Bilanz der Regierung Ludwigs XIV - Lise-Meitner

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Bilanz der Regierung Ludwigs XIV.
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Ludwig XIV drückte seinem Land, seiner Epoche, einer ganzen Staatsform, einem Kunst- und einem fürstlichen Lebensstil den
Stempel seiner starken Persönlichkeit auf. In seiner Jugend verstand er hervorragend die Tendenzen und Möglichkeiten, die in seiner
Zeit lagen, und wußte sich ihrer zu bedienen, während er in der zweiten Hälfte seiner langen Regierung die eingetretenen Wandlungen in Europa und auch in Frankreich selbst erst viel zu spät zur Kenntnis zu nehmen bereit war. Trotz seiner guten Informationen
unterschätzte er in verhängnisvoller Weise die Möglichkeiten seiner äußeren Gegner und vor allem die Kraft und Bedeutung des
menschlichen Gewissens, des Geistes und der Eigeninitiative. Demgegenüber lag seine besondere Stärke darin, daß er fähige
Minister auswählte und an ihnen festhielt, daß er sich auf das aufstrebende Bürgertum stützte und daß er mit erstaunlicher Energie und
Entschlußfreudigkeit, mit unermüdlichem Fleiß regierte und die Belange des Staates gegen Sondergewalten und Sonderinteressen
durchzusetzen verstand.
Hervorragend waren die tatsächlich errungenen Erfolge, wenn sie auch kaum ohne Colbert und andere bedeutende Mitarbeiter
und die Initiative befähigter und wagemutiger Einzelpersönlichkeiten möglich gewesen wären: Modernisierung und Straffung der
Verwaltung, die ebenso wie Diplomatie und Armee Frankreichs führend in Europa wurde, Durchsetzung der Autorität des Königs und der Gesetze im ganzen Land, Herstellung der inneren Sicherheit, Aufbau einer ausgezeichneten Handels- und Kriegsmarine und eines Kolonialreiches mit großen Zukunftsmöglichkeiten, Begründung der französischen Industrie, staatliche Förderung von Wirtschaft, Handel, Kunst und Wissenschaft in einem bisher nicht gekannten Ausmaß, was neben anderen historischen
Momenten dazu beitrug, daß Sprache und Kultur Frankreichs maßgebend für die Gebildeten ganz Europas wurden. Ebenso sind auch
die Schattenseiten dieser Herrschaft untrennbar mit der Persönlichkeit des absoluten Königs verbunden, wenngleich natürlich auch
hierbei die Berater, die Zeitanschauungen, zum Teil schon ein gewisser Einfluß der öffentlichen Meinung eine wichtige Rolle
spielten. Maßlosigkeit, Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und Hinwegsetzen über sittliche und humanitäre Bedenken führten
den König zu seinen verhängnisvollen Fehlleistungen, nämlich zu einer aggressiven Außenpolitik, am schlimmsten in der
Ära Louvois, etwa 1683-1690, die Europa gegen ihn einte, den Nachbarländern und dem eigenen Volk jahrzehntelange Leiden brachte, ferner dem Vernunft und Menschlichkeit widersprechenden Vorgehen gegen religiöse
Gruppen innerhalb des Katholizismus, vor allem aber gegen die Protestanten, das eine äußere und eine innere
geistige Emigration sowie verheerende wirtschaftliche, politische, moralische und religiöse Folgen nach sich zog.
Ein weiteres Versagen dieses letzten starken Königs, den Frankreich besaß, lag darin, daß seine Reformen auf halbem
Wege stehenblieben. Er entmachtete den Adel und die Parlamente nur politisch und nur vorübergehend, während er
nichts Nachhaltiges gegen das eigentliche strukturelle Übel des Ancien Regime, die Privilegien, die ungerechte Besteuerung, unternahm. So wurde weder ein Zustand annähernder innerer Gerechtigkeit erreicht noch das historische
Bündnis zwischen Krone und Bürgertum gesichert - es sollte von 1715 bis 1789 nur noch für kurze Augenblicke und
unvollkommen verwirklicht werden -, noch das Problem der Finanzierung des Staates geklärt trotz der enorm wachsenden Bedürfnisse von Armee, Marine. Außenpolitik, Verwaltung, Bauten und nicht zuletzt Hofhaltung und Schuldendienst. Schon auf dem glanzvollen Höhepunkt des französischen Absolutismus trug diese Staatsform Keime ihres
Untergangs in sich: das chronische Mißverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben des Staates, die Aufrechterhaltung der Privilegien, die Vernachlässigung der unteren Klassen im Rahmen der merkantilistischen Wirtschaft, die
zum Teil versuchte Unterdrückung der Gewissen und des Geistes, der Verzicht auf die lebendige Mitarbeit des Volkes, wenn auch manche Aufrufe, öffentliche Rechtfertigungen und lobende Aussprüche Ludwigs seit 1709, die sich an
seine „Kinder", an seine tapferen Untertanen richteten, anerkannten, daß es neben dem Monarchen die Nation als eine
selbständige und zu umwerbende Große gab. Die Appelle kamen zu spät und änderten das System nicht. Zwar gab
Frankreich in diesen letzten Kriegsjahren noch einmal sein Äußerstes, aber alle Schichten der Gesellschaft waren der
autokratischen Herrschaft, der Kriegslasten und des Zwanges zuliefst überdrüssig. Der alte König war unpopulär geworden. Wie jeder Herrscher, der zu lang regiert hat, wurde er kaum betrauert. Auch die glänzende administrative
Aufbauleistung des Absolutismus hatte ihre Kehrseiten: Hoffnungsvolle ältere Ansätze einer lokalen Selbstverwaltung wurden teilweise - wenn auch nicht auf allen Ebenen - abgeschnitten. Das auf die Fähigkeiten und die
Energie des einen Mannes an der Spitze gestellte Herrschaftssystem mußte versagen, sobald das Ruder des Staates
in die Hände schwacher Nachfolger gelangte, wie es unter Ludwig XV und Ludwig XVI. der Fall sein sollte, die
außerdem zu schwankend und zu beeinflußbar waren, um fähigen Ministern für längere Zeit ihr Vertrauen zu
schenken. Gerade hierbei sollte sich jedoch andererseits die unter Ludwig XIV aufgebaute Verwaltung bewähren.
Sie vertrat - vor allem verkörpert durch die Intendanten - zwischen 1715 und 1789 wohl stärker und wirksamer die
Idee des Staates als die beiden den Augen des Volkes entrückten Monarchen. Das vielleicht wichtigste Ergebnis der
Regierung Ludwig XIV, das der König zwar nicht bewirkt, aber doch gefördert hatte, war der weitere glänzende
Aufstieg des Bürgertums in Wirtschaft und Kultur, bis 1715 auch im Staat, der nur in den europäischen Seemächten
eine Entsprechung fand. Ihm sollte die Zukunft gehören, wenn auch der Adel nach dem Tod des Roi Soleil nochmals bis 1789 seinen politischen Einfluß zurückgewann. Nicht zuletzt an die Förderung des Bürgertums, der Kunst
und der Wissenschaft und an die innere Aufbauleistung hat Voltaire, der Zeitgenosse Ludwigs XV, gedacht, wenn
er schrieb, man werde mit dem Namen Ludwigs XIV „die Idee eines Jahrhunderts verbinden, das für immer
denkwürdig bleibt.
Weis S. 223ff
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