grundkurs-06

Werbung
WS 2009/10
Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Grundkurs 19./20. Jahrhundert
6. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in Europa 1870-1914 – Teil 2
Die Fundamentalpolitisierung:
Seit 1900 wirkte ein immer größerer Teil der Bevölkerung am politischen Geschehen mit. Seit
1887 lag die Wahlbeteiligung bei den Reichstagswahlen, die zuvor bei etwa 60% gelegen
hatte, meist deutlich über 70%. 1907 stieg sie sogar auf knapp 85%, und einen ähnlichen Wert
erreichte man auch bei der letzten Reichstagswahl von 1912. 1871 waren knapp vier
Millionen Menschen zu den Wahlurnen gegangen, 1912 waren es über 12 Millionen. Die
Ursachen dieser Mobilisierung lagen im wirtschaftlichen und sozialen Wandel und den
besseren Bildungs- und Kommunikationsprozessen. Hinzu kam, dass der Staat immer mehr in
die gesellschaftlichen Prozesse eingriff und so stärker auch zum Adressaten gesellschaftlicher
Wünsche und Forderungen wurde. Gewerkschaften und andere Verbände wurden nun zu
Massenverbänden. Parteien und Presse schufen einen neuen politischen Massenmarkt.
Die Gewerkschaften hatten schon in den sechziger und siebziger Jahren des 19.
Jahrhunderts einen ersten Wachstumsschub erlebt, der aber wieder abbrach. Seit Mitte der
neunziger Jahre erhielt die Bewegung neuen Schwung. Begünstigt durch den wirtschaftlichen
Boom stiegen nun die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften bis 1913 auf über drei Millionen.
Was den Organisationsgrad anging, so gab es noch große Unterschiede zwischen gelernten
und ungelernten Arbeitern, Männern und Frauen sowie den jeweiligen Branchen. Innerhalb
der Gewerkschaftsbewegung besaßen die sozialistischen, die freien Gewerkschaften ein klares
Übergewicht. Sie besaßen seit 1890 mit der „Generalkommission der Gewerkschaften
Deutschlands“ einen gesamtdeutschen Dachverband. Daneben standen die Christlichen
Gewerkschaften (streikbereit, aber mehr auf Ausgleich bedacht) und die liberalen HirschDunckerschen Gewerkvereine (friedliche Konfliktregulierung). Lange Zeit standen die freien
Gewerkschaften unter der Hegemonie der Sozialdemokratie. Mit dem Voranschreiten der
eigenen Organisation und den wachsenden Mitgliedszahlen setzten die freien Gewerkschaften
auch in den politischen Fragen eigene Akzente.
Wie die Arbeiter so gründete auch das Bürgertum im Kaiserreich neue Interessenverbände
zur Durchsetzung von wirtschaftlichen Interessen. Schon 1876 war der von der
Schwerindustrie beherrschte Centralverband Deutscher Industrieller entstanden. 1895
gründeten mittelständische und mehr exportorientierte Unternehmer daher einen eigenen
Industrieverband, den Bund der Industriellen. Der regionale Schwerpunkt des Bundes lag in
Sachsen. Ein Feld, wo beide Verbände gemeinsam agierten, betraf die Gründung von
Arbeitgeberverbänden. Die Arbeitgeber mussten im Verlaufe des Kaiserreichs erkennen, dass
die gewerkschaftliche Macht zunahm und dass auch der Staat in Arbeitskämpfen keineswegs
stets bereitwillig die Partei der Arbeitgeber ergriff und über den Einsatz der Staatsmacht den
Konflikt regulierte. Um die eigene Position in den wichtiger werdenden
Tarifauseinandersetzungen zu verbessern, gründeten die Arbeitgeber deshalb
Arbeitgeberverbände. Zu den wichtigen Wirtschaftsverbänden zählte schließlich auch der
1893 gegründete Bund der Landwirte (BdL). Der deutschen Landwirtschaft fiel es seit den
siebziger Jahren zunehmend schwer, sich gegenüber der billiger produzierenden Konkurrenz
1
aus Übersee und Osteuropa zu behaupten. Die Landwirtschaft verlangte Schutzzölle und
baute die bestehenden Interessenorganisationen zu schlagkräftigen Verbänden aus. Der BdL
baute eine mächtige, professionell geführte Organisation auf, die 1913 etwa 300 000
Mitglieder zählte und bei den Wahlkämpfen vor allem der Deutsch-Konservativen Partei
kräftige Unterstützung gab. Auch der alte Mittelstand, Handwerk und Kleinhandel, und der
neue Mittelstand, vor allem die Angestellten (Handlungsgehilfenverband), gründeten neue
Verbände, um ihr Interessen im Staat wirkungsvoller vertreten zu können. Das Aufkommen
der Verbände zeigte erstens, wie vielfältig die Interessen in der modernen Gesellschaft waren
und wie machtvoll sie sich artikulierten. In den Verbänden war zweitens ein neuer
Organisationstyp zu erkennen (bürokratische Strukturen, hauptamtliche Funktionäre). Die
Verbände wurden drittens zunehmend in die Prozesse politischer Willensbildung einbezogen.
Die Verbände versuchten, die Parteien zum Sprachrohr der eigenen Interessen zu machen und
traten in ein engeres Verhältnis zu den Parteien, ohne diese jedoch zu ersetzen oder zu
übernehmen.
I.
Die deutschen Parteien 1890 bis 1914
Gerhard A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830-1914, Göttingen 1987.
Helga Grebing, Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis
1914, München 1985.
Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M.
1986.
Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des
wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984.
Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988.
Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland, München 1996.
Da die Konkurrenz um die steigende Zahl der Wähler zunahm, wurden Wahlkämpfe härter,
sie wurden planmäßiger geführt, erforderten einen höheren finanziellen Aufwand und eine
bessere Organisation der Parteien. Der Trend ging von der Honoratiorenpartei zur modernen,
professionell geführten Massenpartei. Letzteres gab den Verbänden gewisse Einflusschancen.
Der neue politische Massenmarkt hat aber die älteren gewachsenen Strukturen nicht
vollständig beseitigt. So spielten regionale Faktoren in der politischen Kultur der Deutschen
nach wie vor eine wichtige Rolle. Dies hing schon damit zusammen, dass nach dem
Mehrheitswahlrecht gewählt wurde und die 397 Wahlkreise nicht den neuen
Bevölkerungsverhältnissen angepasst wurden. Die weiterhin starke regionale Prägung hing
aber auch damit zusammen, dass sich das Wahlverhalten der Deutschen nur allmählich
änderte und die Bindung der Parteien an bestimmte soziale Milieus für Stabilität im
Parteiensystem sorgte. Dies hatte zur Folge, dass es zu einer politischen „Versäulung“ kam,
die Kompromiß- und Expansionsfähigkeit der einzelnen Parteien erschwerte.
Die Sozialdemokratie: Die Sozialdemokratie entwickelte sich zur mitglieder- und
wählerstärksten Partei des Deutschen Kaiserreichs. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Zahl
ihrer Mitglieder auf über eine Million. Bei den Reichstagswahlen von 1912 erreichte die
Partei 34,8% der Stimmen und 27,7% der Mandate. Die meisten Mitglieder waren Arbeiter
aus großstädtischen und protestantischen Regionen. Die Sozialdemokratie wurzelte im Milieu
der großstädtischen Arbeiterschaft. Unter Führung August Bebels entwickelte sich die
Sozialdemokratie nach 1890 zu einer fest ausgebauten, von Funktionären geführten Partei.
Eine wichtige Rolle spielte auch die expandierende Parteipresse. Die Sozialdemokratie
versuchte zwar, auch auf bisher nicht erreichte Teile der Gesellschaft auszustrahlen, war aber
1914 noch weit davon entfernt war, den Weg von einer Klassen- zu einer Volkspartei
2
einzuschlagen. Mittelstand und Kleinbauern waren schwer zu erreichen. Dies hing nicht
zuletzt an der marxistischen Ideologie. Seit der Unterdrückungssituation der achtziger Jahre
war der Marxismus in der Partei fest verankert. Er trug fast religiöse Züge, bot für die
Anhänger eine Art Heilserwartung (Religionsersatz) und prägte auch das neue Programm, das
sich die „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ 1891 auf dem Erfurter Parteitag gab. Das
Programm, das die beiden Theoretiker Karl Kautsky und Eduard Bernstein entworfen hatten,
zerfiel in einen theoretischen und politisch-praktischen Teil. Der erste Teil folgte ganz den
Kernaussagen des Marxismus, der zweite aber erhob nun nicht die Forderung nach Revolution
und Vergesellschaftung aller Produktionsmittel. Er beschränkte sich auf praktische
Forderungen zur Demokratisierung des Staates und zur sozialen Besserstellung der Arbeiter.
Eine grundsätzliche Äußerung zur künftigen staatlichen Ordnung: demokratische Republik
oder Diktatur des Proletariats fehlte völlig. Die Sozialdemokratie folgte mit dem Erfurter
Programm der Überzeugung Kautskys, die dieser aus seinem Marxverständnis abgeleitet
hatte. Die sozialökonomische Entwicklung lief demnach gesetzmäßig auf das Ende der
Klassenherrschaft und des bestehenden Staates zu. Bis dahin sollte sich die Sozialdemokratie
innerhalb des bestehenden Systems um politische und soziale Verbesserungen bemühen. Der
Widerspruch zwischen theoretischen Vorgaben und praktischer Politik sorgte bald für
parteiinternen Streit. Die vor allem in Süddeutschland beheimateten Reformisten wie Georg
von Vollmar forderten eine auf dem Boden der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung
stehende Reformpolitik. Die Revisionisten um Eduard Bernstein forderten, dass die Partei
angesichts ganz anders verlaufender sozialökonomischer Tendenzen auch ihre radikalrevolutionären Dogmen aufgeben sollte, konnten sich auf den Parteitagen zu Beginn des 20.
Jahrhunderts damit nicht durchsetzen. Die Mehrheit um Bebel und Kautsky verwarf aber auch
die andere Alternative, die von der radikalen Linken um Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht kam. Sie wollte wie Bernstein Theorie und Praxis in Einklang bringen, aber eben
dadurch, dass die Sozialdemokratie keine Politik des revolutionären Attentismus betrieb,
sondern durch stärkere Mobilisierung der Massen auf die politisch-soziale Revolution
zusteuerte. Es waren nicht zuletzt die Gewerkschaften, die sich einem solchen Kurs
widersetzten. Die Sozialdemokratie hatte zwar in ihrer praktischen Politik begonnen, sich
immer mehr in das Staats- und Gesellschaftssystem des Kaiserreichs zu integrieren, blieb aber
angesichts der staatlich-gesellschaftlichen Diskriminierung wie eigener Abschottung noch
immer in einer Außenseiterposition.
Zentrum: Zweitgrößte Partei nach der Sozialdemokratie war das Zentrum. 1912 erhielt die
Partei noch 16,4% der Stimmen. Das reichte dank vieler sicherer Wahlkreise noch für 23%
der Mandate. Das Zentrum blieb das gesamte Kaiserreich hindurch fest im katholischen
Milieu verankert, allerdings lockerten sich auch hier allmählich die Bindungen. Es stützte sich
auf Honoratioren in den Wahlkreisen, auf Kirche und Klerus und auf ein breites katholisches
Vereinswesen: Bauernvereine, christliche Gewerkschaften, Borromäusverein und vor allem
dem 1890 entstandenen Volksverein für das katholische Deutschland. Diese Vereine sicherten
dem Zentrum einen breiten Anhang. Verbindendes Glied aller im Zentrum vereinten Gruppen
war die katholische Religion und das Bestreben, die Einheit und die gemeinsamen Interessen
des Katholizismus im politischen Raum zu vertreten. In der Politik des Zentrums vereinten
sich moderne (Rechtsstaat, Sozialpolitik, Wahlrecht) und traditionale Elemente
(Wertekatalog, Schulpolitik). In vielen Fragen wurde der Konsens innerhalb der Partei, je
länger das Kaiserreich dauerte, immer brüchiger. Das vom Zentrum repräsentierte katholische
Milieu untergliederte sich in vier unterschiedliche soziale Gruppen. Die erste war der
katholische Adel und die kirchliche Hierarchie, die zu Beginn des Zentrums noch eine
wichtige Rolle spielten, dann aber mit der Massenpolitisierung an Einfluss verloren. Die
zweite Gruppe war das katholische Bürgertum. Die dritte Gruppe waren agrarische und
mittelständische Populisten, deren soziale und politische Forderungen zum Teil auf
3
Widerspruch der Bürgerlichen stießen (Schutzzoll, Gewerbeordnung). Die vierte Gruppe war
schließlich die katholische Arbeitnehmerschaft.
Aus dieser Zusammensetzung ergab sich eine komplizierte innenpolitische Situation, die
Klassenkonflikte der Gesellschaft schlugen auf die Partei durch, es gab innere Machtkämpfe
und Machtverschiebungen. Nach 1900 gewann vor allem der populistische Flügel, in dem
Matthias Erzberger eine wichtige Rolle spielte, an Einfluss. Über die Funktion des Zentrums
im politischen System des Kaiserreichs ist viel gestritten worden. Die einen sahen im Zentrum
bereits eine moderne Volkspartei mit demokratischem Charakter; andere betonten vor allem
den konservativen und systemstabilisierenden Charakter des Zentrums. Differenzierter
argumentiert Loth, für den die Politik des Zentrums sowohl beharrende als auch moderne
Züge trug. Es habe einerseits durch die Integration von Massen und die stärkere Rolle im
politischen Prozeß (Mehrheitsbeschaffer im Reichstag) Demokratisierungs- und
Parlamentarisierungstendenzen gefördert, angesichts der inneren Gegensätze diesen Kurs aber
bis 1918 andererseits nicht konsequent genug zu Ende geführt.
