grundkurs-skript6

Werbung
WS 2009/10
Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Grundkurs 19./20. Jahrhundert.
6. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in Europa 1870-1914 – Teil 2
I. Die Fundamentalpolitisierung
Seit 1900 wirkte ein immer größerer Teil der Bevölkerung am politischen Geschehen mit.
1907 lag die Wahlbeteiligung bei den deutschen Reichstagswahlen bei knapp 85 %. Die
Ursachen dieser Mobilisierung lagen im wirtschaftlichen und sozialen Wandel und den
besseren Bildungs- und Kommunikationsprozessen. Gewerkschaften und andere Verbände
wurden nun zu Massenverbänden. Parteien und Presse ließen einen neuen politischen
Massenmarkt erkennen. Neben den Gewerkschaften, den Interessenverbänden der Industrie
und des Handels und Organisationen des Handwerks spielte in Deutschland auch der 1893
gegründete Bund der Landwirte (BdL) eine wichtige Rolle bei der Fundamentalpolitisierung.
Das Aufkommen der Verbände zeigte, wie vielfältig die Interessen in der modernen
Gesellschaft wurden und wie machtvoll sie sich artikulierten. In den Verbänden war ein neuer
Organisationstyp zu erkennen (bürokratische Strukturen, hauptamtliche Funktionäre), und die
Verbände versuchten zunehmend, die Parteien zum Sprachrohr der eigenen Interessen zu
machen, traten in ein engeres Verhältnis zu den Parteien, ohne diese jedoch zu ersetzen oder
zu übernehmen.
Die deutschen Parteien 1890 bis 1914
Der Trend ging von der Honoratiorenpartei zur modernen, professionell geführten
Massenpartei. Der neue politische Massenmarkt hat aber die älteren gewachsenen Strukturen
nicht vollständig beseitigt. So spielten regionale Faktoren in der politischen Kultur der
Deutschen nach wie vor eine wichtige Rolle. Dies hing schon damit zusammen, dass nach
dem Mehrheitswahlrecht gewählt wurde und die 397 Wahlkreise nicht den neuen
Bevölkerungsverhältnissen angepasst wurden. Die weiterhin starke regionale Prägung hing
aber auch damit zusammen, dass sich das Wahlverhalten der Deutschen nur allmählich
änderte und die Bindung der Parteien an bestimmte soziale Milieus für Stabilität im
Parteiensystem sorgte. Dies hatte zur Folge, dass es zu einer politischen Versäulung kam, die
Kompromiss- und Expansionsfähigkeit der einzelnen Parteien erschwerte.
Die Sozialdemokratie entwickelte sich zur mitglieder- und wählerstärksten Partei des
Deutschen Kaiserreichs. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Zahl ihrer Mitglieder auf über
eine Million. Bei den Reichstagswahlen von 1912 erreichte die Partei 34,8% der Stimmen und
27,7% der Mandate. Die Sozialdemokratie wurzelte im Milieu der großstädtischen
Arbeiterschaft. Unter Führung August Bebels entwickelte sich die Sozialdemokratie nach
1890 zu einer fest ausgebauten, von Funktionären geführten Partei. Die Sozialdemokratie, in
der es vor 1914 heftigen Streit um Programm und politische Praxis gab, hatte zwar in ihrer
praktischen Politik begonnen, sich immer mehr in das Staats- und Gesellschaftssystem des
Kaiserreichs zu integrieren, blieb aber angesichts der staatlich-gesellschaftlichen
Diskriminierung wie eigener Abschottung noch immer in einer Außenseiterposition.
Zentrum: Zweitgrößte Partei nach der Sozialdemokratie war das Zentrum, die Partei des
katholischen Deutschland. 1912 erhielt die Partei noch 16,4% der Stimmen. Das reichte dank
vieler sicherer Wahlkreise noch für 23% der Mandate. Die heterogene soziale
Zusammensetzung des Zentrums – katholischer Adel, Bürgertum, Handwerk, Bauern u.
Arbeiter – schlug sich in wachsenden innerparteilichen Auseinandersetzungen nieder.
1
Liberale Parteien: Der Liberalismus blieb gespalten in National- und Linksliberale und büßte
mit seinen Politikangeboten an Attraktivität ein. Er hat von der Politisierung der Massen am
wenigsten profitiert. Der Liberalismus konnte am Ende des Kaiserreichs nicht mehr an seine
Stellung in den frühen siebziger Jahren anknüpfen. Das hing auch damit zusammen, dass viele
seiner Ideen längst alle Teile oder große Teile der Gesellschaft durchzogen. Dies galt für
Verfassungs- und Rechtsstaatsidee, für den Bildungsgedanken und nicht zuletzt für die Idee
der Nation.
Die Konservativen standen für Autorität statt Majorität, gegen den Parlamentarismus, gegen
die Alleinherrschaft des Marktes und gegen die Trennung von Staat und Kirche. Den
Nationalstaat, den die Konservativen lange bekämpft hatten, machten sie seit 1878/79
zunehmend zur eigenen Angelegenheit. Die Konservativen konnten zwischen 1890 und 1914
zwar die Zahl der Wähler leicht ausbauen, bei den Stimmenanteilen fielen sie jedoch nun
deutlicher zurück. Neben den bisherigen konservativen Parteien – Deutsch-Konservative u.
Freikonservative – entstanden kleinere, stark antisemitisch ausgerichtete konservative
Parteien (Christlich-Soziale Partei des Berliner Hofpredigers Stöcker).
Antisemitismus: Der seit 1873 hervortretende moderne Antisemitismus knüpfte einerseits an
ältere Formen der Judenfeindschaft an, enthielt aber insofern neue Elemente, weil er sich nun
gegen eine emanzipierte jüdische Minderheit richtete, die assimilierten Juden und die
bekämpfte Moderne weitgehend gleichsetzte, sich zu Parteien und Verbänden
zusammenschloss und durch die Aufnahme von Rassentheorien und völkischen Vorstellungen
eine Verschärfung erfuhr. Trotz des Scheiterns der Antisemitenparteien hat sich
antisemitisches Denken in der Gesellschaft des Kaiserreichs auf vielfache Weise ausgebreitet.
Dennoch war der Antisemitismus in Deutschland kein beherrschender Faktor der politischen
Kultur.
