Person droht zu springen Ein Leitfaden zur Verhandlung mit Suizidanten ( aus „Notfall + Rettungsmedizin, Heft 6, 2011, S. 491ff., P.Horn ) Mehr als 9000 Menschen sterben jährlich in Deutschland durch Suizid. Auf jeden Suizid fallen etwa 10-15 Versuche. Die Mehrzahl dieser Suizidversuche finden außerhalb der Öffentlichkeit statt ( in 80% durch Selbstvergiftung oder durch Schnittverletzungen ) und bleiben zunächst oft unbemerkt. Notärzte und RD-Kräfte sind daher nur selten (2 – 4% aller Einsätze) mit Einsätzen konfrontiert, in denen Personen unmittelbar vor einer suizidalen Handlung stehen (z.B. Sturz aus großer Höhe, Erhängen, Selbsttötung mit einer Waffe etc.). Bei diesem Einsatzbild „Person droht zu springen“ geht es im wahrsten Sinne des Wortes „um Leben und Tod“. Dies erfordert ein verhandlungssicheres Vorgehen. Die Verhandlungen mit Suizidanten stellen für die RD-Mitarbeiter eine hohe Belastung dar. Es fehlen Handlungspläne und es existieren i.d.R. nur geringe Kenntnisse in der Krisenintervention mit diesen Patienten. Verständnis der Hintergründe sowie der psychischen Realität der Betroffenen ist notwendig. Der Artikel stellt klassische Suizidtheorien vor und grundlegende Prinzipien der Krisenintervention im Sinne eines Verhandlungsleitfaden, um den Helfern vor Ort eine größere Verhandlungssicherheit zu ermöglichen. Im Verlauf der suizidalen Entwicklung bis zur „Entscheidungsphase“ treten verschiedene Merkmale auf, die von Ringel als präsuizidales Syndrom beschrieben werden. Beobachtet werden kann das kontinuierliche Wegfallen von Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten, also dem zunehmenden Wegfall verschiedener Möglichkeiten, eine Krise zu überwinden oder sich jemandem mitzuteilen, sowie des Wahrnehmens positiver Informationen. Die Betroffenen entwickeln mehr und mehr einen Tunnelblick mit zunehmender Fokussierung auf suizidale Handlungen. Ärger und Wut kann sich nicht mehr auf andere richten, sondern richtet sich zunehmend nur noch gegen das eigene Selbst (Aggressionsumkehr). Suizidgedanken, die ursprünglich aktiv als eine von mehreren Handlungsoptionen erwogen werden, werden unkontrollierbar und nicht mehr steuerbar durch eine sich entwickelnde Eigendynamik. Häufige Risikofaktoren ( SAD-PERSONS-scale ) : - Suizidversuch in der Vorgeschichte - Hohes Lebensalter - Bestehende Depressionen und andere psychische Störungen - Partnerschaftskrisen oder auf Grund fehlender Partnerschaft - Einsamkeit - Realitätsverlust - Sucht - Organische Krankheiten - Männliches Geschlecht - Suizidmittel vorhanden Motive der Suizidalität - Appell, Hilferuf - Todeswunsch - Hoffnungslosigkeit - Flucht 1 - Pause, Ruhe finden Selbstaggression Rache Manipulation, etwas erreichen zu wollen Opfer, für etwas sterben wollen Wiedervereinigung mit einem Verstorbenen Psychotische Motive Die von Pöldinger beschriebenen Stadien der suicidalen Entwicklung sind eng verbunden mit dem Verhalten des Betroffenen. Phase des Erwägens : Der Betroffene zieht in dieser Phase den Suizid als mögliche Problemlösung in Betracht, und er kommuniziert dies mit seinem Umfeld. Hinweise (“Das hat alles keinen Sinn mehr“ oder „ich kann nicht mehr“ oder „da gibt es keinen Ausweg“) sind als Appell zu verstehen. Ca. 80% der Suizidversuche werden vorher angekündigt. Appelle werden vom Umfeld aber aus Hilflosigkeit und Unkenntnis oder auch aus Furcht vor Konsequenzen wie Einweisung in eine psychiatrische Klinik oder Alarmierung der Polizei nicht aufgegriffen. Phase des Abwägens : Das zunehmende Gefühl des Alleingelassenseins stellt sich ein, Suizidankündigungen werden offensiver, allerdings immer weniger verbal sondern immer mehr durch Taten offenbar. Es kommt zu ersten suizidalen Handlungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Rettung einschließen ( z.B. Pulsaderschnitt und Alarmierung des