Liberale Parteien: Der Liberalismus hatte mit seinen Politikangeboten an Attraktivität
eingebüßt, er war nicht mehr die klar dominierende Kraft innerhalb des Parteienspektrums
und hat von der Politisierung der Massen am wenigsten profitiert. Die Liberalen versuchten
zwar, ihre Organisationen auszubauen, einen engeren Schulterschluss mit den neuen
Verbänden im bürgerlichen Lager zu suchen (Nationalliberale und Bund der Industriellen)
und mit der Flotten- und Weltpolitik neue Themenfelder zu finden, konnten damit aber den
verlorenen Boden nicht zurückgewinnen. Die „liberalen Imperialisten“ setzten darauf, dass
nur ein modernes Deutschland die weltpolitischen Aufgaben bewältigen könne und deshalb
Reformen im Sinne der Liberalen anstreben müsse. Friedrich Naumann, der zu dieser Gruppe
gehörte, versuchte die Liberalen darüber hinaus durch eine Politik des Sozialliberalismus
wieder attraktiv zu machen. Sein 1896 gegründeter Nationalsoziale Verein, der die
Arbeiterschaft durch demokratische und soziale Reformen mit dem Staat des Kaiserreichs
versöhnen wollte, scheiterte jedoch. 1903 schloss sich Naumann der linksliberalen
Freisinnigen Vereinigung an. Innerhalb des zersplitterten Linksliberalismus unternahm man
1910 noch einmal den Versuch, alle Organisationen in der Freiheitlichen Volkspartei
zusammenzuführen. Zugleich verstärkte man die Verbindung zu bürgerlichen Verbänden.
Zum Sympathisantenumfeld gehörten der Bund deutscher Frauenvereine, Vereine des
Kulturprotestantismus und vor allem der 1909 gegründete Hansa-Bund. Im letzteren schlossen
sich zahlreiche bürgerliche Organisationen zusammen, um eine konservativ-agrarische
Reichspolitik zu bekämpfen. Der Hansa-Bund sollte ein wichtiger Reformmotor werden und
trat auch für die Kooperation mit der Sozialdemokratie ein. Seine Erfolge blieben jedoch
begrenzt. Die bedeutendste Kraft im liberalen Lager blieb bis 1914 nationaliberale Partei. Sie
war um 1890 noch eine reine Honoratiorenpartei. Auf die Massenpolitisierung suchte man
durch engere Kooperation mit den Verbänden zu reagieren. Erst 1907 verstärkten jungliberale
Kräfte, darunter Gustav Stresemann, die Bemühungen um Ausbau der Partei durch Gründung
von Ortsvereinen und eine gezielte Mitgliederwerbung. Der Liberalismus konnte auch am
Ende des Kaiserreichs nicht mehr an seine Stellung in den frühen siebziger Jahren anknüpfen.
Das hing auch damit zusammen, dass viele seiner Ideen längst alle Teile oder große Teile der
Gesellschaft durchzogen. Dies galt für Verfassungs- und Rechtsstaatsidee, für den
Bildungsgedanken und nicht zuletzt für die Idee der Nation.
Die Konservativen: Die Konservativen standen für Autorität statt Majorität, gegen den
Parlamentarismus, gegen die Alleinherrschaft des Marktes und gegen die Trennung von Staat
und Kirche. Den Nationalstaat, den die Konservativen lange bekämpft hatten, machten sie seit
1878/79 zunehmend zur eigenen Angelegenheit. Im Zeitalter der Massenpolitik schienen
nationale Parolen geeignet, um neue Wähler an die Konservativen zu binden. So konnten auch
die Konservativen zwischen 1890 und 1914 die Zahl der Wähler leicht ausbauen, bei den
4
Stimmenanteilen fielen sie jedoch nun deutlicher zurück. Bei den Mandaten machte sich der
Bedeutungsverlust weniger stark bemerkbar, da die Konservativen von der ungerechten
Wahlkreis-Einteilung und Bevorzugung der ländlichen Regionen profitierten. Die DeutschKonservativen, größte Partei im konservativen Spektrum, hatte nach wie vor ihre Hochburgen
im ländlich-agrarischen Ostelbien. Im preußischen Abgeordnetenhaus, das nach dem
Dreiklassen-Wahlrecht gewählt wurde, waren die Konservativen deutlich stärker als im
Reichstag. 1892 gaben sich die Deutsch-Konservativen ein neues Programm, das auch
gegenüber den städtischen Mittelschichten und der Arbeiterschaft neue Angebote machte. Ziel
war es, eine konservative Volkspartei aufzubauen. Eine wichtige Integrationsklammer sollte
hierbei auch dem Antisemitismus zufallen. Das Parteiprogramm sprach sich für die
Zurückweisung des jüdischen Einflusses auf Staat und Gesellschaft und für das Prinzip des
christlichen Staates aus. Diese Passagen gingen zurück auf Ideen des Berliner Hofpredigers
Stöcker, dessen Christlich-Soziale Partei sich im Umfeld der Konservativen bewegte. Als
Stöckers Strategie bei den Wahlen von 1893 wenig Erfolge brachte und er sich auch in
anderen Fragen mit der Führung der Konservativen überwarf, trennt man sich später wieder.
Eine dauerhafte Massenbasis für die Konservativen, die ebenso wie die Liberalen keine feste
Parteiorganisation hatten, brachte das Bündnis mit dem Bund der Landwirte. Der Bund
kanalisierte das ländliche Protestpotential, das sich zeitweise radikalen Antisemitenparteien
zugewandt hatte, führte es den Deutschkonservativen zu und stärkte deren Basis. Ganz
problemlos war aber auch diese Kooperation nicht, weil die Agrarier die Konservativen in
einer Weise zu instrumentalisieren suchten, die denen in manchen Fragen zu weit ging
(Mittellandkanal). Neben den Deutsch-Konservativen existierte weiterhin die
Freikonservative oder Reichspartei. Ihr Einfluss ging aber seit 1890 kontinuierlich zurück.
II.
Antisemitismus und Nationalismus
Sh. Volkov, Die Juden in Deutschland 1780-11918, München 1994.
Der seit 1873 hervortretende moderne Antisemitismus knüpfte einerseits an ältere Formen der
Judenfeindschaft an, enthielt aber insofern neue Elemente, weil er sich nun gegen eine
emanzipierte jüdische Minderheit richtete, die assimilierten Juden und die bekämpfte
Moderne weitgehend gleichsetzte, sich zu Parteien und Verbänden zusammenschloss und
durch die Aufnahme von Rassentheorien und völkischen Vorstellungen eine Verschärfung
erfuhr. Er richtete sich nicht mehr allein gegen Glaubensjuden, sondern auch gegen christliche
deutsche Staatsbürger mit jüdischen Vorfahren. Die Gründung der Christlich-sozialen Partei
des Berliner Hofpredigers Stöcker und der vom Historiker Treitschke ausgelöste Berliner
Antisemitismusstreit zeigten Ende der siebziger Jahre, dass der Antisemitismus sowohl im
Bildungsbürgertum als auch im Mittelstand von 1878 Aufnahme fand. Dennoch blieb den
aufkommenden Antisemitenparteien ein politischer Durchbruch versagt. 1893 kamen sie auf
16 Reichstagsmandate, 1907 auf 22. Letztlich hatte der parteipolitische Antisemitismus nur
regional begrenzte Erfolge wie in Hessen, wo der Marburger Bibliothekar Otto Böckel mit
einem populistischen, gegen die Hierarchien in Staat und Gesellschaft gerichteten
Antisemitismus unter den Bauern große Erfolge erzielte. Angesichts innerer Gegensätze und
zwielichtiger Persönlichkeiten gelang es den Antisemitenparteien nicht, eine eigene große
Partei zu gründen und den antisemitischen Protest zu bündeln. Dieses Scheitern darf nun aber
nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich antisemitisches Denken in der Gesellschaft des
Kaiserreichs um 1900 auf vielfache Weise ausgebreitet hatte. Es gab um 1900 zweifellos in
weiten Teilen der nichtjüdischen Gesellschaft ein wachsendes Ressentiment gegen die Juden,
das häufig auch mit Konkurrenzängsten und Konkurrenzneid zusammenhing. Die Verbände
des Mittelstandes und der Bund der Landwirte nutzten den Antisemitismus als
Integrationsklammer und zur Mobilisierung ihrer Anhänger. Die großen Parteien verurteilten
zwar den Radauantisemitismus, eine kompromisslose Absage kam aber nur von
5
Sozialdemokraten und Linksliberalen. Der Staat des Kaiserreichs nahm die vollzogene
Gleichstellung der Juden nie zurück, und er schützte die Juden in Deutschland weitgehend
erfolgreich vor gesellschaftlicher Gewalt. Auf der anderen Seite waren aber im Staatsapparat,
im Militär und in der Justiz antisemitische Strömungen weit verbreitet, die sich in der
Verweigerung von Aufstiegschancen niederschlugen. Dennoch war der Antisemitismus in
Deutschland kein beherrschender Faktor der politischen Kultur. Er wurde auch von den Juden
selbst nicht so empfunden, wenngleich Sorgen wuchsen.
Der Nationalismus war eine der wichtigsten Prägekräfte im politisch-gesellschaftlichen
Leben des Kaiserreichs. Er spielte innerhalb der Massenpolitisierung eine zentrale Rolle. Die
Nationalisierung der Massen war ein Grundzug der europäischen Geschichte des ausgehenden
19. Jahrhunderts. Deutsche Besonderheiten zeigen sich aber darin, dass sich im Kaiserreich
um 1900 eine neue Variante des europäischen Nationalismus stärker als anderswo bemerkbar
machte: der sogenannte völkische Nationalismus oder auch Radikalnationalismus. Der
deutsche Nationalismus vor und nach 1914 ist aber nicht ausschließlich mit dieser Variante
gleichzusetzen. Thomas Nipperdey unterscheidet drei Formen. Er spricht zunächst einmal von
einem Nationalpatriotismus. Hierunter versteht er das, was man als Wir-Gefühl oder als
deutsche Identität bezeichnen kann. Bis 1914 schwanden in der deutschen Gesellschaft viele
ursprüngliche Vorbehalte gegen diese nationale Identität. Am Ende des Kaiserreichs waren
regionale Bindungen des einzelnen noch immer wichtiger, man war Bayer oder
Württemberger, Thüringer, aber diese einzelstaatliche oder regionale Identität wurde
überwölbt von der des Reiches. Im Zuge dieses Prozesses schwanden auch die Vorbehalte
von Katholiken gegen das neue Preußen-Deutschland, und selbst die meisten
Sozialdemokraten konnten sich diesem Nationalpatriotismus nicht entziehen. Dies hing
zweifellos auch mit den Leistungen zusammen, die der Staat des Kaiserreichs für die
Alltagsbewältigung der Menschen erbrachte.
Als zweiten Typus nennt Nipperdey den „Normal-Nationalismus“. Gemeint sind zum einen
ein gouvernementaler, von der Regierung genutzter und geförderter Nationalismus und zum
anderen auch ein autonomer Nationalismus von Parteien und Verbänden. Über Schule, Heer,
nationale Feiern, Denkmäler und Vereine wie Sänger-, Turner-, Schützen- und Kriegervereine
wurde der Nationalismus zu einem Massenphänomen. In diesem Zusammenhang verstärken
sich die Elemente von Abgrenzung nach innen und nach außen. Nach innen soll der
Nationalismus gegen vermeintliche Reichsfeinde mobilisieren, nach außen gegen den
„Erbfeind“ Frankreich, gegen Russland und immer stärker auch gegen den Konkurrenten
Großbritannien. Der offizielle Nationalismus kam in den Denkmälern für Kaiser Wilhelm I.
zum Ausdruck. Der autonome Nationalismus der Gesellschaft kam in den vielen BismarckDenkmälern und Türmen zum Ausdruck, die seit den späten neunziger Jahren entstanden. Das
Symbol der Nation ist hier nicht mehr die Monarchie, der Symbolheld Bismarck repräsentiert
die Nation an sich. Der dritte Typus ist der Radikalnationalismus. Er verstand die Nation als
Volksnation, und zwar nicht mehr nur im Sinne älterer Vorstellungen als von Sprache und
Kultur bestimmte Volksnation, sondern nun zunehmend im rassenbiologischen Sinne als eine
Abstammungsgemeinschaft. Zu dem völkischen Umfeld gehörten der Deutschbund Friederich
Langes, die Gobineau-Vereinigungen und die Richard-Wagner-Vereine. Gerade im
Bildungsbürgertum wuchs um 1900 die Bereitschaft, den Vorgaben der völkisch-rassischen
Propheten zu folgen und die Ideen Lagardes, Langbehns, Chamberlains von der Überlegenheit
der nordisch-arischen Rasse zu übernehmen. Getragen wurde das ganze auch von der
Großstadt- und Zivilisationskritik, die dann in eine Blut- und Bodenideologie mündete. All
das machte den völkischen Nationalismus besonders expansiv und aggressiv.
Seit den neunziger Jahren begann sich die neue radikale Rechte in Verbänden zu
organisieren. Die wichtigste dieser Organisationen war der Alldeutsche Verband. Die
Alldeutschen propagierten ein koloniales Imperium des Reiches und wollten zugleich die
6
außerhalb des Deutschen Reiches stehenden deutschen Bevölkerungsteile durch ein größeres
kontinentaleuropäisches Reich von den Niederlanden bis zum Baltikum und die deutschen
Gebiete der Habsburger Monarchie in ein völkisches Staatswesen einbeziehen. Die Erfolge
des Alldeutschen Verbandes waren zunächst sehr begrenzt. 1908 geriet der Verband in eine
schwere Existenzkrise, konnte sich aber unter Führung von Heinrich Claß und durch
Unterstützung von Industriellen wie Krupp (mit Generaldirektor Hugenberg) konsolidieren.
