Bolschewismus

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Bolschewismus
Herbert Marcuse schreibt 1974 in „Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus“ über
die Identität von Regierenden und Regierten:
„Der Sowjetstaat tritt als das institutionalisierte Kollektiv hervor, in dem die Marxsche
Unterscheidung zwischen dem unmittelbaren und dem wirklichen (objektiv-geschichtlichen)
Interesse zur Grundlage des Ausbaus der politischen Struktur gemacht wird. Der Staat ist die
Manifestation des wirklichen (gesellschaftlichen) Interesses, aber als solche ist der Staat
„noch nicht“ mit den Interessen des Volkes identisch, das er regiert. Das Volk wünscht
beispielsweise weniger Arbeit, mehr Freiheit, mehr Konsumgüter – aber nach der offiziellen
Theorie erzwingen die noch herrschende Rückständigkeit und der Mangel die fortwährende
Unterordnung dieser Interessen unter das gesellschaftliche Interesse der Aufrüstung und
Industrialisierung. Dies ist die alte Diskrepanz zwischen Individuum und Gesellschaft, wie sie
im Staat sich darstellt; in der sowjetischen Theorie erscheint sie jedoch auf einer neuen Stufe
des geschichtlichen Prozesses.“ ([2], S. 46)
Der Staat vertritt das Gemeinwohl, aber Individuen vertreten ihre Einzelinteressen; daher
muss der Staat Interessen der Gesellschaft durchsetzten, was eine gewisse Totalität beinhaltet.
Marcuse entstammt der „Frankfurter Schule“ und ist daher eher links einzuordnen. Dadurch
klingt es noch erstaunlicher, dass er anerkennt, dass das „Gemeinwohl“ (welches im
Bolschewismus von oben diktiert wird) sich nicht mit den Interessen des Volkes zu decken
hat, es aber (totalitär) durchgesetzt werden muss.
Der Pluralist Fraenkel und der Historiker Bracher sehen die Quelle des Totalitarismus im
Bolschewismus jedoch nicht auf staatlich-gesellschaftlicher Ebene, sondern erkennen die
„Bolschewiki“ in Russland aufgrund der Parteistruktur als totalitär:
„Eine solche Partei ist tatsächlich keine Klassenpartei, weil ihre Organisationsform sie von den
Wünschen der von ihr angeblich vertretenen Klasse unabhängig macht und sie sogar befähigt,
die soziale Basis zu wechseln, wenn die Bedürfnisse der Machteroberung
Machtbehauptung das erfordern: sie ist eine moderne totalitäre Partei.“ ([3], S. 46-47)
und
Ein Beispiel für diesen Totalitarismus innerhalb der Partei finden Fraenkel und Bracher im
März 1921:
„Auf den X. Parteitag der Bolschewiki […] wurde auf Lenins Vorschlag sogar die Bildung von
‚Fraktionen’ mit verschiedenen politischen Plattformen innerhalb der bolschewistischen Partei
ausdrücklich verboten, weil solche Fraktionen ebenso wie oppositionelle Parteien zu
Vertretern der Interessen feindlicher Klassen werden müssten.“ ([3], S. 49)
Zumal die Partei über die Sowjets, die Armee und die Bürokratie die Staatsmacht erlangte,
wurde ihr Totalitarismus auch auf die Gesellschaft übertragen.
Die Wissenschaft des westlichen Blocks – egal ob liberal oder sozialistisch orientiert – ist sich
scheinbar einig, dass die Bolschewisten totalitär waren. Die sozialistische Selbstdarstellung
erkennt sich selbst jedoch nicht als totalitär an. Dies sei ein Vorwurf des imperialistischen
Antikommunismus:
„Der Inhalt des Antikommunismus besteht vor allem in der […] Verfälschung des MarxismusLeninismus und der wahren Ziele der kommunistischen Parteien sowie deren Verunglimpfung
als ‚totalitär’ […].“ ([1], S. 49). „Unter krasser Entstellung der historischen Tatsachen wurde
behauptet, zwischen Faschismus und Sozialismus bzw. Kommunismus bestehe eine
Wesensgleichheit, sie entspränge gleichen gesellschaftlichen Ursachen und beraubten die
Menschen mit ähnlichen Mitteln ihrer Freiheit“ ([1], S. 656)
Fraenkel und Bracher schreiben über die Unterscheidung zwischen Marxismus und
Bolschewismus im Hinblick auf den Totalitarismus in Form der Partei:
„Die politische Kernlinie des Bolschewismus ist die […] These, dass […] der Aufbau des
Sozialismus nur unter der diktatorischen Herrschaft einer zentralistisch organisierten,
‚kommunistischen’ Partei möglich ist, die mit der ‚Diktatur des Proletariats’ im Marxschen
Sinne gleichgesetzt wird. […] Während nach Marx der Übergang vom Kapitalismus zum
Sozialismus […] in ganz vielen politischen Formen erfolgen konnte […], ist dieser Übergang
nach bolschewistischer Ansicht nur in der einen politischen Form der Parteidiktatur möglich
[…].“ ([3], S. 45)
Anders formuliert heißt dies: Marx war nicht totalitär, erst der Leninismus hat den
Totalitarismus eingeführt. Dieses erklärt auch, wie Kommunisten sich vom Totalitarismus
freisprechen können.
Quellenverzeichnis
[1] W. Böhme, M. Dehlsen, H. Eisel u. A.: „Kleines politischen Wörterbuch“, Dietz
Verlag, 1. Auflage, Berlin, 1967, 3. Auflage, Berlin 1978
[2] H. Pötzsch, I. Möckel u. A.: „Informationen zur politischen Bildung: Kommunistische
Ideologie“, BpB, Bonn, 1980
[3] E. Fraenkel, K. D. Bracher: „Staat und Politik“, Fischer Bücherei KG, Frankfurt a. M.,
1964
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