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Prof. Dr. S. Weigelin-Schwiedrzik
Sommersemester 2000
Vorlesung: Einführung in die chinesische
Geschichte des 20.Jahrhunderts
Teil VII: Die Ausrichtungsbewegung in Yan’an und die Erschaffung der Mao-Zedong-Ideen
( (1937-1945)
Die Lösung, welche die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) in den Jahren 1937 bis 1945 in
Vorbereitung auf die Machtübernahme und in Hinblick auf die Gefahr der regionalen und
politischen Zersplitterung der Partei fand, war die ideologische Vereinheitlichung. Die Partei
gab sich in Erfüllung der selbst gestellten Aufgabe, den Marxismus-Leninismus an die
chinesischen Verhältnisse anzupassen, eine einheitliche Ideologie, die sich auf die Bereiche
Philosophie, Geschichte, Politik, Literatur, Militär und Organisation erstreckte und auf dem
7.Parteitag im Jahr 1945 als „leitende Idee“ ( in den Parteistatuten ihre
Verankerung fand.
Die zur „leitenden Idee“ erhobene Ideologie der KPCh trägt den Namen des Führers der Partei,
der vom 7.Parteitag an bis zu seinem Lebensende im Jahr 1976 die Partei leiten und
beherrschen sollte. Mao Zedong, der schon 1921 der Partei beigetreten war, hatte zunächst
keine herausragende Stellung in der Partei eingenommen. Im Gegenteil, seine Positionen waren
zeitweise so umstritten, daß ihm der Parteiausschluß drohte. Doch konnte er mit seiner auf die
bäuerliche Bevölkerung konzentrierten Politik und seiner Fähigkeit zur Verankerung der Partei
auf dem Land sowie zur Führung der Armee besonders seit dem Langen Marsch immer mehr
Einfluß auf die Parteiführung gewinnen. Bereits auf der Konferenz von Zunyi im Jahr 1935
wurde er in die oberste Parteiführung gewählt. Die Entstehung oder Kanonisierung der
Mao-Zedong-Ideen in den Jahren zwischen 1937 und 1945 ist somit engsten mit Maos
Machtübernahme innerhalb der Parteiführung und innerhalb der Partei verbunden, sie ist Teil
des innerparteilichen „Linienkampfes“ und zugleich der Ausrichtung der Parteimitglieder auf
eine einheitliche Denkweise als wichtigste Voraussetzung dafür, daß Yan‘an, nachdem es zum
Zentrum der Partei auserkoren worden war, die Partei auch ohne die üblicherweise dafür
notwendigen Kommunikationsmittel beherrschen konnte.
7.1 Die philosophische Grundlage der Mao-Zedong-.Ideen
Die philosophische Grundlage der Mao-Zedong-Ideen wurde mit der Abfassung zweier
Schriften gelegt, die Mao Zedong im Jahr 1937 vorlegte. Es handelt sich um die Schriften
„Über die Praxis“ ( und „Über den Widerspruch“ (), die
in ihrer kanonisierten Form Eingang in die „Ausgewählten Werke Mao Zedongs“
() gefunden haben, die ab Ende der fünfziger Jahre nach
gründlicher Überarbeitung der Urschriften sukzessive in der VR China veröffentlicht wurden.
7.1.1 „Über die Praxis“1
Vgl. hierzu: Mao Zedong: “Shijianlun” (Über die Praxis). In: Mao Zedong Xuanji (MZDXJ) Bd. 1, S.259-273.
Deutsche Übersetzung in: Mao Tse-Tung: Ausgewählte Werke (MTTAW) Bd. 1, S.347-364. Bei diesen
Versionen handelt es sich um nach 1949 überarbeitete und damit “kanonisierte” Versionen dieser Schrift. Sie
unterschieden sich von der Urfassung, die aber in der VR China nie offiziell veröffentlicht wurde. Die
Mao-Zedong-Ideen gelten als “Kristallisation der Weisheit der Partei“ und sollen deshalb nicht als Ausdruck der
individuellen Auffassungen Mao Zedongs verstanden werden. Dementsprechend werden sie auch nur in der Form
veröffentlicht, in der sie vom ZK der KPCh genehmigt wurden.
