique, Oktober 1993)
[19] „‚Wir wissen nicht, wie lange wir noch bleiben
können‘ sagt Bauer Liu, ‚die entscheiden doch über
uns. Was meinen Sie, wer an dem Verkauf unserer
Felder verdient?‘ Die Funktionäre seien schlimmer
als die Großgrundbesitzer vor der Revolution,
schimpft er. Über den Verkauf des Bodens, der offiziell dem Kollektiv gehört, entscheiden die Parteifunktionäre, die Immobilienvertreter erreichen es, daß sie
an dem Geschäft mitverdienen...Eigentlich gehört
Grund und Boden in China dem Staat. Verkauft wird
nur das Nutzungsrecht für 50 oder 70 Jahre. Dem
Staat steht für jeden Verkauf eine beträchtliche Steuer
zu. Doch der Staat hat längst die Kontrolle über seinen Besitz verloren. Betriebe, Unternehmen und Behörden betrachten den Grund und Boden, den sie
benutzen, als ihr Eigentum und haben entdeckt, daß
sie mit dem Verkauf von Häusern und Grund viel Geld
verdienen können. Jeder, der das Recht hat, über
Landverkäufe zu bestimmen, sitzt auf einer Goldader.“
(FAZ,
31.9.1994)
„Da einige Kader vom Immobilienboom profitieren
wollen – einer der augenblicklich günstigsten Gelegenheiten, sich zu bereichern –, zögern sie nicht, Land
zu enteignen, mit minimalen Entschädigungen als
einziger Gegenleistung.“ (Le Monde diplomatique,
Oktober 1993)
[20] „Gar nicht überraschend findet man in manchen
Landgegenden einige wenige Haushalte, die das ganze bebaubare Land eines Dorfes bearbeiten. Ein Bericht von 1984 fand heraus, daß in einem Ort zwei
Haushalte ... 94% des dörflichen Landes bebauten...
Die auf Weizenanbau spezialisierten Haushalte bearbeiten das Land selbst, auch wenn (!) sie dazu Arbeiter während der Erntesaison verdingen, meistens andere Bauern aus dem Dorf.“ (Jean C. OI: State and
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Peasants in Contemporary China, Berkeley 1989,
S.190f.)
[21] „Im wenig industrialisierten Binnenland, insbesondere in den klassischen Reisanbaugebieten wie
Sichuan, der bevölkerungsreichsten Provinz, sind
nach Angaben des Pekinger Arbeitsministeriums mindestens 150 Millionen Arbeitsfähige beschäftigungslos.“
(SZ,
9.2.1994)
„Aus der ökonomisch rückständigen Provinz Anhui
sollen allein 1993 rund 5 Millionen Bauern in die
städtischen Küstengebiete auf Suche nach Beschäftigung gewandert sein. Die Provinz mit einer Gesamtbevölkerung von rund 60 Millionen, von denen ca. 50
Millionen in den ländlichen Gebieten leben, soll 12
Millionen überschüssige ländliche Arbeitskräfte haben. Nach statistischen Angaben der Postverwaltung
sendeten Anhuier Bauern im letzten Jahr pro Monat
mehr als 100 Millionen Yuan in ihre Heimatdörfer.“
(China aktuell, 2/1994)
[22] Ministerpräsident Li Peng, Rechenschaftsbericht
zur Landwirtschaft von 1993, China aktuell, 1/1993
[23] „Der Staatsrat, Chinas höchstes Regierungsorgan, wird für den Rest des Jahres keine neuen Maßnahmen zu Preisreform mehr produzieren. Lokale
Regierungsstellen werden aufgefordert, alles Machbare zu unternehmen, um die Konsumentenpreise zu
senken...Bis Juli waren vor allem die Lebensmittelpreise in die Höhe geschnellt. So kostete zum Beispiel
Getreide 57,8% mehr als im Vorjahr, Schweinefleisch
48,6%... Die Inflation aller Konsumentenpreise in den
35 größten Städten lag bei 24,2%. Die chinesische
Regierung fürchtet den wachsenden Unmut vor allem
der städtischen Bevölkerung. Schon seit Monaten wird
auf Pekings Marktplätzen immer lauter über die galoppierenden Preise geschimpft... Die Zeitungen müssen nun täglich in langen Kolumnen Richtpreise für
Saisongemüse veröffentlichen, deren Einhaltung von
Kontrolltrupps überprüft werden soll. Die Stadt Peking bringt 20 Millionen Kilo Fleisch aus Reservebeständen auf den Markt und hat bestimmt, daß die
Fleischpreise im Einzelhandel nicht mehr als 5% über
den Großhandelspreisen liegen dürfen.“ (Frankfurter
Rundschau, 26.8.1994)
[24] XIV.Parteitag der KPCh, in: China aktuell,
10/92
[25] China 2000, S.31
[26] ebd., S.495
[27] ebd., S.496
[28] ebd., S.514
[29] Einmal die Sorge der alten Nationalpolitiker um
die nationale Selbständigkeit und ihre prinzipiellen
Vorbehalte gegen auswärtige Geschäftsinteressen
gestrichen, einmal dabei, die entwicklungsfördernden
Potenzen eines anlagewilligen internationalen Kapitals zu entdecken, fällt deshalb auch die Furcht der
Reformer vor der Schuldenabhängigkeit bedeutend
geringer aus: „Auf lange Sicht sollten Export und
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
Import ausgeglichen sein, ... unter unseren Bedingungen aber wird ein angemessenes Defizit – so lange es
nicht zur schweren Last wird – die Beschleunigung
der Modernisierung des Landes erleichtern.“ (ebd.,
S.503)
[30] Kein Wunder, daß immer mehr Regionen und
Städte Sonderwirtschaftszonen werden wollten und
dazu übergingen, sich unerlaubt als solche auszurufen:
Alle, die es nicht waren, mußten für die Entwicklung
anderswo Stagnation und Abfluß von Mitteln in Kauf
nehmen. Von Shanghai, das bis 1992 nicht zu den
Sonderzonen zählte, heißt es jetzt, es „erhole sich
gerade von Jahrzehnten des Niedergangs, der von
einer lähmenden Steuerlast verursacht worden ist.“
Agenturmaterial
Reuter,
25.1.1994.
