Qualitative Systemwissenschaften Bakkalaureatsarbeit: Selbstorganisation und Energie in Systemen aus dem Studium der Umweltsystemwissenschaften vorgelegt von Huber Oliver 9811289 033 619 411 an der Karl-Franzens-Universität Graz bei Herrn Prof. Mag. Dr. Günther OSSIMITZ Graz, 09.06.2004 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver Seite 2 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen 1 Huber Oliver Prolog Wenn ich ehrlich bin, so habe ich eine ganze Weile nach dem ersten Satz zu dieser Arbeit gesucht, denn über ein Thema mit so einem Titel gibt es genug zu schreiben und obendrein erfordert es auch Mut. Energie und Selbstorganisation von Systemen. Da dieses Thema sehr umfangreich ist, habe ich es in zwei Bakkalaureatsarbeiten gesplittet. Der erste Part befasst sich mit der verbalen Erläuterung dieses Themas, hingegen erläutert die zweite Arbeit das Thema anhand von konkreten Beispielen – Fingerübungen - aus der Physik bzw. aus verschiedenen Naturwissenschaften. So aber nun ins Geschehen. Als Mensch – Teil der Natur – besitzt man die Fähigkeit durch seine Sinne, Vorgänge in der Natur zu erkennen. Wenn man Begebenheiten wie zum Beispiel Tag und Nacht, Sonnenauf- bzw. Untergang und die damit verbundenen Planetenbewegungen betrachtet, so scheint es, dass dem Regeln zugrunde liegen, damit dieser harmonisch-periodischer Wandel überhaupt stattfindet. Ein Mathematiker namens Henri Poincaré erkannte, bei Beobachtung der Planeten, dass schon ein System mit nur drei Himmelskörper nicht mehr exakt gelöst werden kann, sondern nur genähert, insofern dass dem idealen Zweikörperproblem ein Term angehängt wird, der die nichtlineare Komplexität (Rückkopplung) der Gleichungen vergrößerte und sich somit Planetenbahnen ergaben, die chaotisches Verhalten aufwiesen mit der Schlussfolgerung, dass das Sonnensystem möglicherweise aus den Fugen geraten könnte. Jedoch gibt es unzählige derartiger Vorgänge in der Natur, in dem Nichtvorhersehbares stattfindet und dies scheinbar keinen Regeln genügt. Als Menschen sind wir, vielleicht durch unsere Neugierde bestrebt, manchen Dingen auf den Grund zu gehen. Um also verschiedene Vorgänge zu verstehen schaffen wir uns oft Modelle, die durch gewisse definierte Regeln schlüssig sind. Wie solch Regeln aussehen könnten, dies weckt oft unser Interesse. Aber um überhaupt Regeln zu finden müssen wir vorerst wissen was wir beschreiben wollen. Wir beschränken uns deshalb immer auf einen gewissen Bereich von einer umfangreicheren Angelegenheit und beginnen eine Struktur für diesen, von uns ausgezeichneten Bereich zu finden, um Eigenschaften, Attribute und dergleichen, die der Beschreibung und vor allem dem Verständnis dienen, zuweisen zu können. Was ich sagen möchte ist, dass wir in der heutigen Zeit, sobald wir bewusst mit der Umwelt interagieren können - behaupte ich - einem Systemdenken unterliegen um Dinge verstehen zu können bzw. uns begreiflich zu machen. Seite 3 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver Gleichsam gibt es eben Unterteilungen in vielen Disziplinen des Alltags. Die Leitbegriffe dieser Arbeit - Energie und Selbstorganisation - sind uns im Sprachgebrauch wohlbekannt; eindeutig Wörter, die wir als Fremdwörter bezeichnen. Somit unterscheiden wir diese von anderen Wörtern unserer Sprache. Ich möchte dies nicht weiterführen, weil schon klar wird, dass sich hinter Wörtern und Sätzen der Oberbegriff Sprache verbirgt und so denken wir auch gleich an Regeln, hier quasi an die Grammatik. Schlussendlich nenne ich das Ganze was Sprache ausmacht Sprachgebilde und setze Gebilde in der Bedeutung gleich System. Somit ergibt sich, dass es zumindest in einem System Regeln geben kann. Regeln dienen der Ordnung – mit Vorwand gesagt. Dies sollte nur als ad hoc Beispiel über die vielen Unterteilungen bzw. Strukturen dienen, die wir bekanntermaßen im Leben mitschleppen. Oft verwenden wir für Dinge respektive Objekte wie Bäume, Skulpturen, Felsen und dergleichen einen Ausdruck wie Gebilde. Ein Gebilde ist uns vertrauter und wirkt anschaulicher. Bei Anblick dieser Dinge erkennen wir eine Art Abgeschlossenheit. Es wirkt so, als wäre ein Baum ein autonomes bzw. selbstorganisiertes System. Man unterscheidet einen einzigen Baum von seiner Umgebung eindeutig. Nun folgern wir leise und aus freiem Gedanken, ohne jeglichen Beweis, dass ein System nun auch noch abgeschlossen ist. Wenn man aber mehr über das System Baum weiß, so erkennt man, dass es Wechselwirkungen mit der Umwelt seitens des Baumes gibt und somit einen Energieaustausch. Beispielsweise besitzen Pflanzen nicht die Fähigkeit Stickstoff aus der Luft zu binden, sondern wechselwirken mit Mikroorganismen, welche diese Aufgabe für die Pflanzen übernehmen. Wenn wir uns umschauen oder aber auch umhören bemerken wir, dass wir Dinge, wenn wir sie untersuchen in verschiedenster Art aufteilen, kategorisieren können und somit vielleicht eine Hierarchie, eine Struktur bzw. ein Schema heraus finden zu können um es zu verstehen, dennoch kennen wir auch Systeme die wir nicht so gut beschreiben können, die aber oft auch Träger einer gewissen Ästhetik sind. Das man Schönheiten in Form von gewissen Strukturen