Einerseits: „Ohne Organisation ist die Demokratie nicht denkbar

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Michels in Berlin
Das eherne Gesetz der Oligarchie und die Landespolitik in der Hauptstadt
Einerseits: „Ohne Organisation ist die Demokratie nicht denkbar. Erst die Organisation gibt
der Masse Konsistenz.“
Andererseits: „Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie. ... Die Organisation
vollendet entscheidend die Zweiteilung jeder Partei...“1
Seit 1911 ist das von Robert Michels am Beispiel der mit demokratischem Anspruch
angetretenen SPD entwickelte „Eherne Gesetz“ der Oligarchie in der Organisations- und
Parteiensoziologie unumstritten. Es hat sich seither immer wieder bestätigt, und dennoch
kommt immer wieder empörter Widerspruch betroffener Oligarchen, wenn einer an einem
neuen Fall die altbekannte Tatsache nachweist.
Die politischen Parteien West-Berlins waren bis 1990 periphere Landesverbände: Ihre
Mitgliederzahlen blieben eher gering und die Anzahl der Beschäftigten in den örtlichen
Parteibürokratien überschaubar. So machten sich in diesen Landesverbänden am ehesten die
vielen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in der Teilstadt breit.
Das änderte sich, als Berlin nach der Wiedervereinigung Hauptstadt wurde. Der Bundestag,
die Bundesregierung, der Bundesrat zogen nach Berlin und die Parteizentralen ebenfalls.
Auch die Landesvertretungen zogen um. Aus den zahlreichen Mitarbeitern der vielen
Bundestagsabgeordneten, den Beratern der Regierung, des Bundesrates, den Beschäftigten der
Bundesgeschäftsstellen und den parteipolitisch ausgerichteten Landesvertretungen bildete sich
eine neue Dienstleistungsschicht. Diese strömte je nach Parteizugehörigkeit in die Berliner
Landesverbände. Dort nahmen sie Einfluss in ihrem Sinne: Orientiert an der jeweiligen
Bundespartei und deren Organisationen versuchten sie, die Basis ihrer Pfründe auch an der
Spree zu erhalten und auszubauen. Die neuen Dienstleister taten, was Oligarchien stets tun:
Sie engagierten sich in der jeweiligen Berliner Partei für Erhaltung und Stärkung deren
bundesweit agierender Organisationen, die ja die Quellen ihres Status waren. Dieses
Engagement trugen sie – ganz so wie es im Lehrbuch steht – in die hiesige Basis und deren
Ortsvereine hinein. Die regionale Verankerung der Landesverbände war nicht ihr Thema.
So beispielsweise auch in der Berliner FDP. Etwas hochtrabend formuliert: Dort tobte ein
„Kampf der Kulturen“: Das „alte Berlin“ aus der Zeit vor 1990 fühlte sich verdrängt durch die
neuen hauptstädtischen Dienstleister, die nichts vom Berlinischen hielten und ihre
Sozialisationen aus Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Thüringen an der Spree ausleben
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Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die
oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Neudruck der 2. Ausgabe, Stuttgart 1925, S. 24 f
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wollten. Die Berlinischen aus Ost und West waren bemüht, verloren gegangenes Terrain im
Landesverband zurück zu erobern.
De liberale Abteilung der Zuarbeiter und Hilfswilligen des von Bonn nach Berlin
gewechselten Hauptstadtbetriebes dagegen wollte die Landes-FDP zu einer gleichförmigen
Filiale der Bundespartei machen. Sie wähnte sich auf der Höhe der Zeit in Richtung einer
liberalen Weltgesellschaft und hatte das Spitzenpersonal der Bundespartei hinter sich.
Die „Altberliner“ wehrten sich dagegen, dass die politischen Kulturen aus Ost- und WestBerlin in der Zeit vor 1990 verloren gehen würden, und sie wollten, dass das spezifisch
Berlinische der Berliner FDP erhalten bleibe. Dabei taten sich sogar Ossis und Wessis
gelegentlich zusammen, weil sie etwas dagegen hatten, dass ihr Landesverband zur Beute der
Karrieresüchte einer herbeigeeilten hauptstädtischen Dienstklasse würde. So betonten sie die
Rechte und Interessen der Stadtbezirke, der Kieze und der dort lebenden Menschen mit ihren
Sorgen und Anliegen. Ihre Partei sollte in erster Linie eine für die Menschen und weniger für
die Weltgesellschaft sein.