1
1
In der Schrift „Über die Praxis“ beschäftigt sich Mao Zedong mit einem Gebiet, das von den
„Klassikern“ des Marxismus-Leninismus bisher wenig bearbeitet worden war: die
Erkenntnistheorie. Mao Zedong entwickelt dabei die Vorstellung, jegliche Erkenntnis habe von
der Praxis auszugehen, sich dann auf das Niveau der Theorie zu begeben, um in einem letzten
Schritt wiederum in der Praxis überprüft zu werden. Entscheidend war für ihn dabei, daß keine
Erkenntnis von Bestand sein könnte, die nicht in der Praxis verwurzelt sei. In diesem Sinne
stellt die in „Über die Praxis“ vorgestellte Erkenntnistheorie zugleich eine Waffe gegen den
Anspruch der KOMINTERN dar, die Politik aller ihr unterstellten Kommunistischen
Parteien von Moskau aus bestimmen zu können. Die Übereinstimmung mit dem
Marxismus-Leninismus konnte nämlich nicht schon die Richtigkeit einer politischen Aussage
belegen. Es mußte vielmehr nachgewiesen werden, daß die Aussage in der Praxis des
jeweiligen Landes verwurzelt war, und die Aussage konnte nur dann Bestand haben, wenn sie
sich auch in der Praxis als richtig erwies. Dieser Erkenntnistheorie entsprechend mußte die
Strategie einer jeden in der KOMINTERN organisierten Partei in dem jeweiligen Land durch
die jeweils betroffene Kommunistische Partei festgelegt werden, denn nur sie hatte den Bezug
zu der Praxis der Revolution in dem jeweiligen Land.
Die Schrift „Über die Praxis“ ist auf die Weise zur philosophischen Begründung der
Mao-Zedong-Ideen avanciert. Die Definition der Mao-Zedong-Ideen lautet nämlich: Die
Mao-Zedong-Ideen sind die Verbindung der allgemeinen Prinzipien des
Marxismus-Leninismus mit der konkreten Praxis der Revolution in China. Die
Verbindung wird hergestellt, indem zunächst von den Erfordernissen der „revolutionären
Praxis“ ausgegangen wird, diese dann im Lichte der „Theorie“, sprich der allgemeinen
Prinzipien des Marxismus-Leninismus, systematisiert werden und zuletzt die im Zuge der
Systematisierung formulierte politische Strategie der Erprobung durch die Praxis der
Revolution in China ausgesetzt wird. Anfang und Ende der Erkenntniskette sind in China
angesiedelt, Ausgang und Ziel der derart gewonnenen Erkenntnis ist die Praxis.
Innerhalb des parteiinternen Kampfes stellt diese von Mao Zedong formulierte
Erkenntnistheorie einen Angriff auf die sogenannte Moskau hörige Fraktion um Wang
Ming dar. Wang Ming und die mit ihm aus der Sowjetunion zurückgekehrten 18 ½
Bolschewiki, wie sie parteiintern genannt wurden, versuchten nämlich die Tatsache, daß sie in
Moskau ausgebildet worden waren und von daher das beste Verständnis für die von der
KOMINTERN ausgegebenen Losungen hatten, gegen die während ihrer Abwesenheit in China
gewachsenen Strukturen und Linien in der Partei einzusetzen. Sie beriefen sich allenthalben
darauf, daß ihre politische Linie in Übereinstimmung mit den Weisungen der KOMINTERN
standen, und beanspruchten schon aus diesem Grunde die Vorherrschaft in der
innerparteilichen Strategiediskussion. Ihnen nun hielt Mao mit seiner Schrift „Über die Praxis“
entgegen, daß ihre Theorien den Lehrbüchern des Marxismus-Leninismus entstammten, daß sie
weit von der Praxis der chinesischen Revolution entfernt seien und der Erprobung durch die
Praxis der Revolution nicht standhielten. Die von ihnen immer wieder ins Feld geführte
Übereinstimmung mit den „allgemeinen Prinzipien des Marxismus-Leninismus“ konnte da nur
eine sekundäre Rolle spielen, sie konnte nur dann von Bedeutung sein, wenn sie einer
Anpassung an praktische Erfordernisse nicht im Wege stand.