Kein Wunder auch, daß exportierende Staatsunternehmen im Ausland Firmen nur zu dem Zweck gründen, um mit diesem „Auslandskapital“ daheim ein
Joint Venture eingehen zu können, und dadurch die
steuerliche und devisenrechtliche Schlechterstellung
gegenüber dem Auslandskapital auszugleichen. „Unternehmer und Manager des öffentlichen Sektors hatten keine Eile, im Handelsboom gemachte auswärtige
Gewinne zu repatriieren. Einige dieser Fonds flossen
als ausländische Investition verkleidet zurück, um
Steuererleichterungen und einen flexibleren Zugang
zu Devisen zu verschaffen.“ Far Eastern Economic
Review Yearbook 1993
[31] Deng Xiaopings spätes Bedauern über die Beschränkung der Sonderwirtschaftszonen auf vier verrät noch die damaligen Sorgen in der Partei, den
Standpunkt der Vorsicht und des Experimentierens:
„Im Nachhinein betrachtet, habe ich einen großen
Fehler gemacht, daß ich, als es um die Errichtung der
vier Wirtschaftssonderzonen ging, nicht noch Shanghai als fünfte hinzufügte. Aber damals standen wir
auch riesigen Hindernissen gegenüber. Einige alte
Genossen von sehr hohem Rang innerhalb der Partei
waren dagegen. Sie sagten, da Shanghai von großer
Bedeutung für die Gesamtsituation des Landes sei,
könne es Schwierigkeiten von nationalem Ausmaß
geben, wenn man nicht vorsichtig vorginge. Meiner
Meinung nach wäre es, gerade weil Shanghai ein
Platz von vitaler Bedeutung ist, viel lohnenswerter
gewesen, gerade dort das Projekt der Wirtschaftssonderzonen zu starten. Doch damals habe ich leider
nicht darauf bestanden.“ China aktuell 4/1992, S.230
[32] „Zuerst ist es nötig, unsere nationalen Industrien zu schützen, nicht nur um die heimische Produktion zu entwickeln, sondern auch um erworbene Devisen für dringenden zukünftigen Bedarf zu sparen.“
China 2000, S.494
[33] Das halten sie für eine Borniertheit der MaoZeit. So sagen die politischen Zukunftsplaner das
natürlich nicht. Sie reden lieber von einem zeitgemäßen Schachzug, sich auf ganz neue Weise an die Spitze
einer
Entwicklung
zu
setzen:
„Arbeitsintensive Produktionen werden aus den entwickelten Ländern und Regionen in die Entwicklungs-
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länder abgezogen; das ist eine Strömung im wirtschaftlichen Strukturwandel der Gegenwart. Unser
Land verfügt über viele Arbeitskräfte, und die Arbeitskosten sind niedrig; wir sollten uns daher an die
Spitze der Strömung stellen und in großem Maßstab
arbeitsintensive Produktionen einrichten... Wir müssen die Gelegenheit um jeden Preis beim Schopf packen, nur dann können wir den Nachteil der vielen
Menschen in einen Vorteil ummünzen. So können wir
erstens das Beschäftigungsproblem lösen, zweitens
können wir die Dörfer nach Kräften entwickeln, drittens können wir das Land stärken, viertens können wir
uns in die Welt eingliedern. Das ist, als ob wir bei der
Reform und Entwicklung ‚mit einem Schachzug das
ganze Spiel retten‘. Dieses Spiel dürfen wir auf keinen
Fall
verlieren.“
(Renmin
ribao,
5.2.88)
Das vierte Ziel ist gewiß, das dritte die Frage, mit
Dorfentwicklung und einer Lösung des Beschäftigungsproblems hat das Hereinholen von Auslandskapital aber ganz bestimmt nichts zu tun. Die Nation,
das verrät das Zitat immerhin, betrachtet ihre Milliarde Chinesen als unnützen und belastenden Reichtum,
sie setzt ausdrücklich auf das Kapital als den eigentlichen Reichtum der Nationen. Wenn ausländische
Unternehmer einige Millionen aus diesem überreichlichen natürlichen Vorkommen auszubeuten verstehen,
dann mag das zum Vorteil Chinas sein, mit einem
Beschäftigungsprogramm, das zeigt auch die inzwischen gewonnene Erfahrung, hat es nichts zu tun – es
ist das Gegenteil davon.
[34] „Arbeiter in den Fabriken von Wuhan (Hinterland) verdienen etwa $55 im Monat verglichen mit
$155 in vergleichbaren Fabriken von Shenzhen (Sonderwirtschaftszone).“ Wall Street Journal, 26.1.1993
„Die Arbeitskosten für in China engagierte USUnternehmen stiegen letztes Jahr (1993) um 17% ...