erkennen kann. Wie diese entstehen, das ist Gegenstand der Theorie über die Selbstorganisation - diese hängt mit dem Wechsel zwischen Ordnung und Chaos zusammen. Oft hängt es von der Betrachtungsweise ab, von der Dimension ob ein System als in Ordnung (mit evtl. Ästhetik) oder in Unordnung empfunden wird. Als Chaos in Form von Rauch, oder als geordnete Struktur wie eine Bienenwabe. Als Anmerkung weise ich auf die Seite 4 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver Bedeutung der Phrasen: …bei näherer Betrachtung…“, und „…von weiter weg betrachtet…,“ welche wir aus unserer Umgangssprache kennen, hin. Eines ist jedoch klar, dass Begriffe wie Chaos und Ordnung und damit verbundenen Begriffe wie Selbstorganisation oder aber System in der Geschichte oft wieder zu finden sind und immer brisant sind und waren, weil wir so wie wir Dinge betrachten unser Denken auch folgernd einem System unterwerfen bzw. unser Gehirn ohnehin eine Systematik unterliegt, welche ebenso in dieses Gebiet passt. Eines der chaotischen Systeme ist eben unser Gehirn. Nirgedwo gibt es dort einen Dirigenten, der alles steuert, und doch laufen die Hirnfunktionen erstaunlich geordnet ab. Der Grund: Unser Gehirn ist keinesfalls diktatorisch, sondern quasi streng demokratisch aufgebaut, es organisiert sich selbst. Neuronen senden ständig Impulse und Botenstoffe aus, Nervenbahnen formen sich spontan und bilden Muster, die vorübergehend existieren, dann aber gleich wieder aufgelöst werden. Solch Beispiele gibt es zu genüge aus vielen Disziplinen und vielleicht ist es das, warum heutzutage so reges Interesse diesem Forschungsgebiet geschenkt wird. So beschäftigen sich die Weltreligionen in den Schöpfungsgeschichten damit, dass ganz am Anfang des Seins ein Übergang zwischen Chaos und Ordnung stattfand; die Theorie vom Urknall spricht von einer Teilchensuppe die allmählich in eine geordnete Struktur überging. Der Begriff Chaos bedeutete für die Menschen immer nur Unordnung, Elend und Gefahr. Aber die Wissenschaft entdeckte darin nicht nur Schrecken, sondern auch Schönheit und hofft natürlich statt heilloser Verwirrung die rätselhafte Handschrift des Lebens zu entschlüsseln. Um Dinge zu verstehen aber auch zu erklären bediente man sich immer Modellen, Experimenten und dergleichen. Die Menschheit wurde immer getrieben, so zeigt der sozialgeschichtliche Aspekt, widergespiegelt durch Mythologie und Religion, dieses System Erde, Mensch, Universum zu erklären. Ich meine, dass Modellen oft viel Phantasie zugrunde liegt und bringe das Wort Veranschaulichung hier mit vorigem in Berührung. Phantasie ist viel wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. Einstein, Albert, Mathematiker und Physiker (1879 - 1955), aus Spektrum der Wissenschaft – Biographie 4/1999 Es bedarf u.a. einer Strukturierung wie man so ein Thema aufbereitet, um es für den Leser optimal verständlich zu machen. Am ehesten kommt man zum Ziel, wenn man einzugrenzen beginnt und portioniert oder aber vereinheitlichen kann. Somit definieren wir ein abgeschlossenes System, welches sich von gleichartigen Systemen und seiner Umgebung abgrenzt, und sehen es als ausgezeichnet an. Seite 5 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver Wir abstrahieren Vorgänge oder Begebenheiten führen Verallgemeinerungen ein und schaffen so vereinfachte Konstrukte wie Modelle um das System in irgendeiner Weise zu beschreiben, sodass es durchaus zu anderen Denkansätzen durch Modelle und deren Weiterentwicklung kommen kann, die auch revolutionäre Auswirkungen haben können. Hier möchte ich beginnen den Begriff Energie einzuführen. Für mich veranschaulicht diesen Begriff die Physik am Deutlichsten. Vorerst möchte ich nur die Verallgemeinerung, dass Energie äquivalent der Masse mit einer Konstanten multipliziert ist – also E=mc2, anmerken und beifügen, dass diese absolut nicht zu leugnende revolutionäre Auswirkungen gehabt hatte. Sozusagen ist jegliche Materie auch Energie mit der Einschränkung, dass die Energie nur in gewissen Päckchen, also Quanten auftauchen kann. Energie im physikalischen Sinn kann aber auch in verschiedenen Formen auftreten. Ein Ausschnitt aus Einsteins Arbeit: Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig? – erschienen 1906 in den Annalen der Physik Abb. 1, aus Spektrum der Wissenschaft – Biographie 4/1999 Energie hat jedoch auch eine nicht physikalische Bedeutung. So werden Willenskraft, Beharrlichkeit, Ehrgeiz, Information u.a. ebenfalls oft mit dem Oberbegriff Energie betitelt. Nachstehend hoffe ich einen allgemeinen Überblick geben zu können und versuche, dass sich im Kopf des Lesers, am Ende der Arbeit ein schlüssiges Bild ergibt. 