In Bezug auf die Organisation der Partei stellten die Ausführungen Mao Zedongs zur
Erkenntnistheorie zugleich auch die Grundlage für die Formulierung der sogenannten
Massenlinie, mittels derer festgelegt wurde, auf welchem Wege die politische Strategie der
Partei formuliert werden sollte. Kurz formuliert heißt sie: Von den Massen, in die Massen
(), und das bedeutet: Der
Vorschlag für eine politische Maßnahme kommt von den Massen, das sind diejenigen, die am
dringendsten nach einer Lösung verlangen und am engsten mit dem zu lösenden Problem
verbunden sind. Sie übermitteln den Vorschlag an die jeweils zuständige Ebene der Partei,
welche aufgerufen ist, den Vorschlag zu überprüfen, zu systematisieren und in den Kontext des
2
Marxismus-Leninismus zu stellen. Zuletzt wird ein derart zur politischen Strategie avancierter
Vorschlag dann wieder an die Massen zurückgegeben, für die er dann, soweit Mitglieder der
Partei involviert sind, bindende Wirkung hat. Auch hier geht es wieder um drei Schritte: der
Vorschlag, der aus den Massen kommt, entspricht dem Praxiskriterium, die Einordnung in den
Kontext des Marxismus-Leninismus entspricht dem Theorieschritt, und die Rückgabe an die
Massen der Erprobung, welcher sich die politische Linie der Partei in der Praxis auszusetzen
hat.
Mit diesem Konzept wollte Mao Zedong dem durch die Moskau hörigen Mitglieder in der
Partei verbreiteten Dogmatismus und Kommanditismus entgegenwirken. Es sollte den unteren
Ebenen der Partei möglich sein, eigene Vorschläge einzubringen, aber sie sollten auch an die
Weisungen des Zentralkomitees letztlich gebunden sein, wenn dieses eine politische Linie
formuliert und ausgegeben hatte. Das Zentralkomitee wiederum war aufgerufen, seine Politik
nicht losgelöst „von den Massen“ zu formulieren, sondern auf die unteren Ebenen, die mit der
Praxis enger verbunden waren, zu hören. Auf die Weise sollte die enge Verbundenheit mit den
Problemen vor Ort genauso garantiert werden wie die uneingeschränkte Autorität der
Leitungsebenen gegenüber den Parteimitgliedern an der Basis.
Mao Zedong erklärte diesen Zusammenhang von philosophischer Grundhaltung, Denkweise
und Arbeitsweise zum „Arbeitsstil“ () der Partei. Ihn wollte er auf allen Ebenen
durchsetzen und damit das Vertrauen in der Partei verbreiten, daß alle Beschlüsse der
übergeordneten Ebenen, auch wenn man deren Zustandekommen nicht im einzelnen
nachvollziehen konnte, auf diesem grundlegend richtigen Prinzip der Verbindung von Theorie
und Praxis und der engen Kommunikation mit den Massen beruhten und schon deshalb als
richtig anzusehen waren. Hatte sich diese Grundauffassung erst einmal in der Partei
durchgesetzt, konnte die Zentrale mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß ihre Beschlüsse
auch in den weit von ihr entfernten und damit unkontrollierbaren Parteiorganisationen Gehör
finden würden.
7.1.2 „Über den Widerspruch“2
Die Schrift „Über den Widerspruch“ ist Ausdruck der Sinisierung des historischen und
dialektischen Materialismus. Sie geht von der Grundthese aus, daß jedem Ding ein
Widerspruch innewohnt und daß die Existenz bzw. Entwicklung eines jeden Dings von der ihr
inhärenten Bewegung der Widersprüche abhinge. Damit ist für die Bewegung der Dinge immer
der innere Faktor von entscheidender Bedeutung, äußere Einflüsse können nur über die den
Dingen innewohnenden Widerspruchskonstellation ihre Wirkung ausüben. Die beiden Seiten
eines Widerspruches sind dabei in stetigem Kampf um die Vorherrschaft über die Entwicklung
des Dings begriffen. Immer hat eine Seite des Widerspruchs – die Hauptseite – die
Vorherrschaft über die andere – die Nebenseite. Doch kann es innerhalb des Positionskampfes
zwischen Haupt- und Nebenseite zu einem Austausch der Positionen kommen, so daß der Teil
des Widerspruchs, der bisher die Nebenseite darstellte, die Position der Hauptseite einnimmt,
während der, welcher bisher die Hauptseite beanspruchte, nun die Nebenseite bildet.