Der Nationalismus war trotz des Fortbestehens einzelstaatlicher und regionaler Identitäten
eine der wichtigsten Prägekräfte im politisch-gesellschaftlichen Leben des Deutschen
Kaiserreichs. Die Nationalisierung der Massen war ein Grundzug der europäischen
Geschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Neben dem „Normal-Nationalismus“
(NIPPERDEY), der in Feiern, Denkmälern und Vereinen wie Sänger-, Turner-, Schützen- und
Kriegervereinen seinen Ausdruck fand, gewann um 1900 ein Radikalnationalismus an
Bedeutung. Er verstand die Nation als Volksnation, und zwar nicht mehr nur im Sinne älterer
Vorstellungen als von Sprache und Kultur bestimmte Volksnation, sondern nun zunehmend
im rassenbiologischen Sinne als eine Abstammungsgemeinschaft. Seit den neunziger Jahren
begann sich die neue radikale Rechte in Verbänden zu organisieren. Die wichtigste dieser
Organisationen war der Alldeutsche Verband. Die Alldeutschen propagierten ein koloniales
Imperium des Reiches und wollten zugleich die außerhalb des Deutschen Reiches stehenden
deutschen Bevölkerungsteile durch ein größeres kontinentaleuropäisches Reich von den
Niederlanden bis zum Baltikum und die deutschen Gebiete der Habsburger Monarchie in ein
völkisches Staatswesen einbeziehen.
II.
Deutsche Innenpolitik 1890-1914
Der „neue Kurs“ 1890-1894. Der Nachfolger Bismarcks, der General Leo von Caprivi,
versuchte mit seinem „neuen Kurs“ eine Politik des gesellschaftlichen Ausgleichs. Das
Sozialistengesetz wurde nicht mehr verlängert. Statt dessen sollte der Arbeiterschutz
ausgebaut und das Arbeitsrecht reformiert werden. Der große Durchbruch blieb freilich noch
aus. Caprivi geriet rasch unter Druck der preußischen Konservativen. 1894 war die
Kanzlerschaft Caprivis zu Ende. Der junge Kaiser Wilhelm II. wollte seine kaiserlichen
Rechte gegenüber der Regierung künftig stärker zur Geltung zu bringen. Ob es Wilhelm
tatsächlich gelungen ist, ein „persönliches Regiment“ zu etablieren, ist in der Forschung
2
umstritten. Wilhelm II. hat versucht, die vielfältigen Kaiser-Erwartungen der Gesellschaft zu
bedienen. Er verstand es durchaus, sich öffentlichkeitswirksam und scheinbar omnipräsent in
Szene zu setzen. Er verknüpfte verschiedenste Traditionen und moderne Erwartungen und
führte so seine Monarchie an den politischen Stil der Massengesellschaft heran. Dennoch
konnte er in der Reichspolitik nicht frei agieren, denn mit der Bürokratie, dem Reichstag und
der Öffentlichkeit waren längst andere wichtige Machtzentren entstanden.
1894-1900 Kanzlerschaft von Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst: Neue Maßnahmen
gegen die Sozialdemokratie scheiterten an fehlenden Reichstagsmehrheiten (Umsturz- und
Zuchthausvorlage – letztere sollte den Koalitionszwang bei Streiks mit härteren Strafen
ahnden). Nach 1897 erhielt Hohenlohe in Preußen durch Miquel als neuem Vizepräsidenten
des Staatsministeriums und den konservativen Innenminister Graf Posadowsky starke Männer
zur Seite. Auf der Reichsebene wurde er durch den neuen Staatssekretär des Äußeren,
Bernhard von Bülow, und durch den Konteradmiral Alfred Tirpitz, der nun Staatssekretär im
Reichsmarineamt wurde, eingerahmt. Die letzteren teilten und unterstützten Wilhelms
Vorstellungen einer neuen deutschen Weltpolitik und den Aufbau der dazu notwendigen
Flotte.
1900-1909: Kanzlerschaft Bülows: Wilhelm II. hoffte, das Bülow sein Bismarck werden
könnte. Bülow prägte die griffige Formel vom deutschen Platz an der Sonne. Für den
kostspieligen Flottenbau brauchte Bülow Mehrheiten im Reichstag. Die Nationalliberalen und
die Freikonservativen unterstützten den Flottenbau vorbehaltlos. Die Deutschkonservativen
forderten für ihre Zustimmung Kompensationen auf dem Felde der Zölle. Eine Mehrheit für
ein Flottengesetz kam aber im Reichstag nur zustande, wenn auch das Zentrum zustimmte.
Sozialdemokraten und Linksliberale waren dagegen. Im Zentrum gab es lange und heftige
Auseinandersetzungen. Am Ende setzte sich die Parteiführung durch, die für das eingebrachte
Flottengesetz war. Sie wollte die Flottenpolitik in überschaubare Bahnen lenken und die
Regierung davon abhalten, die Sache am Parlament vorbei zu regeln. Bülow wollte über die
Flottenpolitik und die Zollpolitik eine feste Mehrheit schaffen und das politische System
stabilisieren (Sammlungspolitik). Diese Mehrheit hielt aber nicht lange, weil die beteiligten
Parteien zu unterschiedliche Ziele verfolgten. Die neue Richtung der „Zentrumsdemokraten“
um Matthias Erzberger verlangte Reformen, die von Nationalliberalen und Konservativen
abgelehnt wurden, und kritisierte wie die Sozialdemokratie die deutsche Kolonialpolitik
(Niederschlagung von Aufständen in Südwest- und Ostafrika). Nach den Reichstagswahlen
von 1907 (Hottentottenwahlen) stützte sich Bülow auf einen Block aus Konservativen,
Nationalliberalen und Linksliberalen. Der sogenannte Bülow-Block hat einige Reformen auf
den Weg gebracht (1908 Liberalisierung des Vereins- und Versammlungsrechts), war aber in
vielen anderen Fragen zerstritten, bei der Reform des preußischen Drei-Klassen-Wahlrechts,
bei den Reichsfinanzen, die durch steigende Ausgaben und höhere Schulden in eine
Schieflage geraten waren. Die Stellung des Kanzlers wurde zudem durch die sogenannte
Daily-Telegraph-Affäre (1908) geschwächt, weil sie das Vertrauensverhältnis zwischen
Monarch und Kanzler erschütterte. 1909 verlor Bülow seine Mehrheit im Reichstag und
musste zurücktreten. Innerhalb des Reichstages kam die Forderung nach einer
Parlamentarisierung des politischen Systems auf (v. a. Sozialdemokraten), für ein klares
Bekenntnis zu diesem System fehlte aber die Mehrheit. Die Nationalliberalen wollten das
konstitutionelle System beibehalten, aber die Befugnisse des Kaisers begrenzen. Die
Konservativen waren für den Status quo.
1909-1917 Kanzlerschaft Bethmann-Hollweg: regierte ohne feste Reichstagsmehrheit, nach
den Wahlen von 1912 und dem großen Erfolg der Sozialdemokraten war die
Mehrheitsbildung im Reichstag noch schwieriger geworden, obwohl der Einfluss des
Reichstages auf die Politik der Regierung wuchs und die Reformforderungen lauter wurden,
kam es bis zum Ersten Weltkrieg zu keiner grundlegenden Änderung des politischen Systems.
