ERGÄNZUNG ZUM SKRIPT 5 Politische Systeme in anderen europäischen Staaten Alle europäischen Staaten standen spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor den Herausforderungen kultureller, sozialökonomischer und politischer Veränderungen. Die Probleme, die sich aus der Beschleunigung des industriellen Wachstums, den Veränderungen der Gesellschaften und den daraus abgeleiteten Konflikten für die politischen Systeme und die bisherigen Machteliten ergaben, waren durchaus miteinander vergleichbar. Langfristig gingen alle Staaten ähnliche Wege. Aber es gab innerhalb Europas große Unterschiede, die sich politisch, sozial und ökonomisch in West-Ost- und Nord-Süd-Gefällen niederschlugen. Die jeweils spezifischen Voraussetzungen und Traditionen führten zu unterschiedlichen Lösungswegen. I. Autokratie und innere Reformen: Russland 1856-1914 Für Russland wurde die ökonomisch-soziale Rückständigkeit zum großen Problem. Das unterentwickelte Agrarland (1897 noch 77% landwirtschaftlich tätige Bevölkerung) blieb ökonomisch weit hinter den wirtschaftlichen Fortschritten des Westens zurück. Man ging dann auch in Russland unter Zar Alexander II. nach dem verlorenen Krimkrieg den Weg einer Reform von oben, hob 1861 die Leibeigenschaft auf und führte Justiz-, Verwaltungs- und Militärreformen durch. Es gab auch wirtschaftliche Fortschritte, die langfristig den innenpolitischen Veränderungsdruck erhöhten. Alle neuen Ansätze reichten aber nicht aus, um den politischen und wirtschaftlichen Abstand zum Westen aufzuholen. Das politische System Russlands schwenkte nicht auf jene Bahnen des Konstitutionalismus ein, die für das übrige Europa fast die Regel wurden. Russland wurde auch unter den Zaren Alexander II. (1881 ermordet), Alexander III. und Nikolaus II. autokratisch regiert. Dies führte aber nur zu einer weiteren Verschärfung der innenpolitischen Repression. Erst mit der Revolution von 1905 wurden nochmals Ansätze unternommen, Anschluss an die west- und mitteleuropäische Verfassungsentwicklung zu gewinnen, die aber rasch wieder steckenblieben. II. Verfassungsfragen und Nationalitätenkämpfe: Österreich-Ungarn 1867-1914 Die Habsburger Monarchie folgte seit 1861 nicht mehr der Linie des Neoabsolutismus. Die Machteliten dieses Vielvölkerstaates mit dem von 1848 bis 1916 regierenden Kaiser Franz Joseph waren aus innen- wie deutschlandpolitischen Gründen auf die Bahn des Konstitutionalismus eingeschwenkt. Nach dem Krieg von 1866 wurde die Innenpolitik der Habsburger Monarchie durch die österreichisch-ungarischen Ausgleichsgesetze auf neue Grundlagen gestellt. Gewinner waren die Ungarn. Das alte Königreich Ungarn wurde mit weitreichenden Autonomierechten wiederhergestellt. Die Habsburger Monarchie bestand künftig aus zwei, durch eine gemeinsame dynastische Spitze (Kaiser von Österreich und König von Ungarn) verbundenen Reichsteilen: Ungarn und die cisleithanische Reichshälfte. Außenpolitik, Finanzen und Kriegswesen wurden gemeinsam geregelt. Ansonsten gab es für jede Reichshälfte eigene Regierungen. Beide Reichshälften waren Vielvölkergebilde. In der ungarischen Hälfte hatten die Magyaren 1880 einen Anteil von 41,2%, in der anderen Hälfte die Deutschen zur gleichen Zeit einen Anteil von knapp 37%. Die Rechte der Parlamente waren schwächer als die des deutschen Reichstags. Auch beim Wahlrecht blieb man weit hinter dem deutschen Reichstagswahlrecht zurück. Ein allgemeines Wahlrecht für Männer wurde in Cisleithanien erst 1907 eingeführt, in Ungarn bis 1914 nicht. 1 Seit 1873 wurden die Abgeordneten des cisleithanischen Reichsrates direkt gewählt. Zwischen 1867 und 1878 dominierten auch in Cisleithanien zunächst einmal die DeutschLiberalen. Sie waren zentralistisch und gesamtstaatlich gesinnt und wollten den Deutschen die historisch gewachsene Führungsrolle bewahren. Es gab eine Liberalisierung des staatlichen Lebens, Wirtschaftsreformen und auch im katholischen Österreich eine Art Kulturkampf, mit dem die Liberalen die seit 1855 (Konkordat) besonders starke Stellung der katholischen Kirche zurückdrängen wollten. 