Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Vorlesung Wintersemester 2010/11 Mi

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Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Vorlesung Wintersemester 2010/11 Mi 8-10
Geschichte des Deutschen Kaiserreichs im europäischen Kontext 1871-1914.
12. Vorlesung: Die deutschen Parteien 1890 bis 1914
Gerhard A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830-1914, Göttingen 1985.
Helga Grebing, Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis
1914, München 1985.
Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M.
1986.
Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des
wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984.
Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988.
Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jh. bis zur
Gegenwart, München 1998.
Da die Konkurrenz um die steigende Zahl der Wähler zunahm, wurden Wahlkämpfe härter,
sie wurden planmäßiger geführt, erforderten einen höheren finanziellen Aufwand und eine
bessere Organisation der Parteien. Der Trend ging von der Honoratiorenpartei zur modernen,
professionell geführten Massenpartei. Letzteres gab den Verbänden gewisse Einflusschancen.
Der neue politische Massenmarkt hat aber die älteren gewachsenen Strukturen nicht
vollständig beseitigt. So spielten regionale Faktoren in der politischen Kultur der Deutschen
nach wie vor eine wichtige Rolle. Dies hing schon damit zusammen, dass nach dem
Mehrheitswahlrecht gewählt wurde und die am Anfang des Reiches festgelegte
Wahlkreisstruktur bis 1918 unverändert blieb. Die weiterhin starke regionale Prägung hing
aber auch damit zusammen, dass sich das Wahlverhalten der Deutschen nur allmählich
änderte und die Bindung der Parteien an bestimmte soziale Milieus für Stabilität im
Parteiensystem sorgte. Dies hatte zur Folge, dass es zu einer politischen Versäulung kam, die
die Kompromiss- und Expansionsfähigkeit der einzelnen Parteien erschwerte.
Die Sozialdemokratie: Die Sozialdemokratie entwickelte sich zur mitglieder- und
wählerstärksten Partei des Deutschen Kaiserreichs. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Zahl
ihrer Mitglieder auf über eine Million. Bei den Reichstagswahlen von 1912 erreichte die
Partei 34,8% der Stimmen und 27,7% der Mandate. Die meisten Mitglieder waren Arbeiter
aus großstädtischen und protestantischen Regionen. Die Sozialdemokratie wurzelte im Milieu
der großstädtischen Arbeiterschaft. Unter Führung August Bebels entwickelte sich die
Sozialdemokratie nach 1890 zu einer fest ausgebauten, von Funktionären geführten Partei.
Eine wichtige Rolle spielte auch die expandierende Parteipresse. Die Sozialdemokratie
versuchte zwar, auch auf bisher nicht erreichte Teile der Gesellschaft auszustrahlen, war aber
1914 noch weit davon entfernt, den Weg von einer Klassen- zu einer Volkspartei
einzuschlagen. Mittelstand und Kleinbauern waren schwer zu erreichen. Dies hing nicht
zuletzt an der marxistischen Ideologie. Seit der Unterdrückungssituation der achtziger Jahre
war der Marxismus in der Partei fest verankert. Er trug fast religiöse Züge, bot für die
Anhänger eine Art Heilserwartung (Religionsersatz) und prägte auch das neue Programm, das
sich die „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ 1891 auf dem Erfurter Parteitag gab. Das
Programm, das die beiden Theoretiker Karl Kautsky und Eduard Bernstein entworfen hatten,
zerfiel in einen theoretischen und einen politisch-praktischen Teil. Der erste Teil folgte ganz
den Kernaussagen des Marxismus, wonach die Grundwidersprüche der kapitalistischen
Produktionsweise und die sich zuspitzenden Klassengegensätze zur revolutionären
Umgestaltung der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse führen müssten. Der
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der zweite Teil aber erhob nicht die Forderung nach Revolution und Vergesellschaftung aller
Produktionsmittel. Er beschränkte sich auf praktische Forderungen zur Demokratisierung des
Staates und zur sozialen Besserstellung der Arbeiter. Eine grundsätzliche Äußerung zur
künftigen staatlichen Ordnung – demokratische Republik oder Diktatur des Proletariats –