3
Das parlamentarische Regierungssystem wurde erst im Oktober 1918, als sich die militärische
Niederlage des Deutschen Reiches abzeichnete, eingeführt.
III. Politische Systeme in anderen europäischen Staaten
Alle europäischen Staaten standen spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor den
Herausforderungen der neuen kulturellen, sozialökonomischen und politischen
Veränderungen. Die Probleme, die sich aus der Beschleunigung des industriellen Wachstums,
den Veränderungen der Gesellschaften und den daraus abgeleiteten Konflikten für die
politischen Systeme und die bisherigen Machteliten ergaben, waren durchaus miteinander
vergleichbar. Langfristig gingen alle Staaten ähnliche Wege. Aber es gab innerhalb Europas
große Unterschiede, die sich politisch, sozial und ökonomisch in West-Ost- und Nord-SüdGefällen niederschlugen. Die jeweils spezifischen Voraussetzungen und Traditionen führten
zu unterschiedlichen Lösungswegen.
Autokratie und innere Reformen: Russland 1856-1914
Für Russland wurde die ökonomisch-soziale Rückständigkeit zum großen Problem. Das
unterentwickelte Agrarland (1897 noch 77% landwirtschaftlich tätige Bevölkerung) blieb
ökonomisch weit hinter den wirtschaftlichen Fortschritten des Westens zurück. Man ging
dann auch in Russland unter Zar Alexander II. nach dem verlorenen Krimkrieg den Weg einer
Reform von oben, hob 1861 die Leibeigenschaft auf und führte Justiz-, Verwaltungs- und
Militärreformen durch. Es gab auch wirtschaftliche Fortschritte, die langfristig den
innenpolitischen Veränderungsdruck erhöhten. Alle neuen Ansätze reichten aber nicht aus,
um den politischen und wirtschaftlichen Abstand zum Westen aufzuholen. Das politische
System Russlands schwenkte nicht auf jene Bahnen des Konstitutionalismus ein, die für das
übrige Europa fast die Regel wurden. Russland wurde auch unter den Zaren Alexander II.
(1881 ermordet), Alexander III. und Nikolaus II. autokratisch regiert. Dies führte aber nur zu
einer weiteren Verschärfung der innenpolitischen Repression. Erst mit der Revolution von
1905 wurden nochmals Ansätze unternommen, Anschluss an die west- und mitteleuropäische
Verfassungsentwicklung zu gewinnen, die aber rasch wieder steckenblieben.
Verfassungsfragen und Nationalitätenkämpfe: Österreich-Ungarn 1867-1890.
Die Habsburger Monarchie folgte seit 1861 nicht mehr der Linie des Neoabsolutismus. Die
Machteliten dieses Vielvölkerstaates mit dem von 1848 bis 1916 regierenden Kaiser Franz
Joseph waren aus innen- wie deutschlandpolitischen Gründen auf die Bahn des
Konstitutionalismus eingeschwenkt. Nach dem Krieg von 1866 wurde die Innenpolitik der
Habsburger Monarchie durch die österreichisch-ungarischen Ausgleichsgesetze auf neue
Grundlagen gestellt. Gewinner waren die Ungarn. Das alte Königreich Ungarn wurde mit
weitreichenden Autonomierechten wiederhergestellt. Die Habsburger Monarchie bestand
künftig aus zwei, durch eine gemeinsame dynastische Spitze (Kaiser von Österreich und
König von Ungarn) verbundenen Reichsteilen: aus Ungarn und der cisleithanischen
Reichshälfte. Außenpolitik, Finanzen und Kriegswesen wurden gemeinsam geregelt.
Ansonsten gab es für jede Reichshälfte eigene Regierungen. Beide Reichshälften waren
Vielvölkergebilde. In der ungarischen Hälfte hatten die Magyaren 1880 einen Anteil von
41,2%, in der anderen Hälfte die Deutschen zur gleichen Zeit einen Anteil von knapp 37%.
Die Rechte der Parlamente waren schwächer als die des deutschen Reichstags. Auch beim
Wahlrecht blieb man weit hinter dem deutschen Reichstagswahlrecht zurück. Ein allgemeines
4
Wahlrecht für Männer wurde in Cisleithanien erst 1907 eingeführt, in Ungarn bis 1914 nicht.
Seit 1873 wurden die Abgeordneten des cisleithanischen Reichsrates direkt gewählt.
Zwischen 1867 und 1878 dominierten auch in Cisleithanien zunächst einmal die DeutschLiberalen. Sie waren zentralistisch und gesamtstaatlich gesinnt und wollten den Deutschen die
historisch gewachsene Führungsrolle bewahren. Es gab eine Liberalisierung des staatlichen
Lebens, Wirtschaftsreformen und auch im katholischen Österreich eine Art Kulturkampf, mit
dem die Liberalen die seit 1855 (Konkordat) besonders starke Stellung der katholischen
Kirche zurückdrängen wollten. 1878 war auch in Österreich die liberale Phase schon wieder
zu Ende. Auch hier spielten die wirtschaftlichen Verwerfungen durch die Krise von 1873 eine
große Rolle. Mit dem neuen langjährigen Ministerpräsident Graf Taaffe (bis 1893) setzte nun
eine konservative Regierungspolitik ein.
Gegen den Kurs der Deutschliberalen formierten sich nicht nur die nichtdeutschen
Bevölkerungsteile. Auch in den deutschsprachigen Gebieten selbst stellten sich neue
Parteirichtungen gegen die Liberalen. Die Christlich-soziale Partei unter dem Wiener
Bürgermeister Karl Lueger wurde zur ersten Massenpartei Österreichs und verband ihr
antiliberales Konzept mit dem Gedankengut katholisch-konservativer Sozialreform und einem
kräftigen Schuss Antisemitismus. Mit dem Voranschreiten der Industrialisierung, die
besonders im Wiener Raum und in Böhmen beachtlich war, wurde auch die
Arbeiterbewegung immer wichtiger. Innerhalb des Deutschliberalismus vollzogen sich
schließlich weitreichende Wandlungen, die den Charakter dieser Richtung völlig änderten.