Mit dieser Interpretation der dialektischen Bewegung weicht Mao Zedong signifikant von den
in Europa zuletzt durch Hegel formulierten Grundgesetzen der Dialektik ab. Während Hegel
nämlich die dialektische Bewegung im Dreischritt vorsieht und dabei formuliert, These und
Antithese höben sich immer wieder zu einer Synthese auf, die ihrerseits wiederum in These und
Antithese auf neuer Stufe zerfallen könne, äußert sich Mao überhaupt nicht zur möglichen Synt
hese als einem dritten Schritt, der quasi in die neue Stufe der Entwicklung führt, sondern
reduziert die dialektische Bewegung auf ein Hin und Her zwischen zwei Polen, wobei erst
die „Lösung“ des Widerspruchs der Bewegung ein Ende setzen und damit eine neue
Widerspruchskonstellation herbeiführen kann.
Vgl. hierzu Mao Zedong: “Maodunlun” (Über den Widerspruch). In: MZDXJ Bd.1, S.274-312. Deutsch in
MTTAW Bd.1, S.365-408.
2
3
In einem komplizierten Prozeß nun, so Mao Zedong, koexistieren mehrere Widersprüche
gleichzeitig, wobei – wie gemerkt – jeder der gleichzeitig auftretenden Widersprüche
seinerseits über eine Haupt – und eine Nebenseite verfügt. Unter all den gleichzeitig
nebeneinander existierenden Widersprüchen ist aber immer einer der Hauptwiderspruch, was
bedeutet, daß dieser Hauptwiderspruch die übrigen Widersprüche in ihrer weiteren
Entwicklung maßgeblich mitbeeinflußt. Doch kann es hier zu einer ähnlichen Entwicklung wie
im Verhältnis von Haupt- und Nebenseite zu einander kommen. Der Hauptwiderspruch in einer
Phase der Entwicklung kann durch einen Widerspruch ersetzt werden, der in der vorherigen
Phase der Entwicklung nur einen Nebenplatz eingenommen hat.
Maos Darlegungen über den Widerspruch dienen ihm als Folie zur Erklärung der komplizierten
historischen Verhältnisse in China seit Mitte des 19.Jahrhunderts. So koexistieren die
nationalen und sozialen Widersprüche in China seit Mitte des 19.Jahrhunderts mit der Folge,
daß mal der Widerspruch „zwischen dem chinesischen Volk und dem Imperialismus“ als
nationaler Widerspruch den Hauptwiderspruch bildet, ein anderes Mal jedoch der
„Klassenwiderspruch“ zwischen Bourgeoisie und Großgrundbesitzer auf der einen,
Arbeitern und Bauern auf der anderen Seite in den Vordergrund tritt. Mithilfe einer
derartigen Erläuterung kann man dann auch den Mitgliedern der Partei erklären, warum die
KPCh mal auf eine Politik der Zusammenarbeit mit der Guomindang gesetzt hat und mal nicht,
es hängt alles von der Entwicklung des Hauptwiderspruches ab. Besonders deutlich und
zugleich erklärungsbedürftig wird dies, als die KPCh nach 10 Jahren des Bürgerkrieges gegen
die Guomindang angesichts des Krieges mit Japan erneut zur Einheitsfront mit der
Guomindang aufruft. Die Erklärung hierzu lautet nach den von Mao gemachten Ausführungen
über den Haupt- und den Nebenwiderspruch: In der Phase zwischen 1927 und 1937 stand im
Verhältnis des „Klassenwiderspruches“ zu den anderen Widersprüchen der
„Klassenwiderspruch“ im Vordergrund, er war der Hauptwiderspruch, und dem mußte die
Kommunistische Partei ihre Politik entgegensetzen; mit Beginn der japanischen Aggression
gegen China im Jahr 1931 gewinnt der ursprünglich auf den Nebenplatz verwiesene
Widerspruch zwischen „dem chinesischen Volk und dem Imperialismus“ immer mehr an
Prominenz, bis mit dem Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke im Jahr 1937 schließlich der
Punkt erreicht ist, an dem der nationale Widerspruch die Vorherrschaft über den
„Klassenwiderspruch“ erlangt. Dementsprechend mußte sich auch die Politik der KPCh
ändern, sie mußte von einer Politik der Bekämpfung der Guomindang umschwenken zu einer
Politik der Einheitsfront mit der Guomindang gegen die japanischen „Imperialisten“.