1878 war auch in Österreich die liberale Phase schon wieder zu Ende. Auch hier spielten die wirtschaftlichen Verwerfungen durch die Krise von 1873 eine große Rolle. Mit dem neuen langjährigen Ministerpräsidenten Graf Taaffe (bis 1893) setzte nun eine konservative Regierungspolitik ein. Gegen den Kurs der Deutschliberalen formierten sich nicht nur die nichtdeutschen Bevölkerungsteile. Auch in den deutschsprachigen Gebieten selbst stellten sich neue Parteirichtungen gegen die Liberalen. Die Christlich-soziale Partei unter dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger wurde zur ersten Massenpartei Österreichs und verband ihr antiliberales Konzept mit dem Gedankengut katholisch-konservativer Sozialreform und einem kräftigen Schuss Antisemitismus. Mit dem Voranschreiten der Industrialisierung, die besonders im Wiener Raum und in Böhmen beachtlich war, wurde auch die Arbeiterbewegung immer wichtiger. Innerhalb des Deutschliberalismus vollzogen sich schließlich weitreichende Wandlungen, die den Charakter dieser Richtung völlig änderten. Aus dem Liberalismus entwickelte sich angesichts der Nationalitätenproblematik ein Deutschnationalismus und aus ihm wiederum das „Alldeutschtum“. Wichtigster Führer war Georg von Schoenerer, der mit sozialreformerischen und antisemitischen Parolen gegen die Dynastie und die übernationale österreichisch-ungarische Monarchie, die katholische Kirche, die Juden und das Großkapital zu Felde zog. Die Deutschnationalen wollten die deutschsprachigen Gebiete Österreichs in eine staatsrechtliche Sonderstellung bringen und so ihren deutschen Charakter bewahren. Die Parteien der Habsburger Monarchie verstanden sich in der Regel als Nationalitätenparteien. Im Grunde haben vor 1914 nur die Sozialdemokraten unter den Austromarxisten Otto Bauer und Karl Renner um nationsübergreifende Konzepte gerungen. Aber auch sie sind schließlich schon innerhalb ihrer eigenen Richtung im Streit mit den Tschechen gescheitert. Die Nationalitätenkonflikte haben in beiden Reichshälften die Politik immer stärker belastet. Zu einer wirklichen Völkergemeinschaft mit gleichmäßiger Machtverteilung und Dezentralisierung ist es in der Habsburger Monarchie bis 1914 nicht mehr gekommen. Die eigentümliche Struktur des Vielvölkerreiches stand einer Modernisierung des politischen Systems im Wege und engte zugleich den außenpolitischen Spielraum immer mehr ein. III. Niederlage und Erneuerung: Frankreich zwischen 1870 und 1900 Das politische System Frankreichs war zwischen 1800 und 1871 von großer Instabilität, wechselnden Herrschaftsordnungen (Napoleon I., Herrschaft der Bourbonen 1815-1830, Julimonarchie 1830-1848, II. Republik 1848-1852, Kaisertum Napoleons III. 1852-1871) und schweren inneren Konflikten geprägt. Die politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs wurde nachhaltig bestimmt durch die langfristigen Folgen der Französischen Revolution. Die Revolution von 1789 wirkte im politischen Bereich durch den Bruch im politischen Bewusstsein der Franzosen, durch die Spaltung in Anhänger und Gegner der Revolution weiter. Im sozialen Bereich wirkte sie durch die Beseitigung der alten Privilegiengesellschaft und die Schaffung einer rechtlich egalitären Gesellschaftsordnung weiter, deren Prinzipien seit der Revolution nicht mehr in Frage gestellt wurden. In wirtschaftlicher Hinsicht bremste die Revolution eher den weiteren Verlauf des Modernisierungsprozesses, 2 weil sie gesellschaftliche Kräfte stärkte, die wie die Bauern und das Kleinbürgertum dem Weg in die neue industriekapitalistische Gesellschaft kritisch gegenüberstanden. a) Die Entstehung der III. Republik: Nach der Niederlage gegen die Deutschen erfolgten am 4. September 1870 die Ausrufung der Republik und die Bildung einer provisorischen Regierung unter den republikanischen Parlamentariern Léon Gambetta und Jules Favre. Die Anfang Februar 1871 abgehaltenen Wahlen zu einer Nationalversammlung führten zum Sieg der konservativen „Partei der Ordnung“. In der Nationalversammlung hatten Legitimisten und Orléanisten, die Anhänger einer Herrschaft der alten Königsdynastien, zunächst noch eine Mehrheit. Die Republikaner als zweitstärkste Kraft in der Nationalversammlung zerfielen in gemäßigte und linke Republikaner. Die Arbeiterbewegung spielte trotz der französischen Beiträge zur sozialistischen Tradition und Theoriebildung (Babeuf, Saint-Simon, Fourier, Proudhon, Blanqui) im Parteienspektrum noch keine große Rolle. Ihre weitere Entwicklung wurde durch die Pariser Kommune von 1871 behindert. Die Pariser Kommune, die der neuen französischen Regierung unter Präsident Thiers ein eigenes Ordnungsmodell gegenüberstellte und in der marxistischen Geschichtsschreibung als der erste große Kampf einer zu neuem politischen Bewusstsein gelangten