fehlte völlig. Die Sozialdemokratie folgte mit dem Erfurter Programm der Überzeugung
Kautskys, die dieser aus seinem Marxverständnis abgeleitet hatte. Die sozialökonomische
Entwicklung lief demnach gesetzmäßig auf das Ende der Klassenherrschaft und des
bestehenden Staates zu. Bis dahin sollte sich die Sozialdemokratie innerhalb des bestehenden
Systems um politische und soziale Verbesserungen bemühen. Der Widerspruch zwischen
theoretischen Vorgaben und praktischer Politik sorgte bald für parteiinternen Streit. Die vor
allem in Süddeutschland beheimateten Reformisten wie Georg von Vollmar betrieben eine auf
dem Boden der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung stehende Reformpolitik, ohne
aber die theoretischen Grundaussagen der Partei in Frage stellen zu wollen. Die Revisionisten
um Eduard Bernstein forderten, dass die Partei angesichts ganz anders verlaufender
sozialökonomischer Tendenzen auch ihre radikal-revolutionären Dogmen aufgeben sollte,
Bernstein konnte sich auf den Parteitagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit jedoch nicht
durchsetzen. Die Mehrheit um Bebel und Kautsky verwarf aber auch die andere Alternative,
die von der radikalen Linken um Rosa Luxemburg kam. Sie wollte wie Bernstein Theorie und
Praxis in Einklang bringen, aber eben dadurch, dass die Sozialdemokratie keine Politik des
revolutionären Attentismus betrieb, sondern durch stärkere Mobilisierung der Massen auf die
politisch-soziale Revolution zusteuerte. Es waren nicht zuletzt die Gewerkschaften, die sich
einem solchen Kurs widersetzten. Die Sozialdemokratie hatte zwar in ihrer praktischen Politik
begonnen, sich immer mehr in das Staats- und Gesellschaftssystem des Kaiserreichs zu
integrieren, blieb aber angesichts staatlich-gesellschaftlicher Diskriminierung wie eigener
Abschottung noch immer in einer Außenseiterposition.
Zentrum: Zweitgrößte Partei nach der Sozialdemokratie war das Zentrum. 1912 erhielt die
Partei noch 16,4% der Stimmen. Das reichte dank vieler sicherer Wahlkreise noch für 23%
der Mandate. Das Zentrum blieb das gesamte Kaiserreich hindurch fest im katholischen
Milieu verankert, allerdings lockerten sich auch hier allmählich die Bindungen. Es stützte sich
auf Honoratioren in den Wahlkreisen, auf Kirche und Klerus und auf ein breites katholisches
Vereinswesen: Bauernvereine, christliche Gewerkschaften, Borromäusverein und vor allem
den 1890 entstandenen Volksverein für das katholische Deutschland. Diese Vereine sicherten
dem Zentrum einen breiten Anhang. Verbindendes Glied aller im Zentrum vereinten Gruppen
war die katholische Religion und das Bestreben, die Einheit und die gemeinsamen Interessen
des Katholizismus im politischen Raum zu vertreten. In der Politik des Zentrums vereinten
sich moderne (Rechtsstaat, Sozialpolitik, Wahlrecht) und traditionale Elemente (christlicher
Wertekatalog, Schulpolitik). In vielen Fragen wurde der Konsens innerhalb der Partei, je
länger das Kaiserreich dauerte, jedoch immer brüchiger. Die Anhängerschaft des Zentrums
kam aus vier sehr unterschiedlichen sozialen Gruppen, die durch die katholische Religion als
mentalitätsprägendes Deutungsmuster zusammengehalten wurden. Die erste bildeten der
katholische Adel und die kirchliche Hierarchie, die zu Beginn des Zentrums noch eine
wichtige Rolle spielten, dann aber mit der Massenpolitisierung an Einfluss verloren. Die
zweite Gruppe war das katholische Bürgertum. Die dritte Gruppe waren agrarische und
mittelständische Populisten, deren soziale und politische Forderungen zum Teil auf
Widerspruch der Bürgerlichen stießen (Schutzzoll, Gewerbeordnung). Die vierte Gruppe war
schließlich die katholische Arbeitnehmerschaft.
Aus dieser Zusammensetzung ergab sich eine komplizierte innenpolitische Situation, die
Klassenkonflikte der Gesellschaft schlugen schließlich auch immer stärker auf die Partei
durch, es gab innere Machtkämpfe und Machtverschiebungen. Zunächst löste das Bürgertum
in der Parteiführung den Adel und die kirchlicher Hierarchie ab. Nach 1900 gewann vor allem
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der populistische Flügel, in dem Matthias Erzberger eine wichtige Rolle spielte, an Einfluss.
