Materialsammlung zur Vorlesung über kognitive Fähigkeiten (Intelligenz) Charles Spearman und die Theorie eines generellen Faktor der Intelligenz. Quelle: Stephen Jay Gould. The mismeasure of man. 2. Auflage, S. 286 – 302. 1904 veröffentlichte der Psychologe Charles Spearman mit dem Titel: „General intelligence objectively measured and determined“. Spearman interessierte sich für Korrelationen zwischen verschiedenen Intelligenztesten und bemerkte, daß sich dabei meist ein positiver Korrelationskoeffzient ergab. Daraus schloß er, daß die verschiedenen Test keine unabhängigen Eigenschaften messen, sondern alle etwas gemeinsam haben: Das gemeinsame nannte Spearman die generelle Intelligenz (General intelligence), den Faktor g. Dieses g war, so glaubte es Spearman, die gemeinsame Größe, die allen intellektuellen Prozessen zugrunde liegt. Zitat aus seiner Arbeit von1904 „Alle Zweige intellektueller Aktivität haben eine fundamentale Funktion gemeinsam“. Diese gemeinsame fundamentale Funktion, der generelle Intelligenzfaktor g kann quantitativ bestimmt werden. Diese Vorstellung eines quantifizierbaren g wird von einem Teil der Intelligenzforscher bis heute unterstützt und als wissenschaftliche Tatsache hingestellt (Folie Intelligenzverteilung und berufliche Möglichkeiten). Wenn man die Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen beurteilen will, dann ist die Bestimmung von g mit Hilfe von Kultur unabhängigen Intelligenztests der weitaus beste prognostische Parameter. Zu Spearmans Zeiten gehörten Griechisch und Latein noch zum Ausbildungsprogramm der Oberschicht und schon damals fragten Kritiker und ob die Fähigkeit griechische Syntax zu lernen eigentlich ein brauchbarer Test für die spätere Fähigkeit von Männern (von Frauen war in diesem Zusammenhang typischer Weise nicht die Rede) Truppen zu kommandieren oder Provinzen zu verwalten darstellt. Für Spearman war das kein Problem: Der Faktor g entschied ebenso über die Fähigkeit griechische Syntax zu lernen wie über die Fähigkeit Truppen zu kommandieren oder Provinzen zu verwalten. Wer das eine konnte, war auch zum anderen befähigt. Die Entdeckung von g war für Spearman der Beweis, daß die Psychologie einen Platz unter den wirklichen Wissenschaften den Naturwissenschaften einnehmen konnte. Wir dürfen hoffen, so schrieb er 1923, daß die so lange vermißte genuine wissenschaftliche Basis für die Psychologie (mit g) bereit gestellt werden konnte und daß die Psychologie damit ihren Platz unter den anderen auf einer soliden Grundlage stehenden Wissenschaften, sogar den Physik selbst einnehmen kann (Folie Hierarchie der Wissenschaften). Erinnern sie sich, daß die Physik in der Hierarchie der Wissenschaften als die alles entscheidende Basis angesehen wird, während die Psychologie als eine sehr hohe Ebene angesiedelt ist, bei der ein Reduktionismus auf die Ebene physikalischer Gesetze für viele undenkbar erscheint. Spearman glaubte, er habe mit dem Faktor g das Tor geöffnet zu einem Weg, der die Psychologie zu einer ebenso harten, faktenbezogenen und quantifizierbaren Wissenschaft werden läßt wie die Physik. Das Triumpfgefühl, das Spearman dabei empfand, zeigte sich im Vergleich seiner Arbeit mit der kopernikanischen Revolution des Denkens und seiner Bemerkung „Das Aschenbrödel unter den Wissenschaften (nämlich die Psychologie) hat die kühne Forderung gestellt, die Ebene der triumphierenden Physik selbst zu erreichen“ (1937) (Gould, S. 293). Schauen wir uns Spearman Vorstellung noch etwas genauer an: Spearman stellte sich vor, daß das Gehirn möglicherweise verschiedene Kompartimente für mathematische, verbale, räumliche Fähigkeiten usw. besitzt. Ähnlich den Vorstellungen der Phrenologen im 18. Jahrhundert (Folien des Schädels mit verschiedenen kompartmentalisierten Eigenschaften zeigen Begriff Phrenologie erläutern). Daraus ergab sich zunächst eher die Vorstellung, daß Intelligenz aus ganz verschiedenen Komponenten besteht. Spearman nannte diese Vorstellung „Oligarchic“ (eine Oligarchie ist bekanntlich eine Herrschaft der Wenigen). Soweit könnte man denken, daß Spearman eine frühe Theorie multipler Intelligenzen in ein und dem selben Individuum vertrat (auf diese Vorstellung werde ich noch zu sprechen kommen). Spearman glaubte jedoch, daß oligarchisch bestimmte Intelligenzstruktur auf der Basis eines einzigen, dieser Struktur unterliegenden generelle Faktors g und diese Vorstellung nannte er „Monarchic“. g ist also gewissermaßen ein absoluter Monarch, der alles im Reich der kognitiven Fähigkeiten beherrscht. Nun sah auch Spearman, der ein guter Statistiker war (der sogenannte Spearmans Rank-Correlation-Coefficient ist