1.1 Frühe Vorstellungen über Ordnung und Chaos Ich möchte hier nun keine komplette und ausführliche Beschreibung aus der Welt der Mythologie und Religion geben, sondern nur kurz zeigen das schon sehr früh der Gedanke gehegt wurde, dass doch am Anfang allen Seins die Unordnung geherrscht haben muss. Schon in der Bibel beginnt alles mit dem anfänglichen Chaos, aus dem der Schöpfer den Kosmos schafft: "Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war wüst und wirr, und Finsternis lag über der Urflut ..." (Gen 1:1f) Seite 6 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver Diese chaotische Urflut, das "tohu wabohu" wie da im Urtext steht, meint Unordnung und Durcheinander schlechthin. Das griechische Wort "Chaos" heißt denn auch gähnender Schlund, Abgrund, klaffende Leere. Unter Chaos (von griech. cheinein „gähnen”) verstand man also den unermessliche Weltenraum am Anfang der Welt, Urgrund allen Seins sowie der ungeordnete, regellose Urzustand vor Erschaffung der Welt. Aus dem Chaos gingen zunächst die Erde (Gaia) hervor, zeitgleich der Eros (HESIOD, Theogonie, 115-124). Dann entstanden aus dem Chaos die Finsternis Erebos und die Nacht Nyx. Letztere soll in orphischer Vorstellung ein Ur-Ei ausgebrütet haben, das aus der Vermengung des Aither mit dem Chaos hervorgegangen war, den zwei Grundprinzipen, hier das ungeordnete, wilde Material, dort der reine, ordnende Geist. Bei Ovid waren es ein unbestimmter Gott und bessere Ordnung, die den Zwiespalt der in einem Gebilde unverbunden umherwabernden und einander widerstrebenden kalten und warmen, weichen und harten, trockenen und feuchten Massen aufhoben. Geschieden wurden bei diesem Akt Meer, Erde und Himmel, wobei die dichtere Luft noch vom feineren Äther getrennt wurde. Fortan war zuoberst der leichte Äther, darunter die Luft und unten die vom Wasser umströmte Erde, die zu einer großen Kugel geformt war und deren Täler von zahllosen Wasserläufen durchströmt sind (Metamorphosen I,5-43). Vorstellungen vom ungeordneten Urzustand sind sehr verbreitet. Chaos ähnelt darin beispielsweise wie bereits erwähnt dem hebräischen Tohuwabohu oder dem nordischen Ginnungagap. Eine in diesen Ideen von Schöpfung als Prozess des Ordnens liegender Anklang von Polarität wird bei der oben angerissenen orphischen Vorstellung deutlich gemacht. Als Wort oder Wortbestandteil ist Chaos geläufig. Auch Gas, dieser ungreifbare Aggregatzustand, rührt etymologisch hierher. Die spätere, geordnete Welt ist der Kosmos. Das Denken in der klassischen Antike „Abstraktionen sind nicht real – wirklich sind nur konkrete Dinge“, sind wir heute geneigt zu sagen. Ist der genetische Bauplan eines Menschen nicht real? „Das ist das einzig Reale“, hätte ein Grieche geantwortet, „denn er macht all diese Menschen zu dem, was wir Mensch nennen“, und hätte diesen Bauplan Idee genannt. Für das antike griechische Denken war nur das Konstante von Bedeutung. Menschen kamen und gingen, was sich jedoch nicht veränderte, war die Form des Menschen. Hinter dem Konkreten stand die Konstanz der ewigen Formen. Die griechischen VorSeite 7 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver Sokratiker suchten nach Verallgemeinerungen - was hinter all diesen Erscheinungen ist. So teilten sich hier ihre Meinungen, denn: Wasser, sagte Thales von Milet; Gegensätze, meinte Anaximander - die heutigen Physik würde dazu Symmetrie und Antisymmetrie sagen – Atome, behauptete Demokrit. Sie systematisierten also bereits. Der Schlüssel zum Verständnis des antiken griechischen Denkens, so würde ich sagen, ist der Gedanke, dass die Realität eingebaute Muster verbirgt - einfache, erkennbare und rationale Baupläne und Grundformen, über die sich die Wirklichkeit organisiert oder ordnet. 1.2 Ein Naturwissenschaftlicher Versuch über einen Entwurf der Natur Ich glaube, dass im 20. Jahrhundert in den Naturwissenschaften ein enormer Denkwandel stattgefunden hat. Dieser nimmt stark Bezug auf ein Systemdenken man erkennt Dinge als Objekte und erklärt Systeme als Summe von Objekten, die miteinander wechselwirken. Als Beispiel möchte ich natürlich die Physik anführen. Die klassische Mechanik, die zur Zeit Newtons ihren Höhepunkt fand, wurde zunehmend durch andere Theorien verdrängt. Sicher behält sie ihre Gültigkeit, jedoch beschränkt. Mit der Entwicklung der Quantentheorie begibt man sich in ein Gebiet, welches versucht die kleine Welt der Atome auf einfache Weise zu erklären. Das Werkzeug ist - wie immer in der Physik - die Mathematik. Dabei arbeitet man mit Matrizen (Strukturierte Anordnung von Zahlen in Zeilen und Spalten) als Operatoren, welche fähig sind, Transformationen von Vektoren durchzuführen um Eigenschaften von Elementarteilchen zu erhalten, die statistischer Natur sind und dann meist ganzzahligen Werten zugewiesen werden. Wobei diese Eigenschaften eben durch einfache Zahlen ausgedrückt werden. Betrachtet man das Wort Quantentheorie so erkennt man auch die Wortverwandtschaft mit Quantität, also eine messbare Menge. Quant meint also in der Physik ein Päckchen Energie, oder eine fixe Portion Energie bzw. geben die Quantenzustände eines Teilchens Aufschluss über dessen Energiezustand. Der Clou aber ist, ein Physiker gibt zB einem Elektron einen Bereich vor, indem es sich bewegen kann – legt somit also eine Messvorschrift fest. Er berechnet seinen Ort und entwirft auf diese Weise erst die Gestalt des Atoms und dann die aller Elemente, die das Periodensystem ausmachen. So kann man mit derartigen Quantenzahlen das Atom, aber auch Atombindungen darstellen. Der Wissenschaftler entwirft also die Natur in einer Weise. Er schafft ein Modell, welches gestützt durch eine Theorie, eine Veranschaulichung schafft – in