Die Steigerungen bleiben jedoch hinter der Inflationsrate von beinahe 23% in den Städten zurück. Durchschnittliche Gehälter für ausgebildete Chinesen, oft
Universitätsabsolventen, die in Firmen mit Auslandskapital arbeiten, bleiben noch weit unter denjenigen
in Hong Kong, Taiwan und anderen asiatischen Ländern.“ Agenturmaterial von Associated Press, 1994
[35] Chen Yun, der Widerpart von Deng Xiaoping in
der Parteiführung, betont gegen die Chancen stets die
Risiken der marktwirtschaftlichen Reformen, die er
grundsätzlich mitträgt. Mit seiner „Theorie“ vom Vogel und vom Käfig, die sagen will, daß der marktwirtschaftliche Vogel schon fliegen soll, aber stets innerhalb des planwirtschaftlichen Käfigs, der die Kontrolle der Partei über den ganzen Prozeß sichert, hat auch
er an den Verhältnissen in den Sonderzonen vor allem
den Verlust an Ordnung kritisiert: „Einige Gegebenheiten in Shenzhen, und zwar von oben bis herunter in
die Gesellschaft, sind noch mehr Laissez-faire als im
Kapitalismus. Dinge, denen selbst die kapitalistische
Gesellschaft nicht ihren freien Lauf läßt, können in
Shenzhen nicht kontrolliert werden, sind nicht im
Griff. Gemäß der heute gültigen Entwicklungsrichtung stützt man sich dort auf eine Entwicklung von
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
außen, und die Geschicke von Shenzhen werden von
außen gesteuert.“ China aktuell, 5/1992
[36] Die Wirtschaftszonen Chinas, Peking 1993, S.9
[37] „Abgesehen von wenigen Firmen, die unabhängige ökonomische Einheiten mit dem Status von Körperschaften sind, werden alle Unternehmen gemeinsam von einheimischen und ausländischen Partnern
betrieben. ... Grundstücke und Gebäude werden gewöhnlich von der chinesischen Seite gestellt, die technische Ausrüstung vom ausländischen Gegenpart.
Profite und andere Erträge werden zwischen ihnen
nach der vertraglich festgelegten Rate geteilt.“ China
2000, S.505
[38] „Ein Studium der gegenwärtigen Bedingungen
wird zeigen, daß die Zeit für die Nutzung von Auslandskapital in großem Stil in China noch nicht gekommen ist. Und zwar deshalb, weil uns in der laufenden ökonomischen Umgestaltung die heimischen
Finanzquellen fehlen, um geliehenes Auslandskapital
koordiniert einzusetzen. ... Beim Import neuer Projekte muß die heimische Fähigkeit bedacht werden, die
Voraussetzungen dafür sicherzustellen. Heimische
Investitionen, Ausrüstungen und Infrastruktur sind für
alle von außen importierten Projekte erfordert, Rohstoffe, Treibstoff und Transportkapazitäten werden
gebraucht, um das normale Funktionieren des Projekts zu gewährleisten, sobald es in Produktion geht.
Zum Beispiel heimische Investitionen: Für jeden USDollar Auslandsinvestition müssen 2,3 Yuan für die
notwendigen Begleitbedingungen aufgewendet werden. Das beweist, daß die Stufenleiter ausländischer
Investitionen abhängig gemacht werden muß vom
Grad der Kapitalbildung des ganzen Landes und dem
Niveau seiner landwirtschaftlichen und industriellen
Produktion.“ China 2000, S.509ff
[39] Peking Rundschau 30/93, S.20
[40] Als von 1988 bis 1991 immer mehr Regionen
und Städte zu Sonderzonen werden wollten und sich
ungeplant dazu erklärten – Zahlenangaben gehen bis
zu 10000 – schloß Peking die Projekte wieder: „Nach
Regierungsangaben befinden sich nur etwa 2% von
den Tausenden Sonderwirtschaftszonen tatsächlich in
Entwicklung. Würde der Rest plötzlich hinzukommen
und auch öffentliche Investitionen für die Anfänge
einer Infrastruktur fordern, würde dies buchstäblich
die Bank sprengen. Vizepremier Zhu Rongji warnte
davor, daß die exzessive Eröffnung von Entwicklungszonen die Investitionsmittel des Landes von anderen
vitalen Projekten abziehen, zu Hyperinflation und zu
einem bedeutenden Verlust von Farmland führen
müßte. Er schätzte, daß, wenn alle gegenwärtig angekündigten Zonen mit Staatsgeldern entwickelt würden,
dies die alles zerrüttende Summe von 789 Mrd. US-$
kosten würde.“ Asian Economic News, 14.6.1993
[41] „Joint Ventures fürchten, daß ihre Steuerprivilegien abgebaut würden.“ Das Far Eastern Review
Yearbook sieht schon eine Kapitalflucht im Gang. Die
Regierung reagiert und versichert, „die 100000 ganz
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oder teilweise ausländisch finanzierten Betriebe mit
einem gesamthaft investierten Kapital von bereits
über 50 Mrd. müßten auch unter dem neuen Steuersystem nicht mehr Steuern bezahlen.“ NZZ, 26.1.1994
[42] „China
werde
die
Form
‚AufbauBewirtschaftung-Überlassung‘ annehmen, um ausländisches Kapital in Bauprojekte für die Infrastruktur
wie für Energiewirtschaft und Verkehrswesen einzuführen. Gemäß dieser Politik können ausländische
Geschäftsleute mit Investitionen einige bedeutende
Bauprojekte für Infrastrukturen vertraglich übernehmen. Nach ihrer Fertigstellung werden die Projekte
15 Jahre lang von den betreffenden ausländischen
Investoren verwaltet und bewirtschaftet, und China
erhebt Steuern von ihnen. Nach Ablauf des Vertrags
werden die Projekte China überlassen. Die jetzt im
Bau befindliche Eisenbahnlinie Jinhua-Wenzhou in
der Provinz Zhejiang ist ein Beispiel dafür.“ Peking
Rundschau 30/1993, S.19
[43] Das ökonomische Standardwerk der Übergangsepoche erklärt den Übergang zur Staatsschuld aus
