Wahrheit und Wissenschaft von Oswald Schwemmer, Humboldt-Universität zu Berlin 1 Wahrheit durch Eindeutigkeit: ein wissenschaftspraktisches Randproblem? Wahrheit und Wissenschaft gehören in unserem Verständnis gewöhnlich so eng zusammen, dass man versucht sein könnte, überhaupt nur in der Wissenschaft von Wahrheit zu reden. Denn wo sonst finden sich vergleichbar klare und eindeutige Kriterien, um Wahrheit und Falschheit, aber auch Wahrscheinlichkeit von Unwahrscheinlichkeit zu unterscheiden, vergleichbare Verfahren, die behauptete Wahrheit oder auch Wahrscheinlichkeit von Aussagen zu überprüfen und nicht zuletzt auch eine vergleichbare Klarheit und Eindeutigkeit der Aussagen, für die ein Wahrheitsanspruch erhoben wird? So könnte es denn durchaus begründet erscheinen, wenn man das Verhältnis von Wissenschaft und Wahrheit in einigen wenigen Thesen zusammenfasst, die zudem nicht vielmehr sind als eine Bekundung weitgehend selbstverständlicher Unterstellungen des wissenschaftlichen Arbeitens. Diese Thesen könnten etwa lauten: Die wissenschaftlichen Aussagen sind in einer fachsprachlichen Terminologie formuliert, die mit geregelten experimentellen oder überhaupt empirischen Praktiken verbunden ist und die in einem logisch und mathematisch normierten Zusammenhang mit anderen Aussagen einer Wissenschaft stehen. Durch diesen Bezug auf die empirische Praxis einerseits und die (im weiteren Sinne) logischen1 und mathematischen Relationen anderseits werden die wissenschaftlichen Aussagen letztlich auf mathematische Gleichungen und empirische Beobachtungen zurückgeführt. 1 Zum weiteren Sinn logischer Zusammenhänge gehören auch die terminologischen Beziehungen, die sich aufgrund der ausdrücklichen begrifflichen Bestimmungen ergeben, und die forschungspraktischen Normen, die sich auf methodologische Festlegungen gründen. Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 2 Für die mathematischen Gleichungen ergibt sich die begründete Entscheidung über deren Annahme oder Zurückweisung als eine Entscheidung über die Richtigkeit der mit der Gleichung formulierten Lösung. Für die empirischen Beobachtungen ergibt sich eine solche Entscheidung über sie Feststellung der Beobachtungsergebnisse, d. h. derjenigen Sachverhalte, die sich aufgrund einer methodisch – insbesondere experimentell – geregelten empirischen Praxis im Rahmen eines theoretischen Zusammenhangs ergeben haben. Da sowohl auf der Ebene der sprachlichen Aussagen, in denen die theoretischen Zusammenhänge einerseits und die empirischen Beobachtungen anderseits formuliert sind, als auch auf der Ebene der mathematischen Ausdrücke und schließlich auch auf der Ebene der empirischen Praktiken terminologische, mathematische und praktische Regelsysteme die Behauptungen innerhalb einer Ebene und zwischen den verschiedenen Ebenen hinsichtlich ihres Gegenstandsbezugs und ihres Gültigkeitsanspruchs auf eine im allgemeine hinreichend eindeutige Weise festlegen und dabei insbesondere die sprachlichen Darstellungen und mathematischen Ausdrücke mit den jeweiligen Praktiken verbinden, kann ein Streit um die Wahrheit einer wissenschaftlichen Aussagen bei Vorliegen aller benötigten Aussagen über theoretische Zusammenhänge und empirische Beobachtungen nur in einem sehr engen Bereich der dann noch verbleibenden Interpretationsmöglichkeiten ausgetragen werden. In diesen Verständnis von Wissenschaft scheint die methodische Regulierung der wissenschaftlichen Forschung weitgehend eine Eindeutigkeit und Verlässlichkeit der wissenschaftlich erarbeiteten Behauptungen zu sichern und damit die Rede von der wissenschaftlichen Wahrheit ebenso weitgehend unproblematisch zu machen. Denn wenn der Sinn einer Aussage sowohl in ihrem Gegenstandsbezug als auch in ihrem Geltungsanspruch, d. h. hinsichtlich der Bedingungen für die Einlösung oder Widerlegung dieses Geltungsanspruchs, geklärt ist, lässt sich die Rede von der Wahrheit auflösen in die Feststellung, ob der mit einer bestimmten wissenschaftlichen Aussage Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 3 verbundene Geltungsanspruch auf eine zulässige, nämlich über den Gegenstandsbezug geregelte, Weise eingelöst ist oder nicht. Insbesondere erscheinen die verschiedenen Wahrheitstheorien, wie sie in der Philosophie vertreten und gegeneinander ausgespielt werden, als eine eher unerhebliche Außendekoration des Wahrheitsbegriffes, die das Vorgehen innerhalb der Wissenschaften nicht einmal berührt. So jedenfalls bietet sich der breite Strom der sogenannten „herrschenden Meinung” unter den praktizierenden Wissenschaftlern für den philosophischen Wahrheitstheoretiker dar. 2 Die Frage nach der wissenschaftlichen Wahrheit in den Kontexten der Kontrolle und der Regulierung Auf der anderen Seite zeigen sich aber auch durchaus Motive, die dieses gegenüber den philosophischen Diskussionen gefestigte Bild beeinträchtigen und an einigen Stellen sogar in Unruhe versetzen. Allen voran hat hier Thomas S. Kuhn mit seiner Betrachtung der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen2 und seiner daraus gewonnenen These über die Inkonmmensurabilität der wissenschaftlichen Paradigmen für erhebliche Unruhe – und zwar nicht nur unter den Philosophen, sondern auch unter den praktizierenden Wissenschaftlern – gesorgt. Denn wenn es tatsächlich der Fall ist, dass eine wohl etablierte und alle oben genannten Kriterien der Eindeutigkeit und Verlässlichkeit erfüllende wissenschaftliche Theorie insgesamt – und d. h. in ihren gesamten theoretischen, empirischen und sozialen Kontexten – umgestürzt und durch eine neue Theorie mit veränderten Kontexten ersetzt werden kann, und zwar durch eine Theorie, die ebenfalls und in einer womöglich stringenteren Weise der wissenschaftlichen Eindeutigkeit und Verlässlichkeit genügt, dann gerät, so scheint es, die Wahrheitsfrage auch für die Wissenschaften in einen Strudel der Relativität. Auch wenn ich es mir hier nicht zur Aufgabe machen kann noch will, einen weiteren Nachtrag zur Debatte über die Stärken und Schwächen der Kuhnschen Paradigma-Konzeption zu liefern, möchte ich doch jedenfalls 2 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 1967. Amerikanische Originalausgabe: Thomas Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions. Chicago [The University of Chicago Press] 1962 (Second Edition, Enlarged 1970). Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 4 festhalten, dass gerade der nähere Blick auf die Praxis der Wissenschaften einige Dinge in den Gesichtskreis bringt, die durch das oben skizzierte Thesenpaket weitgehend verdeckt werden. Den Grund für diese Verdeckung sehe ich vor allem darin, dass der sozusagen normalsichtige Wissenschaftsphilosoph sein Augenmerk vornehmlich auf die Kontrollphasen der wissenschaftlichen Arbeit richtet und sich daher nahezu ausschließlich der Logik der Bestätigung widmet, die Entdeckungszusammenhänge aber mit Popper als etwas, das sich der logischen Rekonstruktion entzieht, in der nicht weiter analysierten historischen Kontingenz versinken und damit auf sich beruhen lässt. Unterstützt wird diese Blickrichtung durch ein Verständnis bzw. ein nicht weiter reflektiertes Vorverständnis der Wahrheit, in dem die Wahrheitsfrage tatsächlich die Abschlussfrage eines theoretischen oder empirischen Prozesses ist, so etwas wie der letzte Schritt zur Kontrolle der Produktfertigung, der in den Prozess dieser theoretischen oder empirischen Arbeit selbst, in den Fertigungsprozess der Produkte nicht mehr eingeht. Begleitet wird diese Blickverengung durch eine besondere Form der philosophischen Kurzsichtigkeit, die aus einem besonderen logischmethodischen Unterteilungseifer herrührt. So trennt man üblicherweise die Frage nach der Bedeutung eines Ausdrucks von der nach dessen Wahrheit. Welcher Bedeutungstheorie man auch immer den Vorzug geben mag, so bewirkt diese Trennung doch auf jeden Fall, dass Wahrheitsfragen erst dann auftauchen können, wenn die Bedeutungsfragen beantwortet sind. Die spezifische Kurzsichtigkeit des Wahrheitstheoretikers besteht dann darin, dass alle Fragen, die über das abschließende Urteil, über die abschließende Kontrolle einer expliziten Behauptung hinausführen, im jenseitigen Feld der Konstitution von Bedeutung ihre Konturen verlieren und damit nur noch den Hintergrund oder das Umfeld des deutlich Gesehenen ausmachen. Bestärkt wird diese Kurzsichtigkeit schließlich durch eine generelle Fixierung auf logische Kategorien: und dies wiederum in dem weiten Sinne, dass diese Kategorien auch terminologische und methodologische Aspekte mit einschließen. Diese Fixierung beschränkt den Blick auf die verschiedenen Regelungen, auf die Standards der Richtigkeit im wissenschaftlichen Prozess, Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 5 lässt aber die kreativen Ideen, die Arbeit an Modellen und Perspektiven, und im übrigen auch die konkrete Momente der Kommunikationsformen im wissenschaftlichen Arbeitsprozess, außer acht. Allgemein und durchaus pointiert gesagt, kann man feststellen, dass die methodologische Position der Wahrheitsfrage in den Kontexten der Kontrolle und der Regulierung dazu geführt hat, dass die konkrete Realität der wissenschaftlichen Arbeit, nämlich deren allgemeinen Dynamik und besondere Kreativität durch die Wahrheitsfrage und die Antworten, die die verschiedenen Wahrheitstheorien für sie bereit halten, nicht einmal mehr berührt wird. 3 Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des Wissens und die Suche nach Strukturen Versteht man die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Wissenschaft nicht nur als eine akademische Übung zur weiteren Festschreibung der etablierten Bereichsaufteilung zwischen Entdeckungs- und Bestätigungskontexten, zwischen Bedeutungs- und Wahrheitsfragen und schließlich zwischen der historischen Dynamik und der lehrbuchfähigen Dogmatik der Wissenschaften, wird man sich daher mit der Wahrheitsfrage auf die dynamische und also historische Realität der Wissenschaftsentwicklung einlassen müssen. Ein erster Schritt auf diesem Weg zurück zur historisch-dynamischen Wissenschaftsrealität besteht darin, dass man die Momente der theoretischen und empirischen Arbeit ins Auge fasst, mit denen sich überhaupt die Wissenschaftlichkeit einer Behauptung ergibt bzw. ergeben soll. Es ist dies ein Schritt, der zur Begehung der Grenzen zwischen den alltäglichen und wissenschaftlichen Überzeugungen, den alltäglichen und wissenschaftlichen Wissensformen einlädt. Das erste, was für einen Außenstehenden einen wissenschaftlichen Text charakterisiert, sind die Fachausdrücke und womöglich die mathematischen Formeln darin. Und liest man die Werke der wissenschaftstheoretischen Literatur, so mag sich der Eindruck aufdrängen, dass es tatsächlich die Fachterminologie ist – und dies im weitesten Sinne, in dem sie auch die mathematischen Formeln mit einschließt -, mit der die entscheidende Grenze Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 6 zwischen den alltäglichen und den wissenschaftlichen Wissensformen gezogen wird. Scheinen es doch vor allem Probleme der sprachlichen Form zu sein, denen die Wissenschaftstheoretiker ihre Aufmerksamkeit schenken. Durch diese Konzentration auf die sprachliche Form wird die Wissenschaftstheorie im übrigen für viele zu einem außerordentlich abstrakten und schwer nachvollziehbarem Projekt. Die Abstraktheit entsteht dadurch, dass die Wissenschaftstheoretiker üblicherweise gewissermaßen eine Halbierung der wissenschaftlichen Realität vornehmen, nämlich die sprachliche Hälfte der Wissenschaften alleine und für sich selbst betrachten und die praktische Seite entweder gar nicht zur Kenntnis nehmen oder aber nur über deren sprachliche Form – d. h. insoweit diese praktische Seite z. B. als Sonderform der Beobachtungssprache in die sprachliche Form eingeht – als ein Moment der wissenschaftlichen Realität zuzugestehen bereits sind. In dieser wissenschaftliche Realität stehen aber nicht Überlegungen zur sprachlichen Form am Anfang, sondern Konzepte bzw. Ideen und Modelle, über die eine Vielfalt von Beobachtungen oder auch Vermutungen in eine Struktur gebracht werden können. Mit dieser Redeweise nähern wir uns einem Kernpunkt der wissenschaftlichen Arbeit: dem Versuch nämlich, Strukturen offenzulegen und möglichst genau zu erfassen. 