TSCHECHISCHE REPUBLIK PRAGER FRÜHLING Vorgeschichte: krisenhafte Erscheinungen im Bereich der Wirtschaft, stalinistische KP-Führung, die z.B. kritische Bearbeitung der Schauprozesse der 1940er und 1950er Jahre verhindern wollte; Forderung nach Wirtschaftsreformen Mitte der 1950er Jahre, Idee einer sozialistischen Marktwirtschaft (inkl. Autonomer Gewerkschaften, privater Kleinbetriebe, Reduzierung der Staatsbürokratie in den Betrieben, Joint Ventures mit Firmen aus dem westlichen Ausland), offene Kritik an Parteiführung durch Literaturzeitschrift und Schriftsteller (u.a. Pavel Kohout und Vaclav Havel), StudentInnenproteste, Reformkommunisten unter Alexander Dubcek übernahmen KP-Führung, wollten im Frühjahr 1968 Liberalisierung und Demokratisierung, „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ (Meinungs- und Pressefreiheit, Aufhebung der Zensur, Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit, Mehrparteiensystem unter KP-Führung, Wirtschaftsreformen, Minderheitenrechte, föderalistisches Staatsmodell mit Slowakei, partnerschaftliches Modell für Warschauer Pakt), August 1968 Niederschlagung durch Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakt, 1969 Selbstverbrennung zweier Studenten als Protestakt. VERFASSUNG 1992 noch im Rahmen der ČSFR durch den Nationalrat der tschechischen Teilrepublik: sicherte Kontinuität des Abgeordnetenhauses (Tschechischer Nationalrat der ČSFR wird Abgeordnetenhaus der Tschechischen Republik), die Präambel stellt den neuen Staat in die Tradition des böhmischen und mährischen Konstitutionalismus und der demokratischen ersten Tschechoslowakischen Republik („Zwischenkriegszeit als glorreiche Phase“) diese Tradition spiegelt sich etwa in der Wahl der parlamentarischen Demokratie und der Einrichtung eines Zweikammernsystems, Vfg. Verpflichtet zur Einhaltung der Menschenrechte und enthält Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten (wurden bereits 1991 verabschiedet), plebiszitäre Elemente gibt es nur auf regionaler Ebene. 2001 regionale und lokale Selbstverwaltung 13 Regionen zusätzlich zu Hauptstadt Prag als eigenständige Verwaltungseinheiten mit eigenen Kompetenzen, eigener Versammlung und Kreishauptmann. STAATSPRÄSIDENT 5 Jahre, 1x Wiederwahl mgl., kann nicht abgesetzt werden, gewählt durch Abgeordnetenkammer und Senat in einer gemeinsamen Sitzung, nominiert durch 10 Abgeordnete oder Senatoren, absolute Mehrheit, wenn nicht: 2 weitere Wahlgänge (Mehrheit der anwesenden Abgeordneten und der anwesenden Senatoren, Mehrheit aller Anwesenden, wenn nicht, dann neue Wahlen), Prozedere weil 1992 Wiederwahl Havels scheiterte und bei der Staatsgründung kein Präsident da war. hpts. repräsentative Aufgaben: Funktionen aufgrund der Erfahrungen der ersten Republik und der Jahre 1990-1992 unter Havel („Schattenregierung“) eingeschränkt, Havel beeinflusste durch regelmäßige Stellungnahmen v.a. die Außenpolitik, sogar offene Kompetenzstreitigkeiten 1993 zwischen ihm und dem Außenminister, kosmopolitisch, intellektuell Alle Entscheidungen (Befugnisse) des Staatspräsidenten müssen von einem Regierungsmitglied mit unterzeichnet werden, Ernennung der 15 Vfg.-Richter (auf 10 Jahre) muss durch Senat bestätigt werden, Ernennung und Entlassung der Regierung(smitglieder) sowie Auflösung des Abgeordnetenhauses nur formal, Sein suspensiven Veto gegenüber beschlossenen Gesetzen 1 kann von Mehrheit aller Abgeordneten aufgehoben werden, gegen Vfg.