dem Steuerverzicht, den die Stiftung selbständiger
Geschäfte erforderte; jetzt soll eben nicht mehr der
Staat den Kredit finanzieren, sondern der Kredit den
Staat: „Aber die Situation änderte sich seit 1979. Der
Anteil der Staatseinkünfte, der damals 33% des Nationaleinkommens ausmachte, fiel auf 25,8% 1981 (und
auf nur noch 13% 1993). Den Betrieben wurde mehr
eigener Entscheidungsspielraum eingeräumt: Durch
die Einführung der Selbstverwaltung der Unternehmensfonds, des proportionellen Einbehalts der Profite, der vollen Verantwortung für Gewinn und Verlust
und anderer Maßnahmen wurden von 1979 bis 1981
mehr als 28000 Millionen Yuan von den Betrieben
zum eigenen Gebrauch einbehalten... Was den Staatshaushalt betraf, waren Einnahmen und Ausgaben
angespannt und es traten Defizite auf. Der Staatshaushalt verbrauchte die über die Jahre angesammelten Überschüsse, hörte auf, den Banken weitere Kreditfonds zuzuweisen und reduzierte stark oder beendete die Zuweisung von Arbeitsguthaben an die diversen
Abteilungen der nationalen Ökonomie. Er überzog
seine Konten bei der Bank und gab Bonds heraus. Der
wahre Grund der finanziellen Schwierigkeiten besteht
darin, daß, solange sich die ganze Ökonomie noch in
der Phase der Umstellung befindet, uns die wirtschaftliche Basis dafür fehlt, die Staatseinkünfte substantiell zu erhöhen... In den letzten Jahren wurde
vorgeschlagen, daß sich der Staatshaushalt aus der
Investitionstätigkeit ganz heraushalten sollte; aber es
ist unmöglich, die Staatsfinanzen von den Investitionen zu scheiden... Große Energie-, Transport- und
ähnliche Projekte brauchen vom Staat zugewiesene
Geldmittel entweder, weil der Rückfluß der Investitionen zu lange dauert, oder weil sie einfach Verluste
machen. In den etwa 30 Jahren seit Gründung der
Volksrepublik haben diese beiden Punkte etwa die
Hälfte des staatlichen Budgets für Investitionen verschlungen. Wenn die gegenwärtigen Staatseinkünfte
die Ausgaben nicht decken können, werden die Preisund die Währungsstabilität durcheinanderkommen,
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
sofern nicht die wachsenden Bankfonds ihre Kreditvergabe im Interesse eines umfassenden Gleichgewichts von Staatsfinanzen und Krediten beschränken.“ „Es scheint, daß die alten Praktiken, nach denen die Staatsfinanzen benutzt wurden, um den Kredit
zu stützen, jetzt ersetzt werden von welchen, bei denen
der Kredit die Finanzen unterstützt.“ China 2000,
S.41 und 393ff.
[44] Am nachhaltigsten verarmen diejenigen Abteilungen, die sich an der allgemeinen Preistreiberei mit
eigener Warenproduktion nicht beteiligen können,
sondern als Kostenstellen ihre Einkommen vom Staat
zugewiesen bekommen – oder auch nicht: die Beschäftigten der Staatsindustrie, des Schul- und Gesundheitswesens:
„Die chinesischen Lehrer gehören zu den Verlierern
der Wirtschaftsreformen seit 1978. Überall außer in
Peking und Tibet wurden sie im letzten Jahr mit vorläufigen Schuldscheinen bezahlt. Der Staat schuldet
ihnen nun 309 Millionen Yuan. In einem Leserbrief im
People’s Daily beklagen sich die Lehrer einer Staatsschule aus Nordchina darüber, daß sie im letzten Jahr
sieben Monate lang keine Bezahlung erhalten haben
und nun mit Fischfang, der Aufzucht von Schweinen
und Hühnern, dem Verkauf von Eiern, Gemüse und
Eiscrem zu überleben suchen. Es hieß, ‚Die Schule ist
schon fast zu einem Markt geworden mit ernsten Folgen für die akademischen Leistungen der Schüler.‘
Während China in den 15 Jahren der Marktwirtschaftsreformen unermeßlich reicher geworden ist,
sind Millionen Lehrer zurückgefallen, weil lokale
Amtsträger den Bildungsetat in neue Gewerbeparks,
Immobilien, Hotels und Luxusautos umlenken.“ Agenturmaterial Reuter, Peking, 15.2.1993
[45] Derartige unerwünschte Reaktionen der Betriebe
lassen sich auch als Zeichen der Verfälschung der
Preisstruktur durch immer noch zu viel staatlich regulierte Preise ausdrücken – das verweist aber nur auf
den Zirkel der Reformanstrengungen, schließlich hat
man die Preiskontrollen ja nicht grundlos und nur zur
Behinderung der „Selbststeuerung“ vorgenommen:
„Die lange eingefrorenen Preise in China führten zu
einem sich stets vergrößernden Abstand von Preis und
Wert. In der Folge wurden gewisse Produkte, die
‚profitabel‘ waren, in immer größerer Anzahl hergestellt, während bei anderen Produkten, die keine Gewinnchance boten, immer ernstere Versorgungsmängel auftraten.“ China 2000, S.480
[46] „Wir müssen den Gebrauch von ökonomischen
Hebeln wie Preisgestaltung, Besteuerung, Kreditgewährung, Zinsen und Wechselkursen lernen... Bei
wirtschaftlichen Aktivitäten, in denen der Preis nicht
die entscheidende Rolle spielt, müssen wir uns auf die
Steuer und andere Hebel stützen, um das Wachstum
zu regulieren. China hat bereits Maßnahmen zur Ersetzung des einheitlichen Steuersystems getroffen
durch eines, das verschiedene Steuerkategorien und
Steuerraten enthält... Zum Beispiel werden im Übermaß hergestellte Güter, um ihre Herstellung einzuschränken, mit einer höheren Steuerquote belegt,
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während es für Mangelwaren eine niedrigere Besteuerung braucht, um ihre Herstellung zu fördern... Es ist
ebenfalls nötig, das Kreditwesen ins Spiel zu bringen.