Über die Funktion des Zentrums im politischen System des Kaiserreichs ist viel gestritten
worden. Die einen sahen im Zentrum bereits eine moderne Volkspartei mit demokratischem
Charakter; andere betonten vor allem den konservativen und das System stabilisierenden
Charakter des Zentrums. Differenzierter argumentiert Loth, für den die Politik des Zentrums
sowohl beharrende als auch moderne Züge trug. Es habe einerseits durch die Integration von
Massen und die stärkere Rolle im politischen Prozess (Mehrheitsbeschaffer im Reichstag)
Demokratisierungs- und Parlamentarisierungstendenzen gefördert, angesichts der inneren
Gegensätze und gegenläufigen Interessen diesen Kurs aber bis 1914 andererseits nicht
konsequent genug zu Ende geführt.
Liberale Parteien: Der Liberalismus hatte um 1900 mit seinen Politikangeboten an
Attraktivität eingebüßt, er war nicht mehr die klar dominierende Kraft innerhalb des
Parteienspektrums und hat von der Politisierung der Massen am wenigsten profitiert. Die
Liberalen versuchten zwar, ihre Organisationen auszubauen, einen engeren Schulterschluss
mit den neuen Verbänden im bürgerlichen Lager zu suchen (Nationalliberale und Bund der
Industriellen) und mit der Flotten- und Weltpolitik neue Themenfelder zu finden, konnten
damit aber den verlorenen Boden nicht mehr zurückgewinnen. Die „liberalen Imperialisten“
setzten darauf, dass nur ein modernes Deutschland die weltpolitischen Aufgaben bewältigen
könne und deshalb Reformen im Sinne der Liberalen anstreben müsse. Friedrich Naumann,
der zu dieser Gruppe gehörte, versuchte die Liberalen darüber hinaus durch eine Politik des
Sozialliberalismus wieder attraktiv zu machen. Sein 1896 gegründeter Nationalsozialer
Verein, der die Arbeiterschaft durch demokratische und soziale Reformen mit dem Staat des
Kaiserreichs versöhnen wollte, scheiterte jedoch. 1903 schloss sich Naumann der
linksliberalen Freisinnigen Vereinigung an. Innerhalb des zersplitterten Linksliberalismus
unternahm man 1910 noch einmal den Versuch, alle Organisationen in der Freiheitlichen
Volkspartei zusammenzuführen. Zugleich verstärkte man die Verbindung zu bürgerlichen
Verbänden. Zum Sympathisantenumfeld gehörten der Bund deutscher Frauenvereine, Vereine
des Kulturprotestantismus und vor allem der 1909 gegründete Hansa-Bund. Im letzteren
schlossen sich zahlreiche bürgerliche Organisationen zusammen, um eine konservativagrarische Reichspolitik zu bekämpfen. Der Hansa-Bund sollte ein wichtiger Reformmotor
werden und trat auch für die Kooperation mit der Sozialdemokratie ein. Seine Erfolge waren
jedoch begrenzt. Die bedeutendste Kraft im liberalen Lager blieb bis 1914 die nationalliberale
Partei. Sie war um 1890 noch eine reine Honoratiorenpartei. Auf die Massenpolitisierung
suchte man durch engere Kooperation mit den Verbänden zu reagieren. Erst 1907 verstärkten
jungliberale Kräfte, darunter Gustav Stresemann, die Bemühungen um den Ausbau der Partei
durch Gründung von Ortsvereinen und eine gezielte Mitgliederwerbung. Der Liberalismus
konnte auch am Ende des Kaiserreichs nicht mehr an seine Stellung in den frühen siebziger
Jahren anknüpfen. Das hing damit zusammen, dass viele seiner Ideen längst große Teile der
Gesellschaft durchzogen. Dies galt für Verfassungs- und Rechtsstaatsidee, für den
Bildungsgedanken und nicht zuletzt für die Idee der Nation.