Arbeiterklasse interpretiert wird, wurde blutig niedergeschlagen. In Frankreich diskutierte mann nun nochmals über die Rückkehr zu einer Monarchie, doch in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre setzte sich die Dritte Republik endgültig durch. Wesentliche Elemente waren die nach dem allgemeinen gleichen Männerwahlrecht gewählte Deputiertenkammer, die gemeinsam mit dem Senat (75 Mitglieder auf Lebenszeit, 225 von den Departements gewählt) die Legislative bildete. An der Spitze der Exekutive stand ein auf 7 Jahre gewählter Präsident, der eine Regierung ernannte, die zugleich vom Vertrauen der Nationalversammlung abhängig war. Im Unterschied zum Deutschen Reich setzte sich Ende der 70er Jahre in Frankreich somit die parlamentarische Regierungsweise durch. Die neue Regierung der gemäßigten Republikaner betrieb eine Politik der inneren Reformen, wobei ein Schwerpunkt auf den Bildungsreformen lag. Dies führte zu heftigen Konflikten mit der katholischen Kirche. Darüber hinaus stellte sich Frankreich nun ganz in die Tradition von 1789. Der 14. Juli wurde Staatsfeiertag, die Marseillaise Nationalhymne. b) Ausbau und Krisen der Dritten Republik: Die neue Ordnung wurde getragen von den Kräften des industriellen Großbürgertums und den wichtiger werdenden bürgerlichen Mittelschichten. Die neuen Arbeiterparteien spielten in den achtziger Jahren noch eine bescheidene Rolle im politischen System. Die Unzufriedenheit über mangelnden sozialen Fortschritt und eine außenpolitische Stagnation führte Mitte der achtziger Jahre zur antiparlamentarischen und nationalistischen Bewegung um den General und Kriegsminister Georges Boulanger (1837-1891), dessen Machtansprüche aber zurückgewiesen wurden. Boulanger und die Dreyfus-Affäre, die zwischen 1894 und 1906 die französische Nation in zwei Lager spaltete, zeigten, dass auch die französische Gesellschaft anfällig war für einen autoritären und antisemitischen Nationalismus. Die Dreyfus-Affäre hat zum einen die bis dahin schleppend verlaufende Herausbildung moderner Parteien beschleunigt und zum anderen zur Ablösung der seit 1880 dominierenden gemäßigten Republikaner geführt. Die vor allem vom Kleinbürgertum unterstützten bürgerlichlinksdemokratischen „Radikalsozialisten“ (Waldeck-Rousseau, Clemenceau, Briand) dominierten nun bis 1914 die französische Innenpolitik. Sie verschärften noch einmal den Kampf gegen die als konservativ-restaurative Macht angesehene katholische Kirche und wurden hierin von den sich neu formierenden Sozialisten (SFIO seit 1905; Jean Jaurès) unterstützt. Die Allianz zerbrach aber wieder infolge der wachsenden sozialen Konflikte, in 3 denen auch die Radikalsozialisten mit harten Maßnahmen gegen streikende Arbeiter einschritten. Auch die Republik mit ihrem parlamentarischen Regierungssystem und einer an 1789 ausgerichteten Geschichtskultur wurde somit ähnlich wie das ganz anders verfasste Deutsche Reich immer wieder mit heftigen inneren Konflikten konfrontiert. IV. Stabilität im Wandel: Das politische System Großbritanniens 1867 bis 1900 Großbritanniens Weg wurde von Historikern oft als mustergültiger Weg in die Moderne angesehen. Das Land erschien als Vorbild einer erfolgreichen Anpassung der politischen Herrschaftsordnung an veränderte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse durch Reformen. Hierbei muss man sich jedoch vor der Gefahr einer Idealisierung hüten. Die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen werden oft ebenso unterschätzt wie die Tatsache, dass auch Großbritannien viele schwere soziale und politische Konflikte im 19. Jahrhundert durchlebte. Auch die Herausbildung einer britischen Identität erfolgte nicht nur über die freiheitlichen Traditionen, sondern ähnlich wie bei anderen europäischen Nationen vor allem durch einen nach außen gerichteten Nationalismus. a) Wirtschaftliche Entwicklungen im 19. Jahrhundert: Durch die frühe Industrialisierung entwickelte sich Großbritannien zur führenden Wirtschaftsmacht in Europa und der Welt. Die entscheidende Beschleunigung erhielt der wirtschaftliche Strukturwandel durch den in den zwanziger Jahren einsetzenden Eisenbahnbau. Nach den Stockungen und Krisen in den vierziger Jahren verzeichnete man in den fünfziger und sechziger Jahren eine neue große Aufwärtsentwicklung. 