Danach schlug er endgültig die völkisch-antisemitische Richtung ein. Jetzt verbesserten sich
auch seine Kontakte zur Reichsregierung wie zu den traditionellen Konservativen. Die neue
Rechte hatte zwar in der deutschen Wählerschaft keine Mehrheit, konnte aber bei Themen wie
der deutschen Wehrkraft durchaus Massen mobilisieren, indem sie andere große Verbände
wie den Bund der Landwirte, den Flottenverein oder den deutschnationalen
Handlungsgehilfenverband in die Agitation einbezog. Sie fand auch Rückhalt in Teilen des
staatlichen und militärischen Establishments und unter den Journalisten wie Professoren
(Dietrich Schäfer). Sie schuf ideologische Grundlagen und organisatorische Netzwerke, auf
denen andere in den zwanziger Jahren aufbauen konnten, wenngleich die Thesen einer
ungebrochenen Kontinuität in der neueren Forschung zurückgewiesen werden..
III.
Der „neue Kurs“ 1890-1894
Die skizzierten Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft und die neue Dynamik auf
dem Felde der außenpolitischen Beziehungen stellten die Reichsregierung seit 1890 vor neue
Herausforderungen. Der unmittelbare Nachfolger Bismarcks, der General Leo von Caprivi,
hat mit seinem „neuen Kurs“ zunächst durchaus versucht, auf diese Herausforderungen zu
reagieren. Von der Außenpolitik werden wir später reden. Schauen wir zuerst auf die
Innenpolitik. Caprivi wollte den monarchischen Staat aus den gesellschaftlichen Konflikten
herausziehen und als neutrale Instanz moderieren. Die neue Politik sollte von Ausgleich und
Versöhnung bestimmt sein und die inneren Konflikte vermeiden, in die Bismarcks Politik
hineingeführt hatte. Das Sozialistengesetz wurde nicht mehr verlängert. Statt dessen erhielt
der preußische Handelsminister von Berlepsch den Auftrag, den unter Bismarck
vernachlässigten Arbeiterschutz auszubauen und das Arbeitsrecht zu reformieren. In der
Gewerbeordnungsnovell von 1891 wurde dies zum Teil auch umgesetzt. Der Arbeiterschutz
wurde verbessert und die Gewerbeaufsicht des Staates verstärkt. Der große Durchbruch blieb
freilich noch aus. Eine Neuorientierung gab es schließlich auch in der Handelspolitik. Caprivi
wollte durch Handelsverträge mit europäischen Staaten der deutschen Industrie bessere
Absatzchancen verschaffen. Caprivi ging davon aus, dass dauerhafte Arbeitsplätze für die
wachsende Bevölkerung nur durch die Expansion der Industrie entstehen würden. Die
Handelsverträge mit den anderen, wirtschaftlich rückständigeren Staaten waren aber nur
möglich, wenn man diesen die Chance gab, die deutschen Industrieerzeugnisse mit dem Erlös
aus dem eigenen Agrarexport zu bezahlen. Das bedeutete, dass die deutschen Agrarzölle
gesenkt werden mussten und stieß auf Widerstand der Konservativen. Eine weitere Reform,
die den neuen Wirtschaftsstrukturen Rechung trug, war die preußische Steuerreform von
1891. Die Besteuerung wurde dem Wandel vom Agrar- zum Industriestaat angepasst, zu einer
grundlegenden Korrektur des preußischen Drei-Klassenwahlrechts kam es aber nicht.
Der neue Kurs brachte somit zwar einiges in Bewegung, aber die eher halbherzigen
Reformen führten zu keinem grundlegenden Wandel des Systems. Trotz der geringen
Reichweite seiner Reformen stieß der neue Kanzler innerhalb der alten Eliten rasch auf
Widerstand. Ein besonderes Problem ergab sich aus der Doppelfunktion Reichskanzler und
preußischer Ministerpräsident. Auf der Reichsebene versuchte Caprivi eine Brücke zu jenen
Parteien zu schlagen, die Bismarck als Reichsfeinde diffamiert hatte. Das galt vor allem für
7
das Zentrum, aber Caprivi wollte auch ein besseres Verhältnis zu Linksliberalen und
Sozialdemokraten. Er hatte schließlich zunächst keine Mehrheit im Reichstag. In Preußen
dagegen war die Lage anders. Hier hatte das Kartell von Konservativen und Nationalliberalen
dank eines anderen Wahlrechts nach wie vor eine Mehrheit, und die Mitglieder des
preußischen Staatsministeriums tendierten dazu, ein solches Kartell auch auf der Reichsebene
wieder stark zu machen. Die Politik zwischen Reich und Preußen geriet aus dem
Gleichschritt. Schon 1892 mußte Caprivi wegen des Widerstandes der preußischen Eliten das
Amt des preußischen Ministerpräsidenten aufgeben. Im Reichstag konnte er kein
Gegengewicht aufbauen, weil weder Linksliberale noch Sozialdemokraten und das Zentrum
an die Regierung gebunden werden konnten und sollten. Liberale und Sozialdemokraten
kritisierten die von Caprivi in die Wege geleitete Reform des preußischen Schulgesetzes, die
auch das Zentrum nicht zufrieden stellte und schließlich zurückgezogen wurde. Streit gab es
auch um die Heeresvorlage von 1892/93, mit der ein neuer Rüstungsschub – von der personalzur materialintensiven Rüstung - eingeleitet werden sollte. Sozialdemokraten, Linksliberale
und Teile des Zentrums lehnten ab. Erst die Auflösung des Reichstages und Neuwahlen
brachten dem Kanzler die Mehrheit für eine nochmals modifizierte Heeresvorlage. Mit
Ausnahme der Sozialdemokratie, die 1893 weitere Mandate hinzu gewann, büßten alle
Gegner der Heeresreform Stimmen und Sitze ein.
Die Wahlen, aus denen Konservative und Nationalliberale gestärkt hervorgingen, brachten
Caprivi aber keine feste Mehrheit. Denn jetzt waren es vor allem die Konservativen, die ihn
wegen seiner Handelsvertragspolitik heftig attackierten. Der 1893 gegründete Bund der
Landwirt beklagte die mangelnde Berücksichtung der Agrarinteressen. Der Kanzler ohne „Ar
und Halm“, wie Caprivi von den ostelbischen Junkern genannt wurde, musste weg.
Entscheidend für Caprivis Sturz war aber am Ende jener Mann, der auch schon Bismarck aus
dem Amt gejagt hatte: der junge Kaiser Wilhelm II. Ihm ging es darum, seine kaiserlichen
Rechte gegenüber der Regierung angemessen zur Geltung zu bringen. Ob es Wilhelm
tatsächlich gelungen ist, ein „persönliches Regiment“ zu etablieren, das wurde schon von den
Zeitgenossen kontrovers beurteilt. Auch die Historiker sind sich bis heute nicht einig. Lange
Zeit standen sich zwei Positionen gegenüber. Die einen nahmen den Anspruch Wilhelms für
die Wirklichkeit. Sie argumentierten, dass Wilhelm das konstitutionelle System durchbrochen
habe und damit hauptverantwortlich sei für die zahlreichen Fehler der Innen- und
Außenpolitik. Die andere Seite argumentierte, dass der Kaiser gar nicht die notwendigen
Fähigkeiten besessen habe, um ein persönliches Regiment zu etablieren, schon gar nicht im
Sinne eines institutionalisierten, also planvollen und ständigen Regierungshandeln. Das
persönliche Regiment sei deshalb allenfalls bloßer Schein gewesen. Lange Zeit schien sich
diese zweite Position zu behaupten.
Dann war es der englische Historiker John C. Röhl, der in umfangreichen Arbeiten und in
einer groß angelegten Wilhelm II.-Biographie die These zu untermauern versuchte, dass
Wilhelm und sein engerer Beraterkreis (Philipp Graf zu Eulenburg) tatsächlich darauf
hingearbeitet hätten, die Macht des Kaisers und seinen unmittelbaren Einfluss auf die
deutsche Politik zu erweitern. Und man habe damit durchaus Erfolg gehabt, denn Wilhelm II.
habe letztlich dem politischen System seinen Stempel aufgedrückt und es zu einem
monarchozentrischen, also auf die Person des Monarchen zugeschnittenen System gemacht.
Der Kaiser habe – gestützt auf einen engen Vertrautenkreis – letztlich vieles selbst
entscheiden können. Röhl bietet in seinen Arbeiten ein eher erschütterndes Bild vom
Deutschen Kaiserreich in seiner zweiten Phase. Der machtpolitisch und wirtschaftlich so
dynamische Staat wurde demnach von einem teils fürchterlichen, teils lächerlichen
„Operettenregiment“ geführt. An der Spitze steht ein von Jugend an im wahrsten Sinne
verkorkster Monarch. Röhl beginnt seine Charakterskizzen mit Wilhelms schwieriger Geburt,
dem verkrüppelten linken Arm und den fehlgeschlagenen Erziehungsmethoden seiner Mutter.
Wilhelms Haß auf England wird nicht zuletzt auf den Haß zurückgeführt, den der Sohn
8
gegenüber der Mutter und englischen Königstochter entwickelt hat. Wer sich für solche
Fragen interessiert, dem steht eine reichhaltige Literatur zur Verfügung. Wilhelm II. ist ein
beliebter Gegenstand der Biographieforschung in all ihren Variationen, nicht zuletzt auch in
Form der Psychohistorie. In diesem Zusammenhang wird etwa auch nach den homoerotischen
Neigungen des Kaisers und vor allem nach den homosexuellen Exzessen in seinem Umfeldes
gefragt, Themen übrigens, die auch schon die Zeitgenossen beschäftigten und den Hof
Wilhelms in der Öffentlichkeit diskreditierten. Die fast byzantinistische Hofhaltung dieses
Kaisers, die im europäischen Vergleich auch viel Geld verschlang, passte jedenfalls kaum zur
Modernität von Wirtschaft und Gesellschaft.
Dennoch darf man nicht übersehen, dass das Kaisertum in der wilhelminischen Zeit, also
nach Bismarck, zu einem wichtigen Sinnbild der Nation aufstieg. Große Teile der
Gesellschaft sahen sich durch Wilhelm II. repräsentiert und integriert. Mit dem Kaisertum
verbanden sich dabei allerdings verschiedenste Hoffnungen. Es gab unter anderem die
unitarisch-nationalstaatliche Kaiseridee, die das Kaisertum als zentrale Klammer der
deutschen Nation sah. Es gab die imperiale Kaiseridee, die das neue Kaisertum als
Ausgangspunkt deutscher Weltpolitik und -herrschaft ansah. Es gab die Idee des
Volkskaisertums, das nach dem Willen von Friedrich Naumann die Arbeiterschaft mit Staat
und Gesellschaft versöhnen sollte. Wilhelm II. hat versucht, möglichst viele dieser
Erwartungen zu bedienen. Er verstand es durchaus, sich öffentlichkeitswirksam und scheinbar
omnipräsent in Szene zu setzen. Er verknüpfte verschiedenste Traditionen und moderne
Erwartungen und führte so seine Monarchie an den politischen Stil der Massengesellschaft
heran. Der Kaiser setzte durch sein Verhalten auch in der Gesellschaft eigene Akzente, etwa
mit seiner Nordlandbegeisterung. Zwischen 1889 und 1914 unternahm Wilhelm II. mit seiner
Yacht Hohenzollern jeden Sommer Jahr eine mehrwöchige Fahrt zu den norwegischen
Fjorden. Damit begünstigte er den Nordlandtourismus des Bürgertums ebenso wie die
Beschäftigung mit dem Germanenmythos.
Nun aber zurück zur Politik. Wilhelm konnte, um auf die Kontroverse über das persönliche
Regiment zurückzukommen, Reichspolitik nicht mehr nach Gutsherrenart gestalten. Dazu
waren mit der Bürokratie, dem Reichstag und der Öffentlichkeit längst andere Machtzentren
entstanden, an denen ein Monarch nicht einfach vorbeikam. Er war ein Akteur neben anderen,
aber immerhin ein wichtiger Akteur. Schon durch die Besetzung der wichtigsten Ämter
konnte er gestalten, aber er versuchte auch darüber hinaus Einfluß zu nehmen. In den ersten
Jahren nach Bismarcks Entlassung war dies beachtlich, auch noch einmal 1897 bis 1900, seit
1908 ging dieser Einfluß aber deutlich zurück. Einen Einschnitt bildete die sogenannte DailyTelegraph-Affäre, als eine englische Zeitung tölpelhafte Bemerkungen Wilhelms abdruckte,
die ihm sein für die Politik verantwortlicher Kanzler Bülow nicht herausgestrichen hatte.
Wenn Wilhelm II. in die Reichspolitik eingriff, so kann man abschleißend festhalten, dann
geschah dies eher planlos, mehr verhindern als gestaltend und darum meist mit negativen
Folgen auch für den Kaiser selbst. Am Ende trug der Versuch Wilhelms, ein persönliches
Regiment zu installieren, eher zur Selbstzerstörung der Monarchie bei als zu ihrer Festigung.
Der Großvater hatte sich da geschickter verhalten. Und viele andere europäische
Monarchenfamilien, gerade die englische Verwandtschaft, wussten um 1900 besser als die
Hohenzollern, was auf Dauer der eigenen Sache nutzen und was Schaden würde. Überall dort,
wo die Monarchen sich auf ihre repräsentativen Aufgaben beschränkten und die Politik den
gesellschaftlichen Kräften überließen, haben sie überleben können. In Deutschland war es
bekanntlich anders.
Kehren wir an dieser Stelle nun zum Kanzler Caprivi zurück. Sein „neuer Kurs“ war im
Oktober 1894 definitiv zu Ende. Der Kanzler musste weichen, weil er Wilhelms politischen
Plänen im Wege stand und weil Wilhelm selbst den neuen Kurs für verfehlt hielt. Er hatte die
Legitimationsbasis des Systems keinesfalls vergrößert. Wilhelm steuerte nun gegen. Er söhnte
sich wieder mit Bismarck aus, lehnte weitere Zugeständnisse an die Arbeiter ab, sondern
9
wollte den Kampf gegen die Sozialdemokratie mit neuen Mittel wieder aufnehmen. Im Streit
über die sogenannte „Umsturzvorlage“, die das Straf- und Presserecht verschärfte, und
Staatsstreichpläne zur Änderung des Wahlrechts kam es schließlich zum Bruch mit Caprivi.
1984 wurde Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum neuen Reichskanzler berufen.