3.1 Strukturen und Modelle Um diese Rede von der Strukturen verständlich zu machen, ist es zunächst erforderlich, in einer negativen Weise darauf hinzuweisen, dass Strukturen nicht auf logische Relationen reduziert werden können. Am ehesten lassen sich Strukturen über die Rede von Modellen charakterisieren. Ein, wie ich sagen will, Anfangsmodell gewinnen wir über einen konkreten Gegenstand, den wir in unserer Welt vorfinden können oder aber auch erst herstellen müssen und der dann eben zu einem konkreten Gegenstand unserer Welt wird, und die Betrachtung des Verhaltens dieses Gegenstandes unter Bedingungen, die uns interessieren. Ein prominentes Beispiel für ein solches Modell ist das Wasser in einer Wanne, das wir in eine Wellenbewegung versetzen und dessen Wellenbewegungen wir z. B. durch den Einsatz von Gittern verändern. Nicht Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 7 weniger prominent sind die Modelle des Kekuléschen Benzolrings oder des Bohrschen Atommodells. Für den Bereich des menschlichen Erlebens und Handelns bieten das Freudsche Modell vom Es, Ich und Über-Ich oder, in deutlich anderer Perspektive, das Reiz-Reaktion-Modell der Verhaltenstheorie einschlägige Beispiele. Wo immer man in den Prozess der wissenschaftlichen Theoriebildung schaut, wird man solche Modelle entdecken, wenn auch nicht immer nur Anfangsmodelle. Viele Modelle sind zwar zunächst an den Verhaltensweisen konkreter Weltgegenstände entwickelt worden, verlieren dann im Laufe der weiteren Entwicklung aber ihre konkrete Anschaulichkeit und werden schließlich zu Konfigurationen, die wir nur noch teilweise, wenn überhaupt, mit anschaulichen Verhältnissen unserer Erfahrungswelt in Verbindung bringen können. Ein berühmtes Beispiel für einen solchen Übergang bietet die Maxwellsche Theorie des elektromagnetischen Feldes, in der zwar weiterhin Wellen – nämlich transversale Wellen, mit denen sich elektromagnetischer Wirkungen mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten – vorkommen, aber ein Träger für diese Wellen wie etwa das Wasser oder auch der zunächst angenommene Äther fehlen bzw. – durch den berühmten Michelson-Versuch (ab1881) – explizit als nicht existent erwiesen worden sind. Wellenbewegungen ohne einen materiellen Träger lassen sich von keinem mechanischen Modell mehr erfassen und kommen in unserer Erfahrungswelt nicht vor. Gleichwohl verdankt sich die Konzeption eines elektromagnetischen Feldes auch nach seiner Befreiung von einem Äther dem mechanischen Anfangsmodell der Wasserwellen oder anderer schwingender Medien. Nach wie vor wird auch im elektromagnetischen Feld eine Wellenform der Ausbreitung für die elektromagnetischen Wirkungen angenommen, wenn nun auch ohne den in einem mechanischen Modell notwendigen Träger. Und auch weitere Abstriche an der Anschaulichkeit eines konkreten Gegenstandes oder eines mechanischen Modells, die etwa zur Aufgabe des Wellenmodells überhaupt führen könnten, bleiben Modelle, die erst über die Ausarbeitung von Anfangsmodellen entwickelt werden konnten und die sich weiterhin auf die Erfassung realer Abläufe oder Verhältnisse beziehen. Solche Folgemodelle, die lediglich noch in einigen Teilen einen Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 8 anschaulichen Bezug aufweisen oder auch überhaupt nicht mehr bieten, könnte man als Modelle zweiter Ordnung von den Anfangsmodellen erster Ordnung unterscheiden. 3.2 Modelle und Relationen Was alle diese Modelle im Unterschied zu den logischen Systemen von Aussageformen oder überhaupt von irgendwelchen Formen gemeinsam haben, ist ihr Bezug auf reale Abläufe oder Verhältnisse. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Form einer Relation und den Relata, die durch diese Relation in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gebracht werden. Wie man dies an der Wittgensteinschen Definition der logischen Partikel über die Wahrheitstafeln besonders eindrücklich sehen kann, ergibt sich die Definition für die logischen Partikel bereits alleine aus einer rein kombinatorisch erzeugten Folge der möglichen Anordnungen von Wahrheitswerten. Die logischen Partikel, so könnte man es sagen, haben keine innere Bedeutung, die sich aus ihnen selbst – z. B aus einer ursprünglichen Konzeption für ihrem Gebrauch – ergibt, sondern sie gewinnen ihre Bedeutung alleine aus der Tabelle, in der eine bestimmte Anordnung der beiden Wahrheitswerte für die beiden zu verknüpfenden Aussagen oder Formeln aufgeführt ist. Anders gesagt: Die Bedeutung der Relation, die mit einer logischen Partikel definiert ist, ergibt sich alleine aus der Anordnung der Relata, auf die sich diese Relation bezieht. Der Relation kann keine eigene Bedeutung neben der tabellarischen Anordnung ihrer Relata zugesprochen werden. Eben dies trifft auf Modelle nicht zu. Die Relation oder auch das Relationengefüge, das mit einer wellenförmige Bewegung charakterisiert werden soll, bildet eine eigene relationale Realität. Die Form eine Wellenbewegung bezieht sich auf eine Realität von Relationen, die an unterschiedlichen Relata auftreten kann. Man definiert diese Relation in einem bestimmten Anfangsmodell de facto zunächst für bestimmte konkrete Mustergegenstände: Die Relation wird damit über deren Relata definiert. Im Verlauf der