1800 hatte das Vereinigte Königreich mit Irland knapp 16 Millionen Einwohner, 1871 waren es 32 Millionen, um 1900 etwa 40 Millionen. Das Bevölkerungswachstum war verbunden mit einem raschen Urbanisierungsprozess. Schon 1871 lag der Anteil der Stadtbevölkerung an der britischen Gesamtbevölkerung bei 65%. 1837 hatte es 5 Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern gegeben, 1891 waren es 23. London zählte zu diesem Zeitpunkt bereits über 4 Millionen Einwohner. Der Anteil der Landwirtschaft am Sozialprodukt und der Anteil der Erwerbstätigen in diesem Sektor gingen trotz der Produktionssteigerungen stark zurück. Nach vorübergehenden Wachstumsschwächen in den siebziger und achtziger Jahren setzte um die Jahrhundertwende auch in Großbritannien nochmals ein starkes Wachstum des industriellen Sektors und des tertiären Sektors (Handel, Verkehr, Dienstleistungen) ein. b) Die gesellschaftlichen Strukturen: Die neuen sozialen Entwicklungen waren geprägt vom Aufstieg der middle classes und vom starken Anwachsen der working classes. Trotz des rasanten Wirtschaftswachstums, der Urbanisierung und des sozialen Wandels besaßen allerdings die vorindustriellen Strukturen und Mentalitäten noch lange Zeit ein beachtliches Gewicht. Alte Hierarchien hielten den neuen Entwicklungen lange stand. An der Spitze der britischen Gesellschaft stand die Königliche Familie. Die Monarchie festigte ihr zeitweise gesunkenes Ansehen durch Queen Victoria (1837-1901). In der viktorianischen Epoche passte sich die Monarchie endgültig in das parlamentarische System ein und erhob keine eigenen weitergehenden Machtansprüche mehr. Der Adel blieb eine starke gesellschaftliche Kraft und behielt trotz der Reformen einen wichtigen Platz in der politischen Führungsschicht: Regierung, Oberhaus, Unterhaus, lokale Verwaltung. Er setzte sich aus den zwei Gruppen, Hochadel oder Nobility (ca. 200 Familien) und Gentry, zusammen und umfasste insgesamt 1,4% der Bevölkerung. Im Unterschied zum ständisch abgeschlossenen kontinentalen Adel erwies sich der englische Adel als flexibler und reformfreudiger. 4 Middle classes: Der Begriff umschrieb jene Teile der Gesellschaft, die weder dem Adel noch den städtischen und ländlichen Unterschichten angehörten. Gemeinsame Merkmale dieser Gruppe waren ein Tugendkatalog (Arbeitsamkeit, Zielstrebigkeit und Gewissenhaftigkeit), das Kriterium der Selbständigkeit und ein gemeinsames politisches Bewusstsein. Wichtigster Teil der middle classes waren die besitz- und bildungsbürgerlichen Gruppen. Die Jahre zwischen 1850 und 1870 werden als wichtige Phase im Aufstiegsprozess der neuen bürgerlichen Kräfte angesehen. Die Politik passte sich zunehmend den neuen wirtschaftlichen Interessen an (wirtschaftsliberaler Kurs). Die in der Gesamtgesellschaft dominierenden Werte wurden immer mehr von den middle classes bestimmt (bürgerliche Normen, viktorianischer Puritanismus). Entwicklung der Arbeiterschaft: Die industrielle Lohnarbeit gewann mit dem wirtschaftlichen Fortschritt rasch an Bedeutung. Ländliche und städtische Unterschichten lebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach in bitterstem Elend (Schilderungen bei Charles Dickens, Friedrich Engels). Ursache der Verarmung war nicht allein die Industrialisierung, sondern zunächst einmal die starke Bevölkerungsvermehrung, die trotz des wirtschaftlichen Wachstums zunächst dem Arbeitsplatzangebot vorauseilte. Die Not in den nicht entwickelten Gebieten (Irland) war weit größer als in den Industrieregionen. Es kam deshalb auch zu großen Abwanderungsbewegungen in die Städte. Dort entstand ein Reservoir an billigen Arbeitskräften, das dem Diktat des Arbeitsmarkts ausgeliefert war. Die schlimmsten Zustände herrschten in der Textilindustrie (hoher Anteil von Frauen- und Kinderarbeit). Insgesamt zeichnet sich die Arbeiterschaft noch durch große Heterogenität aus. Die unteren Schichten der Gesellschaft fielen bei der Verteilung des Sozialprodukts im Laufe des Industrialisierungsprozesses immer weiter zurück. Ihr Lebensstandard hat sich aber zumindest nach den Krisen der vierziger Jahre allmählich verbessert, ohne dass die sozialen Probleme gelöst waren. Aus dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel erwuchsen für die Politik zwei große Aufgaben: politische Reformen, die dem politischen Mitgestaltungsanspruch der neuen middle classes gerecht wurden und soziale Reformen, die den bislang unerfüllten Bedürfnissen der Arbeiterschaft nachkamen. c) Politische Systemkrisen und Reformpolitik in Großbritannien 1832-1867: Der englische Parlamentarismus hat eine lange Entstehungsgeschichte. Er gründet auf Institutionen und Traditionen, die bis ins Mittelalter zurückreichen und die im Verlauf der Neuzeit in mehreren Etappen umgeformt worden sind. Wichtige Etappen waren die Revolutionen des 17. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den neuen Verfassungen des 19. Jahrhunderts (z. B. Belgien) beruhte der englische Parlamentarismus nicht auf einem klar definierten Normensystem, sondern auf Konventionen, die das Parlament im Laufe von Jahrhunderten ausgebildet und durch seine Praxis aufrechterhalten hat. Es gibt keine geschriebene Verfassung. Es gibt im Grunde auch keine echte englische Parlamentarismustheorie. Das politische System wurde um 1800 von einer kleinen aristokratischen Gruppierung beherrscht, die nicht nur das House of Lords, sondern auch das politisch wichtigere House of Commons kontrollierte. Die Parteikämpfe waren Machtkämpfe rivalisierender Adelscliquen. Das Wahlrecht blieb auf einen exklusiven Kreis begrenzt. Die neuen, wirtschaftlich und sozial aufstrebenden middle classes waren im Parlament kaum vertreten. Je weiter der wirtschaftliche und soziale Wandel voranschritt, desto lauter wurde die Kritik am System. Nach verschiedenen Reformen in den zwanziger Jahren (Zulassung von Gewerkschaften, Gleichstellung von Dissenters und Katholiken) kam es 1832 auf Druck einer mächtigen bürgerlichen Reformbewegung zu einer ersten wichtigen Anpassung an die neuen Verhältnisse. Die unter Führung der Whigs durchgesetzte Reformbill von 1832 brachte erstens eine Neustrukturierung der Wahlkreise (Aufhebung der rotten boroughs), zweitens 5 eine Neuregelung des Wahlrechts und drittens die endgültige Etablierung eines parlamentarischen Regierungssystems. Die Zahl der Wähler stieg aber nur von 500 000 auf 800 000, damit auf etwa 15% der Bevölkerung. Da sich das System reformfähig erwiesen hatte, trat zwar eine vorübergehende Beruhigung ein. Schon bald aber stellte die Arbeiterschaft über die Chartistenbewegung (William Lovett) weitergehende Ansprüche auf politische Partizipation. Die Bewegung zerfiel am Ende der vierziger Jahre wieder. Die britische Arbeiterbewegung ordnete sich in der Folgezeit zunächst einmal dem politischen Führungsanspruch der middle classes unter und kämpfte in Kooperation mit dem Liberalismus für weitere Reformen. Eine wichtige Weichenstellung erfolgte 1846 mit der Aufhebung der Kornzölle. Durch den Sieg der Anti-Kornzoll-Liga (Cobden, Bright) setzten sich die wirtschaftlichen Interessen des aufstrebenden Bürgertums (Freihandel) gegen die alte Aristokratie (Agrarzölle) durch. Es kam zur Spaltung der Konservativen. Die Gruppe um Peel und William Gladstone stieß später zu den Liberalen, die in den fünfziger Jahren politisch dominierten (Russell, Palmerston). Angesichts des sich beschleunigenden sozialen Wandels kam es um 1860 zu neuen Debatten über eine Reform des politischen Systems. Die beiden großen Parteien formierten sich neu und versuchten, sich auf die Erfordernisse der neuen Gesellschaft einzustellen. Aus den Anhängern Peels, den radikalen Reformern (Bright, Mill) und den alten Whigs bildete sich zu Beginn der sechziger Jahre eine neue liberale Partei, in der die aristokratischen Kräfte gegenüber den aufstrebenden bürgerlichen Kräften deutlich an Einfluss verloren. Nach einer trotz der Wahlrechtsdebatte politisch noch relativ ruhigen ersten Hälfte der sechziger Jahre nahm der Reformdruck seit 1866 schlagartig zu. Auch die politischen Ereignisse im Ausland – der amerikanische Bürgerkrieg, der Polenaufstand von 1863 und die italienische Einigung – verstärkten die Debatten und den innerbritischen Politisierungsprozess. Die Wahlrechtsreform von 1867: Die Wahlrechtsoffensive wurde durch den neuen starken Mann der Liberalen eröffnet, durch William Gladstone, den Schatzkanzler der amtierenden Regierung Palmerston. Nach dem Tod von Palmerston wurde Lord John Russell 1865 neuer Premier. Gladstone blieb Schatzkanzler und legte im März 1866 einen Gesetzentwurf zur Wahlrechtsreform vor. Er sah die Ausweitung des Wahlrechts, nicht aber das allgemeine gleiche Wahlrecht vor. In den folgenden Monaten gab es intensive Debatten und wechselnde Parlamentsmehrheiten durch ganz neue Koalitionen, denn auch die Konservativen beteiligten sich nun aktiv an den Planspielen um die Wahlrechtserweiterung. Benjamin Disraeli, der kommende Mann der Konservativen, verbündete sich mit