Die Konservativen: Die Konservativen standen für Autorität statt Majorität, gegen den
Parlamentarismus, gegen die Alleinherrschaft des Marktes und gegen die Trennung von Staat
und Kirche. Den Nationalstaat, den die Konservativen lange bekämpft hatten, machten sie seit
1878/79 zunehmend zur eigenen Angelegenheit. Im Zeitalter der Massenpolitik schienen
nationale Parolen geeignet, um neue Wähler an die Konservativen zu binden. So konnten auch
die Konservativen zwischen 1890 und 1914 die Zahl der Wähler leicht ausbauen, bei den
Stimmenanteilen fielen sie jedoch nun deutlicher zurück. Bei den Mandaten machte sich der
Bedeutungsverlust weniger stark bemerkbar, da die Konservativen von der ungerechten
Wahlkreis-Einteilung und Bevorzugung der ländlichen Regionen profitierten. Die Deutsch3
Konservativen, größte Partei im konservativen Spektrum, hatte nach wie vor ihre Hochburgen
im ländlich-agrarischen Ostelbien. Im preußischen Abgeordnetenhaus, das nach dem
Dreiklassen-Wahlrecht gewählt wurde, waren die Konservativen deutlich stärker als im
Reichstag. 1892 gaben sich die Deutsch-Konservativen ein neues Programm, das auch
gegenüber den städtischen Mittelschichten und der Arbeiterschaft neue Angebote machte. Ziel
war es, eine konservative Volkspartei aufzubauen. Als Integrationsklammer diente hierbei
auch der Antisemitismus. Das Parteiprogramm sprach sich für die Zurückweisung des
jüdischen Einflusses auf Staat und Gesellschaft und für das Prinzip des christlichen Staates
aus. Diese Passagen gingen zurück auf Ideen des Berliner Hofpredigers Stöcker, dessen
Christlich-Soziale Partei sich im Umfeld der Konservativen bewegte. Als Stöckers Strategie
bei den Wahlen von 1893 wenig Erfolge brachte und er sich auch in anderen Fragen mit der
Führung der Konservativen überwarf, trennte man sich erst einmal wieder. Eine dauerhafte
Massenbasis für die Konservativen, die ebenso wie die Liberalen keine feste
Parteiorganisation hatten, brachte das Bündnis mit dem Bund der Landwirte. Der Bund
kanalisierte das ländliche Protestpotential, das sich zeitweise radikalen Antisemitenparteien
zugewandt hatte, führte es den Deutschkonservativen zu und stärkte deren Basis. Ganz
problemlos war aber auch diese Kooperation nicht, weil die Agrarier die Konservativen in
einer Weise zu instrumentalisieren suchten, die denen in manchen Fragen zu weit ging
(Mittellandkanal). Neben den Deutsch-Konservativen existierte weiterhin die
Freikonservative oder Reichspartei. Ihr Einfluss ging aber seit 1890 kontinuierlich zurück.
III.
Antisemitismus
Sh. Volkov, Die Juden in Deutschland 1780-1918 (=EDG, Bd. 16), 2. Verb. Aufl., München
1994.
Der seit 1873 hervortretende moderne Antisemitismus knüpfte einerseits an ältere Formen der
Judenfeindschaft an, enthielt aber insofern neue Elemente, weil er sich nun gegen eine
emanzipierte jüdische Minderheit richtete, vor allem gegen die assimilierten Juden, die als
Agenten der Moderne angesehen wurden und für alle Krisen dieser Moderne verantwortlich
gemacht wurden. Der moderne Antisemitismus schloss sich zudem in Parteien und Verbänden
zusammen und erfuhr vor allem durch die Aufnahme von Rassentheorien und völkischen
Vorstellungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine weitere Verschärfung. Er richtete sich
nicht mehr allein gegen Glaubensjuden, sondern auch gegen christliche deutsche Staatsbürger
mit jüdischen Vorfahren. Die Gründung der Christlich-sozialen Partei des Berliner
Hofpredigers Stöcker und der vom Historiker Treitschke ausgelöste Berliner
Antisemitismusstreit zeigten schon Ende der siebziger Jahre, dass der Antisemitismus sowohl
im Bildungsbürgertum als auch im Mittelstand Aufnahme fand. Hier wurde jetzt offen
verlangt, die rechtliche Gleichstellung der Juden wieder aufzuheben. Dennoch blieb den