Ausweitung der Gegentandsbereiche und damit der Verallgemeinerung der Relation kehrt sich das Definitionsverhältnis zwischen einer bestimmten Relation und der sie verbindenden Relation um: Dass wir die Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 9 Ausbreitung des Lichtes, der elektromagnetischen Wirkungen, des Schalles und der Wasserwellen zumindest über weite Strecken hin in einem einheitlichen Modell – und dies heißt ja in einem einheitlichen Relationengefüge – fassen können, führt vielmehr zu einer vereinheitlichenden Auffassung der zunächst als disparat erscheinenden Relata und definiert damit diese Relata von der Form der Relationen her, die auf sie angewendet werden können. Nicht die Relata definieren die Relation, sondern die Relation definiert die Relata. An dieser Stelle können wir die Rede von einer Struktur wieder aufnehmen. Strukturen, so können wir nun sagen, sind reale Relationen, sind Formen von Verläufen und Verhältnissen, die wir als Formen tatsächlicher Verläufe oder synchroner Zustandsverhältnisse ansehen. Es ist das Ziel der Wissenschaften, solche Strukturen zu entdecken, auf eine immer genauere Weise zu beschreiben und womöglich in einen immer umfassenderen Zusammenhang oder aber auch in ihrer historischen Individuation zu erkennen. 4 Die kreative Bedeutung von Modellen Mit dieser Formulierung habe ich den Kernpunkt meiner Überlegungen erreicht und – mit der letzten Bemerkung – auch schon eine Verzweigung der Frage nach der Verhältnis von Wissenschaft und Wahrheit für verschiedene wissenschaftliche Bereiche und Traditionen angedeutet. Einige Bemerkungen mögen diesen Kernpunkt noch etwas erläutern. 3.3 4.1 Phänomen und Funktionen Eine erste Bemerkung betrifft die seltsame Abstraktheit vieler wissenschaftstheoretischer Untersuchungen, die ich bereits erwähnt habe und die sich nun in einem anderen Lichte zeigt. Mir war es wichtig, die Rede von Strukturen über die von Modellen einzuführen. Strukturen, so kann man ihr Verhältnis zu den Modellen charakterisieren, sind die – insbesondere mathematisch – präzisierende Explikation von Modellen. Diese Explikation lässt sich ihrerseits als eine Funktionalisierung der Modelleigenschaften verstehen, d. h. als eine Ablösung der im Modell betrachteten Verhältnisse von den konkreten Gegenständen, die zumindest in den Anfangsmodellen noch zu diesen Modellen gehören und gewissermaßen als Quelle oder heuristischer Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 10 Ursprung für die Verhältnisse dienen, dienen, die mit dem Modell hervorgehoben werden sollen. Das Verhalten der Modellgegenstände wird zum Muster der Verhältnisse, die man durch das jeweilige Modell charakterisieren will. Die Ablösung vom ursprünglichen Modellgegenstand und von dessen konkretem Verhalten und die Verallgemeinerung dieses konkreten Verhaltens zu Verhältnissen auch für anderen Gegenstandsbereiche bedeutet, dass man sich nicht mehr nur auf die Phänomene im Verhalten eines Gegenstandes konzentriert, sondern auf die Funktionen, die im Verhalten dieses Gegenstandes entdeckt werden können. Diese Funktionen sind zunächst im wörtlichen Sinne ihrer mathematische Definition zu verstehen. In diesem Verständnis sind Funktionen im allgemeinsten Sinne Zuordnungsvorschriften, die gewissen Zahlen, nämlich den Argumenten einer Funktion, wieder Zahlen, nämlich die Werte einer Funktion, zuordnen. 3.4 4.2 Modellcharakteristik und Modellkonstruktion In der konkreten wissenschaftliche Arbeit werden solche Funktionen aber nicht nur als mathematische Formeln betrachtet, sondern als die bis auf Zahlenverhältnisse hin verallgemeinerten Darstellungen von Formen realer Verläufe und Verhältnisse, also von Strukturen. Ein wissenschaftlicher Fortschritt lässt sich daher auch meist nicht nur über eine Verbesserung, z. B. über eine Verkürzung oder eine Vereinheitlichung verschiedener Funktionen, verstehen und beschreiben, sondern auch und vor allem über eine verbesserte, z. B. folgenreichere oder umfassendere, Explikation der Modellcharakteristik. Unter einer Modellcharakteristik verstehe ich die spezifischen Eigenschaften – und dies heißt immer das spezifische Verhalten unter bestimmten Bedingungen -, die der Modellgegenstand zwar zeigt, die aber nicht alle in ihrer Verwendbarkeit für die funktionalisierende Modellkonstruktion erkannt und expliziert worden sind. Gerade weil die Charakterisierung eines Modellgegenstandes und damit die Konstruktion eines Modells nicht erst bei der expliziten Darstellungen von bestimmten Modellrelationen, sondern schon bei der Auffassung eines Gegenstandes überhaupt als eines möglichen Modells beginnt, bleibt dieser Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 11 Gegenstand auch in seinen unexplizierten Eigenschaften und Aspekten eine mögliche Quelle für eine prinzipiell unabschließbarer Fortführung der Modellkonstruktion. Dieser bleibende „Überschuss”, der sich aus der konkreten Gegenständlichkeit des Modellgegenstandes und unserem historischen Verhältnis zu ihm ergibt, bettet die mathematischen Formalismen in Kontexte ein, in denen sie als Strukturierungselemente, nicht aber schon als die Struktur selbst wahrgenommen werden und gelten können. Ohne terminologische Stilisierungen gesagt, rettet der bleibende Bezug zu den Modellgegenstände der Phantasie einen Ort, an dem sie ihre Freiheit auch gegenüber den mathematischen Formalismen bewahren und sich selbst zu neuen Modellierungseinfällen versteigen kann. Und dies gilt auch für die Modelle zweiter Ordnung, die weniger anschauungsfreundlichen Folgemodelle. Auch ihnen liegt letztlich die kreative Phantasie des Zusammensehens von verschiedenen Momenten der Modelle, d. i. von verschiedenen Formen von Verläufen und Verhältnissen, zugrunde, eine konfigurative Phantasie auch über die reale Existenz konkreter Gegenstände hinaus. 