Er übernahm nun auch wieder gleichzeitig das Amt des preußischen Ministerpräsidenten.
Hohenlohe war schon 75 und galt als Verlegenheitslösung. Er wurde keineswegs zum
willfährigen Werkzeug des Kaisers und erklärte gegenüber dem Monarchen einmal: „Ich bin
nicht Kanzleirat, sondern Reichskanzler und muss wissen, was ich zu sagen habe.“
Dementsprechend gab es Konflikte, sowohl zwischen dem Kanzler und dem Beraterkreis des
Kaisers als auch zwischen der Reichsleitung und der preußischen Regierung. Die Einheit von
Reichsleitung und preußischem Staatsministerium ging verloren, Hohenlohe büßte mehr und
mehr an Macht ein, vieles kam ins Stocken. Dies galt vor allem für die Sozialpolitik. Der noch
amtierende Handelsminister Berlepsch erhielt keine Rückendeckung mehr vom Kaiser.
Widerstand gab es auch von den Konservativen und den Nationalliberalen. Der seit 1896
amtierende neue preußische Handelsminister setzte dann die Akzente im Schutz des
Mittelstandes. Das entsprach den Wünschen der Konservativen wie des Zentrums, und das
versprach innenpolitisch auch mehr Erfolg als der Arbeiterschutz. Schützte man das
Handwerk – und das tat man 1897 durch ein neues Handwerkergesetz – dann gewann die
Reichsregierung Unterstützung bei einem noch immer zahlenmäßig beachtlichen Teil der
Bevölkerung. Von den Arbeitern wäre ein solcher Rückhalt nicht so schnell zu erhalten
gewesen.
Hohenlohe war im Übrigen zwar bereit, die Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie wieder
zu verschärfen. Er lehnte aber neue Ausnahmegesetze und staatstreichartige Maßnahmen
gegen einen widerspenstigen Reichstag ab. Umsturz- und Zuchthausvorlage – letztere sollte
den Koalitionszwang bei Streiks mit härteren Strafen ahnden – fanden im Reichstag keine
Mehrheit, da ohne das Zentrum nichts ging und die Partei des deutschen Katholizismus auf
rechtsstaatlichem Kurs blieb. Hinzu kam, dass auch die öffentliche Meinung klar gegen neue
Sozialistengesetze war. Selbst innerhalb Preußens fand die Verschärfung des Vereins- und
Versammlungsrechtes keine Mehrheit. Das einzige neue Gesetz, das hier durchkam, war die
„Lex Arons“. Sie schloß Sozialdemokraten von allen akademischen Lehrämtern aus. Aron
war ein deutsch-jüdischer Privatdozent, der der Sozialdemokratie beigetreten war. Der Kaiser
und Teile seiner Umgebung liebäugelten Mitte der neunziger Jahre damit, den Kampf gegen
die Sozialdemokratie mit außergesetzlichen Mitteln zu führen. Die entsprechenden
Staatsstreichpläne konkretisierten sich zwar nicht, wirkten aber durchaus als Druck- und
Einschüchterungsmittel.
Zwischen 1890 und 1897 war die innenpolitische Lage des Deutschen Reiches somit recht
krisenhaft. Erst danach ebbten die Konflikte zwischen Kaiser und Kanzler, Regierung und
Reichstag ab. Dies war auch die Folge von Neubesetzungen der Ministerämter. Hohenlohe
behielt zwar seine Ämter, erhielt aber in Preußen durch Miquel als neuem Vizepräsidenten
des Staatsministeriums und dem konservativen Innenminister Graf Posadowsky neue starke
Männer zur Seite. Das gleiche passierte auf der Reichsebene. Hier wurde der Kanzler
eingerahmt durch den neuen Staatssekretär des Äußeren, Bernhard von Bülow, und durch den
Konteradmiral Alfred Tirpitz, der nun Staatssekretär im Reichsmarineamt wurde. Beide
teilten und unterstützten Wilhelms Vorstellungen einer neuen deutschen Weltpolitik und den
Aufbau der dazu notwendigen Flotte. Wilhelms Eingriffe in die Reichspolitik gingen nun
zurück, da er wichtige Vertrauensleute an den Schaltstellen hatte. Drei Jahre später wurde
dann der neue starke Mann, Bülow, Nachfolger Hohenlohes im Amt des Reichskanzlers wie
des preußischen Ministerpräsidenten. Bülow soll mein Bismarck werden und vor allem im
Inneren Ruhe schaffen, hatte Wilhelm II. schon 1895 gesagt. Bülow entwickelte wegen seiner
engen Kontakte zum Kaiser einen starken Führungsanspruch. Wichtigste Männer neben ihm
waren Tirpitz und Posadowsky.
10
Die folgenreichste Weichenstellung der neuen Männer war der Beginn des Flottenbaus und
die neue Weltpolitik. Bülow prägte die griffige Formel vom deutschen Platz an der Sonne.
Tirpitz sollte den Ausbau der Flotte voranbringen, mit der man Großbritannien als erster Seeund Kolonialmacht politisch und notfalls auch militärisch die Stirn bieten wollte. Davon
werden wir im Zusammenhang mit der Außenpolitik noch hören. Der kostspielige und
abenteuerliche Flottenbau musste aber finanziert werden. Dafür brauchte man zunächst
einmal die Zustimmung des Reichstages und damit der deutschen Öffentlichkeit. Große Teile
des deutschen Bürgertums hatten seit längerem erkennen lassen, dass es sich für eine große
deutsche Flotte begeistern ließ. Hinzu kamen hier auch wirtschaftliche Interessen. Werften,
Zuliefererindustrien, besonders der Stahlbereich, aber auch andere Branchen würden von dem
Bau einer Flotte profitieren. Auch die Exportindustrie versprach sich von der Weltpolitik
einen besseren Schutz der eigenen Interessen.
Die Nationalliberalen und die Freikonservativen unterstützten den Flottenbau vorbehaltlos.
Die Deutschkonservativen forderten für ihre Zustimmung Kompensationen auf dem Felde der
Zölle. Eine Mehrheit für ein Flottengesetz kam aber im Reichstag nur zustande, wenn auch
das Zentrum zustimmte. Sozialdemokraten und Linksliberale waren dagegen. Im Zentrum gab
es lange und heftige Auseinandersetzungen. Am Ende setzte sich die Parteiführung durch, die
für das eingebrachte Flottengesetz war. Sie wollte die Flottenpolitik in überschaubare Bahnen
lenken und die Regierung davon abhalten, die Sache am Parlament vorbei zu regeln. Noch
immer wirkte die Staatsstreichdrohung. Das Zentrum sicherte so dem Flottengesetz nach
Zugeständnissen in der Budget- und Finanzierungsfrage 1898 eine Mehrheit. Zwei Jahre
später folgte eine Novelle zu diesem Gesetz. Sie wurde notwendig, weil die Flottenrüstung
viel teurer wurde als anfangs geplant. Die Flottenmehrheit einigte sich darauf, diese Mittel
durch kleinere Steuererhöhungen und durch neue Agrarzölle aufzubringen.
Es schien zunächst so, als ob die Pläne Bülows aufgehen würden und er eine
vergleichsweise stabile Reichstagsmehrheit hinter sich bringen könnte. Sein Ziel war eine
Sammlung aller staatserhaltenden und produktiven Kräfte. Sie sollte die Flottenpolitik tragen
und das politische System stabilisieren. Die Sammlungspolitik sollte sich stützen auf
Konservative, Nationalliberale und das Zentrum. Stärkste Kraft war hierbei das Zentrum, das
bei den Wahlen von 1898 ein Viertel aller Mandate errungen hatte. Neben der Flottenpolitik,
die der Industrie nutzte, sollte die Zollpolitik zum zweiten Fundament der Sammlungspolitik
werden. In der historischen Forschung ist diese Sammlungspolitik als ein weitreichendes
innenpolitisches Krisenrezept interpretiert worden. Dabei sei es Bülow nicht mehr nur darum
gegangen, die alte Sammlungspolitik Bismarcks – Konservative und Nationalliberale gegen
die Arbeiterbewegung – fortzusetzen. Ihm habe eine große Sammlung vorgeschwebt, bei der
Flotte, Weltpolitik und imperiales Kaisertum die fragile Gesellschaft des Kaiserreichs
integrieren sollte. Andere Historiker, vor allem Eley, bezweifeln dagegen, dass diese
Sammlungspolitik ein geeignetes Krisenkonzept sein konnte. Sie sei mehr Wunsch als
Wirklichkeit gewesen, denn die Verbindung von Flottenpolitik und Zollpolitik habe allenfalls
kurzfristig die tiefgreifenden Interessengegensätze zwischen den Beteiligten überdecken
können. Diese Sicht scheint überzeugender zu sein, wie vor allem der Streit um die Zollpolitik
zeigt.
Außenwirtschaftliche und innenpolitische Gründe sprachen um 1900 für eine Revision der
deutschen Zolltarife. Zum einen mussten Handelsverträge mit anderen Staaten erneuert
werden. Zum anderen verlangte die Landwirtschaft angesichts der Dauerkrise, in der sie sich
befand, weiter nach höheren Zöllen. Bülow und vor allem Miquel hofften, mit dem neuen
Zolltarif einen Kompromiss zwischen Agrariern, Industrie und Handel zu finden. Sehr schnell
zeigte sich aber, dass dies nicht möglich war. Die Schutzzollwünsche der Landwirtschaft,
organisiert im mächtigen Bund der Landwirte, gingen weit über das hinaus, was Handel und
Industrie zu akzeptieren bereit waren. Wie hart gerungen wurde, zeigte die Abstimmung über
den Bau des Mittellandkanals, der Rhein und Elbe verbinden sollte. Die Industrie und der
11
Handel wünschten ihn ebenso wie Kaiser und Regierung. Die Konservativen stellten sich auf
Druck der ostelbischen Gutsbesitzer dagegen, weil sie fürchteten, dass der Kanal zu noch
mehr billigeren Agrarimporten führen werde. Im preußischen Abgeordnetenhaus lehnten
Konservative und Zentrum die Kanalvorlage ab, unter den verweigernden Abgeordneten
waren auch viele Beamte, die hier gegen den eigenen Monarchen votierten und auf dessen
Druck hin vorläufig beurlaubt wurden. Die Frage der Agrarzölle führte zu einem langem
Ringen. Strikte Gegner höherer Agrarzölle waren Sozialdemokraten und Linksliberale, weil
die Zölle die Lebenshaltungskosten der Massen verteuerten. Die Befürworter höherer
Agrarzölle hatten aber im Reichstag keine eigene Mehrheit. Erst 1902 kam es mit Hilfe des
Zentrums, das intern ebenfalls hart um einen Ausgleich zwischen den divergierenden
Interessen gerungen hatte, zu einem Kompromiss.
Der neue Tarif kam der Landwirtschaft entgegen, aber nicht so, wie diese es gewünscht
hatte. Er bescherte dem Reich Mehreinnahmen, die aber nicht alle in die Flottenrüstung
gingen, sondern auf Wunsch des Zentrums in eine Witwen- und Waisenversicherung des
Reiches. Das ganze Vorgehen zeigte, dass das Zentrum zu diesem Zeitpunkt als stärkste
Fraktion des Reichstages in der Reichspolitik in eine Schlüsselstellung gelangt war. Auf
seinen Druck hin wurde nun auch die Sozialpolitik wieder aufgenommen. Auch in der
öffentlichen Meinung forderte man zu diesem Zeitpunkt wieder verstärkt sozialpolitische
Initiativen. Wichtig war hier die 1901 gegründete „Gesellschaft für soziale Reform“, mit der
bürgerliche Gelehrte wie Werner Sombart neue Akzente zur Lösung der sozialen Probleme
setzen wollten. Für die Sozialreform sprachen sich also auch Teile der Liberalen aus, vor
allem weil es galt, etwas gegen die anhaltenden Wahlerfolge der Sozialdemokratie zu
unternehmen. Die Sozialdemokratie hatte bei den Reichstagswahlen von 1898 27,2% der
Stimmen erhalten. Bei den nächsten Wahlen 1903 kletterte sie auf 31,7%, die jetzt für ein
Fünftel der Reichstagsmandate reichten. Man hatte den Wahlkampf übrigens mit der Parole
vom Brotwucher – also gegen die Agrarzölle – geführt. Trotz dieses Erfolges hatten die
Parteien, die Bülows Sammlung unterstützten, auch nach den Wahlen von 1903 weiter eine
Mehrheit im Reichstag. Sie hatten ihre Mandatszahl weitgehend behauptet. Bülow konnte
somit seine Politik weiter fortsetzen, allerdings mit der Folge, dass er in wichtigen Fragen
dem Zentrum entgegenkommen musste.
Dies zeigte sich zum einen in der Sozialpolitik. Die Regierung bot an, den Kreis der
Sozialversicherten zu erweitern, die Leistungen anzuheben, das Verbot der Kinderarbeit auch
auf das Heimgewerbe auszudehnen, den Arbeiterwohnungsbau mehr zu fördern und die
Gewerbegerichte in größeren Gemeinden obligatorisch zu machen. Hier kam man voran, aber
weitergehene Initiativen des preußischen Innenministers Posadowsky, der die Sache betrieb,
scheiterten an fehlenden Mehrheiten. Dies galt vor allem für die Verbesserung der
Rechtsstellung von Gewerkschaften und klarere Regelungen des Tarifwesens. Der
gewachsene Einfluss des Zentrums zeigte sich auch in der Finanzpolitik des Reiches. Seit
1900 wuchsen bedingt durch die Heeres- und Flottenrüstung die Ausgaben des Reiches
rascher als die Einnahmen. Da man den Mehrbedarf nicht einfach auf die Länder umlegen
konnte, nahm das Reich Anleihen auf. Damit wuchsen erst einmal die Schulden. 1890 hatten
sie bei 1,1 Milliarden Mark gelegen, 1909 waren es schon knapp 5 Milliarden. Die
Neuordnung des Finanzsystems war daher einwichtiges Gebot. Zu einer grundlegenden
Reform kam es jedoch nicht. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die stärkste Partei – das
Zentrum – zwar die Mehrausgaben für Heer und Marine bewilligte, angesichts der inneren
Gegensätze und aus Rücksicht auf die Wähler aber wenig Initiativen zur großen
Reichsfinanzreform ergriff.