unserem Fall hier Seite 8 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver die Teilchenphysik. Die Anfänge der Quantentheorie sind mittlerweile über hundert Jahre alt. Zu Beginn stand M. Mendelejeff, welcher verschiedene Ähnlichkeiten der Elemente erkannte und gruppierte daraufhin das Periodensystem der Elemente schuf. Aber nicht nur in der Physik gab es eine Wandlung im Denken. Die Biologie, besser gesagt die Gen- bzw. Mikrobiologie, die meiner Meinung nach jüngste Naturwissenschaft, scheint zu wiederholen was in der Atomphysik geschehen ist. Sie versucht ein vereinfachtes Modell für den Bauplan des Lebens zu „zaubern“. Hier möchte ich auf die zuvor kurz beschriebene möglichen revolutionären Auswirkungen von Theorien hinweisen, welche nicht immer positiver Natur sein können. So könnte man es als Sündenfall einer Wissenschaft sehen, wenn die Auswirkungen einer Theorie für den Menschen zerstörerische Folgen haben, wie es bei der Atombombe war bzw. wie so mancher durch die Gentechnik vermutet. Man könnte sagen, dass irgendwie Naturwissenschaftler durch ihr phantasievolles Vorstellungsvermögen vielmehr Künstler sind, als sie selbst oft ahnen. Fragen nach der Art, was ein Atom oder ein Gen ist, müssen also anders erklärt werden. Atome bzw. die Bestandteile wie Elektronen, Protonen und Neutronen existieren nicht als individuelle Objekte in der Raum-Zeit, sondern existieren durch die Wechselwirkung mit ihrer Umgebung und können durch statistische Beobachtungen erfasst werden. Sie besitzen keine Individualität bzw. Identität - das kommt gut durch den Welle- Teilchendualismus zum Ausdruck. Sie sind mathematisch erfassbar sowie physikalisch existent. Bei Genen ist es ähnlich. Sie könnte man als Moleküle, welche materieller Natur sind und aus den Bausteinen - Aminosäuren gebildet werden, bzw. aus reine Information, als Code die so einen immateriellen Charakter hat, verstanden werden. Ich meine, dass unsere bissherige Entwicklung stark davon abhängig ist, welche „Geheimnisse“ wir der Natur durch unsere nunmehr ganzheitlichen Beschreibungsmethoden entlocken konnten. Eine weitere passende abstrakte Wissenschaft ist die Informatik. Hier führte man eine neue Programmierweise und eine damit verbundene Denkweise ein. Bevor man im neuen Stil programmierte, lehnte man sich rein an ein funktionales, strukturiertes Schema – top down. Dies ist so zu verstehen, dass man ausgehend von einem Hauptprogramm verschiedene Funktionen aufruft, an welche Parameter übergeben werden und je nach Funktion Werte zurückgegeben werden oder auch nicht. Wobei das Hauptprogramm nichts anderes ist als eine ausgezeichnete Funktion. Das Programm ist also beendet, wenn der letzte auszuführende Schritt im Hauptprogramm ausgeführt worden ist. Die Seite 9 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver aktuelle Programmierform nennt man, bezeichnend dafür – Objektorientierte Programmierung. Diese Form trifft genau den Punkt. Man konstruiert Objekte, welche als eigenständig anzusehen sind. Diese Objekte besitzen Funktionen – hier werden sie Methoden genannt - welche durch sich selbst, aber auch durch andere Objekte ausgelöst werden können. Durch diese Art zu Programmieren ergibt sich die Möglichkeit der Verallgemeinerung in dem Sinne, dass man Metaobjekte kreiert, welche als Archetypen anderer Objekte zu sehen sind. Aus diesen Metaobjekten kann man neue Objekte mit den Eigenschaften und Methoden des Metaobjektes bilden. Sozusagen bietet diese Programmierung die Möglichkeit der Vererbung von Methoden und Eigenschaften eines Metaobjektes plus zusätzliche die Eventualität der Zuweisung von spezifischen Methoden. In der Planung – OOD (object oriented design), vorab der Programmierung verwendet man häufig Tools wie UML (unified modelling language) bzw. ERD (entity relationship diagram) welche Objektbeziehungen und Objektdefinitionen und den Sinn dieser Programmierung deutlich machen. Die Informatik ist ohnehin in unserer Zeit eine der dominierensten Wissenschaften. Durch den Einsatz des Computers können heutzutage viele komplexe Erscheinungen simuliert werden. Beispielsweise bedient man sich bei der Analyse komplexer Systeme oft der Automatentheorie. Es gibt wahrscheinlich noch mehrere oder bessere Beispiele in den Naturwissenschaften um diesen Wandel zu erklären. In vielen Bereichen der Wissenschaft kann man aber inzwischen weder bestimmen noch entscheiden und erst recht nicht mehr vorhersagen, wie sich Dinge entwickeln. In der Physik ist dies zweifelsohne die Entdeckung Heisenbergs: Die Unschärferelation. Sie manifestiert die Unbestimmtheit eines Teilchens bezüglich seines Ortes, sobald man seine Geschwindigkeit misst bzw. umgekehrt. In der Mathematik zeigte Kurt Gödel, dass sich in einem logischen System, das auf einer Reihe von Axiomen beruht, Sätze formulieren und Behauptungen aufstellen lassen, die innerhalb des gegebenen Rahmens weder bewiesen noch widerlegt werden können. Sie bleiben schlicht und einfach unentscheidbar. Seite 10 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver Hommage à Gödel Münchhausens Theorem, Pferd, Sumpf und Schopf, ist bezaubernd, aber vergiß nicht: Münchhausen war ein Lügner. Gödels Theorem wirkt auf den ersten Blick etwas unscheinbar, doch bedenk: Gödel hat recht. „In jedem genügend reichhaltigen System lassen sich Sätze formulieren, die innerhalb des Systems weder beweis- noch widerlegbar sind, es sei denn das System wäre selber inkonsistent.