radikalen Liberalen gegen Gladstone. Ein Teil der Liberalen lehnte die Wahlrechtsreform ab, sodass die Liberalen keine eigene Mehrheit besaßen. Demgegenüber hielt Disraeli seine Konservativen in der Wahlrechtsfrage zusammen. Am Ende trieben sich die Kontrahenten Disraeli und Gladstone unter dem Druck der öffentlichen Meinung gegenseitig zu einer Reform, die in Bezug auf die Ausweitung des Wahlrechts weit über das hinausging, was beide ursprünglich wollten. Im Mai 1867 kam es zum Abschluss der zweiten Wahlrechtsreform. Die Zahl der Wähler stieg von etwa 1,4 auf über 2 Millionen. Damit blieb man noch weit vom allgemeinen gleichen Wahlrecht entfernt. Hinzu kamen beträchtliche Unterschiede zwischen den Regelungen in den Städten und denen auf dem Land. Die soziale Öffnung des Wahlrechts blieb in den ländlichen Regionen deutlich zurück. Erst die dritte Wahlrechtsreform des 19. Jahrhunderts beseitigte 1884 diese Ungleichheit. Die Durchsetzung des allgemeinen Männer-Wahlrechts erfolgte jedoch erst 1918. Zur Einführung des Frauenwahlrechts, über das schon 1867 diskutiert wurde, kam es sogar erst 1928. Trotz der Defizite unterstrich die Reform des Jahres 1867 erneut die Anpassungs- und Überlebenskraft des traditionsreichen englischen Systems. Politische Folgen der Wahlrechtsreform: Die Wahlrechtsdebatten und die Reform beschleunigten den Niedergang des bisherigen aristokratischen Systems. Sie ebneten den Weg zu einer stärker bürgerlich geprägten Politik. Sowohl die Liberalen als auch die Konservativen stellten sich auf die Erfordernisse der heraufziehenden Massendemokratie ein. Bei den 6 Konservativen wurde der Außenseiter Disraeli (getaufter Jude, sozialer Aufstieg aus kleinen Verhältnissen) zum wichtigsten Modernisierer. Disraeli hatte Erfolg, weil er eine konservative Politik betrieb, die zwar an bestimmten Grundlinien ausgerichtet war, aber die nötige Flexibilität besaß, um auch ganz neue Wege zur Machteroberung und -sicherung einzuschlagen. Dies setzte er später mit der Verbindung von Sozialreform und imperialistischer Politik weiter fort. 1868 wurde Disraeli kurze Zeit Premierminister. Bei den ersten Wahlen nach der neuen Reform kam es jedoch zum Wahlsieg der Liberalen unter Gladstone. Dieser regierte bis 1874, ehe ein konservativer Wahlerfolg Disraeli erneut zum Premier aufsteigen ließ. 1880 wurde er dann erneut durch Gladstone abgelöst. Großbritannien lief nicht nur wirtschaftlich, sondern auch mit seiner politischen Entwicklung dem Kontinent um einiges voraus. Es entwickelte von den großen Staaten als erstes ein parlamentarisches System mit modernen Parteiorganisationen, die den Erfordernissen der Massendemokratie gewachsen waren. Andererseits waren – gemessen an einem "idealen" demokratischen Modernisierungsmodell – auch noch Defizite zu verzeichnen. Es gab kein allgemeines gleiches Wahlrecht und auch keine moderne geschriebene Verfassung. Die britische Entwicklung war aufgrund der besonderen Voraussetzungen (pol. Tradition, Industrialisierung) auf dem Kontinent nicht einfach zu kopieren. Dennoch wirkte sie in vielfältiger Weise (politische Debatten, Vorbild von Parteien und anderen Organisationen) auch auf die dortigen Entwicklungen ein. V. Die Staaten des nördlichen Europas Die kleineren Staaten Europas waren im Zeitraum zwischen 1871 und 1914 von den gleichen inneren Entwicklungen betroffen wie die großen Mächte. Ein in unterschiedlichem Tempo verlaufender wirtschaftlicher Strukturwandel und die damit einhergehenden sozialen Veränderungen führten auch hier zur Transformation der politischen Systeme. Das durch die Kriegsniederlage von 1864 endgültig in die Reihe der kleineren Staaten getretene und noch sehr agrarisch geprägte Dänemark besaß seit 1849 zwar eine der liberalsten Verfassungen Europas. Aber erst um die Jahrhundertwende etablierte sich auf Druck der Mehrheit in der zweiten Kammer (bäuerliche und sozialdemokratische Opposition) ein neues System, das nun auf dem allgemeinen und geheimen Wahlrecht beruhte und die Abhängigkeit der Regierung von einer Parlamentsmehrheit klar festschrieb. In Schweden wurde 1866 die bisherige Ständeversammlung in ein modernes Parlament umgewandelt, die Wahlrechtsregelungen blieben bis 1909 noch weit hinter dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts zurück, und auch die Regierung war bis 1917 offiziell dem König und nicht dem Reichstag politisch verantwortlich. In der Verfassungspraxis