5 Der Arbeitssinn der wissenschaftlichen Darstellungen Eben diese Verbindung der wissenschaftlichen Darstellungsformen untereinander, seien sie nun sprachlicher oder mathematischer Art, die den logischen und mathematischen Aussagen erst ihren „Arbeitssinn”, ihren Sinn innerhalb der wissenschaftlichen Arbeit, gibt, wird mit der wissenschaftstheoretischen Konzentration alleine auf die Darstellungsseite der Wissenschaften aufgelöst. Und eben durch diese Auflösung geraten vielen wissenschaftstheoretische Untersuchungen nicht nur in eine weite, zumeist sehr weite, Ferne von der tatsächlichen wissenschaftlichen Arbeit, sondern sie werden auch einigermaßen unverständlich, weil sie die bedeutungsstifftende Verbindung zur Modellarbeit auf der einen und zur empirisch vermittelten Präzisierung von Strukturen auf der anderen Seite aufgekündigt haben. Ein Wissenschaftler hat meist keine Schwierigkeiten, seine eigene Terminologie für verständlich zu halten und sie in einer nahezu selbstverständlichen Weise auch zu gebrauchen. Denn schließlich ist diese Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 12 Terminologie für ihn kein isoliertes Sprachsystem, sondern die sprachliche Münze, die verschiedene Aspekte und Tätigkeiten der wissenschaftlichen Arbeit für die Kommunikation in ein Austauschverhältnis bringt. Man lernt die Sprache mit der Arbeit die sie zu beschreiben erlaubt. Wer an dieser Arbeit teilnimmt, für den ist seine auf dieser Arbeit bezogenen Fachsprache von einer geradezu selbstverständlichen Verständlichkeit. Wer dagegen außerhalb dieser Arbeitszusammenhänge mit dieser Fachsprache konfrontiert wird, für den wird sich die Fachsprache wie eine Fremdsprache anhören oder wie ein Jargon, mit dem Leute in hochgestochener Manier ihr intellektuelles Niveau zu feiern versuchen. Dieser Sachverhalt führt oft zu grotesken Situationen. Ich selbst konnt kürzlich eine solche Situation er erleben. Nachdem bei einer feierlichen Preisverleihung die Betreuer der prämierten geistes- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten die Preisträger mit ihren Arbeiten vorgestellt hatten, trat der medizinische Kollege ans Rednerpult und erklärte mit offensichtlicher Empörung, dass nach all den hochgestochenen und weitgehend unverständlichen Präsentationen seiner Vorredner er selbst nun endlich einmal klar und einfach reden wolle. Er begann dann eine mit Fachausdrücken gespickte Darstellung der Arbeit seines Preisträgers, die für Außenstehende fast nur aus höchst komplizierten Fremdwörtern bestand und für deren Übersetzung nicht einmal der Pschyrembel aus der Hausbibliothek ausgereicht hätte. Da ich sicher bin, dass Ihnen allen Ähnliches und womöglich noch Drastischeres selbst begegnet ist, mögen Sie meinem Blick auf die Vielfalt der tatsächlichen Aktivitäten in der wissenschaftlichen Arbeit folgen, in der die sprachlichen und mathematischen Darstellungen nur einzelne Momente sind, die wie die Inseln im Strom oder auch im Meer zwar festen Boden bieten, aber keine Verbindungen zwischen sich herstellen. Wer das Unternehmen Wissenschaft nicht in der vieldimensionalen Charakteristik seiner verschiedenen und verschiedenartigen Tätigkeiten wahrzunehmen imstande ist und sie auf nur eine dieser Tätigkeiten, vornehmlich die sprachliche Tätigkeit der Bilanzierung von Ergebnissen, reduziert und dabei auch die Wahrheitsfrage für die Wissenschaft entsprechend einengt, wird, wie ich hoffe, auch bereit sein, Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 13 diese Wahrheitsfrage angesichts der hier nur angedeuteten Vielfalt neu zu stellen und damit auch das Verhältnis von Wissenschaft uns Wahrheit für eine neue Verhandlung freizugeben. 6 Die Selbststrukturierung der wissenschaftlichen Arbeit Wer die Wahrheitsfrage stellt, wird auf die Wirklichkeit verwiesen und zu der Unterscheidung zwischen Wissen und Nichtwissen oder bloßem Meinen gezwungen. Wie immer man hier eine definitorische Bereinigung versuchen mag, Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen bilden so etwas wie eine Dreieinigkeit in wechselseitiger Verweisung. Man mag diese zwar rhetorisch – z. B. in der Konsens- und der Kohärenztheorie der Wahrheit – auflösen. Sachlich kann man ihr aber – wenn man nämlich nach der Legitimation von Konsens und Kohärenz als den Kriterien für die Wahrheit fragt – nicht entgehen. Für meine eigene Überlegung zum Verhältnis von Wahrheit und Wissenschaft orientiere ich mich an dem Mittelbegriff der Wirklichkeit und frage nach charakteristischen Verhältnissen der wissenschaftlichen Arbeit zu der Wirklichkeit, mit der diese Arbeit sich auseinandersetzt. Es sind dies die Verhältnisse zur Wirklichkeit, mit denen sich die wissenschaftliche Arbeit von unserem alltäglich Umgang mit der Wirklichkeit unserer Lebensumgebungen absetzt und zu einem eigenen Unternehmen ausbildet. 3.5 6.1 Die Modellierung der Wirklichkeit durch kreative Perspektivität Den ersten Schritt dieser Absetzbewegung vollzieht die Wissenschaft dadurch, dass sie – wie bereits gesagt – die Wirklichkeit modelliert, bestimmte Formen im Verhalten der Gegenstände zu entdecken versucht und damit überhaupt erst zu Fragen befähigt wird, die sich auf allgemeine Verhältnisse beziehen und die zugleich eine Entscheidung darüber erlauben, ob eine Antwort auf sie zutreffend ist oder nicht, angenommen werden kann oder abgewiesen werden muss. Über diese Modellierung der Wirklichkeit kommt sozusagen die wissenschaftliche Wahrheit in die Welt, nämlich die Wahrheit allgemeiner und auf Entscheidbarkeit abzielender Fragen und Antworten. Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 14 Was auf der Seite der Wirklichkeit als Modellierung auftritt, zeigt sich auf der Seite der – sprachlichen, bildlichen oder auch dinglichen – Darstellung als eine kreative Perspektivität. Denn in der Modellierung entwickelt sich eine Sichtweise, für die bestimmte Aspekte des überhaupt Sichtbaren als Teile eines Verhältnisses bzw. als die Glieder einer Verknüpfungsform herausgehoben werden und alles andere als deren Umgebung zwar wahrgenommen werden mag, aber nicht eigens betrachtet wird. Die Entwicklung einer solchen Sichtweise ist eine kreative Leistung, weil sie sich nicht aus der „Sache selbst” ergibt, sondern als ein Formverhältnis in die Welt sozusagen hineingesehen werden muss. Damit ergibt sich eine zunächst womöglich verblüffend erscheinende Sicht auch auf die wissenschaftliche Wahrheit. Der erste Schritt zur wissenschaftlichen Wahrheit ist ein Schritt der Phantasie und der Gewalt, man kann natürlich auch sagen: der Gewalt der Phantasie. Man sieht sich sozusagen die Wirklichkeit so zurecht, dass in ihr Formen, genauer: Formverhältnisse, auftauchen, die nur dem Auge, das mehr übersieht als das es zu sehen sich erlaubt, sichtbar werden. Die kreative Perspektivierung ist eine Kunst des Übersehens, die zu einem neuen Sehen des sonst Unsichtbaren führt. 3.6 6.2 Die methodische Konstruktion der Wirklichkeit Der zweite Schritt in der Entfaltung der wissenschaftlichen Wahrheit besteht gewissermaßen in einer Umsetzung des neuen, nämlich wissenschaftlichen, Sehens in ein neues, nämlich wissenschaftliches Handeln. Das Gesehene soll nun auch wirklich gemacht oder in der Wirklichkeit aufgesucht werden. Im Aufbau der Wissenschaften kommt dem Experiment hier die entscheidende Rolle zu. So werden am Anfang der neuzeitlichen Wissenschaften geometrische Idealfiguren wie Kugeln, ebene Flächen und gerade Bahnen möglichst perfekt herzustellen versucht, um dann – z. B. in den Galileischen Versuchsanordnungen mit den Kugeln, die in gerade Bahnen auf schiefen Ebenen mit unterschiedlichem Neigungswinkel herunterrollen – allgemeine Verhältnisse aus dem Verhalten der Versuchsgegenstände abzulesen. Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 15 Im Experiment werden Bedingungen geschaffen, die der modellierten Wirklichkeit möglichst nahe kommen sollen und die es insbesondere erlauben, auf eine im Prinzip jederzeit wiederholbare Weise ein ideales Szenarium zu realisieren. Die Wirklichkeit wird so zugerichtet bzw. zurechtgerückt, dass man aus künstlichen Anfangsbedingungen natürliche Verläufe betrachten kann, die eine Verallgemeinerung erlauben und so zu den ersten wissenschaftlichen Antworten bzw. Thesen führen. Wir haben damit einen wiederum womöglich paradox erscheinenden Sachverhalt zu verstehen, nämlich den, dass erst durch eine methodische Konstruktion, ein Zurechtrücken oder Umbauen der Wirklichkeit in (möglichst) ideale Verhältnisse bzw. in (möglichst) isolierte Systeme, wie sie paradigmatisch in einer Laborsituation erreicht werden, die „wahre” Wirklichkeit der allgemeinen Verhältnisse entdeckt und erfasst und insbesondere gemessen werden kann. Eine methodische Konstruktion der Wirklichkeit, wie sie im Experiment vorgenommen wird, ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht möglich. Und wo dort dennoch von Experimenten die Rede ist, unterscheiden diese sich grundlegend von den Experimenten der Naturwissenschaften. Dies schon darum, weil wir keine isolierten Systeme mit Menschen aufbauen, weil wir die prägenden Einflüsse aus den physischen, sozialen und semantischen Umgebungen der Menschen nicht zu einer „idealen” Modellsituation rückbauen können. Gleichwohl bedürfen auch die Geistes- und Sozialwissenschaften der methodischen Zurichtung der Situationen, um Strukturen sichtbar zu machen. Besondere Formen des Gesprächs und des Miteinanderhandelns, des Interviews und der Verhaltensbeobachtung, der Inszenierung und der Partizipation bilden hier vielfältige und vielfach umstrittene Methoden, um die soziale und symbolische Realität der Menschen zu strukturieren und die darin erkennbaren Strukturen zu erfassen. In diesem Sinne kann man auch hier von einer methodischen Konstruktion der sozialen und symbolischen, der kulturellen Wirklichkeit der Menschen sprechen, auch wenn dann die erfassten Strukturen von einer anderen, z. B. historischen, Art sein mögen als in den Naturwissenschaften. Insgesamt bleibt jedenfalls festzustellen, dass die „wahre” Wirklichkeit der Wissenschaften, so wie sie durch eine methodische Aufbereitung und Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 16 Zurichtung der Wirklichkeit erreicht wird, eine konstruierte, eine methodisch konstruierte Wirklichkeit ist. Und gerade dadurch, dass sie methodische, nach bestimmten Regeln nämlich, erreicht worden ist, verbürgt sie die mögliche Allgemeinheit ihrer Erkenntnis. 6.3 Der „mundus intelligibilis” der Wissenschaften und die Unsichtbarkeit der Wirklichkeit Das dritte Charakteristikum der in den Wissenschaften erschlossenen Wirklichkeit muss sich nicht als ein eigener Schritt darstellen lassen, sondern durchzieht alle Schritte und Phasen der wissenschaftlichen Erfassung oder Eroberung der Wirklichkeit. Ich will dieses Charakteristikum mit einem Blick auf Kant unter dem Titel des mundus intelligibilis bringen. Auch Platons Ideen könnten zur Formulierung eines solchen Titels dienen. Geht es doch in beiden Fällen letztlich um die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Sichtbaren und dem Denkbaren. Nachdem bereits in der Modellierung der Wirklichkeit ein neues Sehen aus dem Übersehen des mannigfaltig Sichtbaren entwickelt worden ist, lassen sich die in den Wissenschaften erfassten Strukturen als eine denkend erzeugte Realität verstehen, die zu ihrer Definition auf das Sehen und Sichtbarkeit überhaupt verzichten kann. Die wissenschaftliche Wahrheit zeigt sich in den Strukturen, die in ihrer wissenschaftlichen Darstellung, also in den terminologischen und, wo dies möglich ist, mathematischen Darstellungen, rein symbolische Konfigurationen und keine sichtbaren Figuren sind. Mann kann an dieser Stelle durchaus an