-Gesetze kein Veto möglich. Seit 2003 (Wiederwahl 2008) als Nachfolger von Vaclav Havel, der verfassungsgemäß nicht mehr wieder gewählt werden konnte, Präsident Vaclav Klaus (vor allem Anfangs stärkere Konzentration auf Innenpolitik, nationalistisch, „Volkspräsident“, mehrmals europaskeptische Äußerungen), Klaus war Premierminister 1992 bis 1997. PARLAMENT Alleiniger Repräsentant der Volkssouveränität und legislatives Organ Asymmetrisches Zweikammernsystem: Abgeordnetenkammer/ 1.Kammer: nur dort werden Gesetzesinitiativen eingebracht und sie hat stärkere Rolle im Gesetzgebungsprozess und alleiniges Recht zur Kontrolle der Regierung (Untersuchungskommissionen); 200 Abgeordnete, Verhältniswahl, 4 Jahre, Wahlkreise mit Parteienlisten, oft geändert, letzte Novelle 2002 (Vergrößerung der Zahl der Wahlkreise und additive Sperrklausel für Koalitionen, vorher abgestufte), Vorteile für große Parteien, CSSD und ODS, Anzahl der Gewählten abhängig von Wahlkreisgröße und Wahlbeteiligung, 5%-Klausel; Staatspräsident kann auflösen, wenn 1.Kammer 3x hintereinander einer neuen Regierung nicht zustimmt (beim 3.Mal schlägt die 1.Kammer selbst den Ministerpräsidenten vor), auch wenn 3 Monate beschlussunfähig oder unzulässige Unterbrechung der Session aber nur bis 3 Monate vor Ende der Wahlperiode, im Fall der Auflösung übernimmt Senat Aufgaben der 1.Kammer bis zu den Neuwahlen; Senat/ 2.Kammer: soll sich hpts. mit langfristigen und übergeordneten Fragen beschäftigen und durch seine Existenz die Kontinuität zur Zeit von 1918 bis 1938 sowie 1989 bis 1992 betonen; 81 SenatorInnen, passives Wahlalter 40, Ein-PersonenWahlkreise mit absolutem Mehrheitswahlrecht, SenatorInnen sollen Persönlichkeiten des Vertrauens sein, alle 2 Jahre wird 1/3 gewählt (sehr geringe Wahlbeteiligung, 2006 nur knapp über 20%), Amtszeit 6 Jahre (erstmalige Wahl erst 1996, da sich Abgeordnetenhaus lange nicht über Implementierungsgesetz zum Senat einigen konnte und in der Zwischenzeit die Aufgaben des Senats übernahm, Differenz zwischen Verfassungstext und Verfassungsrealität); Mitsprache bei Ernennung der VerfassungsrichterInnen, nur der Senat könnte Staatspräsident des Hochverrats anklagen beide Kammern bilden Ausschüsse und Kommissionen Fragmentierung und Polarisierung der Parteien GESETZGEBUNG Initiativen meist von Regierung, auch Parlament und Senat sind aber befugt Vorlagen einzubringen, Regierung kann dann dazu Stellung nehmen, Ausschüsse im Abgeordnetenhaus behandeln die Materie Mehrheit der Anwesenden entscheidet in beiden Kammern, Veto des Senats kann mit absoluter Mehrheit aller Abgeordneten vom Abgeordnetenhaus überstimmt werden; Wahlgesetze müssen gemeinsam verabschiedet werden, ebenso Gesetze über Verhältnis der beiden Kammern zueinander und zur Geschäftsordnung des Senats; Verfassungsgesetze und internationale Verträge mit 3/5 Mehrheit aller Abgeordneten und der anwesenden SenatorInnen Suspensives Veto des Staatspräsidenten bei einfachen Gesetzen (Abgeordnetenkammer kann mit absoluter Mehrheit überstimmen), Gegenzeichnung durch Staatspräsident und Ministerpräsident 2 REGIERUNG Starker Ministerpräsident samt Stellvertretern und Ministern (1992-1997 zum Bsp. Václav Klaus Fokus auf Wirtschaft, massive Einsparungen in Sozialem und Kultur, damalige Unauflösbarkeit des Abgeordnetenhauses, weil bis 1996 Senat fehlte, wirkte stabilisierend bei inneren Konflikten in der Koalition), laut Verfahrensregeln soll Regierung als Kollegialorgan Beschlüsse mit absoluter Mehrheit fassen, Regierung relativ stark gegenüber dem Parlament Ministerpräsident wird – unter nicht zwingender Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhaus - vom Staatspräsident ernannt und konstituiert Regierung, Ernennung der Minister auf Vorschlag des Ministerpräsidenten