setzte sich der Parlamentarismus allerdings bereits früher durch. Die Industrialisierung, die in Schweden intensiver war als in den anderen Ländern des Nordens, und das Bevölkerungswachstum sorgten auch in Skandinavien für soziale Krisen. Ihre Eskalation wurde jedoch durch zwei Faktoren verhindert. Zum einen durch einen langsamer verlaufenden wirtschaftlichen Strukturwandel, der mehr Zeit zur Anpassung ließ. Zum anderen durch eine verhältnismäßig große Auswanderung nach Nordamerika. Schweden und Norwegen hatten im 19. Jahrhundert nach Irland die höchsten Auswanderungsraten in Europa. Norwegen erlangte erst 1905 die internationale Anerkennung als souveränes Königreich (vorher Personalunion mit Schweden), hatte aber seit 1814 eine eigenständige Verfassung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Rechte des Storting gegenüber der Regierung ausgedehnt und das Wahlrecht in mehreren Schritten erweitert. 1907/1913 erhielten hier auch die Frauen das Wahlrecht. 7 VI. Die Benelux-Staaten und die Schweiz Der schnellere Industrialisierungsprozess dieser Staaten sowie Religions- und Sprachenkonflikte sorgten dafür, dass hier der Transformationsprozess konfliktreicher verlief. Das 1831 entstandene Königreich Belgien besaß von Anfang an eine Verfassung, die den Monarchen an die Mehrheit des Parlaments band. Der Wahlzensus war allerdings sehr hoch und wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts nur allmählich abgesenkt. Schließlich kam es 1893 zu einem allgemeinen Wahlrecht, das aber nicht gleich war (Pluralwahlrecht). Wichtigste politische Gruppen waren die zunächst dominierenden Liberalen, der an Einfluss gewinnende politische Katholizismus und die Arbeiterbewegung. In den Niederlanden setzte sich 1848 ohne Revolution das parlamentarische System durch, das lange vom Liberalismus bestimmt wurde. Das zunächst hohe Zensuswahlrecht wurde in der Folgezeit nur langsam abgeschwächt. 1913 waren erst knapp 70% der erwachsenen Männer wahlberechtigt. Zum allgemeinen Wahlrecht kam es erst 1917. Die sozialen Konflikte wurden in den Niederlanden zunächst teilweise recht brutal niedergeschlagen, ehe man dann auch hier den Weg in eine moderne Arbeits- und Sozialgesetzgebung einschlug. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in Luxemburg, das seit 1867 ein eigenständiger Staat war. Die Schweiz war im 19. Jahrhundert eine der wenigen europäischen Republiken. Sie behielt die 1848 geschaffene bundesstaatliche Ordnung bei und damit auch das damals durchgesetzte allgemeine Männerwahlrecht. Die Schweizer Innenpolitik blieb auch nach 1848 nicht frei von Konflikten – das zeigte sich z. B. im Kulturkampf und den mit der Industrialisierung einsetzenden „Klassenkämpfen“. Am Ende aber reagierte das System flexibel genug, um schwerste Krisen zu verhindern. VII. Die südeuropäischen Staaten Obwohl hier die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungsprozesse weit weniger dynamisch verliefen als in der Mitte und im Westen Europas, war das politische System im 19. Jahrhundert häufiger und teilweise auch schwereren Konflikten ausgesetzt. Das galt für das 1830 geschaffene Königreich Griechenland, in dem 1862 der regierende Monarch Otto I. (Haus Wittelsbach) gestürzt und durch König Georg I. ersetzt wurde, ebenso wie für die Staaten der iberischen Halbinsel. Ökonomische Rückständigkeit, marode Staatsfinanzen, eine noch sehr traditionale Gesellschaft und Analphabetenraten standen einer raschen Anpassung an die politischen Strukturen West-, Nord- und Mitteleuropas entgegen. In Griechenland, Spanien und Portugal spielte das Militär häufig eine wichtige Rolle bei den innenpolitischen Veränderungen. In Spanien wurde 1868 die Königin Isabella vom Militär abgesetzt. Spanien war zeitweise Republik, kehrte aber 1874 zum System einer konstitutionellen Monarchie zurück. Das Wahlrecht blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein auf eine mit zwei Parteien agierende schmale Schicht begrenzt. Ein modernes politisches System hat sich in dem wirtschaftlich zurückgebliebenen Land nicht entwickeln können. Das Gleiche galt für Portugal, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine konstitutionelle Monarchie auf der Grundlage eines Zensuswahlrechts besaß, 1910 aber nach einem Militärputsch Republik wurde. Während in Deutschland die politische Verfassung den sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen hinterherzuhinken schien, lief in den südeuropäischen Staaten die Modernisierung des politischen Systems unter Führung gebildeter und progressiver Teile der Oberschicht und der Militärs den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen häufig weit voraus. Damit aber waren das Scheitern moderner Verfassungen und Politikansätze sowie schwere innere Krisen vorprogrammiert. Spanien und Portugal verloren infolge ihrer Rückständigkeit und innerer Krisen auch außenpolitisch weiter an Boden. 