Aus dem Liberalismus entwickelte sich angesichts der Nationalitätenproblematik ein
Deutschnationalismus, und aus ihm wiederum das „Alldeutschtum“. Wichtigster Führer war
Georg von Schoenerer, der mit sozialreformerischen und antisemitischen Parolen gegen die
Dynastie und die übernationale österreichisch-ungarische Monarchie, die katholische Kirche,
die Juden und das Großkapital zu Felde zog. Die Deutschnationalen wollten die
deutschsprachigen Gebiete Österreichs in eine staatsrechtliche Sonderstellung bringen und so
ihren deutschen Charakter bewahren. Die Parteien der Habsburger Monarchie verstanden sich
in der Regel als Nationalitätenparteien. Im Grunde haben vor 1914 nur die Sozialdemokraten
unter den Austromarxisten Otto Bauer und Karl Renner um nationsübergreifende Konzepte
gerungen. Aber auch sie sind schließlich schon innerhalb ihrer eigenen Richtung im Streit mit
den Tschechen gescheitert.
Die Nationalitätenkonflikte haben in beiden Reichshälften die Politik immer stärker
belastet. Zu einer wirklichen Völkergemeinschaft mit gleichmäßiger Machtverteilung und
Dezentralisierung ist es in der Habsburger Monarchie bis 1914 nicht mehr gekommen. Die
eigentümliche Struktur des Vielvölkerreiches stand einer Modernisierung des politischen
Systems im Wege und engte zugleich den außenpolitischen Spielraum immer mehr ein.
Niederlage und Erneuerung: Frankreich zwischen 1870 und 1900
Das politische System Frankreichs war zwischen 1800 und 1871 von großer Instabilität,
wechselnden Herrschaftsordnungen (Napoleon I., Herrschaft der Bourbonen 1815-1830;
Julimonarchie 1830-1848, II. Republik 1848-1852, Kaisertum Napoleons III. 1852-1871) und
schweren inneren Konflikten geprägt. Die politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung
Frankreichs wurde nachhaltig bestimmt durch die langfristigen Folgen der Französischen
Revolution. Die Revolution von 1789 wirkte im politischen Bereich durch den Bruch im politischen Bewusstsein der Franzosen, durch die Spaltung in Anhänger und Gegner der
Revolution, weiter. Sie wirkte im sozialen Bereich durch die Beseitigung der alten Privilegiengesellschaft und die Schaffung einer rechtlich egalitären Gesellschaftsordnung weiter,
deren Prinzipien seit der Revolution nicht mehr in Frage gestellt wurden. In wirtschaftlicher
Hinsicht wirkte die Revolution eher bremsend auf den weiteren Verlauf des
5
Modernisierungsprozesses, weil sie gesellschaftliche Kräfte stärkte, die wie die Bauern und
das Kleinbürgertum den Weg in die neue industriekapitalistische Gesellschaft eher hemmten.
Die Entstehung der III. Republik: Nach der Niederlage gegen die Deutschen erfolgte am 4.
September 1870 die Ausrufung der Republik und die Bildung einer provisorischen Regierung
unter den republikanischen Parlamentariern Léon Gambetta und Jules Favre. Die Anfang
Februar 1871 abgehaltenen Wahlen zu einer Nationalversammlung führten zum Sieg der
konservativen „Partei der Ordnung“. In der Nationalversammlung hatten Legitimisten und
Orléanisten, die Anhänger einer Herrschaft der alten Königsdynastien, zunächst noch eine
Mehrheit. Die Republikaner als zweitstärkste Kraft in der Nationalversammlung zerfielen in
gemäßigte und linke Republikaner. Die Arbeiterbewegung spielte trotz der französischen
Beiträge zur sozialistischen Tradition und Theoriebildung (Babeuf, Saint-Simon, Fourier,
Proudhon, Blanqui) im Parteienspektrum noch keine große Rolle. Ihre weitere Entwicklung
wurde durch die Pariser Kommune von 1871 behindert. Die Pariser Kommune, die der neuen
französischen Regierung unter Präsident Thiers ein eigenes Ordnungsmodell gegenüberstellte
und in der marxistischen Geschichtsschreibung als der erste große Kampf einer zu neuem
politischen Bewusstsein gelangten Arbeiterklasse interpretiert wird, wurde blutig
niedergeschlagen. In Frankreich wurde nun nochmals über die Rückkehr zu einer Monarchie
diskutiert, doch in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre setzte sich die Dritte Republik
endgültig durch. Wesentliche Elemente waren die nach dem allgemeinen gleichen
Männerwahlrecht gewählte Deputiertenkammer, die gemeinsam mit dem Senat (75 Mitglieder
auf Lebenszeit, 225 von den Departements gewählt) die Legislative bildete. An der Spitze der
Exekutive stand ein auf 7 Jahre gewählter Präsident, der eine Regierung ernennt, die zugleich
vom Vertrauen der Nationalversammlung abhängig ist. Im Unterschied zum Deutschen Reich
setzte sich Ende der 70er Jahre in Frankreich somit die parlamentarische Regierungsweise
durch. Die neue Regierung der gemäßigten Republikaner betrieb eine Politik der inneren
Reformen, wobei ein Schwerpunkt auf den Bildungsreformen lag. Dies führte zu heftigen
Konflikten mit der katholischen Kirche. Darüber hinaus stellte sich Frankreich nun ganz in
die Tradition von 1789. Der 14. Juli wurde Staatsfeiertag, die Marseillaise Nationalhymne.
Ausbau und Krisen der Dritten Republik:
Die neue Ordnung wurde getragen von den Kräften des industriellen Großbürgertums und den
wichtiger werdenden bürgerlichen Mittelschichten. Die neuen Arbeiterparteien spielten in den
achtziger Jahren noch eine bescheidene Rolle im politischen System. Die Unzufriedenheit
über mangelnden sozialen Fortschritt und eine außenpolitische Stagnation führte Mitte der
achtziger Jahre zur antiparlamentarischen und nationalistischen Bewegung um den General
und Kriegsminister Georges Boulanger (1837-1891), dessen Machtansprüche aber
zurückgewiesen wurden. Boulanger und die Dreyfus-Affäre, die zwischen 1894 und 1906 die
französische Nation in zwei Lager spaltete, zeigten, dass auch die französische Gesellschaft
anfällig war für einen autoritären und antisemitischen Nationalismus. Die Dreyfus-Affäre hat
zum einen die bis dahin schleppend verlaufende Herausbildung moderner Parteien
beschleunigt und zum anderen zur Ablösung der seit 1880 dominierenden gemäßigten
Republikaner geführt. Die vor allem vom Kleinbürgertum unterstützten bürgerlichlinksdemokratischen „Radikalsozialisten“ (Waldeck-Rousseau, Clemenceau, Briand)
dominierten nun bis 1914 die französische Innenpolitik. Sie verschärften noch einmal den
Kampf gegen die als konservativ-restaurative Macht angesehene katholische Kirche und
wurden hierin von den sich neu formierenden Sozialisten (SFIO seit 1905; Jean Jaurès)
unterstützt. Die Allianz zerbrach aber wieder infolge der wachsenden sozialen Konflikte, in
denen auch die Radikalsozialisten mit harten Maßnahmen gegen streikende Arbeiter
einschritten. Auch die Republik mit ihrem parlamentarischen Regierungssystem und einer an
1789 ausgerichteten Geschichtskultur wurde somit ähnlich wie das ganz anders verfasste
Deutsche Reich immer wieder mit heftigen inneren Konflikten konfrontiert.