Zu den Zugeständnissen, die das Zentrum als Preis für seine Kooperation mit Bülow
erreichte, gehörte auch die Zurücknahme einiger verbliebener Kulturkampfgesetze (2. § des
Jesuitengesetzes). Dies missfiel dem protestantischen Bürgertum, also vor allem den
Nationalliberalen, und zeigte, wie tief noch immer die konfessionellen Gegensätze waren.
12
Auch eine andere wichtige innenpolitische Entscheidung ging auf das Zentrum zurück: die
Einführung von Diäten im Jahre 1906. Die Abgeordneten des Reichstages erhielten von nun
an eine Entschädigung von 3000 Mark im Jahr. Mit Ausnahme der Konservativen waren alle
Parteien dafür. Die Summe war nicht viel, aber es war ein erster Schritt zur weiteren
Aufwertung des Parlaments und zur Anerkennung des Berufspolitikertums, das sich in der
Praxis längst etabliert hatte. Viele Abgeordnete wurden im Grunde von Verbänden und
Parteien bezahlt und bestritten ihre Tätigkeit längst nicht mehr nur aus eigenen Mitteln.
Die Sammlungspolitik trug mit all dem dazu bei, die innenpolitische Lage des Reiches für
einige Zeit zu stabilisieren. Dennoch sollte die neue Allianz nicht mehr allzu lange halten.
Viele waren unzufrieden mit den Kompromissen, auf denen die Kooperation beruhte. Dies
galt gerade für das Zentrum. Hier wirkten sich nun innerparteiliche Machtverschiebungen aus.
Innerhalb des Zentrums machen sich seit 1900 die Kräfte der katholischen Arbeiterbewegung
stärker bemerkbar. Sie forderten Sozialreformen und mehr politische Rechte für die Arbeiter
(preußisches Drei-Klassen-Wahlrecht bedrückte viele Katholiken). Die Arbeiterführer
verbanden sich im Zentrum mit den Kräften des agrarischen und kleingewerblichen
Populismus, die seit 1890 an Gewicht gewonnen hatten. Die neue Richtung der
„Zentrumsdemokraten“ um Erzberger nahm die Kooperation mit der Regierung nicht mehr als
selbstverständlich hin und setzte in entscheidenden Fragen zunehmend auch auf
Konfrontation. Dies galt besonders für die Kolonialpolitik. Erzberger kritisierte 1806 wie die
Sozialdemokratie die Korruption und die Greuel in den deutschen Kolonien. Er kritisierte die
Kriege, die die Truppen des Reiches 1904/05 in Südwest- und Ostafrika gegen die
einheimische Bevölkerung auf eine brutale Weise geführt hatten.
Für Konservative und Nationalliberale erwies sich das Zentrum als unzuverlässiger Partner.
Sie kritisierten den Kanzler, dass er dem Zentrum zu viel Einfluss gewährt habe. Bülows
Position wurde zu diesem Zeitpunkt aber auch durch Vorwürfe aus der Umgebung des
Kaisers geschwächt. Es hieß, dass der Kanzler die Sozialdemokratie nicht entschieden genug
bekämpfe und seine Außenpolitik nicht erfolgreich genug sei. All das veranlasste Bülow nun
zur Kurskorrektur. Als Zentrum und Sozialdemokraten im Dezember 1906 einen
Nachtragshaushalt ablehnten, durch den weitere Mittel für den Kampf gegen die Hereros in
Südwestafrika bereitgestellt werden sollten, löste Bülow den Reichstag auf. In Anlehnung an
Bismarcks Strategie schürte die Reichsleitung nun die nationalen Emotionen gegen die
Sozialdemokratie und das unzuverlässige Zentrum. Unterstützt wurde sie vom Reichsverband
gegen die Sozialdemokratie. Zugleich bemühte sich Bülow im Wahlkampf, Konservative,
Nationalliberale und jetzt auch Linksliberale zu einem Bündnis zusammenzuführen.
Gemeinsamer Nenner waren das nationale Interesse, die antisozialistische Grundrichtung und
der Antikatholizismus. Bülow wollte sich so eine neue Reichstagsmehrheit sichern. In der Tat
wurden die sogenannten Hottentottenwahlen – den Begriff prägte Bebel – zu einem Erfolg des
neuen Blocks. Konservative und Liberale verbuchten Gewinne und hatten gemeinsam eine
knappe Mehrheit im Reichstag. Das Zentrum verbesserte sich zwar um 5 Mandate, hatte aber
seine parlamentarische Schlüsselstellung verloren. Der große Verlierer der Wahlen war die
Sozialdemokratie. Sie vergrößerte zwar die Zahl der Wählerstimmen, verlor aber bei den
Stimmanteilen fast 3% und büßte vor allem fast die Hälfte ihrer Reichstagsmandate ein. Die
SPD hatte nur noch 11% der Mandate.
Bülow schien mit seiner Strategie also Erfolg zu haben. Es musste sich allerdings noch
erweisen, ob er die ihn unterstützenden Parteien zu einem festen Block zusammenbringen
konnte. Das war nicht einfach. Die Konservativen stellten Bedingungen, da sie nun in einer
Schlüsselstellung waren. Sie hätten nämlich auch gemeinsam mit dem Zentrum eine Mehrheit
gehabt. Die Linksliberalen waren inzwischen auf die Linie der Weltpolitik eingeschwenkt,
weil sie den liberalen Imperialismus zur inneren Reform nutzen wollten. Sie hofften darauf,
durch die Kooperation mit der Regierung nun einen Teil ihrer innenpolitischen Ziele
durchsetzen zu können. Am stärksten setzten sich die Nationalliberalen für den neuen Kurs
13
ein. Sie wollten eine Mittlerstellung zwischen Konservativen und Linksliberalen einnehmen
und moderate Reformen vorantreiben. Der Bülow-Block hat dann auch einiges auf den Weg
gebracht. So wurde 1908 das Vereins- und Versammlungsrecht liberalisiert. Auch ein neues
Börsengesetz wurde verabschiedet. In anderen Fragen traten aber bald die Gegensätze
innerhalb des Blockes deutlich hervor. Dies galt zum einen für die Wahlrechtsfrage. Die
Linksliberalen plädierten für eine Abschaffung des preußischen Drei-Klassen-Wahlrechts. Die
Nationalliberalen wollten dagegen nur moderate Veränderungen. Die Konservativen lehnten
es ganz ab. Uneinig war man sich ferner bei den noch ungelösten Fragen der
Reichsfinanzreform.
Wenn der Block doch eine Weile hielt, dann hing dies an zwei Dingen. Zum einen fand das
Zentrum noch kein Konzept, um den Block aufzubrechen, Zum anderen überschattete
1908/09 die sogenannte Daily-Telegraph-Affäre alle anderen innenpolitischen Fragen. Die
britische Zeitschrift Daily-Telegraph veröffentlichte im Oktober 1908 ein Interview mit
Kaiser Wilhelm. Da dieser dort manche taktlosen und politisch unklugen Dinge zu besten gab,
erregte der Artikel in der internationalen Presse großes Aufsehen. In Deutschland sorgte er
dafür, dass die Kritik am persönlichen Regiment des Kaisers neue Nahrung erhielt. Der lange
aufgestaute Unmut über den Kaiser und die Skandale in seiner Umgebung brach sich Bahn
und stürzte das Reich in eine schwere innere Krise. Das Vertrauensverhältnis zwischen
Monarch und Kanzler, das schon nicht mehr gut gewesen war, ging endgültig zu Bruch. Der
Kaiser hatte das Interview vor der Veröffentlichung Bülow vorgelegt und dessen Einwilligung
erhalten. Er hatte sich also verfassungsgemäß verhalten und der politische Verantwortung des
Kanzlers Rechnung getragen. Als Bülow dennoch versuchte, sich aus der Verantwortung zu
stehlen, sah dies Wilhelm als Verrat an. Bülow verteidigte den Kaiser nur sehr lau, als in der
Reichstagsdebatte über die Affäre Redner fast aller Fraktionen das persönliche Regiment des
Kaisers kritisierten und verlangten, dass sich Wilhelm in solchen Dingen künftig heraushalten
solle. Bülow nötigte den Kaiser zu einer Erklärung, dass er künftig die verfassungsmäßigen
Verantwortlichkeiten wahren werde, um den öffentlichen Unmut zu dämpfen. Bei Wilhelm
machte er sich mit all dem verhasst. Der Kaiser wartete nur auf eine Gelegenheit, den Kanzler
loszuwerden.
Die Affäre berührte natürlich auch die Stellung des Reichstages. Er hätte die Möglichkeit
gehabt, nun seine Macht auszuweiten. Sozialdemokraten, Freisinn und Zentrum beantragten
auch, dass der Artikel 17 der Verfassung, der die Verantwortlichkeit des Kanzlers regelte, neu
gefasst werden sollte. Über die konkreten Schritte waren sie sich aber nicht einig. Zu einem
klaren Bekenntnis zur parlamentarischen Monarchie konnte man sich nicht durchringen. Die
Sozialdemokratie kam dieser Position noch am nächsten. Die Nationalliberalen wollten
dagegen das konstitutionelle System beibehalten, aber die Befugnisse des Kaisers begrenzen.
Die Konservativen lehnten dies strikt ab und waren für den Status quo. Im Grunde war das
politische System des Kaiserreichs an einem Scheideweg angekommen. Sollte es wie andere
europäische Monarchien in ein parlamentarisches System transformiert werden – oder sollte
alles beim alten bleiben. Der Reichstag hat sich 1908/09 um eine klare Entscheidung
gedrückt. Am Ende kam es zwar 1909 zum Kanzlersturz durch eine Mehrheit des
Reichstages, aber das konnte man, wie wir sehen werden, noch nicht als Durchbruch zum
Parlamentarismus werten.
IV.
Politische Systeme in anderen europäischen Staaten
Alle europäischen Staaten standen spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor den
Herausforderungen der neuen kulturellen, sozialökonomischen und politischen
14
Veränderungen. Die Probleme, die sich aus der Beschleunigung des industriellen Wachstums,
den Veränderungen der Gesellschaften und den daraus abgeleiteten Konflikte für die
politischen Systeme und die bisherigen Machteliten ergaben, waren durchaus miteinander
vergleichbar. Langfristig gingen alle Staaten ähnliche Wege. Aber es gab natürlich innerhalb
Europas große Unterschiede, die sich politisch, sozial und ökonomisch in West-Ost- und
Nord-Süd-Gefällen niederschlugen. Die jeweils spezifischen Voraussetzungen und
Traditionen führten zu unterschiedlichen Lösungswegen.
a) Autokratie und innere Reformen: Russland 1856-1914
Für Russland wurde die ökonomisch-soziale Rückständigkeit zum großen Problem. Das
unterentwickelte Agrarland (1897 noch 77% landwirtschaftlich tätige Bevölkerung) blieb
ökonomisch weit hinter den wirtschaftlichen Fortschritten des Westens zurück. Man ging
dann auch in Russland unter Zar Alexander II. nach dem verlorenen Krimkrieg den Weg einer
Reform von oben, hob 1861 die Leibeigenschaft auf und führte Justiz-, Verwaltungs- und
Militärreformen durch. Es gab auch wirtschaftliche Fortschritte, die langfristig den
innenpolitischen Veränderungsdruck erhöhten. Alle neuen Ansätze reichten aber nicht aus,
um den politischen und wirtschaftlichen Abstand zum Westen aufzuholen. Das politische
System Russlands schwenkte nicht auf jene Bahnen des Konstitutionalismus ein, die für das
übrige Europa fast die Regel wurden. Russland wurde auch unter den Zaren Alexander II.
(1881 ermordet) und Alexander III. autokratisch regiert. Die oppositionellen Strömungen
hatten wenig Erfolg. Dies führte aber nur zu einer weiteren Verschärfung der innenpolitischen
Repression. Erst mit der Revolution von 1905 wurden nochmals Ansätze unternommen,
Anschluss an die west- und mitteleuropäische Verfassungsentwicklung zu gewinnen.
b) Verfassungsfragen und Nationalitätenkämpfe: Österreich-Ungarn 1867-1890
Die Habsburger Monarchie folgte seit 1861 nicht mehr der Linie des Neoabsolutismus. Die
Machteliten dieses Vielvölkerstaates mit dem von 1848 bis 1916 regierenden Kaiser Franz
Joseph waren aus innen- wie deutschlandpolitischen Gründen auf die Bahn des
Konstitutionalismus eingeschwenkt. Nach dem Krieg von 1866 wurde die Innenpolitik der
Habsburger Monarchie durch die österreichisch-ungarischen Ausgleichsgesetze auf neue
Grundlagen gestellt. Gewinner waren die Ungarn. Das alte Königreich Ungarn wurde mit
weitreichenden Autonomierechten wiederhergestellt. Die Habsburger Monarchie bestand
künftig aus zwei, durch eine gemeinsame dynastische Spitze (Kaiser von Österreich und
König von Ungarn) verbundenen Reichsteilen: aus Ungarn und der cisleithanischen
Reichshälfte. Außenpolitik, Finanzen und Kriegswesen wurden gemeinsam geregelt.
Ansonsten gab es für jede Reichshälfte eigene Regierungen. Beide Reichshälften waren
Vielvölkergebilde. In der ungarischen Hälfte hatten die Magyaren 1880 einen Anteil von
41,2%, in der anderen Hälfte die Deutschen zur gleichen Zeit einen Anteil von knapp 37%.