den Statistikern noch heute geläufig), daß die von ihm beobachteten positiven Korrelationskoeffizienten für eine Anzahl verschiedener mentaler Tests eine Restvarianz (Residualvarianz) aufwiesen. Diese Retsvarianz wies darauf hin, daß in jedem Test Informationen steckten, die spezifisch für diesen Test waren und nicht in anderen Test erhoben werden könnten. In den Worten Spearman hatte jeder Test seine „Anarachic“ Komponente. Spearman gab dieser anarchistischen Komponente in jedem Test den Namen s, was für spezifische Information steht. Diese anarchistischen Elemente in unserem Kopf sind also nicht bereit, sich dem absolutistischen Monarchen g zu unterwerfen. Das ist die Grundlage von Spearman Zweifaktorentheorie der kognitiven Fähigkeiten, die mit Intelligenztests gemessen werden können. Der eine Faktor ist s, also die spezifische Information, die mit einem bestimmten Test gewonnen werden kann und der andere Faktor ist g, die generelle Intelligenz. Alles was im Reich der Intelligenz passiert, hängt vom Herrscher g ab, aber es kann auf lokaler Ebene da und dort auch Einflüsse von Anarchisten geben, auf deren Treiben der Herrscher g keinen Einfluß hat. Spearman glaubte, daß der Herrscher g im großen und ganzen die Geschicke des Landes bestimmt. Wie können uns natürlich auch ein Land vorstellen, in dem der Monarch weitgehend machtlos ist und die Anarchisten hier wenig aufeinander abgestimmtes Treiben in den verschiedenen Landesteilen unbeeinflußt von der Zentralmacht ausüben können. Mit diesem Bild kämen wir zu einer Vielefaktorentheorie der Intelligenz, bei der die Bestimmung eines Faktors nur wenig oder gar nichts aussagt über andere Faktoren. Mit dem Gebrauch des Wortes Faktor unterstelle ich eine wenigstens prinzipiell quantitativ meßbare Eigenschaft, die aus dem Blickwinkel eines Biologen an bestimmten Hirnstrukturen und letztlich an Interaktionen zwischen bestimmten, wenn auch sehr großen Zahlen von Zellen im Gehirn dingfest gemacht werden kann. Ich bin mir nicht klar darüber, ob ein solches Bild von einem einzelnen allem unterliegenden Faktor g oder auch vielen voneinander unabhängig wirkenden Faktoren ein angemessenes Bild ist, um kognitive Fähigkeiten und ihre Wechselwirkungen zu verstehen. Ein solches Verständnis setzt voraus, daß es gelingt, die Evolution kognitiver Fähigkeiten zu verstehen und die Gene zu identifizieren, die für bestimmte kognitive Fähigkeiten wesentlich sind einschließlich ihrer vielfach vernetzten Wechselwirkungen untereinander und mit Einflüssen aus der Umwelt. Gleichgültig ob man die Theorie einer generellen Intelligenz verteidigen will oder (wie ich ihnen später zeigen möchte) die Vorstellung multipler kognitiver Fähigkeiten vertritt, bei denen die eine Fähigkeit wenig oder gar keine Aussage über die Entwicklung einer anderen Fähigkeit zuläßt. Alle diese Vorstellungen müssen, wenn sie sich naturwissenschaftlich bewähren sollen, zeigen, welche genetischen und epigenetischen Wechselwirkungen für die Struktur und Funktionsweise des gesamten Gehirns oder bestimmter Anteile des Gehirns nötig sind, damit eine bestimmte quantitativ meßbare kognitive Fähigkeit entsteht. Damit wird der in der abendländischen Geschichte und, soweit ich sehen kann, der von allen Religionen Dualismus zwischen Geist und Körper verlassen. Es ist eine interessante Frage, wie sich die Weltreligionen mit dieser naturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen des Geistes arrangieren können und ob sich aus Gesprächen zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ein Erkenntnishorizont ergibt, den diese an unseren Universitäten immer noch in so altmodischer Weise getrennten Wissenschaftsbereiche auf sich allein gestellt gar nicht erreichen können. Zurück zu Charles Spearman. Seine Bedeutung liegt darin, daß er die Grundlagen der Faktorenanalyse entwickelte. Was die Intelligenz angeht kam er persönlich zu dem Ergebnis, daß die in einer Matrix von Korrelationskoeffizienten nachweisbare gemeinsame Varianz bei Intelligenztesten es rechtfertigt, einen generellen Faktor anzunehmen, unseren bereits bekannten absoluten Monarchen g. Die Geburtsstunde dieses Monarchen war die bereits genannte Arbeit Spearman aus dem Jahr 1904 mit ihrem Titel „Generelle Intelligenz objektiv gemessen und bestimmt“. Die Überzeugung, daß IQ-Tests g mit hinreichender Genauigkeit erfassen können, hat die wissenschaftliche Intelligenzdebatte im 20. Jahrhundert beherrscht und ihren bislang letzten Niederschlag in dem Buch von Herrnstein & Murray „The bell curve“ gefunden. Gould bezeichnet diese Vorstellungen als „The mismeasure of man“ (Folie: Titelseite des Buches von Gould).