Indem sie verschiedene und flottierende Zinsen anbietet, kann die Bank die Produktion regulieren und die
Investitionen lenken.“ China 2000, S.480. Wohlgemerkt, das sind lauter Maßnahmen aus der frühen Zeit
der Industriereform, heute wird sie re-reformiert: Die
vielfältigen Lenkungssteuern werden wieder durch
eine einheitliche Steuerrate auf Umsatz oder Gewinn
ersetzt; und die Banken sollen Zinsen nach Gesichtspunkten des Bankgeschäfts verlangen und nicht zur
Förderung erwünschter oder zur Beschränkung unerwünschter Produkte.
[47] FAZ, 19.4.1994. Die Auslandspresse schließt
sofort auf die mangelhafte Produktivität der Staatsbetriebe und weiß den Grund: Der Staat versorgt sie und
erspart ihnen den harten Wind der Konkurrenz.
[48] „In der 7 Millionen Einwohner zählenden Stadt
Wuhan, deren wirtschaftliche Basis gigantische
Staatsunternehmen wie Eisengießereien, Stahlwerke
und Schiffswerften bildeten, hielt man die Werte orthodox-kommunistischer Ideologie besonders hoch.
Dementsprechend schwer tat man sich mit dem nun
propagierten ‚Zerschlagen der eisernen Reisschüssel‘,
eines Systems, das den Arbeitern der Staatsindustrie
unkündbare Arbeitsplätze, Behausung und unentgeltliche Sozialdienste von der Wiege bis zur Bahre garantiert – egal wieviel einer leistet... Der Reformwind
bläst in den letzten zwei Jahren auch durch Wuhans
Staatsindustrie. Kündbare Arbeitsverträge und Leistungslohn wurden eingeführt, unprofitable Unternehmensteile wie Krankenhäuser, Kindergärten und Altersheime ausgegliedert. Reihenweise wurden Staatsmoloche in kleinere übersichtliche Betriebe zergliedert, marode Fabriken privatisiert oder gar, wie kürzlich eine Textilfärberei, zur Sanierung an Ausländer
verkauft. Allenthalben stellte man überzählige Arbeitskräfte auf die Straße – mit etwas finanzieller
Starthilfe und dem guten Rat, doch profitable Privatbetriebe, etwa kleine Restaurants zu gründen. Effizient, rationell und finanziell eigenverantwortlich
sollten die Unternehmen fortan arbeiten.“ SZ,
19.8.1994
[49] FAZ, 14.11.1994
[50] „China droht erneut konjunkturelle Überhitzung... Die Zunahme der durch staatliche Einheiten
im Juli 1994 getätigten Anlageinvestitionen lag um
72,9% über dem entsprechenden Vorjahresmonat.
Erklärbar ist die Entwicklung nur durch eindeutiges
Zuwiderhandeln von Provinz- und Lokalbehörden
gegen die von Peking angeordneten Konjunkturdämpfungsmaßnahmen. Für die Zentralregierung muß das
um so mehr besorgniserregend sein, als das Wachstum der Investitionen differenziert betrachtet im Immobiliensektor 95,8%, beim industriellen Bau immerhin noch 76,8%, bei der technischen Erneuerung der
Betriebe, etwa durch den Ankauf moderner Maschinerie, jedoch nur knapp 20% betrug. Viele der Staatsun-
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
ternehmen, die seit Monaten klagen, wegen der von
Peking verfolgten restriktiven Kreditpolitik nicht genügend Mittel zum Rohstoffkauf und zur Bezahlung
von Löhnen zu haben, ziehen es offensichtlich immer
noch vor, alles verfügbare Kapital zu spekulativen
Zwecken in die Grundstückserschließung, vorab in
Südchina, statt in die Sanierung ihrer Industriebetriebe zu investieren.“ Neue Zürcher Zeitung, 26.8.1994
[51] „Chinas Wirtschaft wächst möglicherweise
langsamer, als es die offiziellen Angaben der kommunistischen Regierung glauben machen. Die immer
wieder auftauchenden Zweifel an den zweistelligen
Steigerungsraten der vergangenen Jahre werden von
einem vom Staatlichen Statistikamt in Peking selbst
abgelegten Armutszeugnis nun neu genährt... Peking
startete eine landesweite Inspektionskampagne, um
gegen die weitverbreitete Fälschung von Wirtschaftsdaten durch karrierebewußte Provinzkader vorzugehen.“ Frankfurter Rundschau, 19.9.1994
[52] „Zhu’s wirkliches Waterloo aber war das Kreditsystem. Im Rahmen des Austerity-Programms verlangte Zhu von den Banken bis Mitte September die
Rückforderung von 90 Mrd. Rmb., die sie für spekulative Immobiliengeschäfte ausgeliehen hatten, aber
kaum ein Drittel der Zielgröße kam herein. Die daraufhin um einen Monat verlängerte Frist änderte
kaum etwas. Auch die angeblich „geretteten“ Summen waren teilweise Betrug, Produkt eines ausgedehnten Zusammenspiels zwischen Banken, hört man.