Die zwei konstitutionellen Gebilde wurden durch ein System absoluter Prärogative der
Krone überformt. Die konstitutionellen Elemente blieben weit schwächer als der Reichstag
des Deutschen Reiches. Auch beim Wahlrecht blieb man weit hinter dem deutschen
Reichstagswahlrecht zurück. Ein allgemeines Wahlrecht für Männer wurde in Cisleithanien
erst 1907 eingeführt, in Ungarn bis 1914 nicht. Seit 1873 wurden die Abgeordneten des
cisleithanischen Reichsrates direkt gewählt. Zwischen 1867 und 1878 dominierten auch in
Cisleithanien zunächst einmal die Deutsch-Liberalen. Sie waren zentralistisch und
gesamtstaatlich gesinnt und wollten den Deutschen die historisch gewachsene Führungsrolle
bewahren. Es gab eine Liberalisierung des staatlichen Lebens, Wirtschaftsreformen und auch
im katholischen Österreich eine Art Kulturkampf, mit dem die Liberalen die seit 1855
(Konkordat) besonders starke Stellung der katholischen Kirche zurückdrängen wollten. 1878
war auch in Österreich die liberale Phase schon wieder zu Ende. Auch hier spielten die
15
wirtschaftlichen Verwerfungen durch die Krise von 1873 eine große Rolle. Mit dem neuen
langjährigen Ministerpräsident Graf Taaffe (bis 1893) setzte nun eine konservative
Regierungspolitik ein.
Gegen den Kurs der Deutschliberalen, die auf die Befindlichkeiten der anderen
Nationalitäten zu wenig Rücksicht nahmen, formierten sich nicht nur die nichtdeutschen
Bevölkerungsteile. Auch in den deutschsprachigen Gebieten selbst stellten sich neue
Parteirichtungen gegen die Liberalen. Die Christlich-soziale Partei unter dem Wiener
Bürgermeister Karl Lueger wurde zur ersten Massenpartei Österreichs und verband ihr
antiliberales Konzept mit dem Gedankengut katholisch-konservativer Sozialreform und einem
kräftigen Schuss Antisemitismus. Mit dem Voranschreiten der Industrialisierung, die
besonders im Wiener Raum und in Böhmen beachtlich war, wurde auch die
Arbeiterbewegung immer wichtiger. Innerhalb des Deutschliberalismus vollzogen sich
schließlich weitreichende Wandlungen, die den Charakter dieser Richtung völlig änderten.
Aus dem Liberalismus entwickelte sich angesichts der Nationalitätenproblematik ein
Deutschnationalismus, und aus ihm wiederum das „Alldeutschtum“. Wichtigster Führer war
Georg von Schoenerer, der mit sozialreformerischen und antisemitischen Parolen gegen die
Dynastie und die übernationale österreichisch-ungarische Monarchie, die katholische Kirche,
die Juden und das Großkapital zu Felde zog. Die Deutschnationalen wollten die
deutschsprachigen Gebiete Österreichs in eine staatsrechtliche Sonderstellung bringen und so
ihren deutschen Charakter bewahren. Die Parteien der Habsburger Monarchie verstanden sich
in der Regel als Nationalitätenparteien. Im Grunde haben vor 1914 nur die Sozialdemokraten
unter den Austromarxisten Otto Bauer und Karl Renner um nationsübergreifende Konzepte
gerungen. Aber auch sie sind schließlich schon innerhalb ihrer eigenen Richtung im Streit mit
den Tschechen gescheitert.
Die Nationalitätenkonflikte haben in beiden Reichshälften die Politik immer stärker
belastet. Zu einer wirklichen Völkergemeinschaft mit gleichmäßiger Machtverteilung und
Dezentralisierung ist es in der Habsburger Monarchie bis 1914 nicht mehr gekommen. Die
eigentümliche Struktur des Vielvölkerreiches stand einer Modernisierung des politischen
Systems im Wege und engte zugleich den außenpolitischen Spielraum immer mehr ein.
c) Niederlage und Erneuerung: Frankreich zwischen 1870 und 1900
Das Erbe der Revolution:
Das politische System Frankreichs war zwischen 1800 und 1871 von großer Instabilität,
wechselnden Herrschaftsordnungen (Napoleon I., Herrschaft der Bourbonen 1815-1830;
Julimonarchie 1830-1848, II. Republik 1848-1852, Kaisertum Napoleons III. 1852-1871) und
schweren inneren Konflikten geprägt. Die politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung
Frankreichs wurde nachhaltig bestimmt durch die langfristigen Folgen der Französischen
Revolution. Die Revolution von 1789 wirkte im politischen Bereich durch den Bruch im politischen Bewusstsein der Franzosen, durch die Spaltung in Anhänger und Gegner der
Revolution, weiter. Sie wirkte im sozialen Bereich durch die Beseitigung der alten Privilegiengesellschaft und die Schaffung einer rechtlich egalitären Gesellschaftsordnung weiter,
deren Prinzipien seit der Revolution nicht mehr in Frage gestellt wurden. In wirtschaftlicher
Hinsicht wirkte die Revolution aber eher bremsend auf den weiteren Verlauf des
Modernisierungsprozesses, weil sie gesellschaftliche Kräfte stärkte, die wie die Bauern und
Kleinbürgertum den Weg in die neue industriekapitalistische Gesellschaft eher hemmten.
16
Die Entstehung der III. Republik:
Nach den schweren Niederlagen gegen die Deutschen erfolgten schon am 4. September
1870 die Ausrufung der Republik und die Bildung einer provisorischen Regierung unter den
republikanischen Parlamentariern Léon Gambetta und Jules Favre. Die Anfang Februar 1871
abgehaltenen Wahlen zu einer Nationalversammlung führten zum Sieg der konservativen
„Partei der Ordnung“. In der Nationalversammlung, die Adolphe Thiers zum Präsidenten der
Republik wählte, die Frage der Staatsform aber noch offen hielt, hatten Legitimisten und
Orléanisten, die Anhänger einer Herrschaft der alten Königsdynastien, eine Mehrheit. Sie
waren sich aber über die Zukunft Frankreichs nicht einig. Die Legitimisten wollten den
Grafen von Chambord auf dem Königsthron sehen. Die anderen – die Orléanisten – setzten
sich für den Enkel der früheren Königs Louis Philippe ein. Letztere wollten eine moderne,
gegenüber den neuen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen
aufgeschlossene Monarchie. Die Legitimisten beschworen das alte Frankreich der Bourbonen,
sie lehnten die Tricolore und die politische Kultur des nachrevolutionären Frankreich ab. Die
Republikaner als zweitstärkste Kraft in der Nationalversammlung zerfielen in gemäßigte und
linke Republikaner. Die Arbeiterbewegung spielte trotz der französischen Beiträge zur
sozialistischen Tradition und Theoriebildung (Babeuf, Saint-Simon, Fourier, Proudhon,
Blanqui) im Parteienspektrum noch keine große Rolle. Ihre weitere Entwicklung wurde durch
die Niederschlagung der Pariser Kommune behindert.
Die Pariser Kommune:
Der doppelte Schock der militärischen Niederlage und des konservativen Wahlerfolges
löste unter den radikal-demokratisch-jakobinischen und den sozialistischen Kräften der
Hauptstadt Paris Unruhen aus. Als die neue französische Nationalversammlung, die wegen
des Krieges zunächst in Bordeaux zusammengetreten war, am 10. März 1871 beschloss, ihren
Sitz nach Versailles, nicht aber nach Paris zu verlegen, wurde das von vielen in Paris als
Signal einer Restauration der Monarchie angesehen. Nach ersten Straßenkämpfen zog
Präsident Thiers am 18. März die Truppen aus der Stadt ab und verhängte über Paris den
Belagerungszustand. In Paris und dem dazu gehörenden Seine-Departement wurde daraufhin
am 26. Mai ein Generalrat gewählt (die Wahlbeteiligung lag unter 50%). Generalrat und
Stadtkomitee bildeten nun die Regierung eines sich für selbständig erklärenden Stadtstaates.
Man forderte die übrigen Städte Frankreichs auf, sich Paris anzuschließen. In den anderen
Städten des Landes kam es aber nur zu kleineren Aufständen. In Paris selbst führte man bis
Ende Mai 1871 zahlreiche Reformen durch. In der marxistischen Tradition wurde die Pariser
Kommune als der erste große Klassenkampf einer zu neuem politischen Bewusstsein
gelangten Arbeiterklasse interpretiert. Neuere sozialgeschichtliche Untersuchungen betonen
dagegen, dass der Aufstand noch mehr in der Tradition des Juniaufstandes von 1848 stand
und keineswegs bereits die neuen sozial- und politikgeschichtlichen Tendenzen des
Industriezeitalters widerspiegelte.
Die Regierung Thiers und die französische Nationalversammlung traten der Kommune und
ihren sozialistischen und föderalistischen Ordnungsvorstellungen unversöhnlich entgegen. Sie
beauftragten General Mac-Mahon, den Verlierer von Sedan, mit der militärischen
Unterwerfung der Hauptstadt. Dies geschah Ende Mai 1871 mit ungewöhnlicher Brutalität.
Der Bürgerkrieg forderte am Ende etwa 30 000 Tote, von denen aber nur etwa 1000 auf die
Regierungstruppen entfielen.
Zwischen Restauration der Monarchie und republikanischer Ordnung:
In den ersten Jahren nach 1871 schien in Frankreich alles auf die Restauration einer
Monarchie zuzulaufen. 1873 wurde Thiers als Präsident durch den legitimistisch orientierten
Marschall Mac-Mahon ersetzt. Ministerpräsident wurde der legitimistische Herzog von
Broglie. Die Restauration scheiterte, als sich der Herzog von Chambord weigerte, die
17
Trikolore und die parlamentarische Regierungsform zu akzeptieren. Daraufhin schwenkten
Teile der Orléanisten um und schufen mit den Republikanern 1875 die verfassungsrechtlichen
Grundlagen der Dritten Republik. Wesentliche Elemente waren die nach dem allgemeinen
gleichen Männerwahlrecht gewählte Deputiertenkammer, die gemeinsam mit dem Senat (75
Mitglieder auf Lebenszeit, 225 von den Departements gewählt) die Legislative bildete. An der
Spitze der Exekutive steht ein auf 7 Jahre gewählter Präsident, der eine Regierung ernennt,
die zugleich vom Vertrauen der Nationalversammlung abhängig ist. Die endgültige Festigung
erhielt das neue System 1877, als Präsident Mac-Mahon mit seinem Versuch scheiterte, die
seit 1876 von den Republikanern dominierte Deputiertenkammer durch vorzeitige Auflösung
zu disziplinieren. Mac-Mahon verlor die Kraftprobe mit den republikanischen Kräften und
trat 1879 als Präsident zurück. Neuer Präsident wurde Jules Grévy (bis 1887). Im Unterschied
zum Deutschen Reich setzte sich Ende der 70er Jahre in Frankreich die parlamentarische
Regierungsweise durch. Die neue Regierung der gemäßigten Republikaner betrieb eine Politik
der inneren Reformen, wobei ein Schwerpunkt auf den Bildungsreformen lag. Dies führte zu
heftigen Konflikten mit der katholischen Kirche. Darüber hinaus stellte sich Frankreich nun
ganz in die Tradition von 1789. Der 14. Juli wurde Staatsfeiertag, die Marseillaise
Nationalhymne.
Ausbau und Krisen der Dritten Republik:
Die neue Ordnung wurde getragen von den Kräften des industriellen Großbürgertums und den
wichtiger werdenden bürgerlichen Mittelschichten. Der Industrialisierungsprozess entwickelte
in Frankreich zwar eine geringere Dynamik als in England oder Deutschland, brachte trotz der
Reformversuche (Regierung Ferry 1879-1885) aber auch hier neue Konflikte mit sich. Die
neuen Arbeiterparteien spielten in den achtziger Jahren noch eine bescheidene Rolle im
politischen System. Die Unzufriedenheit über mangelnden sozialen Fortschritt und eine
außenpolitische Stagnation führte Mitte der achtziger Jahre zur antiparlamentarischen und
nationalistischen Bewegung um den General und Kriegsminister Georges Boulanger (18371891). Nach spektakulären Wahlerfolgen Boulangers gelang es der Regierung aber 1889,
durch Verfolgung Boulangers weitere Erfolge und Staatsstreichplanungen zu durchkreuzen.
Dass der neue, antiparlamentarische und autoritäre Nationalismus, der unter Boulanger
deutlich geworden war, weiterwirkte zeigte die Dreyfus-Affäre, die zwischen 1894 und 1906
die französische Nation in zwei Lager spaltete. Auf der einen Seite standen die rechten Kräfte,
die sich in neuen Organisationen wie der „Action francaise“ unter Maurras formierten. Auf
der anderen Seite standen die radikalen Republikaner und Intellektuellen, die sich für die
rechtsstaatlichen Prinzipien einsetzten.
Die Dreyfus-Affäre hat zum einen die bis dahin schleppend verlaufende Herausbildung
moderner Parteien beschleunigt und zum anderen zur Ablösung der seit 1880 dominierenden
gemäßigten Republikaner geführt. Die vor allem vom Kleinbürgertum unterstützten
bürgerlich-linksdemokratischen „Radikalsozialisten“ (Waldeck-Rousseau, Clemenceau,
Briand) dominierten nun bis 1914 die französische Innenpolitik. Sie verschärften noch einmal
den Kampf gegen die als konservativ-restaurative Macht angesehene katholische Kirche und
wurden hierin von den sich neu formierenden Sozialisten (SFIO seit 1905; Jean Jaurès)
unterstützt. Die Allianz zerbrach aber wieder infolge der wachsenden sozialen Konflikte, in
denen auch die Radikalsozialisten mit harten Maßnahmen gegen streikende Arbeiter
einschritten. Auch die Republik mit ihrem parlamentarischen Regierungssystem und einer an
1789 ausgerichteten Geschichtskultur wurde somit ähnlich wie das ganz anders verfasste
Deutsche Reich immer wieder mit heftigen inneren Konflikten konfrontiert. Neben den
Prozessen der inneren Nationsbildung (Kultur, Wirtschaft, Verkehr) war es auch in Frankreich
häufig ein nach außen gerichteter Nationalismus, mit dem die vielfältigen
Integrationsprobleme überdeckt werden sollten.