8 Italien: Die zeitgleich verlaufenden italienischen und deutschen Einigungsprozesse sind oft miteinander verglichen worden. Neben Gemeinsamkeiten (Einigung durch Kriege, Führungsrolle Preußens und Piemont-Sardiniens, Bismarck und Cavour, Kompromiss mit bürgerlichen Kräften) gab es auch Unterschiede: Zum einen hatte die republikanische Linke im italienischen Einigungsprozess selbst entscheidende Akzente gesetzt (Garibaldi). Zum anderen war die politische Einigung Italiens stärker als die deutsche, die sich auf einen in Jahrzehnten gewachsenen Unterbau stützen konnte, das Programm einer kulturellen Elite, die mit ihren Vorstellungen der wirtschaftlichen und sozialen Realität ein ganzes Stück vorauseilte. Die innere Nationsbildung war noch nicht so weit vorangeschritten wie in Deutschland. Das ökonomische und soziokulturelle Gefälle innerhalb des neuen Staates war in Italien weit größer (Nord-Süd-Gefälle). Dies und die anhaltenden Auseinandersetzungen mit dem politisch entmachteten Papsttum waren der Hintergrund für einen zentralistischen Staatsaufbau, der allerdings im Süden durch die Kompromisse mit den regionalen Eliten wieder durchlöchert wurde. Italien war wie das Kaiserreich eine konstitutionelle Monarchie mit starker Stellung des Herrschers. Die Minister waren dem König verantwortlich. Dieser besaß auch das Recht, das Abgeordnetenhaus aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. In Italien schaffte es das Parlament aber im Laufe der Zeit, die eigene Position im politischen Prozess gegenüber dem Herrscher deutlich auszubauen und ein parlamentarisches System zu etablieren. Das Wahlrecht war allerdings an einen hohen Zensus und die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben gebunden. Bis 1882 konnten in Italien nur etwa 8% der erwachsenen Männer wählen, danach waren es 30%. Der Ausschluss der unteren Schichten und das päpstliche Verbot, sich als Katholik auf der nationalen Ebene politische zu betätigen, führten zu einem Zweiparteiensystem. Die Rechte war die Partei der piemontesischen Eliten, die zunächst vom Prestige ihrer erfolgreichen Einigungspolitik profitierte. Sie bekannte sich zum Reformprogramm eines gemäßigten Liberalismus. Die Politik lief bis 1876 in den von Cavour (1861 gestorben) geebneten Bahnen. Die innenpolitische Wende brachte dann die Linke an die Macht, die sich auch als liberale Partei verstand, sich aber stärker aus dem mittleren Bürgertum und aus dem Süden rekrutierte und Reformen entschiedener vorantrieb (Wahlrecht, Bildungssystem). Die Politik in Italien war damit lange Zeit Sache einer in zwei Parteien gespaltenen oligarchischen Herrschaftselite. Mit der Wahlrechtsreform der frühen achtziger Jahre und dem sich nun deutlicher abzeichnenden wirtschaftlichen Wandel begannen sich dann in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aber neue Kräfte zu formieren, die die bisherigen Herrschaftsstrukturen in Frage stellten. Der seit 1887 amtierende Ministerpräsident Crispi versuchte es mit innenpolitischen Reformen (Gesundheitswesen, Bildung), einem autoritären Regierungsstil und dem Streben nach außenpolitischen Erfolgen. Unter Crispi wandelte sich der bisher vorrangig emanzipatorische Nationalismus in einen integralen Nationalismus (Sammlung der nationalen Kräfte, Nationaldenkmal in Rom, imperialistische Politik). Nach außenpolitischen Niederlagen war dieses System nicht mehr zu halten. Unter dem Ministerpräsidenten Giolitti begannen verstärkte Bemühungen, bisher ausgegrenzte Teile der Gesellschaft in das politische System zu integrieren. 1912 wurde das Wahlrecht für alle Männer über 30 eingeführt. Jüngere durften wählen, wenn sie Wehrdienst geleistet hatten. Damit hatte Italien nach vielen Jahrzehnten den Übergang vom oligarchischen zu einem demokratischen Parlamentarismus geschafft. Angesichts der tiefen Spaltungen, die die italienische Gesellschaft durchzogen, erwies sich aber auch das neue System letztlich als wenig stabil. 9