Aus: Hans Paul Bahrdt: Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen, München (Beck) 1984, S. 172 – 175 ... 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 6. Politisches Handeln Weit verbreitet ist die Meinung, Politik sei das Tun, das den Staat ausmacht bzw. sich auf ihn bezieht. Politisches Handeln sei entweder das Handeln der Staatsorgane oder ein Handeln, das versuche, die Tätigkeit staatlicher Instanzen zu beeinflussen. M. E. ist dieser Begriff des Politischen zu eng. Erstens muß man berücksichtigen, daß es den Staat in unserem heutigen Sinn ja gar nicht zu allen Zeiten gegeben hat. ... Aber auch unser heutiger Sprachgebrauch bezeichnet manche Vorgänge als politisch, die weder aus Handlungen der Staatsorgane bestehen noch Handlungen sind, die eine Einwirkung auf das Staatshandeln zum Ziel haben. Größere Arbeitskämpfe zwischen Tarifpartnern nennen wir politische Vorgänge, auch wenn der Staat sich noch nicht als Schlichter eingeschaltet hat. Andererseits bezeichnen wir nicht alles Tun staatlicher Organe als politisch, obwohl es sich um Ausführung von politischen Entscheidungen handelt. Staatliche Verwaltung ist nicht dasselbe wie Politik, obwohl sie sicherlich an Politik orientiert ist und politische Auswirkungen hat. Es wäre aber auch nicht richtig, alles, was in einer Gesellschaft geschieht, schlechthin als politisch zu bezeichnen, obwohl es sicherlich kaum eine Lebenssphäre gibt, die nicht irgendwie durch politische Rahmenbedingungen und politische Entscheidungen betroffen ist. Würde man sie aber dann auch selbst durchweg politisch nennen, so verlöre der Begriff jede Trennschärfe. Besser ist es, eine Gegenstandssphäre als „politisch" oder „politisiert" zu bezeichnen, wenn das ihr zuzuordnende soziale Handeln typischerweise „politisches Handeln" ist. Sonst sollte man von „politischer Relevanz" reden. So ist das Leben innerhalb vieler Familien sicherlich nicht politisch. Aber vieles, was in der Familie geschieht, hat eine politische Relevanz. Z.B. können Schulreformen, die aus politischen Entscheidungen hervorgehen, den häuslichen Frieden bedrohen. Zweckmäßig ist es zunächst, festzulegen, welcher Typ des Handelns als „politisches Handeln" gelten soll. Freilich ist es dabei gleichzeitig nötig, auf gewisse Eigenarten des sozialen Feldes zu achten, die dazu herausfordern oder es ermöglichen, sich in ihm politisch zu verhalten. Es steht aber nicht ein für allemal fest, um welche Felder es sich dabei handelt. Es gibt Sphären des gesellschaftlichen Lebens, die im Laufe der Zeit politisiert werden, d.h. einen anfangs „unpolitischen" Charakter verlieren. Auch das Umgekehrte kann geschehen. Politisches Handeln ist ein Handeln, das im unvollständig regulierten Zwischenfeld zwischen Subsystemen einer Gesellschaft stattfindet, die in heterogener Weise institutionalisiert sind. Politisches Handeln versucht, das Verhältnis der Subsysteme zueinander zu beeinflussen. Politisches Handeln setzt voraus, daß dieses Verhältnis der Subsysteme zueinander potentiell dynamisch ist. Politisches Handeln hat es stets mit der Veränderlichkeit der Gesellschaft zu tun. Es kann eine konservierende Absicht oder eine Intention auf Veränderung haben. Nur solange und nur da, wo es den veränderlichen (unvollständig regulierten) Handlungsspielraum gibt, ist nach unserer Definition und auch nach dem vorherrschenden Sprachgebrauch Politik möglich. Totalitäre Systeme haben deshalb die Tendenz, in ihrem Innern die Möglichkeit von Politik einzuschränken... Politisches Handeln ist in seinem Kern ein Out-group-Verhalten, d. h. ein Handeln zwischen heterogen institutionalisierten Gruppen und Systemen. Es kann also nicht vollständig durch die Interessen, Werte, Normen