6
Stabilität im Wandel: Das politische System Großbritanniens 1867 bis 1900
Großbritanniens Weg wurde von Historikern oft als mustergültiger Weg in die Moderne
angesehen. Das Land erschien als Vorbild einer erfolgreichen Anpassung der politischen
Herrschaftsordnung an veränderte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse durch Reformen.
Hierbei muss man sich jedoch vor der Gefahr einer Idealisierung hüten. Die unterschiedlichen
Ausgangsbedingungen werden oft ebenso unterschätzt wie die Tatsache, dass auch
Großbritannien im 19. Jahrhundert viele schwere soziale und politische Konflikte durchlebte.
Auch die Herausbildung einer britischen Identität erfolgte nicht nur über die freiheitlichen
Traditionen, sondern ähnlich wie bei anderen europäischen Nationen vor allem durch einen
nach außen gerichteten Nationalismus.
Wirtschaftliche Entwicklungen im 19. Jahrhundert: Durch die frühe Industrialisierung
entwickelte sich Großbritannien zur führenden Wirtschaftsmacht in Europa und der Welt. Die
entscheidende Beschleunigung erhielt der wirtschaftliche Strukturwandel durch den in den
zwanziger Jahren einsetzenden Eisenbahnbau. Nach den Stockungen und Krisen in den
vierziger Jahren verzeichnete man in den fünfziger und sechziger Jahren eine neue große
Aufwärtsentwicklung.1800 hatte das Vereinigte Königreich mit Irland knapp 16 Millionen
Einwohner; 1871 waren es 32 Millionen um 1900 waren es etwa 40 Millionen. Das
Bevölkerungswachstum war verbunden mit einem raschen Urbanisierungsprozess. Schon
1871 lag der Anteil der Stadtbevölkerung an der britischen Gesamtbevölkerung bei 65%.
1837 hatte es 5 Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern gegeben, 1891 waren es 23. London
zählte zu diesem Zeitpunkt bereits über 4 Millionen Einwohner. Der Anteil der
Landwirtschaft am Sozialprodukt und ihr Anteil an den Erwerbstätigen gingen trotz der
Produktionssteigerungen des Agrarsektors stark zurück. Nach vorübergehenden
Wachstumsschwächen in den siebziger und achtziger Jahren setzte um die Jahrhundertwende
auch in Großbritannien nochmals ein starkes Wachstum des industriellen Sektors und des
tertiären Sektors (Handel, Verkehr, Dienstleistungen) ein.
Die gesellschaftlichen Strukturen: Die neuen sozialen Entwicklungen waren geprägt vom
Aufstieg der middle classes und vom starken Anwachsen der working classes. Trotz des
rasanten Wirtschaftswachstums, der Urbanisierung und des sozialen Wandels besaßen
allerdings die vorindustriellen Strukturen und Mentalitäten noch lange Zeit ein beachtliches
Gewicht. Alte Hierarchien hielten den neuen Entwicklungen lange stand. An der Spitze der
britischen Gesellschaft stand die Königliche Familie. Die Monarchie festigte ihr zeitweise
gesunkenes Ansehen durch Queen Victoria (1837-1901). In der viktorianischen Epoche passte
sich die Monarchie endgültig in das parlamentarische System ein und erhob keine eigenen
weitergehenden Machtansprüche mehr. Der Adel blieb eine starke gesellschaftliche Kraft und
behielt trotz der Reformen einen wichtigen Platz in der politischen Führungsschicht:
Regierung, Oberhaus, Unterhaus, lokale Verwaltung. Er setzte sich aus den zwei Gruppen
Hochadel oder Nobility (ca. 200 Familien) und Gentry zusammen und umfasste insgesamt
1,4% der Bevölkerung. Im Unterschied zum ständisch abgeschlossenen kontinentalen Adel
erwies sich der englische Adel als flexibler und reformfreudiger.
Middle classes: Der Begriff umschrieb jene Teile der Gesellschaft, die weder dem Adel
noch den städtischen und ländlichen Unterschichten angehörten. Gemeinsame Merkmale
dieser Gruppe waren ein Tugendkatalog (Arbeitsamkeit, Zielstrebigkeit und
Gewissenhaftigkeit), das Kriterium der Selbständigkeit und ein gemeinsames politisches
Bewusstsein. Wichtigster Teil der middle classes waren die besitz- und bildungsbürgerlichen
Gruppen. Die Jahre zwischen 1850 und 1870 werden als wichtige Phase im Aufstiegsprozess
der neuen bürgerlichen Kräfte angesehen. Die Politik passte sich zunehmend den neuen
wirtschaftlichen Interessen an (wirtschaftsliberaler Kurs). Die in der Gesamtgesellschaft
dominierenden Werte wurden immer mehr von den Middle Classes bestimmt (bürgerliche
Normen, viktorianischer Puritanismus).
7
Entwicklung der Arbeiterschaft: Die industrielle Lohnarbeit gewann mit dem
wirtschaftlichen Fortschritt rasch an Bedeutung. Ländliche und städtische Unterschichten
lebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach in bitterstem Elend (Schilderungen
bei Charles Dickens, Friedrich Engels). Ursache der Verarmung war nicht allein die
Industrialisierung, sondern zunächst einmal die starke Bevölkerungsvermehrung, die trotz des
wirtschaftlichen Wachstums zunächst dem Arbeitsplatzangebot vorauseilte. Die Not in den
nicht entwickelten Gebieten (Irland) war weit größer als in den Industrieregionen. Es kam
deshalb auch zu großen Abwanderungsbewegungen in die Städte. Dort entstand ein Reservoir
an billigen Arbeitskräften, das dem Diktat des Arbeitsmarkts ausgeliefert waren. Die
schlimmsten Zustände herrschten in der Textilindustrie (hoher Anteil von Frauen- und
Kinderarbeit). Insgesamt zeichnet sich die Arbeiterschaft noch durch große Heterogenität aus.
Die unteren Schichten der Gesellschaft fielen bei der Verteilung des Sozialprodukts im Laufe
des Industrialisierungsprozesses immer weiter zurück. Ihr Lebensstandard hat sich aber
zumindest nach den Krisen der vierziger Jahre allmählich verbessert, ohne dass die sozialen
Probleme gelöst waren.