Eine Anzahl von regionalen und sektoralen Banken
haben mit assoziierten Nicht-Banken kooperiert, um
ihre Liquidität wechselseitig nach dem Rotationsprinzip aufzufüllen. Sobald die staatlichen Revisoren
ihnen den Rücken zuwendeten, schoben sie die Fonds
herum. Schließlich erwiesen sich die meisten der Immobilienkredite als uneinbringlich. Da Mittel, die
schon in Ziegel und Mörtel gebunden sind, nicht zurückgeholt werden können, hatten die Banken keine
andere Wahl, als ersatzweise ihre industriellen Kunden zur Rückzahlung der Kredite für das laufende
Geschäft zu zwingen und die Manager kranker Unternehmen plötzlich mit einer regelrechten Bargeldklemme zu konfrontieren. Eingeschüchtert von drohenden Massenentlassungen und politischen Unruhen
hat die Regierung schließlich nachgegeben und unter
Erklärungen, sie habe den Krieg gegen die ökonomische Überhitzung gewonnen, das Schlachtfeld geräumt. Die Zentralbank präsentierte stolz eine Kreditkontraktion von 76 Mrd. Rmb. in Juli und August... Im
vierten Quartal aber war der Kredit schon wieder auf
dem Vormarsch.“ Far Eastern Economic Review,
Yearbook 1993
[53] NZZ, 26.8.1994
[54] „Die zwei Jahre Austerity-Politik seit 1988 haben ihren Tribut unter den Staatsindustrien gefordert,
die in der Falle zwischen sinkender Ertragskraft, unternehmerischer Ineffizienz und Schuldendienst stecken. Die Bemühung um Austerity zielte aber auch
nicht nur auf Abkühlung der überhitzten Ökonomie,
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sondern darauf, die Tendenz des Systems zu BoomKrisen-Zyklen durch eine Neuordnung ihrer Grundstruktur zu stoppen. Unprofitable Unternehmen sollten geschlossen oder fusioniert werden, Industrien mit
schlechtem Entwicklungspotential sollten wenig oder
keine Unterstützung mehr erhalten. Tatsächlich aber
wurden nur wenige von Chinas Verlustbringern –
geschätzte 34,5% der Staatsunternehmen – geschlossen oder fusioniert. Furcht vor sozialen Unruhen, die
Bankrotte nach sich ziehen könnten, hat der Regierung die Hände gebunden... Heuer nun beginnt die
exzessive Kreditierung des letzten Jahres, ein Rekord
von 300 Mrd. Rmb., die aus Sorge über rückgängige
Industrieproduktion und soziale Unruhen gewährt
wurden, negative Wirkungen auf die Ökonomie zu
zeigen. Der einzige Erfolg des Austerityprogramms,
die Senkung der Inflationsrate von 18% 1989 auf 2%
im letzten Jahr, ist in Gefahr.“ Far Eastern Economic
Review, 8.8.1991
[55] „Für ausländische Investoren nicht weniger als
für chinesische Firmen und Provinzregierungen ist es
das überragende Problem, ob China in der Lage ist,
die ‚harte Landung‘ zu vermeiden, die seine Wirtschaft 1988-1989 während der letzten Periode ernster
Kreditbeschränkung erlitten hat.“ The Financial
Times, 8.8.1993.
[56] „In den Jahren nach der erstmaligen Begebung
von staatlichen Schuldverschreibungen erfolgte die
Zuteilung zunächst überwiegend auf staatliche Unternehmen und Institutionen, die diese wiederum als Teil
der Lohn- und Gehaltszahlung an ihre Beschäftigten
in der Form einer ‚Zwangsanleihe‘ weitergaben. Diese Schuldverschreibungen waren dadurch charakterisiert, daß sie nicht handelbar waren und mit Laufzeiten von fünf und mehr Jahren sowie einem Nominalzins von 4% ausgestattet waren. Vor allem die Aspekte des Zwangserwerbs und die Unveräußerbarkeit der
staatlichen Schuldverschreibungen vor Ablauf des
Fälligkeitsdatums machten sie wenig beliebt als Kapitalanlage.“
China
aktuell,
3/1992
„Unbeliebte Kapitalanlage“ – das ist höflich ausgedrückt; tatsächlich sind Zwangsanleihen überhaupt
keine Kapitalanlage sondern eine Form befristeter
Enteignung, die nach Jahren in entwertetem Geld zum
Teil rückgängig gemacht wird. In Jahren, in denen
Staatspapiere besonders unattraktiv sind, greift die
Führung auch später noch auf diese Form der „Plazierung“ zurück: „Wegen der hohen Inflationsrate war
die Realverzinsung der von der Regierung herausgegebenen inländischen Staatsbonds im Wert von 37
Mrd. Rmb. tatsächlich negativ, mit dem vorhersehbaren Resultat, daß sich kaum 20% davon bis Jahresmitte unterbringen ließen. Peking konnte sich nicht anders behelfen, als diese Bonds den städtischen Arbeitern gegen Lohnabzug in den Geldbeutel zu stopfen.“
Far Eastern Economic Review, Yearbook 1993
[57] „Neben der Entwicklung von Sparquoten und
Spareinlagen ist jedoch auch die Konzentration von
Sparguthaben auf einzelne Bevölkerungsgruppen zu
untersuchen, die als potentielle Wertpapierkäufer in
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
Frage kommen... Neben den Selbständigen – Mitte
1991 bereits rund 13 Millionen – zählen dazu beispielsweise die Betriebsleiter in staatlichen und kollektiveigenen Unternehmen, die über ein Durchschnittseinkommen von 8000 Yuan jährlich verfügen,
Beschäftigte in Unternehmen mit ausländischem Kapitalanteil, die 7000 verdienen, aber auch noch Taxifahrer mit 5000 Yuan im Jahr. Bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der städtischen
Bevölkerung von 1500 Yuan ...“ China aktuell, 3/1992
[58] Der „sozialistische Wertpapiermarkt“ bewirkt
eine starke „Konzentration von Einkommen und Vermögen bei privaten Investoren. Das umstrittene Beispiel des Shanghaier ‚Millionärs Yang‘, der Staatsschuldverschreibungen mit einem hohen Abschlag in
den ländlichen Gebieten aufkaufte und später zu einem höheren Preis wieder verkaufte, ist hier zu nennen.“ China aktuell, 3/1992
[59] „204 Betriebe in Beijing haben zwar schon intern Anteilscheine (etwa Belegschaftsaktien) herausgegeben, dies ist aber das erste Mal, daß Staatsbetriebe in der Hauptstadt öffentlich Aktien anbieten.