“ Du kannst deine eigene Sprache in deiner eigenen Sprache beschreiben: aber nicht ganz. Du kannst dein eigenes Gehirn Mit deinem eignen Gehirn erforschen, aber nicht ganz. Usw. Um sich zu rechtfertigen Muß jedes denkbare System sich transzendieren, d.h. zerstören. „Genügend reichhaltig“ oder nicht: Widerspruchsfreiheit ist eine Mangelerscheinung oder ein Widerspruch. (Gewissheit = Inkonsistenz.) Jeder denkbare Reiter, also auch Münchhausen, also auch du bist ein Subsystem eines genügend reichhaltigen Sumpfes. Und ein Subsystem dieses Subsystems ist der eigene Schopf, dieses Hebezeug für Reformisten und Lügner. In jedem genügend reichhaltigen System, also auch in diesem Sumpf hier, lassen sich Sätze formulieren, die innerhalb des Systems weder beweis- noch widerlegbar sind. Diese Sätze nimm in die Hand und zieh! Aus: „Die Elixiere der Wissenschaft – Seitenblicke in Poesie und Prosa“, Hans Magnus Enzensberger Seite 11 von 20 Aber Kurt Gödel war zweifelsohne nicht der alleinige Grübler. Ein Herr namens Turing konstruierte zunächst gedanklich eine Maschine - Turing-Maschine – die Rechenschritt für Rechenschritt konkret gestellte Aufgaben lösen konnte. Anschließend bewies er, dass sich nicht entscheiden lässt, ob diese Maschine jemals an ein Ende kommt und fertig wird. Ein anderwärtige Fragestellung wäre, ob es nur wenige oder unendlich viele Formen von Unendlichkeit gibt. Bekannt sind mir zwei Formen, die als „abzählbar unendlich“ – Unendlichkeit der natürlichen Zahlen – bzw. „überabzählbar unendlich“ – Unendlichkeit aller anderen Zahlen inklusive die der irrationalen. So gibt es verschiedene Varianten abhängt. Ein Mathematiker namens Cantor entwickelte ein Zählverfahren, welches zeigen konnte, dass es mehr irrationale als natürliche Zahlen gibt. Als eine Art Krönung der Unvorhersagbarkeit entwickelte die Physik eine neue Theorie, die Chaostheorie. Sie demonstriert die Unfähigkeit von Voraussagen aus dem Grund, weil durch das Auftreten von Nichtlinearitäten in Funktionen bei Iterationen beispielsweise anfängliche Ungenauigkeiten sich nicht verlieren, sondern dies zu einer Vervielfachung dieser Ungenauigkeiten führt. Beispiele aus dem Alltag sind Wetter- oder Börsenprognosen. Man stelle sich den Graphen eines Aktienkurses vor. Dieses Zickzackverhalten ist nicht vorhersehbar. Das Großartige in der Chaostheorie liegt darin, dass man beschreiben kann, nach welchen Regeln sich ein Übergang von einer klaren Ordnung in ein deterministisches Chaos vollzieht. Hier führt die Wissenschaft den Begriff von Szenarien ein. Sie kann man sich als Vermittler von Natur und Naturgesetzen vorstellen – entfalten also die Naturgesetze und schieben sich so zwischen Gesetzen und Wirklichkeit, so wie die Biochemie die Information der Gene entfaltet und sich zwischen Genen und Leben tut. Hier könnte man einen Vergleich zu den biochemischen Vorgängen in Zellen ziehen. Also Szenarien, welche zwischen Genen und dem Leben stehen und regeln, wie sich das entfaltet, was tatsächlich im genetischen Material vorliegt. In der Physik wären es somit Szenarien, die aus Atomen Moleküle und in weiterer Folge Materie formen. Das interessante dabei ist, das solche Vorgänge Strukturen durch Selbstorganisation hervorbringen. Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver 2 Selbstorganisation, Chaos und Energie aus systemwissenschaftlicher Sicht 2.1 Systemtheorien 2.1.1 Klassische Naturwissenschaftliche Theorien Der Übergang von der antiken zur klassischen Naturwissenschaft war durch die Einführung einer, auf mathematischen Begriffen der klassischen Mechanik beruhenden, Naturbeschreibung gekennzeichnet. Diese wissenschaftliche Revolution steht in engem Zusammenhang mit dem englischen Physiker und Mathematiker Isaac Newton (1643-1727). Er begründete eine “reversible und streng deterministische Betrachtungsweise des Wesens von Veränderungen” (Beisel, 1996, S.14.). Dieses deterministische Kausalitätsprinzip besagt, “dass auf unserer Welt jedes Ereignis auf eine Ursache in der Vergangenheit zurückgeführt werden kann und umgekehrt, jede Ursache hat eine genau bestimmte Wirkung in der Zukunft” (Seifritz, 1987, S.85). Gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen. Die Newtonsche Dynamik lässt demzufolge keinen Raum für Selbstorganisation bzw. Evolution. Eine Erweiterung der Newtonschen Dynamik erfolgte zu Beginn des 19. Jh. mit der Begründung der klassischen Thermodynamik. Die klassische Thermodynamik entwickelt Beziehungen zwischen den makroskopisch messbaren Zustandsgrößen geschlossener Systeme, die weder Energie noch Materie und Information mit ihrer Umgebung austauschen und nur durch die Nutzung innerer Energiereserven funktionieren. Die Qualität der im System befindlichen Energie wird durch die “Entropie” bestimmt, die als Maß für das Verhältnis von Ordnung und Unordnung in einem geschlossenen System gilt. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Entropie in einem geschlossenen System niemals abnehmen kann. Daraus folgt die Irreversibilität (Unumkehrbarkeit) von Prozessen und die Gerichtetheit zeitlicher Abläufe. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Entropie eines geschlossenen Systems nur solange zunehmen kann, bis das System sein sogenanntes thermodynamisches Gleichgewicht erreicht hat. In diesem Zustand gibt es keinen Energiefluss mehr. Die Systemkomponenten sind nunmehr nicht mehr zu unterscheiden. Systemevolution vollzieht sich in der klassischen Thermodynamik als Abfolge von Systemzuständen, die auf der Skala eines einzigen makroskopischen Systemparameters, der Entropie, angeordnet werden können (Beisel, 1996, S.16). Durch die Irreversibilität erreichter Systemzustände vollzieht sich die Evolution eines Systems von einem mehr geordneten energiereichen Zustand, zu zunehmender Homogenität und Unordnung, bis hin zum thermodynamischen Gleichgewicht. Die Entwicklung erfolgt in Richtung einer fortschreitenden Selbstdesorganisation. Systemevolution erscheint als unumkehrbarer Entwicklungsprozess. Daher ist die klassische Thermodynamik zur Beschreibung und Erklärung der Entwicklung des Menschen ebenso ungeeignet wie die Seite 13 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Newtonsche Dynamik, die durch das reduktionistische Selbstorganisation grundsätzlich in Abrede stellt. Huber Oliver Kausalitätsprinzip In Anlehnung an die klassische Thermodynamik entwickelte der Biologe Charles Darwin (1808-1882) die Theorie des “Survival of the Fittest”. Anhand zahlreicher Beobachtungen erkannte er, dass nur das Bessere, Lebenstüchtigere erhalten bleibt und seine fortschrittlichen Eigenschaften in der Vererbung an seine Nachkommen weitergibt. In der Natur vollzieht sich demnach ein ständiger Prozess aus Variabilität, Auslese und Vererbung. Systemevolution vollzieht sich, in Übereinstimmung mit der klassischen Thermodynamik, als ein irreversibler Entwicklungsprozess, mit dem Unterschied, dass Darwin die Entwicklung zu einer höheren Ordnung und Qualität in den Vordergrund stellt. Der Zeitvektor weist kontinuierlich aufwärts. Die Bedeutung der Theorie Darwins liegt in ihrer Ausrichtung auf Höherentwicklung und Zweckmäßigkeit. Er schuf damit entscheidende Grundlagen für die Entwicklung der Selbstorganisationsforschung. Der Widerspruch zwischen der klassischen Thermodynamik und ihrer Orientierung auf Gleichgewicht und Entropie in geschlossenen Systemen und die Evolutionstheorie Darwins, die eine Zunahme an Komplexität, Strukturiertheit und funktioneller Zweckmäßigkeit in der Natur feststellte, führte zur Entwicklung der traditionellen Systemtheorie. 2.1.2 Traditionelle Systemtheorien In den 40er Jahren begründete der Mathematiker Norbert die Kybernetik. Wiener arbeitete zusammen mit dem Ingenieur Bigelow an der Entwicklung automatischer Zielverfolgungsgeräte. Sie entdeckten einen Informationskreislauf mit negativer Rückkopplung. Negative Rückkopplung deshalb, weil Abweichungen ausgelöscht, korrigiert oder negiert werden. Darüber hinaus stellten sie fest, dass die negative Rückkopplung bei Maschinen und Organismen gleichartig wirkt. In kurzer Zeit entwickelte sich die Kybernetik zu einem interdisziplinären Wissenschaftszweig, deren Gegenstand die selbsttätige Steuerung und Regelung von Verhalten sowohl in maschinellen als auch in lebenden Systemen ist, die Merkmale wie Regelung, rückgekoppelte Informationsübertragung , -verarbeitung, -speicherung, Adaptation und Selbstorganisation aufweisen (Balgo, 1998, S.75). Es zeigte sich, dass der Informationskreislauf der negativen Rückkopplung (Feedback) zur Korrektur jeder Handlung erforderlich ist und auch das Nervensystem die Muskelbewegungen entsprechend der von den Sinnen über das Gehirn gemeldeten Wirkungen steuert. Dies bedeutete eine Abkehr von den reflextheoretischen Ansätzen in den Neurowissenschaften. Im Jahre 1954 gründete der Biologe Ludwig von Bertalanffy (1901-1972) die Gesellschaft für Allgemeine Systemforschung. Ihr Ziel war, die Kybernetik auf alle Systeme anzuwenden. Sie förderte die Entwicklung einer einheitlichen Terminologie und Methodologie für Phänomene der Selbstregelungstätigkeit offener Systeme. Seite 14 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver Bertalanffy war auch der erste, der die Ganzheitlichkeit und Offenheit biologischer Systeme hervorhob. Er prägte den Begriff der Äquifinalität, der die charakteristischen Ganzheitseigenschaften von Organismen aus ihrer physikalisch-energetischen Wechselwirkung mit ihrer Umwelt ableitet. Dabei gelingt die ständige Anpassung an neue Bedingungen der Umwelt durch die Ausbildung von sogenannten “Fließgleichgewichten”, die durch Austauschprozesse zwischen System und Umwelt entstehen (Balgo, 1998, S.68). Bertalanffy beschreibt die Aufgabe seiner Theorie “offener Systeme” folgendermaßen: “Unsere Aufgabe muß es vielmehr sein, die Lebewesen als Systeme besonderer Art von in dynamischer Wechselwirkung stehenden Elementen zu betrachten und die hier geltenden Systemgesetze zu ermitteln, welche die Ordnung aller Teile und Vorgänge untereinander beherrschen. Notwendig ist sowohl die Untersuchung der Teile