Aus dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel erwuchsen für die Politik zwei große
Aufgaben: politische Reformen, die dem politischen Mitgestaltungsanspruch der neuen
middle classes gerecht wurden und soziale Reformen, die den bislang unerfüllten
Bedürfnissen der Arbeiterschaft nachkamen.
Politische Systemkrisen und Reformpolitik in Großbritannien 1832-1867
Der englische Parlamentarismus hat eine lange Entstehungsgeschichte. Er gründet auf
Institutionen und Traditionen, die bis ins Mittelalter zurückreichen und die im Verlaufe der
Neuzeit in mehreren Etappen umgeformt worden sind. Wichtige Etappen waren die
Revolutionen des 17. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den neuen Verfassungen des 19.
Jahrhunderts (z. B. Belgien) beruhte der englische Parlamentarismus nicht auf einem klar
definierten Normensystem, sondern auf Konventionen, die das Parlament im Laufe von
Jahrhunderten ausgebildet und durch seine Praxis aufrechterhalten hat. Es gibt keine
geschriebene Verfassung. Es gibt im Grunde auch keine echte englische
Parlamentarismustheorie.
Das politische System wurde um 1800 von einer kleinen aristokratischen Gruppierung
beherrscht, die nicht nur das House of Lords, sondern auch das politisch wichtigere House of
Commons kontrollierte. Die Parteikämpfe waren Machtkämpfe rivalisierender Adelscliquen.
Das Wahlrecht blieb auf einen exklusiven Kreis begrenzt. Die neuen, wirtschaftlich und sozial
aufstrebenden Middle Classes waren im Parlament kaum vertreten. Je weiter der
wirtschaftliche und soziale Wandel voranschritt, desto lauter wurde die Kritik am System.
Nach verschiedenen Reformen in den zwanziger Jahren (Zulassung von Gewerkschaften,
Gleichstellung von Dissenters und Katholiken) kam es 1832 auf Druck einer mächtigen
bürgerlichen Reformbewegung zu einer ersten wichtigen Anpassung an die neuen
Verhältnisse. Die unter Führung der Whigs durchgesetzte Reformbill von 1832 brachte
erstens eine Neustrukturierung der Wahlkreise (Aufhebung der rotten boroughs), zweitens
eine Neuregelung des Wahlrechts und drittens die endgültige Etablierung eines
parlamentarischen Regierungssystems. Die Zahl der Wähler stieg aber nur von 500 000 auf
800 000, damit auf etwa 15% der Bevölkerung. Da sich das System reformfähig erwiesen
hatte, trat zwar eine vorübergehende Beruhigung ein. Schon bald aber stellte die
Arbeiterschaft über die Chartistenbewegung (William Lovett) weitergehende Ansprüche auf
politische Partizipation. Die Bewegung zerfiel am Ende der vierziger Jahre wieder. Die
britische Arbeiterbewegung ordnete sich in der Folgezeit zunächst einmal dem politischen
Führungsanspruch der middle classes unter und kämpfte in Kooperation mit dem
Liberalismus für weitere Reformen. Eine weitere wichtige Weichenstellung erfolgte 1846 mit
der Aufhebung der Kornzölle. Durch den Sieg der Anti-Kornzoll-Liga (Cobden, Bright)
setzten sich die wirtschaftlichen Interessen des aufstrebenden Bürgertums (Freihandel) gegen
8
die alte Aristokratie (Agrarzölle) durch. Es kam zur Spaltung der Konservativen. Die Gruppe
um Peel und William Gladstone stieß später zu den Liberalen, die in den fünfziger Jahren
politisch dominierten (Russell, Palmerston).
Angesichts des sich beschleunigenden sozialen Wandels kam es um 1860 zu neuen
Debatten über eine Reform des politischen Systems. Beide großen Parteien formierten sich
neu und versuchten, sich auf die Erfordernisse der neuen Gesellschaft einzustellen. Aus den
Anhängern Peels, den radikalen Reformern (Bright, Mill) und den alten Whigs formierte sich
zu Beginn der sechziger Jahre eine neue liberale Partei, in der die aristokratischen Kräfte
gegenüber den aufstrebenden bürgerlichen Kräften deutlich an Einfluss verloren.
Nach einer trotz der Wahlrechtsdebatte politisch noch relativ ruhigen ersten Hälfte der
sechziger Jahre nahm der Reformdruck seit 1866 schlagartig zu. Auch die politischen
Ereignisse im Ausland - der amerikanische Bürgerkrieg, der Polenaufstand von 1863 und die
italienische Einigung verstärkten die Debatten und den innerbritischen Politisierungsprozess.
Die Wahlrechtsreform von 1867: Die Wahlrechtsoffensive wurde durch den neuen starken
Mann der Liberalen eröffnet, durch William Gladstone, den Schatzkanzler der amtierenden
Regierung Palmerston. Nach dem Tod von Palmerston wurde Lord John Russell 1865 neuer
Premier. Gladstone blieb Schatzkanzler und legte im März 1866 einen Gesetzentwurf zur
Wahlrechtsreform vor. Er sah die Ausweitung des Wahlrechts, nicht aber das allgemeine
gleiche Wahlrecht vor. In den folgenden Monaten gab es intensive Debatten und wechselnde
Parlamentsmehrheiten durch ganz neue Koalitionen, denn auch die Konservativen beteiligten
sich nun aktiv an den Planspielen um die Wahlrechtserweiterung. Benjamin Disraeli, der
kommende Mann der Konservativen, verbündete sich mit radikalen Liberalen gegen
Gladstone. Ein Teil der Liberalen lehnte die Wahlrechtsreform ab, so dass die Liberalen keine
eigene Mehrheit besaßen. Demgegenüber hielt Disraeli seine Konservativen in der
Wahlrechtsfrage zusammen. Am Ende trieben sich die Kontrahenten Disraeli und Gladstone
unter dem Druck der öffentlichen Meinung gegenseitig zu einer Reform, die in bezug auf die
Ausweitung des Wahlrechts weit über das hinausging, was beide ursprünglich wollten. Im
Mai 1867 kam es zum Abschluss der zweiten Wahlrechtsreform. Die Zahl der Wähler stieg
von etwa 1,4 auf über 2 Millionen. Damit blieb man noch weit vom allgemeinen gleichen
Wahlrecht entfernt. Hinzu kamen beträchtliche Unterschiede zwischen den Regelungen in den
Städten und denen auf dem Land. Die soziale Öffnung des Wahlrechts blieb in den ländlichen
Regionen deutlich zurück. Erst die dritte Wahlrechtsreform des 19. Jahrhunderts beseitigte
1884 diese Ungleichheit. Die Durchsetzung des allgemeinen Männer-Wahlrechts erfolgte
jedoch erst 1918. Zur Einführung des Frauenwahlrechts, über das schon 1867 diskutiert
wurde, kam es sogar erst 1928. Trotz der Defizite unterstrich die Reform des Jahres 1867
erneut die Anpassungs- und Überlebenskraft des traditionsreichen englischen Systems.