Notarztes ). Es handelt sich hier trotz des Appellcharakters um ernstzunehmende Handlungen in der Phase des Abwägens bestimmt durch die Ambivalenzsituation zwischen Leben und Tod. Die Patienten sind immer mehr nicht mehr in der Lage, sich von dem Suizidgedanken zu distanzieren. Phase des Entscheidens : Kommt es letztendlich zum Entschluss des Suizidanten, tritt eine „trügerische Ruhe“ ein. Der eigene Tod wird als einzige mögliche Konsequenz und als einzig möglicher Ausweg gesehen. Es findet keinerlei Kommunikation über die Suizidgedanken mehr statt,. Der Suizid wird vorbereitet. Eine innere Ruhe tritt ein. Die Angehörigen sind in diesem Stadium oft erleichtert, da der Zustand des Patienten nach außen deutlich verbessert scheint. Wenn es dann zum Suizid kommt, ist das Unverständnis der Angehörigen deshalb mitunter sehr groß, da sie der Ansicht waren, der Pat. hätte das Schlimmste überstanden. Verhandlungsleitfaden Der Verhandlungsleitfaden beinhaltet 4 aufeinander bezogene und strukturierte Phasen : - Kontakt herstellen Zustand ansprechen Hintergrund erfragen Verhandlung führen Grundsätzliche Prinzipien sind allerdings voranzustellen, die eine sichere Verhandlungsführung erst möglich machen : 2 1. Die Sicherheit der Rettungskräfte hat höchste Priorität ( Mittel der Wahl ist die verbale Deeskalation; Eigensicherung in der Höhe und räumliche Distanz zum Suizidanten ) 2. Die psychische Belastung der Rettungskräfte ist so gering wie möglich zu halten ( Die Aufforderung zu springen führt ggf. zu massiven Schuldgefühlen, wenn der Suizidant wirklich springt ) 3. Krisenintervention erfordert einen festen Ansprechpartner ( Austausch der Verhandlungsperson nur dann, wenn diese sich stark überfordert fühlt) 4. Klare und eindeutige Formulierungen fördern die Ernsthaftigkeit der Verhandlung ( nicht „um den heißen Brei herumreden“, sondern deutliche und klare Formulierungen wählen wie z.B.: „Sie wollen sich umbringen“ ) 5. Forderungen des Suizidsanten wird nicht nachgegeben ( Keine Zigaretten, heißen Tee oder wärmende Decke anbieten; entspricht einerseits nicht der Bedrohlichkeit der Situation, andererseits steht es einer ziel- und zeitorientierten Verhandlung entgegen; keine Angehörigen oder Bekannte des Suizidanten zur Verhandlung zulassen, da sonst alles außer Kontrolle geraten könnte ) Phase 1 : Kontakt herstellen Grundlage für eine sich entwickelnde Compliance des Suizidanten ist, dass er weiß, mit wem er es zu tun hat. Daher ist eine Vorstellung mit Name und Funktion unabdingbar. Ebenso sollte der Name des Suizidanten erfragt werden. Angstfreie Themen sind zu Beginn sinnvoll, sie sollten sich aber auf die Situation beziehen ( „Sollen wir uns duzen oder siezen?“ , „Wie sind Sie hier hochgekommen?“ etc. ). Die eigene Rolle als ausgewählter Gesprächspartner sollte angesprochen werden. Es sind keine Direktiven auszugeben wie: „Treten Sie vom Fenstersims zurück“ oder „Springen Sie nicht“. Dies führt eher zur Unterbrechung des Kontakts. Phase 2 : Zustand ansprechen Sobald der Suizidant den Helfer registriert hat ( Blickkontakt oder auch durch Aufforderung zurückzubleiben ) sollte versucht werden, die Situation des Suizidanten in Worte zu fassen. Das ist deswegen nötig, weil Menschen in einer akuten Krisensituation häufig keinen klaren Bezug mehr zur Realität herstellen können ( „Tunnelblick“ ). Die Darstellung der Realität durch den Helfer wirkt häufig entlastend ( „Sie stehen hier oben und wollen springen. Unten stehen viele Polizisten und Feuerwehrleute“). Auch sollte versucht werden, den inneren Zustand des Suizidanten in Worte zu fassen ( „Sie befinden sich in einer Entscheidung zwischen Leben und Tod, Sie sind sehr verzweifelt und sehen keinen Ausweg mehr. Ich habe aber auch den Eindruck, dass Sie noch leben möchten und Hoffnung haben, dass alles gut wird“). In dieser Situation sollten keine Lösungsmöglichkeiten angeboten werden. Diese führen beim Suizidanten eher zur Ablehnung. Die eigene Ohnmacht oder Unsicherheit des Helfers sollte unbedingt thematisiert werden : 3 „ Modell der Affektregulation zu zweit“ Nicht nur der Suizidant sondern auch der Helfer fühlt sich u.U. hilf- und sprachlos ( „ Die Situation macht mich selbst sprachlos und ich kann mir gut vorstellen, dass es Ihnen genauso geht“). Auch negative Gefühle wie Ärger und Wut sollten thematisiert werden ( „Sie beschimpfen und beleidigen mich. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich auch gekränkt und betrogen fühlen“ ). All diese unerträglichen Gefühle sollten zu zweit bewältigt werden („Sehen wir, wie wir beide aus dieser Situation am besten herauskommen“ ). Der konkrete Bezug zur aktuellen Situation sorgt dafür, dass die inneren Zustände des Suizidanten nicht negiert oder verniedlicht werden. Der Suizidant fühlt sich ernst genommen und es schafft gleichzeitig eine Vertrauensbasis. Gleichzeitig bewirkt dieses Vorgehen auch eine Entlastung für den Helfer, wenn seine eigene Unsicherheit und Hilflosigkeit mit ins Gespräch gebracht wird. Phase 3 : Hintergrund erfragen Diese Phase beginnt, wenn sich der Kontakt stabilisiert hat und eine gewisse Vertrauensbasis erreicht wurde. Nun sollte der Helfer beginnen, Informationen und Hintergründe zu eruieren, die für die Verhandlungsphase von Nutzen sind. Was ist passiert? Welche Personen sind involviert? Keine Warum - Fragen stellen: Sie fördern den Rechtfertigungszwang und können den bisher erarbeiteten Kontakt beschädigen. Es ist auch nicht förderlich, schnelle Lösungen anzubieten; allein die Äußerung seiner inneren Not bietet dem Suizidanten die Möglichkeit, aus seiner eingeengten Wahrnehmung herauszufinden. Werden die Darstellungen des Suizidanten zu ausschweifend, sollte er auf die aktuelle Situation zurückgeführt werden ( „Ich kann gut nachvollziehen, wie schwierig das alles für Sie ist, im Moment geht es aber darum, dass Sie hier auf der Brücke stehen und hinunterspringen wollen, gleichzeitig aber auch Hilfe suchen“ ). Phase 4 : Verhandlung führen Weitere Unternehmungen sind immer gemeinsam zu bewerkstelligen, weil der Suizidant sich u.U. als doppelter Versager fühlt, erst im Leben, jetzt in der Unfähigkeit den letzten Schritt zu vollziehen. Die gemeinsamen Aktionen wirken dem ausgeprägten Schamgefühl zumindest kurzfristig entgegen. Worte wie „Wir“, „Gemeinsam“, „Zusammen“ fördern ein Gefühl der Sicherheit des Betroffenen ( „wir stehen das jetzt gemeinsam durch“ oder „wir gehen jetzt zusammen hinunter“ ). Auch in diesem Stadium sollten keine unrealistischen Versprechungen gemacht werden. Die Betroffenen wissen, dass sie danach in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Es ist daher nicht angezeigt, ihnen andere Möglichkeiten anzubieten, selbst wenn der Betroffene von schlechten Erfahrungen berichtet, die er in diesen Einrichtungen gemacht hat ( „ich kann mir vorstellen, dass es schlimm für Sie war, aber es gab auch sicherlich etwas, was Ihnen geholfen hat“ ). Auch kann man dem Betroffenen gegenüber erwähnen, dass nicht unbedingt ein langer Aufenthalt in einer psychiatrischen 4 Klinik erfolgen muss, sondern dass möglicherweise eine Weiterbehandlung nach kurzer Zeit auch ambulant erfolgen kann. Beim gemeinsamen Heruntergehen ist der Zweier-Kontakt des Helfers mit dem Betroffenen aufrecht zu erhalten, da er dann mit einer Menge von Polizei- und Feurwehrkräften konfrontiert wird. Für den Helfer ist seine Aufgabe erst erledigt, wenn er den Betroffenen seinen Kollegen übergeben hat. Sollte der Suizidant trotz aller Mühen des Helfers seinen Entschluss zum Suizid in die Tat umsetzen, muss für den Helfer Hilfe zur Krisenbewältigung und Nachbereitung zur Verfügung stehen, um seine Belastung zu mildern. Niederberger 05/12 5