und Vorgänge als auch der Beziehungen, in denen diese zueinander und zum Ganzen stehen.” (1937, S.12) Kybernetik und Allgemeine Systemtheorie beschäftigen sich mit offenen Systemen, die ständig freie Energie, Materie oder Information mit der Umwelt austauschen. Das Ziel besteht in der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung eines Fließgleichgewichts. Der Fokus liegt demzufolge auf der Stabilisierung von Systemzuständen. Die Erkenntnisse der Kybernetik und Allgemeine Systemtheorie hatten großen Einfluss auf zahlreiche Wissenschaftsdisziplinen. Vor allem auch auf die Bewegungswissenschaften, wo neue Erklärungen für die Regulation der Bewegungstätigkeit gefunden wurden. Hier sei nur auf die Abkehr vom Behaviorismus mit der Vorstellung von Reiz-Reaktions-Schemata, die Vorstellungen Bernsteins (1988), der die Existenz hybrider Steuerungs- und Regelungsprozesse und sich verändernder Anteile von Feedback- sowie FeedForward-Mechanismen bei der Bewegungskoordination annahm und das Konzept des sogenannten Wirkungs- oder Aktionsakzeptors von Annochin (1956) verwiesen. Ebenso sind die Closed-Loop-Theorie von Adams (1971) und die Schematheorie von Schmidt (1975) auf die kybernetische Denkweise zurückzuführen. In den 60er Jahren traf die einseitige Fokussierung auf die Stabilisierung von Systemzuständen zunehmend auf Kritik. Maruyama wies auf das Phänomen bestimmter Systeme hin, durch positive Rückkopplung ursprünglich geringfügige Abweichungen von einem Gleichgewichtszustand so zu verstärken, daß ein Veränderungsprozess und die Bildung neuer Strukturen des Systems einsetzen (Vgl. 1960, zit. N. Balgo, 1998, S.76f.). Damit wurde die Entstehung moderner Systemtheorien eingeleitet, die sich intensiver mit Wandel, Instabilität, (Selbst-) Verstärkung von Abweichungen, Emergenz neuer Eigenschaften, Flexibilität, innovativem Lernen, mit selbstreferenten, ihre Sollwerte in Grenzen selbst festlegenden Prozessen, Evolution und Koevolution befasste (Balgo, 1998, S. 77). Seite 15 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver 2.1.3 Moderne Systemtheorien Das wesentliche Merkmal moderner Systemtheorien ist die komplementäre Denkweise. Stabilität und Instabilität, Offenheit und Geschlossenheit, negative und positive Rückkopplung sind nunmehr integrale Bestandteile dynamischer Systeme, die nebeneinander bestehen und sich gegenseitig bedingen (Beisel, 1996, S.20). Die neue Sichtweise wurde von zahlreichen Wissenschaftlern aufgegriffen und zum neuen Paradigma stilisiert. Laszlo (1987) spricht ebenso wie Paslack (1991) vom Paradigma der Selbstorganisation. Maruyama (1963) favorisiert den Begriff der Kybernetik II und Probst (1987) spricht von innovativer Selbstorganisationsforschung. In unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen entstand eine Vielzahl von Konzepten, die die Selbstorganisation von Systemen in den Mittelpunkt rückten. Aus der Vielzahl sich entwickelnder Theorien können sieben grundlegende Selbstorganisationskonzepte hervorgehoben werden: Die Theorie dissipativer Strukturen des Chemikers Ilya Prigogine Die Synergetik des Physikers Hermann Haken Die Theorie autokatalytischer Hyperzyklen des Biochemikers Manfred Eigen Die Chaostheorie des Mathematikers Edward N. Lorenz sowie des Mathematikers und Begründers der “fraktalen Geometrie” Benoit Mandelbrot Die systemtheoretisch-kybernetischen Ansätze des Physikers Heinz von Foerster Die Theorie der Autopoiesie und Selbstreferentialität der Neurobiologen Humberto R. Maturana und Fransisco J. Varela Die Theorie des “elastischen” Ökosystems von P. Ehrlich, J. Lovelock, L. Margulis und C.S. Holling. Die formulierten Struktur- und Entwicklungsprinzipien aus den verschiedenen Wissenschaften erwiesen sich als äußerst kompatibel. Nordmann (1991, S.90) benennt daher folgende grundlegenden Aspekte einer Selbstorganisationstheorie im allgemeinsten Sinne: die Offenheit und Dynamik der Systeme, ihre Komplexe interne Regelung, die entscheidende Rolle der “Randbedingungen”, der irreversible Prozesscharakter ihrer Dynamik die dialektische Determiniertheit die systemische Eigenzeit sowie die Ordnung durch interne Strukturierung. Als Selbstorganisation können daher irreversible Prozesse in nichtlinearen dynamischen Systemen bezeichnet werden, “die durch das kooperative Wirken von Teilsystemen zu komplexeren Strukturen des Gesamtsystems führen” (Ebeling, W. zit.n. Nordmann, 1991, S.91). Der Begriff Selbstorganisation kennzeichnet darüber hinaus die spontane Erhöhung von Ordnung in einem Seite 16 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver System (Paslack, 1991). Spontan deshalb, weil zur Erhöhung der Ordnung kein Eingriff von “Außen” stattfindet, sondern Prozesse innerhalb des Systems selbst zur Ordnungserhöhung führen. Probst bezeichnet zusammenfassend “SelbstOrganisation” als ein Meta-Konzept für das Verstehen der Entstehung, Aufrechterhaltung und Entwicklung von Ordnungsmustern (1987, S.14). 