18
d) Stabilität im Wandel: Das politische System Großbritanniens 1867 bis 1900
Großbritanniens Weg wurde von Historikern oft als mustergültiger Weg in die Moderne
angesehen. Das Land erschien als Vorbild einer erfolgreichen Anpassung der politischen
Herrschaftsordnung an veränderte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse durch Reformen.
Hierbei muss man sich jedoch vor der Gefahren einer Idealisierung hüten. Die
unterschiedlichen Ausgangsbedingungen werden oft ebenso unterschätzt wie die Tatsache,
dass auch Großbritannien viele schwere soziale und politische Konflikte im 19. Jahrhundert
durchlebte. Auch die Herausbildung einer britischen Identität erfolgte nicht nur über die
freiheitlichen Traditionen, sondern ähnlich wie bei anderen europäischen Nationen vor allem
durch einen nach außen gerichteten Nationalismus.
Wirtschaftliche Entwicklungen im 19. Jahrhundert:
Die um 1780 einsetzende Industrielle Revolution führte zu einem ökonomischer Vorsprung
Englands gegenüber den anderen europäischen Staaten, die bis weit in die zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts deutlich zurückblieben. Seine entscheidende Beschleunigung erhielt der
wirtschaftliche Strukturwandel in Großbritannien durch den in den zwanziger Jahren
einsetzenden Eisenbahnbau. Nach den Stockungen und Krisen in den vierziger Jahren
verzeichnete man in den fünfziger und sechziger Jahren eine neue große
Aufwärtsentwicklung.
Das Wachstum des Sozialprodukts lag deutlich über dem der Bevölkerung. 1800 hatte das
Vereinigte Königreich mit Irland knapp 16 Millionen Einwohner; 1871 waren es 32 Millionen
um 1900 waren es etwa 40 Millionen. Das Bevölkerungswachstum war verbunden mit einem
raschen Urbanisierungsprozess. Schon 1871 lag der Anteil der Stadtbevölkerung an der
britischen Gesamtbevölkerung bei 65%. 1837 hatte es 5 Städte mit mehr als 100 000
Einwohnern gegeben, 1891 waren es 23. London zählte zu diesem Zeitpunkt bereits über 4
Millionen Einwohner. Der Anteil der Landwirtschaft am Sozialprodukt und ihr Anteil an den
Erwerbstätigen gingen trotz der Produktionssteigerungen Agrarsektors stark zurück. Nach
vorübergehenden Wachstumsschwächen in den siebziger und achtziger Jahren setzte um die
Jahrhundertwende auch in Großbritannien nochmals ein starkes Wachstum des industriellen
Sektors und des tertiären Sektors (Handel, Verkehr, Dienstleistungen) ein.
Die gesellschaftlichen Strukturen:
Die neuen sozialen Entwicklungen waren geprägt vom Aufstieg der middle classes und vom
starken Anwachsen der working classes. Trotz des rasanten Wirtschaftswachstums, der
Urbanisierung und des sozialen Wandels besaßen allerdings die vorindustriellen Strukturen
und Mentalitäten noch lange Zeit ein beachtliches Gewicht. Alte Hierarchien hielten den
neuen Entwicklungen lange stand. An der Spitze der britischen Gesellschaft stand die
Königliche Familie. Die Monarchie festigte ihr zeitweise gesunkenes Ansehen durch Queen
Victoria (1837-1901). In der viktorianischen Epoche passte sich die Monarchie endgültig in
das parlamentarische System ein und erhob keine eigenen weitergehenden Machtansprüche
mehr.
Der Adel blieb eine starke gesellschaftliche Kraft und behielt trotz der Reformen einen
wichtigen Platz in der politischen Führungsschicht: Regierung, Oberhaus, Unterhaus, lokale
Verwaltung. Er setzte sich aus den zwei Gruppen Hochadel oder Nobility (ca. 200 Familien)
und Gentry zusammen und umfasste insgesamt 1,4% der Bevölkerung. Im Unterschied zum
ständisch abgeschlossenen kontinentalen Adel erwies sich der englische Adel als flexibler und
reformfreudiger.
Middle classes: Der Begriff umschrieb jene Teile der Gesellschaft, die weder dem Adel
noch den städtischen und ländlichen Unterschichten angehörten. Gemeinsame Merkmale
19
dieser Gruppe waren ein Tugendkatalog (Arbeitssamkeit, Zielstrebigkeit und
Gewissenhaftigkeit), das Kriterium der Selbständigkeit und ein gemeinsames politisches
Bewusstsein. Wichtigster Teil der middle classes waren die besitz- und bildungsbürgerlichen
Gruppen. Die Jahre zwischen 1850 und 1870 werden als wichtige Phase im Aufstiegsprozess
der neuen bürgerlichen Kräfte angesehen. Die Politik paßte sich zunehmend den neuen
wirtschaftlichen Interessen an (wirtschaftsliberaler Kurs). Die in der Gesamtgesellschaft
dominierenden Werte wurden immer mehr von den Middle Classes bestimmt (bürgerliche
Normen, viktorianischer Puritanismus).
Entwicklung der Arbeiterschaft: Die industrielle Lohnarbeit gewann mit dem
wirtschaftlichen Fortschritt rasch an Bedeutung. Ländliche und städtische Unterschichten
lebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach in bitterstem Elend (Schilderungen
bei Charles Dickens, Friedrich Engels). Ursache der Verarmung war nicht allein die
Industrialisierung, sondern zunächst einmal die starke Bevölkerungsvermehrung, die trotz des
wirtschaftlichen Wachstums zunächst dem Arbeitsplatzangebot vorauseilte. Die Not in den
nicht entwickelten Gebieten (Irland) war weit größer als in den Industrieregionen. Es kam
deshalb auch zu großen Abwanderungsbewegungen in die Städte. Dort entstand ein Reservoir
an billigen Arbeitskräften, das dem Diktat des Arbeitsmarkts ausgeliefert war. Die
schlimmsten Zustände herrschten in der Textilindustrie (hoher Anteil von Frauen- und
Kinderarbeit). Insgesamt zeichnet sich die Arbeiterschaft noch durch große Heterogenität aus.
Die unteren Schichten der Gesellschaft fielen bei der Verteilung des Sozialprodukts im Laufe
des Industrialisierungsprozesses immer weiter zurückfielen. Ihr Lebensstandard hat sich aber
zumindest nach den Krisen der vierziger Jahre allmählich verbessert, ohne dass die sozialen
Probleme gelöst waren.
Aus dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel erwuchsen für die Politik zwei große
Aufgaben: politische Reformen, die dem politischen Mitgestaltungsanspruch der neuen
middle classes gerecht wurden und soziale Reformen, die den bislang unerfüllten
Bedürfnissen der Arbeiterschaft nachkamen.
Politische Systemkrisen und Reformpolitik in Großbritannien 1832-1867:
Der englische Parlamentarismus hat eine lange Entstehungsgeschichte. Er gründet auf
Institutionen und Traditionen, die bis ins Mittelalter zurückreichen und die im Verlaufe der
Neuzeit in mehreren Etappen umgeformt worden sind. Wichtige Etappen waren die
Revolutionen des 17. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den neuen Verfassungen des 19.
Jahrhunderts (z. B. Belgien) beruhte der englische Parlamentarismus nicht auf einem klar
definierten Normensystem, sondern auf Konventionen, die das Parlament im Laufe von
Jahrhunderten ausgebildet und durch seine Praxis aufrechterhalten hat. Es gibt keine
geschriebene Verfassung. Es gibt im Grunde auch keine echte englische
Parlamentarismustheorie.
Das politische System wurde um 1800 von einer kleinen aristokratischen Gruppierung
beherrscht, die nicht nur das House of Lords, sondern auch das politisch wichtigere House of
Commons kontrollierte. Die Parteikämpfe waren Machtkämpfe rivalisierender Adelscliquen.
Das Wahlrecht blieb auf einen exklusiven Kreis begrenzt. Die neuen, wirtschaftlich und sozial
aufstrebenden Middle Classes waren im Parlament kaum vertreten. Je weiter der
wirtschaftliche und soziale Wandel voranschritt, desto lauter wurde die Kritik am System.
Nach verschiedenen Reformen in den zwanziger Jahren (Zulassung von Gewerkschaften,
Gleichstellung von Dissenters und Katholiken) kam es 1832 auf Druck einer mächtigen
bürgerlichen Reformbewegung zu einer ersten wichtigen Anpassung an die neuen
Verhältnisse. Die unter Führung der Whigs durchgesetzte Reformbill von 1832 brachte
erstens eine Neustrukturierung der Wahlkreise (Aufhebung der rotten boroughs), zweitens
eine Neuregelung des Wahlrechts und drittens die endgültige Etablierung eines
parlamentarischen Regierungssystems. Die Zahl der Wähler stieg aber nur von 500 000 auf
20
800 000, damit auf etwa 15% der Bevölkerung. Da sich das System reformfähig erwiesen
hatte, trat zwar eine vorübergehende Beruhigung ein. Schon bald aber stellte die
Arbeiterschaft über die Chartistenbewegung (William Lovett) weitergehende Ansprüche auf
politische Partizipation. Die Bewegung zerfiel am Ende der vierziger Jahre wieder. Die
britische Arbeiterbewegung ordnete sich in der Folgezeit zunächst einmal dem politischen
Führungsanspruch der middle classes unterzuordnen und kämpfte in Kooperation mit dem
Liberalismus für weitere Reformen. Eine weitere wichtige Weichenstellung erfolgte 1846 mit
der Aufhebung der Kornzölle. Durch den Sieg der Anti-Kornzoll-Liga (Cobden, Bright)
setzten sich die wirtschaftlichen Interessen des aufstrebenden Bürgertums (Freihandel) gegen
die alte Aristokratie (Agrarzölle) durch. Es kam zur Spaltung der Konservativen. Die Gruppe
um Peel und William Gladstone stieß später zu den Liberalen, die in den fünfziger Jahren
politisch dominierten (Russell, Palmerston).
Angesichts des sich beschleunigenden sozialen Wandels kam es um 1860 zu neuen
Debatten über eine Reform des politischen Systems. Beide großen Parteien formierten sich
neu und versuchten, sich auf die Erfordernisse der neuen Gesellschaft einzustellen. Aus den
Anhängern Peels, den radikalen Reformern (Bright, Mill) und den alten Whigs formierte sich
zu Beginn der sechziger Jahre eine neue liberale Partei, in der die aristokratischen Kräfte
gegenüber den aufstrebenden bürgerlichen Kräften deutlich an Einfluss verloren.
Nach einer trotz der Wahlrechtsdebatte politisch noch relativ ruhigen ersten Hälfte der
sechziger Jahre nahm der Reformdruck seit 1866 schlagartig zu. Es entstanden neue
Reformbewegungen wie die 1865 gegründete National Reform League, in der
Gewerkschaftsführer, ehemalige Chartisten und radikalliberale Parlamentsabgeordnete den
Ton angaben. Daneben entstand die gemäßigtere, ganz von den bürgerlichen Kräften geprägte
National Reform Union. Auch die politischen Ereignisse im Ausland - der amerikanische
Bürgerkrieg, der Polenaufstand von 1863 und die italienische Einigung verstärkten die
Debatten und den innerbritischen Politisierungsprozeß.
Die Wahlrechtsreform von 1867:
Die Wahlrechtsoffensive wurde durch den neuen starken Mann der Liberalen eröffnet, durch
William Gladstone, den Schatzkanzler der amtierenden Regierung Palmerston. Nach dem Tod
von Palmerston wurde Lord John Russell 1865 neuer Premier. Gladstone blieb Schatzkanzler
und legte im März 1866 einen Gesetzentwurf zur Wahlrechtsreform vor. Er sah die
Ausweitung des Wahlrechts, nicht aber das allgemeine gleiche Wahlrecht vor. In den
folgenden Monaten gab es intensive Debatten und wechselnde Parlamentsmehrheiten durch
ganz neue Koalitionen, denn auch die Konservativen beteiligten sich nun aktiv an den
Planspielen um die Wahlrechtserweiterung. Benjamin Disraeli, der kommende Mann der
Konservativen, verbündete sich mit radikalen Liberalen gegen Gladstone. Ein Teil der
Liberalen unter Robert Lowe (Adullamiten) lehnte die Wahlrechtsreform ab, so daß die
Liberalen keine eigene Mehrheit besaßen. Demgegenüber hielt Disraeli seine Konservativen
in der Wahlrechtsfrage zusammen. Am Ende trieben sich die Kontrahenten Disraeli und
Gladstone unter dem Druck der öffentlichen Meinung gegenseitig zu einer Reform, die in
bezug auf die Ausweitung des Wahlrechts weit über das hinausging, was beide ursprünglich
wollten. Im Mai 1867 kam es zum Abschluß der zweiten Wahlrechtsreform. Die Zahl der
Wähler stieg von etwa 1,4 auf über 2 Millionen. Damit blieb man noch weit vom allgemeinen
gleichen Wahlrecht entfernt. Hinzu kamen beträchtliche Unterschiede zwischen den
Regelungen in den Städten und denen auf dem Land. Die soziale Öffnung des Wahlrechts
blieb in den ländlichen Regionen deutlich zurück. Erst die dritte Wahlrechtsreform des 19.
Jahrhunderts beseitigte 1884 diese Ungleichheit. Die Durchsetzung des allgemeinen MännerWahlrechts erfolgte jedoch erst 1918. Die Einführung des Frauenwahlrechts, über das schon
1867 diskutiert wurde (John Stuart Mill) sogar erst 1928 abgeschlossen. Trotz der Defizite
21
unterstrich die Reform des Jahres 1867 erneut die Anpassungs- und Überlebenskraft des
traditionsreichen englischen Systems.
Politische Folgen der Wahlrechtsreform:
Die Wahlrechtsdebatten und die Reform beschleunigten den Niedergang des bisherigen
aristokratischen Systems. Sie ebneten den Weg zu einer stärker bürgerlich geprägten Politik.