Platons Liniengleichnis denken und mit Platon die wissenschaftliche Wahrheit im denkbaren Bereich der Wesensformen und dann in dem bloß denkbaren und nicht mehr sichtbaren Bereich der reinen Ideen ansiedeln. Für und seit Platon ist damit das Grundproblem einer systematisch orientierten Philosophie genannt: Das Problem nämlich, wie eine denkend konstruierte und unsichtbare Wirklichkeit zum Ort der Wahrheit und Fundament unserer Lebensorientierungen bzw., in der Sprache Platons gesagt, zur „wahren Wirklichkeit” des Logos taugen kann.3 3 Mit seinem Liniengleichnis stellt Platon die Welt des Sichtbaren und die Welt des Denkbaren einander gegenüber und teilt sie jeweils in sich noch einmal auf. In der Welt Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 17 Der philosophische Schrecken – nicht zu verwechseln mit dem eher harmlosen Staunen, das Aristoteles an den Anfang der Metaphysik setzt -, der von den Sophisten ausgenutzt worden ist, um die Wahrheiten der Wahrnehmung gegen die Wahrheit des Denkens auszuspielen, hat bei Platon zu einer rigiden Dogmatik geführt, die seitdem die Philosophie zu den berühmten Fußnoten getrieben hat, in denen Whitehead „die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas” sieht.4 Zumindest für die Naturerkenntnis hat sich dieser Schrecken weitgehend aufgelöst, weil mit dem Experiment ein Weg eröffnet wurde, die denkend erzeugten Wirklichkeit der Wissenschaft am Augenschein zu prüfen. Im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften und überhaupt in der Praktischen Philosophie sitzt uns auch heute noch der Schrecken sozusagen in den Knochen. Noch lange nicht sind die Kämpfe ausgefochten, die den denkend, also theoretisch, erzeugten Wirklichkeiten der Wissenschaften die Wahrheiten der Lebenswelt entgegenhalten, die das Expertenurteil dem Urteilsspruch des Common-sense unterwerfen und die schließlich die Strukturen, mit deren Erfassung die Wissenschaften sich legitimieren, zu bloßen Konstruktionen, zu Hirngespinste erklären. Und da weder damals noch heute ein Platon den Logos, also die wahre Ordnung der Dinge, ein für alle mal verordnen konnte, wird dieser Kampf um den mundus intelligibilis der Strukturen zumindest in den des Sichtbaren haben wir zunächst – man beachte auch hier die Reihenfolge – die Schatten und die Spiegelbilder, dann die Tiere, die Pflanzen und alles eigens Verfertigte, das diese Schatten wirft und sich im Wasser oder auf den dichten, glatten und glänzenden Flächen spiegelt. Bilder – Schatten- und Spiegelbilder hier, an anderen Stellen redet er auch von den künstlichen Bildern, den Standbildern und Figuren, aber auch von Gemälden – machen die unterste Schicht unserer Wirklichkeit aus, darüber finden sich dann die Tiere, die Pflanzen, die Artefakte. Über diesem Reich des Sichtbaren erhebt sich das Reich des Denkbaren. Hier finden wir zunächst die unsichtbaren Wesensformen der sichtbaren Dinge, wie wir sie etwa aus der Geometrie kennen: Figuren wie Dreiecke, Quadrate usw. im, wie wir sagen können, idealen Sinne, d.h. so, wie sie in der Geometrie definiert sind, und nicht so, wie wir sie zeichnen oder als Gegenstände herstellen oder wahrnehmen können. Über den unsichtbaren Wesensformen der sichtbaren Dinge schichten sich schließlich auf der obersten Ebene der Wirklichkeit die reinen Ideen, die sich an keinerlei Sichtbares mehr binden, die nur noch denkbar sind und sich als Begriffe dem Geist präsentieren. (Politeia 509c-511e) 4 „Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, dass sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.” Alfred North Whitehead: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 21984, S. 91. ”The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato.” (Alfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition. New York – London [The Free Press] 1979, S. 39.) Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 18 Geistes- und Sozialwissenschaften und jedenfalls in der Praktischen Philosophie auch weiterhin ein Motiv der wissenschaftlichen und philosophischen Entwicklung bleiben. 6.4 Die Verbildlichung der Strukturen Die nächsten beiden Charakteristika, auf die ich hinweisen möchte, betreffen nicht die Herstellung der Wirklichkeit, sondern alleine deren Darstellung. Da ist viertens zunächst vom Sichtbarmachen des Unsichtbaren zu reden, von den Bildern, die erklären wollen, und nicht mehr von den Modellen, mit denen wir entdecken sollen. Auch diesen Bildern der Wissenschaft haftet etwas Paradoxes an. Ich denke dabei nicht an die Sichtbarmachung von Dingen, die für unser Auge zu klein sind, als das sie gesehen werden könnten, oder die wegen ihrer für unser Auge verborgenen Lage nicht gesehen werden können. Denn diese Bilder zeigen uns noch keine Strukturen, sondern höchstens Indizien für bestimmte Strukturen. Worauf ich mich beziehe, ist eine neue Form der Sichtbarmachung, nämlich über die bildgebenden Verfahren, mit denen man nichtanschauliche Zusammenhänge anschaulich machen, also in ein sichtbares Bild übertragen kann. Diese Form des Sichtbarmachens ist in der Tat etwas, das ein neues Element in die Darstellung der wissenschaftlichen Strukturen und also der durch die Wissenschaften erfassten Wirklichkeit hineinträgt. Zwar werden auch durch die graphische Darstellung von Funktionen oder durch Diagramme Strukturen in einem gewissen Sinne sichtbar gemacht. Aber die dadurch erreichte Sichtbarkeit ist nicht die Sichtbarkeit, die wir durch unser Sehen erreichen. Diese Sichtbarkeit ist erst dann erreicht, wenn unser Sehen – auf welche Weise auch immer – simuliert und nicht nur etwas Gesehenes – auf welche Weise auch immer – dargestellt oder auch bloß angezeigt wird. Unser Sehen wird z. B. in den räumlichen Schemata simuliert, über die ein Konstrukteur die Aerodynamik einer Autokarosserie charakterisieren kann. Diese Simulation ist zwar