aufkommenden Antisemitenparteien im Kaiserreich ein politischer Durchbruch versagt. 1893
kamen sie auf 16 Reichstagsmandate, 1907 auf 22. Letztlich hatte der parteipolitische
Antisemitismus nur regional begrenzte Erfolge wie in Hessen, wo der Marburger Bibliothekar
Otto Böckel mit einem populistischen, gegen die Hierarchien in Staat und Gesellschaft
gerichteten Antisemitismus unter den Bauern große Erfolge erzielte. Angesichts innerer
Gegensätze und zwielichtiger Persönlichkeiten gelang es den Antisemitenparteien zu keinem
Zeitpunkt, eine eigene große Partei zu gründen und damit den antisemitischen Protest zu
bündeln. Dieses Scheitern darf nun aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich
antisemitisches Denken in der Gesellschaft des Kaiserreichs um 1900 auf vielfache Weise
ausgebreitet hatte. Es gab um 1900 zweifellos in weiten Teilen der nichtjüdischen
Gesellschaft ein wachsendes Ressentiment gegen die Juden, das häufig auch mit
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Konkurrenzängsten und Konkurrenzneid zusammenhing. Die Verbände des Mittelstandes und
der Bund der Landwirte nutzten den Antisemitismus als Integrationsklammer und zur
Mobilisierung ihrer Anhänger. Die großen Parteien verurteilten zwar den
Radauantisemitismus, eine kompromisslose Absage kam aber nur von Sozialdemokraten und
Linksliberalen. Der Staat des Kaiserreichs nahm die vollzogene Gleichstellung der Juden nie
zurück, und er schützte die Juden in Deutschland weitgehend erfolgreich vor
gesellschaftlicher Gewalt. Auf der anderen Seite waren aber im Staatsapparat, im Militär und
in der Justiz antisemitische Strömungen weit verbreitet, die sich in der Verweigerung von
Aufstiegschancen für Juden niederschlugen. Der Antisemitismus war in Deutschland
einerseits kein beherrschender Faktor der politischen Kultur. Er wurde auch von den Juden
selbst nicht so empfunden. Andererseits wuchsen allgemeine Vorbehalte gegenüber der
jüdischen Minderheit, und durch die Kooperation der Konservativen mit antisemitischen
Splitterparteien (etwa in den Stichwahlen) und mit antisemitisch geprägten Verbänden (BdL)
gewann antisemitisches Gedankengut auch in Organisationen an Einfluss, die sich nicht offen
als antisemitisch einstuften.
IV. Nationalismus
Der Nationalismus war eine wichtige Prägekraft im politisch-gesellschaftlichen Leben des
Kaiserreichs. Er spielte innerhalb der Massenpolitisierung eine zentrale Rolle. Die
Nationalisierung der Massen war ein Grundzug der europäischen Geschichte des ausgehenden
19. Jahrhunderts. Deutsche Besonderheiten zeigen sich aber darin, dass sich im Kaiserreich
um 1900 eine neue Variante des europäischen Nationalismus stärker als anderswo bemerkbar
machte: der sogenannte völkische Nationalismus oder auch Radikalnationalismus. Der
deutsche Nationalismus vor und nach 1914 ist aber nicht ausschließlich mit dieser Variante
gleichzusetzen. Thomas Nipperdey unterscheidet drei Formen. Er spricht zunächst einmal von
einem Nationalpatriotismus. Hierunter versteht er das, was man als Wir-Gefühl oder als
deutsche Identität bezeichnen kann. Bis 1914 schwanden in der deutschen Gesellschaft viele
ursprüngliche Vorbehalte gegen diese nationale Identität. Am Ende des Kaiserreichs waren
regionale Bindungen des einzelnen noch immer wichtig, man war Bayer, Württemberger oder
Thüringer, aber diese einzelstaatliche oder regionale Identität wurde überwölbt von der des
Reiches. Im Zuge dieses Prozesses schwanden auch die Vorbehalte von Katholiken gegen das
neue Preußen-Deutschland, und selbst die meisten Sozialdemokraten konnten sich diesem
Nationalpatriotismus nicht entziehen. Dies hing zweifellos auch mit den Leistungen
zusammen, die der Staat des Kaiserreichs für die Alltagsbewältigung der Menschen erbrachte.