Die Bestimmung des „Hauptwiderspruches“ sollte damit die Grundlage für die Festlegung der
politischen Strategie der Partei sein. Nicht die KOMINTERN sollte bestimmen, was in China
zu geschehen hatte, aber auch nicht irgendein mehr oder minder prominentes Parteimitglied:
die Parteilinie sollte vielmehr auf der Erforschung der Situation in China basieren und
untrennbar mit der Bestimmung des Hauptwiderspruches verbunden sein. Wer diesen nicht zu
erkennen in der Lage war, mußte sich gefallen lassen, als Opportunist beschimpft zu werden.
War er dem Umschwung des Hauptwiderspruches voraus und trat etwa für die Bildung einer
Einheitsfront mit der Guomindang bereits ein, als der Hauptwiderspruch zu Japan noch nicht
deutlich hervorgetreten war, galt er als „Linksopportunist“; hinkte die Erkenntnis dem
„objektiven“ Lauf der Dinge hinterher, hielt man also am Bürgerkrieg immer noch fest, obwohl
der nationale Widerspruch bereits in den Vordergrund getreten war, so galt man als
„Rechtsopportunist“. Nur wer immer und zu jeder Zeit seine Politik an der „objektiven“
Bewegung der Widersprüche ausrichtete, war vor dem Opportunismus gefeit.
Im Zusammenhang der Sinisierung des Marxismus-Leninismus von besonderer Bedeutung
sind Maos Aussagen zur „Besonderheit“ der Widersprüche. Diese Kategorie führt er ein, um
deutlich zu machen, daß die Widersprüche zwar in dem Sinne „allgemein“ sind, daß sie überall
auftauchen; wichtiger wäre jedoch, so Mao, zu begreifen, daß sie immer in spezifischen
Formen auftreten, daß – um es spitzfindig zu formulieren – ihre Allgemeinheit in ihrer
4
Besonderheit besteht. Ganz offensichtlich richtet sich Mao mit dieser Argumentation wieder
sowohl gegen die Ansprüche der KOMINTERN als auch gegen die Argumentationsweise der
Moskau hörigen Genossen in der Parteiführung. Es kommt eben nicht darauf an, sich
„allgemein“ mit dem Marxismus-Leninismus auszukennen, ein Mitglied der Parteiführung
muß vielmehr in der Lage sein, die besondere Form, in der ein Widerspruch in einer
bestimmten Konstellation auftritt, wahrzunehmen und in die Strategiebildung einzubeziehen.
7.2 Ausführungen zur Geschichte
Neben den zahlreichen Beispielen aus der chinesischen Geschichte seit Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts, die Mao Zedong zur Plausibilisierung seiner philosophischen Ausführungen
anbringt, ist es vor allem seine Schrift „Die chinesische Revolution und die Kommunistische
Partei Chinas“3 ( ), in welcher er
auf der Grundlage der von ihm entwickelten philosophischen Grundprämissen eine
zusammenhängende Interpretation der chinesischen Geschichte seit Beginn der
Auseinandersetzung mit den ausländischen Mächten vorlegt. In ihr definiert Mao Zedong das
Stadium der historischen Entwicklung, in dem sich China seit Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts befindet, als „halb-kolonial und halbfeudal“, d.h. daß mehrere Widersprüche
koexistieren und die Situation erheblich verkomplizieren: auf der einen Seite herrscht der
Widerspruch zwischen dem chinesische Volk und dem Imperialismus als „nationaler
Widerspruch“; auf der anderen Seite herrschen sowohl Widersprüche zwischen den Bauern und
den Großgrundbesitzern quasi als Überbleibsel des Feudalismus als auch Widersprüche
zwischen den Arbeitern und der Bourgeoisie. Da der Imperialismus das Land nicht völlig
beherrscht, sondern es nur in unterschiedliche Einflußsphären aufteilen konnte, bezeichnet Mao
den Zustand als „halb-kolonial“, da im Innern der Kapitalismus sich bereits in den Städten
entwickelt hat, während auf dem Land immer noch die „feudale“ Ordnung herrscht, bezeichnet
er den Zustand als „halb-feudal“. Die von ihm in dieser Konstellation „ausgemachten“
Hauptfeinde sind der Imperialismus und die Grundherren, mit der Bourgeoisie hingegen muß
man, um den gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen, ein Bündnis eingehen, soweit diese
nicht mit dem Imperialismus kooperiert (Stichwort: Kompradoren-Bourgeoisie).