Die hauptstädtische Dienstklasse dagegen fand das Bodenständige und die alten Geschichten
der Region spießig und überhaupt nicht passend zu den eigenen Erfahrungen aus Godesberg,
Neu-Ulm oder auch Radeberg.
Es
irritierte
Alteingesessene,
wenn
ein
Berliner
Nachwuchspolitiker
sagte,
der
Spitzenkandidat der Berliner CDU für das Abgeordnetenhaus sei ein achtbarer Gegner, dem
man anrechnen müsse, dass er in der Lage sei, seine Meinung zu ändern – auch in der
Hauptstadtfrage. Bei der Bonn-Berlin-Debatte im Bundestag jedoch war Friedbert Pflüger
schon ein gewählter Abgeordneter und mithin wahrscheinlich im Vollbesitz seiner politischintellektuellen Möglichkeiten gewesen: Der ehemalige Redenschreiber des Regierenden
Bürgermeisters Richard von Weizsäckers setzte aufs falsche Pferd und sprach vehement
gegen Berlin als Hauptstadt. Ausgerechnet der wurde nun CDU-Spitzenkandidat in Berlin und
möglicher Partner anderer Parteien.
Ob einer „hauptstädtischer Dienstleister“ oder „Altberliner“ wurde, hing allerdings nicht
unbedingt von der persönlichen Biographie ab. Das war eine Frage der Sensibilität. Vielen
Bundespolitikern kamen die hauptstädtischen Verbände politisch fremd vor. Unter dessen
neuen und alten Mitgliedern fanden diese Bundespolitiker etliche, die bereit waren, ihnen
dabei zu helfen, den Berliner Parteien das Berlinische auszutreiben. Schließlich winkte so
manche Pfründe in und mit den Bundesparteien. Umgekehrt gab es aber auch viele
„Zugezogene“, welche die Eigenart der Berliner begriffen und sie in Politik umsetzen wollten
oder das sogar auch getan haben. So einer war beispielsweise der damalige
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Bundesbauminister Klaus Töpfer, der im Gegensatz zu seiner Vorgängerin den Umzug der
Hauptstadt von Bonn nach Berlin überhaupt erst ermöglicht hatte.
Die Berlinischen wussten, dass Berlin mehr noch als andere Städte Zuzug braucht. Das war
nicht neu. Ohne den Zuzug würde die Metropole verdorren. Es ging aber darum, dass es in
den örtlichen Parteien viele gab, die Politik auch für die Alteingessenen und nicht nur für die
Berater der „politischen Klasse“ wollten.
Die Parteien mussten sich 2006 zu den Abgeordnetenhaus- und BVV-Wahlen im Herbst
entscheiden, welcher „Kultur“ oder „Philosophie“ sie sich verschreiben würden: Derjenigen
der Stadt mit ihren Traditionen und Problemen oder derjenigen der Bundesführungen, die im
Falle der FDP es seit 1998 drei Mal „geschafft“ hatte, bei Bundestagswahlen in der
Opposition zu landen.
In den Führungsgremien der Berliner Parteien saßen viele, die sich an den jeweiligen
Bundesparteien und nicht an der Stadt orientierten. Als diese geteilt war, mochten diese
Parteiführer sich hier noch nicht engagieren. Nun waren sie da. Das war gut so, aber sie
sollten sich darauf konzentrieren, die Verantwortlichen in der Bundespolitik zu beraten: Das
ist nötig und wichtig genug.
Noch einmal zur Berliner FDP: Seit 2001 hatte die Partei wieder eigene Abgeordnete und
Bezirksverordnete. Die meisten von denen hatten nach einem parlamentarischen „Aus“ die
Chance erhalten, zu erfahren, was in der Stadt wirklich geschieht und wie viele Menschen
durch neoliberale Politik auch der SPD und der Grünen in Not geraten sind. Diese
Mandatsträger konnten sehen, wie wichtig für das Leben in Berlin der seit 1920 praktizierte
bezirkliche Aufbau der Stadt ist. Sie mussten sich darüber wundern, dass es einige
vermeintliche Rationalisten unter ihnen gab, die mit dieser Tradition brechen wollten.