2.2 Selbstorganisation Selbstorganisation ist das spontane Auftreten neuer Strukturen und neuer Verhaltensweisen in Systemen fern vom Gleichgewicht, die durch innere Rückkopplungsschleifen charakterisiert sind und mathematisch durch nichtlineare Gleichungen beschrieben werden. Die Selbstorganisation ist zum zentralen Begriff der systemischen Anschauung vom Leben geworden. Die Theorie der Selbstorganisation beschreibt, wie Systeme innerhalb des Bereichs bestimmter Anfangs- und Randbedingungen bestimmte Ordnungszustände einnehmen. Diese Prozesse sind zwar von außen anregbar, nicht jedoch intendierbar. Die Theorie der Selbstorganisation lässt sich sowohl auf physikalische, chemische und biologische Systeme als auch auf psychische und soziale Systeme anwenden. Selbstorganisation wird auch als Theorie der Ordnungsbildung nicht-linearer (dynamischer) Systeme ("Chaostheorie") bezeichnet. Kennzeichnend für diese Systeme ist, dass ihre Ordnungszustände nicht vorhersagbar sind, trotzdem entwickeln sie sich nicht beliebig ("deterministisches Chaos"). Mit Hilfe mathematischer nichtlinearer Gleichungen können nichtlineare Phänomene beschrieben werden. In nichtlinearen Systemen haben oft kleine Ursachen große Wirkungen ("Schmetterlingseffekt") Systeme können mit Hilfe zweier Ordnungszustände beschrieben werden: stabil/instabil. Diese Ordnungszustände können sich durch das unter- oder überschreiten bestimmter Grenzwerte ändern. Dadurch kann es zu Phasenübergängen kommen. Sogenannte Attraktoren regulieren Phasenübergänge und "bündeln" nichtlineare Systeme in einem "Phasenraum" (raum-zeitliches Kontinuum) bzw. In der biologischen System- und Erkenntnistheorie wird mit dem Begriff der Selbstorganisation die Möglichkeit lebender Wesen bezeichnet, sich in ihrer Struktur und Organisation selbst zu organisieren: Lebewesen sind unabhängig von ihrer Umwelt und fähig zu Autonomie. Systeme wählen also selbst aus, welche Perturbationen (Verwirrung, Störung) bzw. Energieeintrag aus der Umwelt Seite 17 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver gemäß der systemeigenen Struktur und Ordnung in das System mittels Strukturveränderungen integriert werden. Unter Selbstorganisation werden irreversible Prozesse verstanden, die durch systemimmanente Kräfte Ordnungsstrukturen hervorbringen. Über Rückkopplungseffekte können sich diese Strukturen verändern, ausdifferenzieren oder höher entwickeln. Das System befindet sich dabei fern vom thermodynamischen Gleichgewicht. Von evolutionärer Selbstorganisation wird gesprochen, wenn sich Prozesse der Selbstorganisation zyklisch verketten und sich so selbst eine Entwicklungsgeschichte bereiten. Die Welt mit ihren verschiedenen Gefügen ökologischer, ökonomischer oder soziokultureller Art kann wohl nur als ein komplexes dynamisches System verstanden werden. 2.3 Voraussetzungen für Selbstorganisation: Damit es überhaupt zur Selbstorganisation kommen kann müssen verschiedene Voraussetzungen vorhanden sein: nichtlineare Dynamik des Systems und interne Rückkopplungsmechanismen- 'Überkritische Distanz': Mindestdistanz des Systems vom thermodynamischen Gleichgewicht Offenheit: Austausch des Systems mit seiner Umgebung (stofflicher, materieller oder informeller Art) 2.4 Merkmale von Selbstorganisation: Dabei handelt es sich um Merkmale, die mit dem Funktionieren des Systems an sich in Verbindung stehen: Entropieexport: da höhere Ordnungen entstehen, fallen als Abfallprodukte gleichermassen Unordnungen an (Entropie, gilt als Maß für Unordnung). Diese muss aus dem System gelangen (durch Abführen von Unordnung bzw. Aufnahme von Ordnung, sprich höherwertigere Energie). Energietransformation: ein Teil der aufgenommenen Energie wird im System in hochwertige Energieformen umgewandelt. (Strömungsenergie, Konzentrationsdifferenzen, Spannungen,...) Seite 18 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Ordner (Agenten); im System Huber Oliver sind Parameter vorhanden, die das Zusammenspiel der Teile koordinieren (Versklavung) Stabilität und Phasenübergänge: gegenüber kleiner Störungen sind selbstorganisierende Systeme stabil. Grosse Störungen können jedoch zum Zusammenbruch der Struktur führen. Einem Phasenübergang gleich, gibt es eine weitere Spielart von Instabilität des Systems: nehmen Parametergrössen einen kritischen Wert an, so kann das System von der einen in eine neue, andere Struktur überschlagen. Kritische Fluktuationen sind die starken Schwankungen im System, die während dieses Überschlagens auftreten. Bestimmte 'Moden' können die 'Keime' der neuen Struktur bilden und so vom alten Muster evtl. modifiziert und übernommen werden. Symmetriebrechung: sie tritt normalerweise bei der Musterbildung auf. Beschränkte Vorhersagbarkeit: es können sowohl reguläre als auch irreguläre/chaotische Strukturen entstehen. Bei letzteren sind noch eingeschränkte Vorhersagen über das System möglich. Selbstähnlichkeit: Historizität: es gibt eine spezifische Entwicklungsgeschichte des Systems, die es einzig macht. Das System ist somit nur als über die Zeit entstanden zu verstehen (Einfluss des Zufalls bei Phasenübergängen; Identität). Seite 19 von 20 Selbstorganisation und Energie in Systemen Huber Oliver 3 Literaturhinweise John Briggs, F. David Peat: Die Entdeckung des Chaos Heinz-Otto Peitgen, Hartmut Jürgens, Dietmar Saupe: Chaos – Bausteine der Ordnung Klaus Richter, Jan-Michael Rost: Komplexe Systeme Seite 20 von 20