7.3 Ausführungen zur Politik
Dieser historischen Bestandsaufnahme entsprechend entwickelt Mao Zedong ein Modell,
wonach sich die Revolution in China in zwei Schritten zu vollziehen hat. Im Vergleich zu den
von Marx anvisierten gesellschaftlichen Voraussetzungen der sozialistischen Revolution ist
China noch nicht auf dem Entwicklungsniveau angelangt, das die Durchführung der Revolution
ermöglichte. Andererseits verfügt China aber bereits über eine einflußreiche Kommunistische
Partei. In dieser Konstellation sieht Mao Zedong zunächst eine Revolution „unter Führung der
Kommunistischen Partei“ vor, die einer bürgerlich-demokratischen Ordnung zum Durchbruch
verhilft, um dann, wenn die Bedingungen für den Sozialismus reif sind, diese Ordnung in eine
sozialistische zu überführen. Die bürgerliche Revolution unter Führung des Proletariats führt zu
einer „neu-demokratisch“ genannten Gesellschaft, in der die Kommunistische Partei mit der
Bourgeoisie kooperiert, sie aber zugleich auch so weit in ihren Möglichkeiten einschränkt, daß
es zur Herausbildung einer kapitalistischen Gesellschaft nach westlichem Vorbild gar nicht erst
kommt, sondern eine Art „domestizierter“ Kapitalismus die ökonomischen Voraussetzungen
für einen friedlichen Übergang zum Sozialismus schafft4.
Vgl. Mao Zedong: “Zhongguo geming yu zhongguo gongchandang” (Die chinesische Revolution und die
Kommunistische Partei Chinas). In: MZXJ Bd. 2, S.584-617, deutsch in MTTAW Bd. 2, S.353-388.
4
Vgl. hierzu Mao Zedong: “Xin minzhuzhuyilun” (Über die neue Demokratie). In: MZXJ Bd. 2, S. 623-670;
deutsch in: MTTAW, Bd. 2, S.395-450.
3
5
7.4 Ausführungen zur militärischen Strategie und Taktik
Im Zusammenhang der historischen und gesellschaftlichen Analyse entwickelte Mao Zedong
in seiner Schrift „Über den langwierigen Krieg“ 5die
Vorstellung, daß in Auseinandersetzung mit einem so mächtigen Feind wie Japan auf der
chinesischen Seite nur ein „langwieriger“ Krieg siegreich sein könnte, in dem überwiegend in
Form des Partisanenkrieges der Feind dort angegriffen wird, wo er schwach ist, um ihm da das
Feld zu überlassen, wo er unabweisbar in der Übermacht ist. In einer solchen
Auseinandersetzung könne man nicht auf schnellen Sieg setzen, sondern müsse sich auf einen
lang andauernden Kampf vorbereiten, in dem es darauf ankäme, den Gegner Schritt für Schritt
zu zermürben, um ihn letztlich in eine Entscheidungsschlacht zu treiben.
7.5 Die Ausrichtungsbewegung von Yan‘an
Nach der oben beschriebenen Grundlegung der Mao-Zedong-Ideen in den Bereichen
Philosophie, Geschichte, Politik und Militärstrategie wurden diese zum wesentlichen Inhalt der
Ausrichtungsbewegung der Jahre 1942-1943. Dabei war zentraler Gegenstand der
Ausrichtungsbewegung die Geschichte der KPCh in den Jahren seit ihrer Gründung,
insbesondere jedoch seit 1931.