Wer Käufer werden will, muß bei Banken in Beijing
eine Geldsumme für ein halbes Jahr hinterlegen. Die
Quittung dieser Einzahlung nimmt dann an einer Lotterie teil, in der sich entscheidet, wer überhaupt berechtigt wird, Anteile zu kaufen. Mr. Li drückte seine
Zuversicht darüber aus, daß die Hinterlegungspflicht
den Erfolg der Auktion sicherstellen würde.“ International Herald Tribune, 25.3.1994. Mr. Li’s Zuversicht
verrät, daß es bei der Aktienplazierung in China nicht
nur das Problem gibt, daß sich zuviele Käufer melden,
sondern auch das umgekehrte, daß die Kaufwilligen
im rechten Moment kein Geld haben und den Erfolg
der Auktion verderben.
[60] „Bis vor ein paar Wochen versammelten sich
Bürger von Chengdu (Sichuan) zu tausenden zum
unautorisierten Aktienhandel außerhalb des städtischen Nordstadions. Die Verwaltung erklärte die Börse für illegal und schloß sie, aber viele sagen, dies
habe sie nur in den Untergrund getrieben. Manche
Städter sagen auch, sie täten nichts, als Markt spielen.
In einer hochwandigen Halle im City-Center gleich
hinter einer gigantischen Statue des Vorsitzenden
Mao Zedong kaufen Spekulanten Aktien per Computer
von den zwei legalen Handelsplätzen des Landes in
Shanghai und Shenzhen. Die Händler sagen, Chengdu
sollte auch eine legale Börse genehmigt werden.“ The
Washington Post Foreign Service 1994
[61] „Konfrontiert mit wachsenden Budgetdefiziten
haben die chinesischen Führer ihre sozialistischen
Skrupel abgelegt und grübeln darüber, wie sie die
riesigen Staatsanteile an den handelbaren Firmen
verkaufen könnten, ohne den Aktienmarkt zu sehr zu
drücken. Nur etwa 20% der Anteile der etwa 250 an
den beiden Börsen von Shanghai und Shenzhen geführten Firmen werden von privaten Investoren gehalten und gehandelt. Etwa 30% gehören Institutionen
und eine volle Hälfte dem Staat – eine Formel, die es
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einst den ideologischen Hardlinern erlaubt hat, an
der Idee des sozialistischen Eigentums festzuhalten
und doch die Märkte zur Steigerung der industriellen
Effizienz zu nutzen. Jetzt aber ist die Stimme des Geldes lauter als die der Politik. Das Problem ist nur,
Chinas Legion von Kleinaktionären mag die Idee gar
nicht. Sie fürchten, eine Flut neuer Anteilscheine würde den Markt überschwemmen. Schon die mehrere
Wochen anhaltenden Gerüchte darüber, wie Beijing
mit seinem Privatisierungsplan vorgehen wird, haben
die Stimmung am Markt erschüttert. Vielleicht sollte
man nur 3% oder 10% anbieten. Das würde den
Schaden für den Index begrenzen. Man muß auf die
Fähigkeit der Investoren achten, die Emmissionen zu
absorbieren.“ Reuter, 2.2.1994
[62] Der Börsenindex in Shanghai stieg im Jahr 1993
erst um 100%, um dann wieder um 80% zu fallen –
eine „Volatilität“ der Kurse, die eine Enteignungswelle unter den Kleinanlegern bewirkt hat.
[63] „Ein schwacher Markt erzwingt die Verschiebung chinesischer Aktienemmission. Chinas staatliche
Shanghai Haixing Shipping Co. hat den geplanten
Verkauf von Anteilen an der Honkonger Börse wegen
ungünstiger Marktbedingungen verschoben. Der
Fehlschlag folgt einem lahmen Handel mit der Luoyang Glass Co., deren Aktien 20% unter ihren Ausgabekurs fielen, sobald sie am Freitag begannen, die
Hände zu wechseln... Von einem ‚enormen Interesse
an chinesischen Unternehmen‘ war in den letzten
Wochen in Asien nichts zu merken. Die Kurse der
Class B Aktien, die ausländischen Investoren vorbehalten sind, fielen heuer um etwa 38% aus Angst vor
wachsenden Schuldenproblemen bei vielen chinesischen Staatsbetrieben. Chinas Verwaltungsamt für
Staatseigentum hat sich beklagt, daß die vorgesehenen Preise zu niedrig seien. Das Amt sagte, es sei
Emmissionspreisen nicht gestattet, unter den Wert des
Firmenvermögens zu fallen.“ International Herald
Tribune, 13.7.1994
[64] „Gemäß dem Edikt werden mindestens bis Ende
1994 keine weiteren Titel mehr zum Handel zugelassen... Selbst die Ausgabe von Wertpapieren im nächsten Jahr stellte das Dekret in Frage, hält es doch fest,
daß diese nur bei entsprechenden Marktbedingungen
erfolgen könne. Mit dem Edikt hat Peking dem seit 17
Monaten anhaltenden Abwärtstrend der Börsenkurse
ein Ende gesetzt, der sich in den letzten Wochen zusehends beschleunigt und nicht nur lautes Grummeln
chinesischer Kleinanleger bewirkt hatte, sondern
auch das internationale Vertrauen in die Stabilität der
hiesigen Kapitalmärkte zu untergraben drohte.“ NZZ,
6.8.1994
[65] „In Richtung Konvertibilität bewege sich im
Rahmen der Reformen die chinesische Währung. Aber
dieser Prozeß dauere noch eine Weile.“ Li Peng in
Bonn, Handelsblatt 11.7.94
[66] „Die USA unterstützen die Mitgliedschaft Chinas im GATT. Es ist lediglich umstritten, ob China als
Entwicklungsland oder bereits entwickeltes Land in
GegenStandpunkt Heft 4-1994:
Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus
die Organisation aufgenommen werden soll. Bei der
Diskussion um die Aufnahme Chinas in die neue
Welthandelsorganisation, die zum 1.Januar in Kraft
tritt, stehen auch noch der Mangel an Transparenz
der chinesischen Wirtschaft, die Staatsunternehmen
sowie die Konvertierbarkeit der Landeswährung zur
Debatte.“ FAZ, 10.8.1994. Entwicklungsländern wird
im GATT Marktzugang ohne volle „Reziprozität“
gewährt.