durch den Staatspräsidenten, Regierung ist dem Abgeordnetenhaus verantwortlich und muss binnen 30 Tagen um ein Vertrauensvotum ersuchen. Abgeordnetenhaus kann auf Antrag von 30 Abgeordneten (nur) der (gesamten) Regierung ein Misstrauensvotum aussprechen und mit absoluter Mehrheit aller Abgeordneten annehmen; Rücktritt der Regierung auch dann, wenn eine Gesetzesvorlage an die Vertrauensfrage gekoppelt wird und binnen 3 Monaten nicht verabschiedet wird (neuer Ministerpräsident wird dann beauftragt mit derselben Regierung bis zu den Neuwahlen weiter zu machen oder eine Übergangsregierung zu bilden); Ministerpräsident kann dem Staatspräsidenten auch Abberufung einzelner Minister vorschlagen Ministerpräsident leitet Regierungssitzungen, unterzeichnet samt zuständigem Minister Regierungsverordnungen und gegenzeichnet Entscheidungen des Staatspräsidenten, wenn Staatspräsident seine Aufgaben nicht wahrnehmen kann übernimmt er auf Parlamentsbeschluss den Großteil der Aufgaben Seit 1996 nur Minderheitsregierungen , da Koalitionspartner fehlten Wahlen 2002 58% Wahlbeteiligung (16%-Punkte weniger als 1998) CSSD (Gross vorher Vladimir Spidla) und liberales Bündnis Koalice (chr.-demokr., KDUCSL und Freiheitsunion US-DEU), haben 101 von 200 Sozialdemokraten/CSSD 30,2% - pro EU, sozial Bürgerpartei/ODS 24,5% - antieuropäischer, nationalistischer Wahlkampf, Warnung vor deutschem und österreichischem Revanchismus (schlechtestes Ergebnis seit 1993) liberales Bündnis Koalice (Christliche Freiheitsunion/US-DEU) 14,3% Kommunistische Partei Böhmens und Mährens /KSCM 18,5% - nutzte Wahlkampagne der ODS und Demokratische Union/KDU-CSL und Wahlen 2006 Pattsituation, langwierige Regierungsverhandlungen, da Sozialdemokraten und Kommunisten zusammen 100 Sitze, Bürgerdemokraten, Christdemokraten und Grüne zusammen 100 Sitze, Freiheitsunion (zuvor in Koalition mit Sozialdemokraten und Christdemokraten) konnte nicht mehr ins Parlament einziehen. Mirek Topolanek (ODS) bildete Minderheitsregierung aus ODS-Mitgliedern und parteilosen Ministern, scheiterte aber bei der Vertrauensabstimmung. Zweiter Versuch Topolaneks einer Minderheitsregierung aus ODS, KDU-CSL und Grünen erhielt Mehrheit (2 sozialdemokratische Abgeordnete enthielten sich der Stimme, sind nicht mehr Mitglieder der CSSD, Vereinbarung mit Regierung über Bedingungen für langfristige Tolerierung). ODS: 81 Sitze (unternehmerfreundlich, Idee einer 15% flat tax, Rationalisierung des öffentlichen Sektors, gegen tiefer gehende EU-Integration) 3 CSSD: 74 Sitze (wirtschaftsfreundlich, aber z.T. sozial orientiert, EU-zentriert, wollen Beitritt zur Euro-Zone) KSCM: 26 Sitze (akzeptiert Marktwirtschaft, aber für Erhöhung der Sozialausgaben und höhere Besteuerung von Besserverdienern KDU-CSL: 13 Sitze (moderate Steuersenkungen, Reform des Pensionssystems, familienorientiert, pro tiefer gehende EU-Integration Grüne Partei (SZ): 6 Sitze (erstmals im Parlament vertreten, Verbindung liberale Wirtschaftspolitik und Umweltpolitik, pro Steuersenkungen, pro weitere EU-Intgration Koalitionskrise April 2008, da KDU-CSL lehnt ODS Reformpläne im Gesundheitswesen ab.