Dementsprechend bestand die Ausrichtungsbewegung für die in Yan‘an ansässigen führenden
Kader der Partei im wesentlichen aus einer Diskussion über die Geschichte der KPCh, deren
Ziel es war, das Verständnis über Sieg und Niederlage, Erfolg und Mißerfolg in der Politik der
Partei zu vereinheitlichen. „Richtige“ und „falsche“ Linien sollten identifiziert, die Fehler als
„links-„ bzw. „rechtsopportunistisch“ klassifiziert werden. Jedes Mitglied der Parteiführung
wurde einer Überprüfung unterzogen, auf welcher Seite es in den jeweiligen „Linienkämpfen“
gestanden hat, nach Kritik und Selbstkritik erhielt es einen „angemessenen“ Platz in der
Hierarchie der Parteiführer, in der Mao Zedong an erster, Liu Shaoqi () an
zweiter Stelle stand.6
Neben der Vereinheitlichung des Parteizentrums erfüllte die Ausrichtungsbewegung auch den
Zweck, die Gesamtpartei auf die Linie Mao Zedongs einzuschwören. Dementsprechend
wurden die vielen neu hinzugekommenen Parteimitglieder , die sich durch die feindlichen
Linien hindurch nach Yan‘an durchgeschlagen hatten, ebenfalls einer Schulung unterworfen.
Dabei ging es darum, in Abgrenzung von der vorher geübten Praxis im Sinne der „Massenlinie“
und des „demokratischen Arbeitsstils“ der Partei ein Mehr an Diskussion zuzulassen, auf der
anderen Seite jedoch auch auf Disziplin und Unterordnung zu beharren, um dem für die Partei
der zwanziger und dreißiger Jahre charakteristischen „Linienkampf“ auf der Grundlage
politischer und regionaler Streitigkeiten ein Ende zu setzen. Dementsprechend bediente sich die
Ausrichtungsbewegung zweier Methoden zur Durchsetzung der Mao-Zedong-Ideen: Zum
einen bediente man sich des Mittels der Überzeugung und Diskussion, von Kritik und
Selbstkritik, zum anderen der Methode des Zwangs und der Ausgrenzung. Während Mao mit
seiner Person eher für die ersten Vorgehensweise stand, setzte man Kang Sheng als für den
parteiinternen Sicherheitsdienst zuständig mit der zweiten Methode gleich. Letztere führte zu
einer Welle der Gewalt gegen Parteimitglieder, zu Inhaftierungen und Ermordungen, die von
Vgl. hierzu Mao Zedong: “Lun chijiu zhan” (Über den lanwierigen Krieg). In: MZXJ Bd. 2, S.407-484; deutsch
in:MTTAW, Bd. 2, S.127-228.
6
Vgl. hierzu: Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Parteigeschichtsschreibung in der Volksrepublik China. Typen,
Methoden, Themen und Funktionen. Wiesbaden 1984. Zur Bedeutung des Studiums der Parteigeschichte während
der Ausrichtungsbewegung insbesondere: Saich, Tony: Writing or Rewriting History? The Construction of the
Maoist Resolution on Party History. In: Tony Saich und Hans v.d.Ven (eds.): New Perspectives on the Chinese
Communist Revolution. Armonk (Sharpe) 1995, S.299-338.
5
6
Mao später als Exzesse gerügt wurden und für die er sich gezwungen sah, sich mehrfach vor
den Mitgliedern der Partei zu entschuldigen7.
Schließlich wurde die Ausrichtungsbewegung auch zum Anlaß genommen, das Verhältnis der
KPCh zu den Intellektuellen des Landes zu definieren. Die Intellektuellen, die seit Beginn des
antijapanischen Krieges in großen Zahlen nach Yan'an gekommen waren, bekamen die
Funktion zugeordnet, als Bindeglied zwischen der Partei und den Massen zu fungieren und
durch ihre Loyalität zur Partei zu deren Autoritätsgewinn beizutragen. Zugleich sollten sie als
Propagandisten der Partei und als „Diener der Massen“ fungieren8. Exemplarisch formulierte
dies Mao Zedong in seiner Rede auf dem Forum über Literatur und Kunst in Yan‘an
()9.