[67] Sogar beim Anlocken von Auslandskapital, das
China so dringend braucht, ist es wählerisch. Es stellt
sich nicht jedem auswärtigen Geschäftswunsch zur
Verfügung. Arbeitsintensive Billigproduktion gibt es
schon genug, jetzt geht es den Planern um die Höherentwicklung der Exportpalette: „Die Weltfirmen
drängen auf den Chinesischen Markt. China wolle
jedoch nur Investitionen mit fortgeschrittener Technologie akzeptieren.“ Li Peng, Handelsblatt, 11.7.1994
[68] „Um die eigenen Steuerquellen zu schützen und
zu entwickeln, werden Importe von Konsumgütern, die
in eigenen Regionen mit Gewinn erzeugt werden können, aus anderen Provinzen erschwert und einheimische subventionierte Rohstoffe, möglichst in der eigenen Region verarbeitet. So wurden z.B. in Provinzen,
die Baumwolle anbauen, Textilfabriken errichtet, um
zu verhindern, daß Betriebe und Staatsorgane anderer
Regionen von den Preissubventionen profitieren, die
von der Regierung des Herkunftsgebiets zu zahlen
sind. Dadurch ist es zu einer großen Überkapazität
und zu erheblichen Problemen in den traditionellen
Textilverarbeitungsgebieten gekommen. Zugleich
versuchen die betreffenden Provinzen, Importe preiswerter Güter aus anderen Provinzen durch administrative Eingriffe zu erschweren, um so einheimische
Produkte gegen Konkurrenz von außen zu schützen.“
A. Bohnet, Die chinesische Finanzreform, Gießen
1991, S.10
[69] „Die seit Anfang der achtziger Jahre durchgeführte Dezentralisierung von fiskalischen und administrativen Entscheidungs- und Verfügungsrechten hat
zu einer Verlagerung der Kompetenzen und Finanzmittel auf die Provinz- und Lokalregierungen geführt.
Zentrale Vorgaben wurden zusehends weniger beachtet oder aber systematisch umgangen. ‚Peking macht
seine Politik, wir haben unsere Gegenpolitik‘ war
eine der Handlungsdevisen der lokalen Führungen.
Vor allem die südlichen Provinzen nutzten die von den
Reformen gewährten Freiräume, um von Pekinger
Vorgaben abweichende Handels- und Steuerbestimmungen zu erlassen und ihre lokalen Märkte durch
einen oft rigorosen Protektionismus gegenüber Gütern aus anderen Regionen zu schützen.“ FAZ,
8.4.1994
[70] „Bei ihren Geschäftsaktivitäten entwickeln manche Offiziere großes Geschick. Sie benutzen die Armee und ihr landesweites Netz an Informationen und
Beziehungen, um Unternehmen aufzubauen, die direkt
oder indirekt mit der Volksbefreiungsarmee zusammenhängen. Fachleute schätzen die Zahl der Unter-
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nehmungen der Volksbefreiungsarmee auf 20.000.
Diese produzieren eine Vielzahl von Gütern wie Waffen, Autos, Flugzeuge und Pharmazeutika. Die Armeemanager verdienen und leben gut, ein großer Teil
der japanischen und deutschen Luxuslimousinen auf
den Pekinger Straßen trägt Militärnummern. Die bekanntesten Armeekonzerne wie Xinxing und Poly, die
an prominenter Stelle von Peking einen Wolkenkratzer mit Hotel, Büros, Theater, Restaurants und
Nachtclubs besitzen, sind mit Waffenproduktion und
Waffenhandel großgeworden.“ FAZ, 31.3.1994
[71] „In den Küstenregionen Chinas sind die
Schmuggelpartien der Marine und die profitable Zusammenarbeit von Armee und Marine mit Schmugglerbanden ein offenes Geheimnis... Man hört, daß
Schmuggler Küstenpatrouillen bestechen oder sich
gar Eskorten der Marine bestellen, um sicher ihren
Geschäften nachgehen zu können. Im Südchinesischen
Meer nehmen die Angriffe auf Frachtschiffe zu. Auch
daran sind chinesische Marine und Zoll beteiligt.“
ebd.
[72] „Der neue Reformkurs (seit 1987) hatte fünf
wichtige Punkte zum Ziel: striktere Trennung von
Partei- und Verfassungsorganen, Stärkung der Volkskongresse, Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen, Reform des Kadersystems, weiterer Ausbau
des sozialistischen Rechtssytems (‚Rechts- statt Personenherrschaft‘) ... Obwohl diese Forderungen alles
andere als radikal waren, stieß ihre Umsetzung schon
bald auf die befürchteten Einwände und Hindernisse
von seiten konservativer Parteikader.“ O. Weggel,
Revolution nach Plan, NZZ-Folio 11/1994, S.19
aus Heft 4-1994 © 1992-2007
GEGENSTANDPUNKT Verlag, München.
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