(Privatisierung von Versicherungen und Kreiskrankenhäusern) PARTEIENSYSTEM Gemäßigt pluralistisches Parteiensystem, 5-6 Parteien; deutliche Tendenz zu bipolarem System, klassisches Rechts-Links-Schema entlang des sozioökonomischen Cleavage, ethnische und religiöse Cleavages spielen nur geringe Rolle; der für MOEL typische Gegensatz zwischen Modernisierern und Konservativen ist in Tschechien wenig ausgeprägt (außer KSCM, die Stammwählerschaft von ca. 10% hat, die nationalistische Partei der Republikaner SPR-RSC ist verschwunden); ähnlich westeuropäischen Parteiensystemen, aber wenig Mitglieder, fehlende Basisstrukturen, Diskreditierung von Parteien durch kommunistische Einparteienherrschaft Im Zuge der „Samtenen Revolution“ entstanden Sammelbewegungen wie u. a. das Bürgerforum OF, dass als Massenbewegung sehr einflussreich beim Regimewechsel war; es gab aber auch Parteiwiedergründungen wie z.B. Tschechoslowakische Sozialdemokratische Partei/CSSD, die nach 1948 als Exilpartei weiter bestanden hatte, sie konnte sich als einzige wieder gegründete Partei in der Tschechischen Republik behaupten; auch Fortbestehen von Parteien der sozialistischen Ära wie z.B.: Kommunistische Partei der Tschechoslowakei/KSC Nach 1990 bis zu Wahlen 1992 Fragmentierungsprozess: Aus Bürgerforum entwickelten sich u.a. die marktwirtschaftlich orientierte Bürgerliche Demokratische Partei/ODF und die liberalkonservative Demokratische Bürgerallianz/ODA ODF wurde führende konservative Partei (Klaus, bis 1992 Finanzminister), bis 1992 keine starke Opposition wegen Schwäche der linken Parteien und Stärke der KSC Nach 1992 stieg CSSD (Partei entstand bereits im 19. Jahrhundert) auf und wurde zur zweiten dominierenden politischen Kraft, auch aufgrund aktiver Oppositionspolitik Milos Zemans (Vorsitzender seit 1993) zugleich Niedergang kleinerer Parteien der Mitte und Austritt der Reformkommunisten aus KSC(M) wegen gescheiterter Reform der Partei, 1995 CSSD zweitstärkste, nach vorgezogenen Neuwahlen 1998 Regierung oftmals instabile Koalitionen oder (wie 1998) Minderheitenregierung umstrittener und demokratiepolitisch äußerst problematischer Oppositionsvertrag zur Gewährleistung der Stabilität der Regierung (Opposition verzichtet auf Inanspruchnahme des Rechts auf Regierungsauflösung und verfassungsrechtliche Möglichkeiten zur Auflösung des Parlaments) WEITERE CHARAKTERISTIKA Kirche traditionell eher unbedeutend (restriktiver Kurs gegen vollständige Rückgabe des ab 1948 enteigneten Eigentums der Kirche wurde von der Bevölkerung zu mehr als 2/3 unterstützt) Aufarbeitung der Kommunistischen Vergangenheit/ Lustration (Dubcek etc.) 4 Zählte von Anfang an zu den aussichtsreichsten Kandidatenländern, Europäische Kommission eröffnete 1992 Büro in Prag, Antrag auf Mitgliedschaft in der EU 1996, assoziiertes Mitglied der WEU 1999, NATO-Mitglied seit 1999 (Gemeinsam mit H und PL), Verlust nationaler Identität und Souveränität als Thema vor dem Beitritt; EU-Referendum Juni 2003: 77% ja, Wahlbeteiligung 55% (Klaus 100 Tage Präsident, profiliert EU-skeptisch) „Rückkehr nach Europa“, Verweis auf erste Republik als moderner, westlicher, ökonomisch leistungsfähiger und demokratisch vorbildlicher Staat hohes Demokratiebewusstsein (erste Republik) und daher Unterstützung der demokratischen politischen Ordnung ziemlich hoch und stabil von der ersten Phase der Transformation an (aber Absinken der Demokratiezufriedenheit mit verspäteter Wirtschaftskrise 1996/1997, jedoch weiterhin prinzipielle Unterstützung, Ablehnung der Demokratie durch etwa 10%), Vertrauen v.a. in Regierung und Staatspräsidentenamt, weniger in Parlament, Parteien und Verbände, Skepsis gegenüber staatlicher Verwaltung Nationalistische und rassistische Tendenzen eher schwach ausgeprägt, dennoch Problem Minderheitenpolitik und zuwenig verankerte Rechte bzw. Selbstverwaltung für Minderheiten, soziales Problem im Falle der Roma, Verhältnis zur deutschen Minderheit relativ entspannt (von 10,3 Mill. Roma/ca. 300000, Slowaken 3,1%, Polen, Deutsche/ ca. 50.000, Ukrainer). „BÉNES“-DEKRETE TÉMELIN 5