Auf dem 7.Parteitag im Jahr 1945 hat Mao Zedong als Ergebnis von acht Jahren
innerparteilichen Kampfes und innerparteilicher Ausrichtung unangefochten die Führung der
Partei übernommen. Seinen wichtigsten Gegner, Wang Ming, der ihm zuvor aufgrund seiner
theoretischen Kompetenz und seiner engen Beziehungen zur KOMINTERN an Einfluß und
Macht übertroffen hatte, hatte er so weit in die Defensive gedrängt, daß dieser „aus
Krankheitsgründen“ am Parteitag nicht teilnehmen konnte und zuletzt nur deshalb in das
Zentralkomitee der Partei gewählt wurde, weil Mao eigenhändig die Delegierten des
Parteitages darum bat. Wang Mings Gefährte Bo Gu, der zusammen mit ihm im Kreuzfeuer der
Kritik gestanden hatte, leistete vor dem Parteitag eine „Selbstkritik“ und signalisierte damit
seine Unterwerfung unter die Linie Mao Zedongs. Liu Shaoqi, der als Vertreter der
sogenannten „weißen Gebiete“, also der städtischen Parteimitglieder, auch als Gegner Mao
Zedongs hätte auftreten können, hielt auf dem Parteitag die zentrale Rede, in der er begründete,
warum die Mao-Zedong-Ideen als leitende Ideen Bestandteil des Parteistatutes werden sollten.
Auch er sah keine andere Möglichkeit, als sich an die Spitze einer Bewegung zu setzen, in der
Mao Zedong in zunehmenden Maße Gegenstand des Personenkultes wurde und damit in
seinen Führungsqualitäten keiner Überprüfung im Diskurs mehr standzuhalten hatte.10
Mit der Entwicklung der Mao-Zedong-Ideen und deren Durchsetzung in der Partei sowie damit
einhergehend mit der Etablierung Yan‘ans als Zentrum der kommunistischen Bewegung in
China gelang es der KPCh, eine Lösung für das Problem der Heterogenität und Zersplitterung
zu finden, welche die Guomindang nicht aufzuweisen hatte. Sie rekurrierte damit auf die in
der Tradition der politischen Kultur in China verankerte Erfahrung, die gedankliche
bzw. ideologische Ausrichtung des Machtzentrums und der es umgebenden Kader an die
erste Stelle zu setzen und deren symbolischer Kraft mehr Beachtung zu schenken als real
nachvollziehbaren Maßnahmen der militärischen, wirtschaftlichen oder politischen
Unterwerfung. Im weiteren Verlauf der Geschichte der KPCh sollte sich die Ausrichtung der
Partei auf die Mao-Zedong-Ideen als eine effiziente Waffe im Kampf gegen die Guomindang
sowie in der Auseinandersetzung mit innerparteilichen Gegnern erweisen. Darüber hinaus
konnten die Erfahrungen bei der Ausrichtung der Partei und der in Yan‘an ansässigen
Intellektuellen nach der Eroberung der Macht genutzt werden, um - wieder mittels der
Parteigeschichte – die gesamte Bevölkerung der VR China unter die „leitenden Ideen“ des
Marxismus-Leninismus und der Mao-Zedong-Ideen zu stellen.11
Vgl. hierzu Frederick C. Teiwes und Warren Sun: From a Leninist to a Charismatic Party: The CCP’s Changing
Leadership, 1937-1945. In Tony Saich und Hand v.d.ven (eds). op. cit., S.339-387.
8
Vgl. hierzu Timothy Cheek: The Honorable Vocation: Intellectual Service in CCP Propaganda Institutions in
Jin-Cha-Ji, 1937-1945. In: Tony Saich und Hans v.d.Ven (eds.), op. cit., S.235-263.
9
Vgl. hierzu: Mao Zedong: “Zai Yan’an wenyi zuotanhui shang de jianghua” (Reden bei der Aussprache in
Yan’an über Literatur und Kunst). In: MZXJ, Bd.3, S.804-835; deutsch in MTTAW, Bd. 3, S.75-110.
10
Vgl. Frederick C. Teiwes und Warren Sun, op. cit. Auch: Weigelin-Schwiedrzik, Susanne: Mao-Zedong-Ideen
und Mao-Kult, in: Staiger, Brunhild (hg.): Länderbericht China. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft,
Kultur, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2000, S. 273-286.
11
Vgl. hierzu Susanne Weigelin-Schwiedrzik, op.cit.
7
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