Politische Folgen der Wahlrechtsreform. Die Wahlrechtsdebatten und die Reform
beschleunigten den Niedergang des bisherigen aristokratischen Systems. Sie ebneten den Weg
zu einer stärker bürgerlich geprägten Politik. Sowohl die Liberalen als auch die Konservativen
stellten sich auf die Erfordernisse der heraufziehenden Massendemokratie ein. Bei den
Konservativen wurde der Außenseiter Disraeli (getaufter Jude, sozialer Aufstieg aus kleinen
Verhältnissen) zum wichtigsten Modernisierer. Disraeli hatte Erfolg, weil er eine konservative
Politik betrieb, die zwar an bestimmten Grundlinien ausgerichtet war, aber die nötige
Flexibilität besaß, um auch ganz neue Wege zur Machteroberung und -sicherung
einzuschlagen. Dies setzte er später mit der Verbindung von Sozialreform und
imperialistischer Politik weiter fort. 1868 wurde Disraeli kurze Zeit Premierminister. Bei den
ersten Wahlen nach der neuen Reform kam es jedoch zum Wahlsieg der Liberalen unter
Gladstone. Dieser regierte bis 1874, ehe ein konservativer Wahlerfolg Disraeli erneut zum
Premier aufsteigen ließ. 1880 wurde er dann erneut durch Gladstone abgelöst.
9
Großbritannien lief nicht nur wirtschaftlich, sondern auch mit seiner politischen Entwicklung
dem Kontinent um einiges voraus. Es entwickelte von den großen Staaten als erstes ein
parlamentarisches System mit modernen Parteiorganisationen, die den Erfordernissen der
Massendemokratie gewachsen waren. Andererseits gab es – gemessen an einem "idealen"
demokratischen Modernisierungsmodell – auch noch Defizite. Es gab kein allgemeines
gleiches Wahlrecht und auch keine moderne geschriebene Verfassung. Die britische
Entwicklung war aufgrund der besonderen Voraussetzungen (pol. Tradition,
Industrialisierung) auf dem Kontinent nicht einfach zu kopieren. Dennoch wirkte sie in
vielfältiger Weise (politische Debatten, Vorbild von Parteien und anderen Organisationen)
auch auf die dortigen Entwicklungen ein.
DIE STAATEN DES NÖRDLICHEN EUROPA:
Die kleineren Staaten Europas waren im Zeitraum zwischen 1871 und 1914 von den
gleichen inneren Entwicklungen betroffen wie die großen Mächte. Ein in unterschiedlichem
Tempo verlaufender wirtschaftlicher Strukturwandel und die damit einhergehenden sozialen
Veränderungen führten auch hier zur Transformation der politischen Systeme. Das durch die
Kriegsniederlage von 1864 endgültig in die Reihe der kleineren Staaten getretene und noch
sehr agrarisch geprägte Dänemark besaß seit 1849 zwar eine der liberalsten Verfassungen
Europas. Aber erst um die Jahrhundertwende etablierte sich auf Druck der Mehrheit in der
zweiten Kammer (bäuerliche und sozialdemokratische Opposition) ein neues System, das nun
auf dem allgemeinen und geheimen Wahlrecht beruhte und die Abhängigkeit der Regierung
von einer Parlamentsmehrheit klar festschrieb. In Schweden wurde 1866 die bisherige
Ständeversammlung in ein modernes Parlament umgewandelt, die Wahlrechtsregelungen
blieben bis 1909 noch weit hinter dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts zurück, und auch
die Regierung war bis 1917 offiziell dem König und nicht dem Reichstag politisch
verantwortlich. In der Verfassungspraxis setzte sich der Parlamentarismus allerdings bereits
früher durch. Die Industrialisierung, die in Schweden intensiver war als in den anderen
Ländern des Nordens, und das Bevölkerungswachstum sorgten auch in Skandinavien für
soziale Krisen. Ihre Eskalation wurde jedoch durch zwei Faktoren verhindert. Zum einen
durch einen langsamer verlaufenden wirtschaftlichen Strukturwandel, der mehr Zeit zur
Anpassung ließ. Zum zweiten durch eine verhältnismäßig große Auswanderung nach
Nordamerika. Schweden und Norwegen hatten im 19. Jahrhundert nach Irland die höchsten
Auswanderungsraten in Europa. Norwegen erlangte erst 1905 die internationale Anerkennung
als souveränes Königreich (vorher Personalunion mit Schweden), hatte aber seit 1814 eine
eigenständige Verfassung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Rechte des Storting
gegenüber der Regierung ausgedehnt und das Wahlrecht in mehreren Schritten erweitert.
1907/1913 erhielten hier auch die Frauen das Wahlrecht.
Die Benelux-Staaten und die Schweiz: Der schnellere Industrialisierungsprozess dieser
Staaten sowie Religions- und Sprachenkonflikte sorgten dafür, dass hier der
Transformationsprozess konfliktreicher verlief. Das 1831 entstandene Königreich Belgien
besaß von Anfang an eine Verfassung, die den Monarchen an die Mehrheit des Parlaments
band. Der Wahlzensus war allerdings sehr hoch und wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts nur
allmählich abgesenkt. Schließlich kam es 1893 zu einem allgemeinen Wahlrecht, das aber
nicht gleich war (Pluralwahlrecht). Wichtigste politische Gruppen waren die zunächst
dominierenden Liberalen, der an Einfluss gewinnende politische Katholizismus und die
Arbeiterbewegung. In den Niederlanden setzte sich 1848 ohne Revolution das
parlamentarische System durch, das lange vom Liberalismus bestimmt wurde. Das zunächst
hohe Zensuswahlrecht wurde in der Folgezeit nur langsam abgeschwächt. 1913 waren erst
knapp 70% der erwachsenen Männer wahlberechtigt. Zum allgemeinen Wahlrecht kam es erst
1917. Die sozialen Konflikte wurden auch in den Niederlanden zunächst teilweise recht brutal
10
niedergeschlagen, ehe dann auch hier der Weg in eine moderne Arbeits- und
Sozialgesetzgebung eingeschlagen wurde. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in
Luxemburg, das seit 1867 ein eigenständiger Staat war. Die Schweiz war im 19. Jahrhundert
eine der wenigen europäischen Republiken. Sie behielt die 1848 geschaffene bundesstaatliche
Ordnung bei und damit auch das damals durchgesetzte allgemeine Männerwahlrecht. Die
Schweizer Innenpolitik blieb auch nach 1848 nicht frei von Konflikten – z. B. Kulturkampf –
und die mit der Industrialisierung einsetzenden „Klassenkämpfe“. Am Ende aber reagierte das
System flexibel genug, um schwerste Krisen zu verhindern.