und konkrete Verhaltenserwartungen einer Gruppe oder eines Subsystems bestimmt sein (auch wenn der Handelnde sich als Exponent einer Gruppe versteht). Es muß sich stets auf eine Pluralität von Interessen, Werten, Normen usw. einstellen, auch wenn diejenigen anderer Gruppen und Subsysteme von den Handelnden nicht akzeptiert werden. Da politisches Handeln in einem sozialen Feld stattfindet, in dem von einer größeren Zahl mehr oder weniger organisierter Menschen entsprechend den vorliegenden heterogenen Interessen und Wertvorstellungen unterschiedliche Ziele verfolgt werden, kann eine Beeinflussung des Verhältnisses der Subsysteme zueinander faktisch nicht ohne Macht geschehen. Wer politisch handelt, muß sich darauf einstellen, daß er in diesem Feld nichts 65 70 75 80 85 90 95 100 erreicht, wenn er nur persönlich irgendetwas tut. Er erreicht nur etwas, wenn er seine eigene Aktivität „multipliziert", d. h. auch das Handeln anderer Menschen auf seine Linie bringt. Da diese sich aber nur zum Teil aus eigenem Antrieb dazu bereitfinden, sich oft widersetzen werden, muß er mit Widerständen rechnen und diese zu überwinden versuchen. D.h. er muß entweder eigene Macht entwickeln oder sich Mächtigen anschließen. Eventuell muß er „Gegenmacht" aufbauen. Er muß auf jeden Fall ein positives Verhältnis zu „Macht" haben. Da in dem genannten Handlungsfeld Ziele in aller Regel nicht durch einmaliges spontanes Tun verwirklicht werden können, muß politisches Handeln Kontinuität besitzen. Die einzelnen Schritte, die dem Ziel näherführen, müssen zweckrational geplant werden. (D. h. die Relation von Zweck und Mitteln muß ins Bewußtsein gehoben und optimiert werden.) Da in diesem Feld aber stets mit ähnlich rationalen Handlungsweisen anderer Menschen und Gruppen, die andere Ziele verfolgen, zu rechnen ist, muß deren tatsächliches und mögliches Verhalten in das eigene Kalkül einbezogen werden. Insofern ist politisches Handeln „strategisch". (Ich würde den Begriff „strategisch" jedenfalls so definieren und nicht, wie es heute modischer Sprachgebrauch ist, jede Art von Planung oder Zukunftsantizipation schon als „Strategie" bezeichnen.) Politisches Handeln ist praktisch, es orientiert sich wesentlich daran, was machbar ist. („Politik ist die Kunst des Möglichen", sagte wohl Bismarck.) Dies zu betonen ist nicht tri via l, weil in dem Handlungsfeld, von dem die Rede ist, stets nur ein kleiner Teil der eigenen Wünsche erfüllbar ist, man sich also stets, wenigstens vorläufig, mit Kompromissen abfinden muß. Politisches Handeln ist nicht utopisch, obwohl eine edle Utopie im Hinterkopf sehr wohl ein wichtiges Korrektiv in dem alltäglichen Umgang mit „Machbarkeiten" sein kann. … Zwar muß der Berufspolitiker entsetzlich viele Menschen persönlich kennen und sich ihre Namen merken. Aber trotzdem hat er es stets mit „Anonymität" zu tun, mit Staaten, Parteien, Organisationen, Bewegungen, Gesetzen, öffentlicher Meinung, Verhältnissen, d. h. mit lauter Phänomenen, deren Vergegenwärtigung dazu zwingt, zunächst einmal die Eigenart von Personen und Einzelschicksalen auszuklammern. Das schließt nicht aus, daß es ein politisches Ziel sein kann, individuelle Freiheit und Chancen für persönliche Entfaltung für viele Menschen zu realisieren... Da in dem unvollständig institutionalisierten und veränderlichen Zwischenfeld zwischen Subsystemen ständig neue Handlungsalternativen auftauchen, ist der bewußt vollzogene Akt der Entscheidung ein häufiges Merkmal politischen Handelns. Folgt man dem üblichen Sprachgebrauch, so ist politisches Handeln natürlich nicht nur im Zwischenfeld zwischen Subsystemen einer Gesellschaft möglich, sondern auch im Zwischenfeld zwischen zwei und mehr Gesellschaften. ...