durchaus schematisch, wird von uns aber als eine räumliche Konfiguration gesehen, weil sie die räumlichen Verhältnisse unserem Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 19 Sehen so darbietet, wie wir räumliche Verhältnisse durch unser Sehen identifizieren. Allerdings zeigen uns die bildgebenden Verfahren nicht die Strukturen selbst, sondern wir bekommen die Möglichkeit, die Wirkungen aus Strukturen und Strukturverhältnissen zu sehen. Dies beginnt damit, dass die Bilder nicht einfach das Sehen simulieren, sondern das Sehen der modellierten Wirklichkeit. Also wird nicht eine konkrete Karosserie gezeigt – zumindest nicht, wenn es um Dinge wie die Aerodynamik und nicht um die optische Erscheinung einer Karosserie geht -, sondern es werden die Linien gezeigt, mit denen man die Wirkung bestimmter aerodynamischer Verhältnis schematisch sichtbar machen kann. Es werden, metaphorisch gesprochen, die Spuren der Strukturen im Bild sichtbar gemacht, die Spuren von Wirkungen, die aus bestimmten Strukturverhältnissen entstehen. Selbstverständlich müssen in diese Form der Verbildlichung alle Daten und Funktionen eingearbeitet sein, damit solche Spuren von Wirkungen verbildlicht werden können. Die Verbildlichung erzeugt ein neues Wissen nur in soweit, als das Wissen, das die Bedingungen für eine verlässliche bildliche Darstellung liefert, bereit für diese Verbildlichung genutzt wird. Gleichwohl bieten diese bildgebenden Verfahren in bestimmten Anwendungsbereichen eine neue Möglichkeit, die Wirkungen bestimmter Strukturverhältnisse direkt zu sehen und nicht mehr berechnen zu müssen. Das Rechnen wird vom Rechner übernommen. Auf dem Papier wären viele diese Berechnungen nicht ausführbar. Wo es um die Konstruktion von Gebäuden und Karosserien, um dem Bau von Maschinen oder die Herstellung von Geräten geht, bringt die Integration des Rechners in den Prozess der Wirkungserfassung bei allen Fehlermöglichkeiten, die mit dieser Integration auch entstehen, prinzipiell eine neue Form mit sich, die Wirkung und damit die Wirklichkeit von Strukturen und Strukturverhältnissen zu erfassen. Dort aber, wo es um Lebensprozesse und schließlich um geistige Leistungen geht, entstehen mit dieser Integration auch neue Probleme, die ich nur andeuten kann. Erkennt man nämlich, dass es eine strukturelle Differenz zwischen den Funktionen eines Rechners und denen eines Organismus und dann noch Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 20 einmal zu Bewusstseinsereignissen und geistigen Leistungen gibt, dann mag man gleichwohl einräumen, dass bestimmte Leistungen sowohl vom Rechner als auch von einem Lebewesen, einem Bewusstsein oder einem denkenden Menschen erreicht werden können. Aber man wird zugleich auch erkennen müssen, dass diese Leistungen auf verschiedenen Wegen erreicht werden und daher eine Extrapolation von Entwicklungen auf einem Rechner und in Organismen und wiederum in geistigen Wesen zu durchaus verschiedenen Ergebnisse führen können.5 6.5 Logische Systematisierung und mathematische Formalisierung Dass die Verbildlichung eine logische Systematisierung und mathematische Formalisierung nicht ersetzen kann, ist bereits gesagt. So gehört denn auch die Theoriebildung über eine solche Systematisierung und Formalisierung zum unersetzbaren Bestand der wissenschaftlichen Arbeit. Ich nenne sie hier als deren fünften Charakterzug. Auf die Ambivalenz der formalisierenden Systematisierung bzw. der systematisierenden Formalisierung habe ich bereits hingewiesen. Beide, die Systematisierung wie die Formalisierung, verleiten dazu, als Darstellungen des Ganzen der Wirklichkeit aufzutreten, obwohl sie de facto doch nur die Hälfte der Darstellungswirklichkeit für sich in Anspruch nehmen können – und damit nur eine Wirklichkeit, die auf die tätige Auseinandersetzung mit der Weltwirklichkeit angewiesen bleibt, angefangen von der Modellierung und experimenteller Bearbeitung der physischen Wirklichkeit bis hin zur Begegnung mit anderen Menschen in der sozialen Wirklichkeit unseres Lebens. Meine Ausführungen waren zu einem großen Teil ein Plädoyer gegen den Alleinvertretungsanspruch der wissenschaftlichen Darstellungsformen auf die Verwaltung der wissenschaftlichen Wahrheit. Ich habe zu zeigen versucht, dass die entscheidenden, nämlich für die Dynamik der Wissenschaftsentwicklung entscheidenden, Momente, in denen Wahrheitsansprüche und Versuche zur Einlösung dieser Ansprüche ins Spiel kommen, bereits in anderen Phasen und 5 Vgl. dazu meinen Beitrag Der Mensch zwischen Selbstsein und Weltbezug. In: Elisabeth List / Erwin Fiala (Hg.), Grundlagen der Kulturwissenschaften. Interdisziplinäre Kulturstudien. Tübingen / Basel [A. Francke Verlag] 2004, S. 339-358. Oswald Schwemmer, Wahrheit und Wissenschaft Seite 21 Feldern der wissenschaftlichen Arbeit auftauchen. Genannt habe ich die kreative Perspektivierung in der Modellierung der Wirklichkeit, die methodische Konstruktion in der modellgeleiteten Strukturierung der Wirklichkeit, den Aufbau eines unsichtbaren mundus intelligibilis von Wirklichkeitsstrukturen und -strukturverhältnissen und schließlich auch die Bilder, die wir von den Wirkungsspuren dieser Strukturen und Strukturverhältnisse erzeugen können. Die logische Systematisierung und mathematische Formalisierung der dabei gewonnenen Erkenntnisse ist eine eigene Leistung und bildet sicher so etwas wie den Schlussstein des wissenschaftlichen Gewölbes, das von verschiedenen Pfeilern, Wänden und Streben gestützt wird. Diese herausragende Funktion darf aber nicht dazu führen, in ihr alleine den Ort der wissenschaftlichen Wahrheit zu sehen. Man würde sonst die Kräfte verkennen, denen sich die integrierende Funktion eines Schlusssteins verdankt, und damit die Dynamik aus dem Blick verlieren, aus der heraus die Wissenschaft sich entwickelt hat und immer weiter entwickeln wird.