Die südeuropäischen Staaten:
Obwohl hier die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungsprozesse weit weniger dynamisch
verliefen als in der Mitte und im Westen Europas, war das politische System im 19.
Jahrhundert häufiger und teilweise auch schwereren Konflikten ausgesetzt. Das galt für das
1830 geschaffene Königreich Griechenland, in dem 1862 der regierende Monarch Otto I
(Haus Wittelsbach) gestürzt und durch König Georg I. ersetzt wurde, ebenso wie für die
Staaten der iberischen Halbinsel. Ökonomische Rückständigkeit, marode Staatsfinanzen, eine
noch sehr traditionale Gesellschaft und hohe Analphabetenraten standen einer raschen
Anpassung an die politischen Strukturen West-, Nord- und Mitteleuropas entgegen. In
Griechenland, Spanien und Portugal spielte das Militär häufig eine wichtige Rolle bei den
innenpolitischen Veränderungen. In Spanien wurde 1868 die Königin Isabella vom Militär
abgesetzt. Spanien war zeitweise Republik, kehrte aber 1874 zum System einer
konstitutionellen Monarchie zurück. Das Wahlrecht blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein auf
eine mit zwei Parteien agierende schmale Schicht begrenzt. Ein modernes politisches System
hat sich in dem wirtschaftlich zurückgebliebenen Land nicht entwickeln können. Das Gleiche
galt für Portugal, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine konstitutionelle Monarchie auf der
Grundlage eines Zensuswahlrechts besaß, 1910 aber nach einem Militärputsch Republik
wurde. Während in Deutschland die politische Verfassung den sozialen und wirtschaftlichen
Entwicklungen hinterherzuhinken schien, lief in den südeuropäischen Staaten die
Modernisierung des politischen Systems unter Führung gebildeter und progressiver Teile der
Oberschicht und der Militärs den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen häufig
weit voraus. Damit aber waren das Scheitern moderner Verfassungen und Politikansätze
sowie schwere innere Krisen vorprogrammiert. Spanien und Portugal verloren infolge ihrer
Rückständigkeit und innerer Krisen auch außenpolitisch weiter an Boden.
ITALIEN: Die zeitgleich verlaufenden italienischen und deutschen Einigungsprozesse sind
oft miteinander verglichen worden. Neben Gemeinsamkeiten (Einigung durch Kriege,
Führungsrolle Preußens und Piemont-Sardiniens; Bismarck und Cavour, Kompromiß mit
bürgerlichen Kräften) gab es auch Unterschiede: Zum einen hatte die republikanische Linke
im italienischen Einigungsprozess selbst entscheidende Akzente gesetzt (Garibaldi). Zum
anderen war die politische Einigung Italiens stärker als die deutsche, die sich auf einen in
Jahrzehnten gewachsenen Unterbau stützen konnte, das Programm einer kulturellen Elite, die
mit ihren Vorstellungen der wirtschaftlichen und sozialen Realität ein ganzes Stück
vorauseilte. Die innere Nationsbildung war noch nicht so weit vorangeschritten wie in
Deutschland. Das ökonomische und soziokulturelle Gefälle innerhalb des neuen Staates war
in Italien weit größer (Nord-Süd-Gefälle). Dies und die anhaltenden Auseinandersetzungen
mit dem politisch entmachteten Papsttum war der Hintergrund für einen zentralistischen
Staatsaufbau, der allerdings im Süden durch die Kompromisse mit den regionalen Eliten
wieder durchlöchert wurde. Italien war wie das Kaiserreich eine konstitutionelle Monarchie
mit starker Stellung des Herrschers. Die Minister waren dem König verantwortlich. Dieser
besaß auch das Recht, das Abgeordnetenhaus aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. In
Italien schaffte es das Parlament aber im Laufe der Zeit, die eigene Position im politischen
Prozess gegenüber dem Herrscher deutlich auszubauen und ein parlamentarisches System zu
11
etablieren. Das Wahlrecht war allerdings an einen hohen Zensus und die Fähigkeit zu lesen
und zu schreiben gebunden. Bis 1882 konnten in Italien nur etwa 8% der erwachsenen
Männer wählen, danach waren es 30%. Der Ausschluss der unteren Schichten und das
päpstliche Verbot, sich als Katholik auf der nationalen Ebene politisch zu betätigen, führten
zu einem Zweiparteiensystem. Die Rechte war die Partei der piemontesischen Eliten, die
zunächst vom Prestige ihrer erfolgreichen Einigungspolitik profitierte. Sie bekannte sich zum
Reformprogramm eines gemäßigten Liberalismus. Die Politik lief bis 1876 in den von Cavour
(1861 gestorben) geebneten Bahnen. Die innenpolitische Wende brachte dann die Linke an
die Macht, die sich auch als liberale Partei verstand, sich aber stärker aus dem mittleren
Bürgertum und aus dem Süden rekrutierte und Reformen entschiedener vorantrieb
(Wahlrecht, Bildungssystem).
Die Politik in Italien war damit lange Zeit Sache einer in zwei Parteien gespaltenen
oligarchischen Herrschaftselite. Mit der Wahlrechtsreform der frühen achtziger Jahre und dem
sich nun deutlicher abzeichnenden wirtschaftlichen Wandel begannen sich dann in den letzten
zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aber neue Kräfte zu formieren, die die bisherigen
Herrschaftsstrukturen in Frage stellten. Der seit 1887 amtierende Ministerpräsident Crispi
versuchte es mit innenpolitischen Reformen (Gesundheitswesen, Bildung), einem autoritären
Regierungsstil und dem Streben nach außenpolitischen Erfolgen. Unter Crispi wandelte sich
der bisher vorrangig emanzipatorische Nationalismus in einen integralen Nationalismus
(Sammlung der nationalen Kräfte, Nationaldenkmal in Rom, imperialistische Politik). Nach
außenpolitischen Niederlagen war dieses System nicht mehr zu halten. Unter dem
Ministerpräsidenten Giolitti begannen verstärkte Bemühungen, bisher ausgegrenzte Teile der
Gesellschaft in das politische System zu integrieren. 1912 wurde das Wahlrecht für alle
Männer über 30 eingeführt. Jüngere durften wählen, wenn sie Wehrdienst geleistet hatten.
Damit hatte Italien nach vielen Jahrzehnten den Übergang vom oligarchischen zu einem
demokratischen Parlamentarismus geschafft. Angesichts der tiefen Spaltungen, die die
italienische Gesellschaft durchzogen, erwies sich aber auch das neue System letztlich als
wenig stabil.
12
Herunterladen