Sowohl die Liberalen als auch die Konservativen verstärkten durch neue organisatorische,
programmatische und taktische Überlegungen die Modernisierung von Partei und
Öffentlichkeitsarbeit. Sie stellten sich auf die Erfordernisse der heraufziehenden
Massendemokratie ein. Bei den Konservativen wurde der Außenseiter Disraeli (getaufter
Jude, sozialer Aufstieg aus kleinen Verhältnissen) zum wichtigsten Modernisierer. Man hat
darüver spekuliert, ob er bei der Wahlrechtsreform nur den eigenen politischen Aufstieg im
Kopf hatte oder von einem weitgefaßten Plan einer TORY-DEMOKRATIE geleitet wurde.
Dieser große Plan scheint nicht existiert zu haben. Disraeli hatte Erfolg, weil er eine
konservative Politik betrieb, die zwar an bestimmten Grundlinien ausgerichtet war, aber die
nötige Flexibilität besaß, um auch ganz neue Wege zur Machteroberung und -sicherung
einzuschlagen. Dies setzte er später mit der Verbindung von Sozialreform und
imperialistischer Politik weiter fort. 1868 wurde Disraeli kurze Zeit Premierminister. Bei den
ersten Wahlen nach der neuen Reform kam es jedoch zum Wahlsieg der Liberalen unter
Gladstone. Dieser regierte bis 1874, ehe ein konservativer Wahlerfolg Disraeli erneut zum
Premier aufsteigen ließ. 1880 wurde er dann erneute durch Gladstone abgelöst.
Schluß:
Großbritannien lief nicht nur wirtschaftlich, sondern auch mit seiner politischen Entwicklung
dem Kontinent um einiges voraus. Es entwickelte von den großen Staaten als erstes ein
parlamentarisches System. Es entwickelte als erstes westeuropäisches Land moderne
Parteiorganisationen, die den Erfordernissen der Massendemokratie gewachsen waren, und es
zeichnete sich durch eine relative Stabilität des politischen Systems aus. Andererseits gab es gemessen an einem "idealen" demokratischen Modernierungsmodell - auch noch Defizite. Es
gab kein allgemeines gleiches Wahlrecht und auch keine moderne geschriebene Verfassung.
Die britische Entwicklung war aufgrund der besonderen Voraussetzungen (pol. Tradition,
Industrialisierung) auf dem Kontinent nicht einfach zu kopieren. Dennoch wirkte sie in
vielfältiger Weise (politische Debatten, Vorbild von Parteien und anderen Organisationen)
auch auf die dortigen Entwicklungen ein.
22
PROF. DR. HANS-WERNER HAHN
VORLESUNG SOMMERSEMESTER 2003
DAS LANGE 19. JAHRHUNDERT, TEIL 2: GRUNDZÜGE DER EUROPÄISCHEN GESCHICHTE 18711914.
7./ I. ERFOLGE, KRISEN UND GRENZEN DES LIBERALEN SYSTEMS IN EUROPA.
INFORMATIVE UND SEHR ANSCHAULICHE LÄNDERÜBERBLICKE UND WEITERFÜHRENDE
LITERATURHINWEISE BEI: JÖRG FISCH, EUROPA ZWISCHEN WACHSTUM UND GLEICHHEIT 18501914, STUTTGART 2002.
I.
Die Staaten des nördlichen Europa:
Die kleineren Staaten Europas waren im Zeitraum zwischen 1871 und 1914 von den
gleichen inneren Entwicklungen betroffen wie die großen Mächte. Ein in unterschiedlichem
Tempo verlaufender wirtschaftlicher Strukturwandel und die damit einher gehenden sozialen
Veränderungen führten auch hier zur Transformation der politischen Systeme. Die
Entwicklungen in den skandinavischen Staaten Das durch die Kriegsniederlage von 1864
endgültig in die Reihe der kleineren Staaten getretene und noch sehr agrarisch geprägte
Dänemark besaß seit 1849 zwar eine der liberalsten Verfassungen Europas. Aber erst um die
Jahrhundertwende etablierte sich auf Druck der Mehrheit in der zweiten Kammer (bäuerliche
und sozialdemokratische Opposition) ein neues System, das nun auf dem allgemeinen und
geheimen Wahlrecht beruhte und die Abhängigkeit der Regierung von einer
Parlamentsmehrheit klar festschrieb. In Schweden wurde 1866 die bisherige
Ständeversammlung in ein modernes Parlament umgewandelt, die Wahlrechtsregelungen
blieben bis 1909 noch weit hinter dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts zurück, und auch
die Regierung war bis 1917 offiziell dem König und nicht dem Reichstag politisch
verantwortlich. In der Verfassungspraxis setzte sich der Parlamentarismus allerdings bereits
früher durch. Die Industrialisierung, die in Schweden intensiver war als in den anderen
Ländern des Nordens, und das Bevölkerungswachstum sorgten auch in Skandinavien für
soziale Krisen. Ihre Eskalation wurde jedoch durch zwei Faktoren verhindert. Zum einen
durch einen langsamer verlaufenden wirtschaftlichen Strukturwandel, der mehr Zeit zur
Anpassung ließ. Zum zweiten durch eine verhältnismäßig große Auswanderung nach
Nordamerika. Schweden und Norwegen hatten im 19. Jahrhundert nach Irland die höchsten
Auswanderungsraten in Europa. Norwegen erlangte erst 1905 die internationale Anerkennung
als souveränes Königreich (vorher Personalunion mit Schweden), hatte aber seit 1814 eine
eigenständige Verfassung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Rechte des Storting
gegenüber der Regierung ausgedehnt und das Wahlrecht in mehreren Schritten erweitert.
1907/1913 erhielten hier auch die Frauen das Wahlrecht.
II.
Die Benelux-Staaten und die Schweiz:
Der schnellere Industrialisierungsprozeß dieser Staaten sowie Religions- und
Sprachenkonflikte sorgten dafür, daß hier der Transformationsprozess konfliktreicher verlief.
Das 1831 entstandene Königreich Belgien besaß von Anfang an eine Verfassung, die den
Monarchen an die Mehrheit des Parlaments band. Der Wahlzensus war allerdings sehr hoch
und wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts nur allmählich abgesenkt. Schließlich kam es 1893
zu einem allgemeinen Wahlrecht, das aber nicht gleich war (Pluralwahlrecht). Wichtigste
politische Gruppen waren die zunächst dominierenden Liberalen, der an Einfluß gewinnende
politische Katholizismus und die Arbeiterbewegung. In den Niederlanden setzte sich 1848
ohne Revolution das parlamentarische System durch, das lange vom Liberalismus bestimmt
wurde. Das zunächst hohe Zensuswahlrecht wurde in der Folgezeit nur langsam
23
abgeschwächt. 1913 waren erst knapp 70% der erwachsenen Männer wahlberechtigt. Zum
allgemeinen Wahlrecht kam es erst 1917. Die sozialen Konflikte wurden auch in den
Niederlanden zunächst teilweise recht brutal niedergeschlagen, ehe dann auch hier der Weg in
eine moderne Arbeits- und Sozialgesetzgebung eingeschlagen wurde. Eine ähnliche
Entwicklung vollzog sich in Luxemburg, das seit 1867 ein eigenständiger Staat war.
Die Schweiz war im 19. Jahrhundert eine der wenigen europäischen Republiken. Sie behielt
die 1848 geschaffene bundesstaatliche Ordnung bei und damit auch das damals durchgesetzte
allgemeine Männerwahlrecht. Die Schweizer Innenpolitik blieb auch nach 1848 nicht frei von
Konflikten – z. B. Kulturkampf und die mit der Industrialisierung einsetzenden
„Klassenkämpfe“. Am Ende aber reagierte das System flexibel genug, um schwerste Krisen
zu verhindern.
III.
Die südeuropäischen Staaten:
Obwohl hier die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungsprozesse weit weniger
dynamisch verliefen als in der Mitte und im Westen Europas, war das politische System im
19. Jahrhundert häufiger und teilweise auch schwereren Konflikten ausgesetzt. Das galt für
das 1830 geschaffene Königreich Griechenland, in dem 1862 der regierende Monarch Otto I
(Haus Wittelsbach) gestürzt und durch König Georg I. ersetzt wurde, ebenso wie für die
Staaten der iberischen Halbinsel. Ökonomische Rückständigkeit, marode Staatsfinanzen, eine
noch sehr traditionale Gesellschaft und Analphabeteraten standen einer raschen Anpassung an
die politischen Strukturen West-, Nord- und Mitteleuropas entgegen. In Griechenland,
Spanien und Portugal spielten das Militär häufig eine wichtige Rolle bei den innenpolitischen
Veränderungen. In Spanien wurde 1868 die Königin Isabella vom Militär abgesetzt. Spanien
war zeitweise Republik, kehrte aber 1874 zum System einer konstitutionellen Monarchie
zurück. Das Wahlrecht blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein auf eine mit zwei Parteien
agierende schmale Schicht begrenzt. Ein modernes politisches System hat sich in dem
wirtschaftlich zurückgebliebenen Land nicht entwickeln können. Das Gleiche galt für
Portugal, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine konstitutionelle Monarchie auf der
Grundlage eines Zensuswahlrechts besaß, 1910 aber nach einem Militärputsch Republik
wurde. Während in Deutschland die politische Verfassung den sozialen und wirtschaftlichen
Entwicklungen hinterherzuhinken schien, lief in den südeuropäischen Staaten die
Modernisierung des politischen Systems unter Führung gebildeter und progressiver Teile der
Oberschicht und der Militärs den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen häufig
weit voraus. Damit aber waren das Scheitern moderner Verfassungen und Politikansätze
sowie schwere innere Krisen vorprogrammiert. Spanien und Portugal verloren infolge ihrer
Rückständigkeit und innerer Krisen auch außenpolitisch weiter an Boden.
ITALIEN: Die zeitgleich verlaufenden italienischen und deutschen Einigungsprozesse sind
oft miteinander verglichen worden. Neben Gemeinsamkeiten (Einigung durch Kriege,
Führungsrolle Preußens und Piemont-Sardiniens; Bismarck und Cavour, Kompromiß mit
bürgerlichen Kräften) gab es auch Unterschiede: Zum einen hatte die republikanische Linke
im italienischen Einigungsprozess selbst entscheidende Akzente gesetzt (Garibaldi)
Staatenpolitik und revolutionäre Nationalbewegung wirkten also zusammen. Zum anderen
war die politische Einigung Italien stärker als die deutsche, die sich auf einen in Jahrzehnten
gewachsenen Unterbau stützen konnte, das Programm einer kulturellen Elite, die mit ihren
Vorstellungen der wirtschaftlichen und sozialen Realität ein ganzes Stück vorauseilte. Die
innere Nationsbildung war noch nicht so weit vorangeschritten wie in Deutschland. Das
ökonomische und soziokulturelle Gefälle innerhalb des neuen Staates war in Italien weit
größer (Nord-Süd-Gefälle). Dies und die anhaltenden Auseinandersetzungen mit dem
politisch entmachteten Papsttum war der Hintergrund für einen zentralistischen Staatsaufbau,
24
der allerdings im Süden durch die Kompromisse mit den regionalen Eliten wieder etwas
durchlöchert wurde. Italien war wie das Kaiserreich eine konstitutionelle Monarchie mit
starker Stellung des Herrschers. Die Minister waren dem König verantwortlich. Dieser besaß
auch das Recht, das Abgeordnetenhaus aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. In Italien
schaffte es das Parlament aber im Laufe der Zeit, die eigene Position im politischen Prozess
gegenüber dem Herrscher deutlich auszubauen und ein parlamentarisches System zu
etablieren. Das Wahlrecht war allerdings an einen hohen Zensus und die Fähigkeit zu lesen
und zu schreiben gebunden. Bis 1882 konnten in Italien nur etwa 8% der erwachsenen
Männer wählen, danach waren es 30%. Der Ausschluß der unteren Schichten und das
päpstliche Verbot, sich als Katholik auf der nationalen Ebene politische zu betätigen, führten
zu einem Zweiparteiensystem. Die Rechte war die Partei der piemontesischen Eliten, die
zunächst vom Prestige ihrer erfolgreichen Einigungspolitik profitierte. Sie bekannte sich zum
Reformprogramm eines gemäßigten Liberalismus. Die Politik lief bis 1876 in den von Cavour
(1861 gestorben) geebneten Bahnen. Die innenpolitische Wende brachte dann die Linke an
die Macht, die sich auch als liberale Partei verstand, sich aber stärker aus dem mittleren
Bürgertum und aus dem Süden rekrutierte und Reformen entschiedener vorantrieb
(Wahlrecht, Bildungssystem).
Die Politik in Italien war damit lange Zeit Sache einer in zwei Parteien gespaltenen
oligarchischen Herrschaftselite. Mit der Wahlrechtsreform der frühen achtziger Jahre und dem
sich nun deutlicher abzeichnenden wirtschaftlichen Wandel begannen sich dann in den letzten
zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aber neue Kräfte zu formieren, die die bisherigen
Herrschaftsstrukturen in Frage stellten. Der seit 1887 amtierende Ministerpräsident Crispi
versuchte es mit innenpolitischen Reformen (Gesundheitswesen, Bildung), einem autoritären
Regierungsstil und dem Streben nach außenpolitischen Erfolgen. Unter Crispi wandelte sich
der bisherige emanzipatorische Nationalismus endgültig in einen integralen Nationalismus
(Sammlung der nationalen Kräfte, Nationaldenkmal in Rom, imperialistische Politik). Nach
außenpolitischen Niederlagen war dieses System nicht mehr zu halten. Unter dem
Ministerpräsidenten Giolitti begannen verstärkte Bemühungen, bisher ausgegrenzte Teile der
Gesellschaft in das politische System zu integrieren. 1912 wurde das Wahlrecht für alle
Männer über 30 eingeführt. Jüngere durften wählen, wenn sie Wehrdienst geleistet hatten.
Damit hatte Italien nach vielen Jahrzehnten den Übergang vom oligarchischen zu einem
demokratischen Parlamentarismus geschafft. Angesichts der tiefen Spaltungen, die die
italienische Gesellschaft durchzogen, erwies sich auch das neue System letztlich als wenig
stabil.
25
Herunterladen