Nach der Wahl 2001 hatte ein Parteitag beschlossen, die Berliner FDP möge mit ihren neuen
Mandatsträgern den Liberalismus für die Hauptstadt „neu erfinden“. Leider bemächtigten sich
Hilfswillige der neuen Dienstklasse dieser Aufgabe und heraus kam ganz im Sinne der
neoliberalen Bundespartei FDP die unberlinische und daher schon vergessene „Berliner
Freiheit“.
Die Mandatsträger mit Blick für die wirkliche Lage der Berliner kämpften indes dafür, dass
der Landesverband Berlin innerhalb der FDP ein eigenständiges Gebilde bleiben sollte: eine
Großstadtorganisation, welche die Traditionen der Region bewahrt und im Unterschied zum
Bundesverband die soziale Verantwortung betont.
Die herbeigeeilte hauptstädtische Dienstklasse hätte solche Rückbesinnung ertragen können.
Sie war ja nicht da, um den Berlinern zu sagen, was sie falsch gemacht hatten und wo es lang
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ginge. Denn wären die „Altberliner“ während der Teilung nicht geblieben, würde die
Dienstklasse noch immer in Bonn werkeln. Hinter dem Siebengebirge würde sie ihre
Erfahrungen aus Hannover oder der Oberpfalz ausleben. An der Spree allerdings werden
spätestens ihre Kinder den Rhythmus, der zwischen Kiez und Weltstadt klingt, erspüren: ganz
so wie es dem alten Berlin-Gegner Johannes Rau mit seinem Nachwuchs ergangen ist.
Berlin aber sollte sich auf die Berlinversteher unter den Hilfswilligen verlassen. Die anderen
Hilfswilligen sollten sich darauf konzentrieren, ihre Abgeordneten zu beraten, ihre
Landesvertretungen zu führen oder ihre Geschäftsstellen auf Trapp zu halten. Von der
Berliner FDP unter anderem nehmen sie besser die Finger. Diese Partei hatte es unter sehr
verschiedenen Umständen in den Zeiten ihren Vorsitzenden Carl-Hubert Schwennicke,
William Borm, Hermann Oxfort, Wolfgang Lüder, Walter Rasch und Günter Rexrodt immer
selber verstanden, die Politik jeweils für die Berliner der Zeit gemäß zu formulieren. Dabei ist
irrelevant, was einige dieser Politiker später getan haben oder was posthum über sie bekannt
geworden ist. Zu ihrer Zeit waren sie Berlinversteher, ebenso wie bei den großen Parteien
Ernst Reuter, Willy Brandt oder Richard von Weizsäcker.
Dabei könnte es auch bleiben. Berlin ist ein sozialer Brennpunkt in der Republik. Berlin hat
aber auch aus der Zeit der Teilung des Landes mehr Erfahrungen mit der Nation als andere
Orte in Ost und West. Wenn eine Partei hier erfolgreich sein will, muss sie sich von der
Bundespartei unterscheiden. Die Berliner Politiker müssen sozialer sein als die anderen, sie
müssen die Geschichte der Nation, aber auch die Beziehungen zu den ehemaligen Siegern
mehr beachten, und sie müssen Freiheit und Rechtstaatlichkeit höher halten als alle anderen.
In der Berliner Politik haben sich nach dem Hauptstadtumzug bundespolitische Dienstleister
der Parteien breit gemacht. Sie sind eine neue Oligarchie, die vor allem am Fortleben der
jeweiligen Bundesparteiorganisationen interessiert ist. Das bringen sie in die Landesverbände
ein. Hier nun müssen sich - so lautet ein bewährtes Rezept gegen das „eherne Gesetz der
Oligarchie“ – „Gegeneliten“ bilden, die sich an den Bodenständigen orientieren.
In der neuen Hauptstadt Berlin wird das alte Klagelied von der Oligarchie gesungen. Die
Parteienforschung kennt das schon lange, aber nicht nur die erste, sondern auch die zweite
Strophe. Und die handelt davon, dass der „nach oben“ orientierten Oligarchie eine „nach
unten“ ausgerichtete Strategie entgegen gesetzt werden kann.
Jürgen Dittberner
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