Als zweiten Typus nennt Nipperdey den „Normal-Nationalismus“. Gemeint sind zum einen
ein gouvernementaler, von der Regierung genutzter und geförderter Nationalismus und zum
anderen auch ein autonomer Nationalismus von Parteien und Verbänden. Über Schule, Heer,
nationale Feiern, Denkmäler und Vereine wie Sänger-, Turner-, Schützen- und Kriegervereine
wurde der Nationalismus zu einem Massenphänomen. In diesem Zusammenhang verstärken
sich die Elemente von Abgrenzung nach innen und nach außen. Nach innen sollte der
Nationalismus gegen vermeintliche Reichsfeinde mobilisieren, nach außen gegen den
„Erbfeind“ Frankreich, gegen Russland und immer stärker auch gegen den Konkurrenten
Großbritannien. Der offizielle Nationalismus kam in den Denkmälern für Kaiser Wilhelm I.
zum Ausdruck. Der autonome Nationalismus der Gesellschaft kam in den vielen BismarckDenkmälern und Türmen zum Ausdruck, die seit den späten neunziger Jahren entstanden. Das
Symbol der Nation ist hier nicht mehr die Monarchie, der Symbolheld Bismarck repräsentiert
die Nation an sich.
Reichs- und Normalnationalismus waren Faktoren, die zur Stabilität des politischen
Systems beitrugen. Beim dritten Typus, dem Radikalnationalismus, traten dagegen die
systemkritischen Elemente stark hervor. Die politische Ordnung des Kaiserreichs wurde als
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unzureichend angesehen, um die neuen nationalen Forderungen nach außen und innen
machtvoll durchsetzen zu können. Im Radikalnationalismus verstand man die Nation als
Volksnation, und zwar nicht mehr nur im Sinne älterer Vorstellungen als von Sprache und
Kultur bestimmte Volksnation, sondern nun zunehmend im rassenbiologischen Sinne als eine
Abstammungsgemeinschaft. Zu dem völkischen Umfeld gehörten der Deutschbund Friederich
Langes, die Gobineau-Vereinigungen und die Richard-Wagner-Vereine. Gerade im
Bildungsbürgertum wuchs um 1900 die Bereitschaft, den Vorgaben der völkisch-rassischen
Propheten zu folgen und die Ideen Lagardes, Langbehns, Chamberlains von der Überlegenheit
der nordisch-arischen Rasse zu übernehmen. Getragen wurde das ganze auch von der
Großstadt- und Zivilisationskritik, die dann in eine Blut- und Bodenideologie mündete. All
das machte den völkischen Nationalismus besonders expansiv und aggressiv.
Seit den neunziger Jahren begann sich die neue radikale Rechte in Verbänden zu
organisieren. Die wichtigste dieser Organisationen war der Alldeutsche Verband. Die
Alldeutschen propagierten ein koloniales Imperium des Reiches und wollten zugleich die
außerhalb des Deutschen Reiches stehenden deutschen Bevölkerungsteile durch ein größeres
kontinentaleuropäisches Reich von den Niederlanden bis zum Baltikum und die deutschen
Gebiete der Habsburger Monarchie in ein völkisches Staatswesen einbeziehen. Die Erfolge
des Alldeutschen Verbandes waren zunächst sehr begrenzt. 1908 geriet der Verband in eine
schwere Existenzkrise, konnte sich aber unter Führung von Heinrich Claß und durch
Unterstützung von Industriellen wie Krupp (mit Generaldirektor Hugenberg) konsolidieren.
Danach schlug er endgültig die völkisch-antisemitische Richtung ein. Jetzt verbesserten sich
auch seine Kontakte zur Reichsregierung wie zu den traditionellen Konservativen. Die neue
Rechte hatte zwar in der deutschen Wählerschaft keine Mehrheit, konnte aber bei Themen wie
der deutschen Wehrkraft durchaus Massen mobilisieren, indem sie andere große Verbände
wie den Bund der Landwirte, den Flottenverein oder den deutschnationalen
Handlungsgehilfenverband in die Agitation einbezog. Sie fand auch Rückhalt in Teilen des
staatlichen und militärischen Establishments und unter den Journalisten wie Professoren
(Dietrich Schäfer). Sie schuf ideologische Grundlagen und organisatorische Netzwerke, auf
denen andere in den zwanziger Jahren aufbauen konnten, wenngleich die Thesen einer
ungebrochenen Kontinuität zwischen 1890 und 1933 in der neueren Forschung eher relativiert
werden.
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