Uralische Sprachen - Benutzer-Homepage

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URALISCHE SPRACHEN
Prof Dr Ernst Kausen © 2000
Inhalt
1
2
3
4
Einleitung und Übersicht
Externe Beziehungen
Klassifikation
Sprachliche Charakterisierung
1 Einleitung und Übersicht
Die uralische Sprachfamilie umfasst etwa 30 Sprachen und wird von rund 25 Mio. Menschen
gesprochen. Sie erstreckt sich über weite Teile des nördlichen Eurasiens von Skandinavien bis über
den Ural auf die Taimyr-Halbinsel. Außerdem gehört das Ungarische als ein nach Westen
versprengter Ausläufer zu dieser Familie (Karte).
Hauptzweige
Das Uralische zerfällt in zwei klar definierte Hauptzweige, die sich vor mindestens 6000 Jahren
getrennt haben: (1) den größeren westlichen Zweig des Finno-Ugrischen mit heute über 99% der
uralischen Sprecher und insgesamt 24 Sprachen und (2) den kleineren nördlich und östlich des Urals
beheimateten Zweig des Samojedischen mit noch vier Sprachen, die von 30.000 Menschen in riesigen
dünn besiedelten Gebieten Nordsibiriens gesprochen werden (vgl Tab 1).
Der sprachliche Abstand zwischen Finnisch und Ungarisch - beide Mitglieder des finnisch-ugrischen
Zweigs - kann mit dem zwischen Deutsch und Russisch verglichen werden, die Unterschiede zwischen
einzelnen finno-ugrischen und samojedischen Sprachen sind noch erheblich größer.
Tab 1
Die uralische Sprachfamilie
[31, H 2; 24 Mio]
URALISCH
FINNO-UGRISCH
SAMISCH-FINNISCH
OSTSEEFINNISCH
SAMISCH (LAPPISCH)
WEST
NORDWEST
SÜDWEST
OST
[25, H 0; 24 Mio]
[17, H 0; 7.2 Mio]
[7, H 0; 7.2 Mio]
Finnisch (Suomi) (6 Mio)
Karelisch (130 T)
Estnisch (1.1 Mio)
Wepsisch (3 T), Ingrisch (0.3 T), Wotisch (H), Livisch (H)
[10, 0 H; 23 Tsd]
Nord-Saami (20 Tsd, ethn 40 T), Lule (2 T), Pite (H)
Ume (H), Süd-Saami (0.6 T)
Inari (0.3 T), Skolt (0.3 T), Akkala (H), Kildin (1 T), Ter (H)
MORDWINISCH
Erzya (500 T), Mokscha (430 T)
MARI
Mari (Tscheremissisch) (600 T)
PERMISCH
Udmurtisch (Wotjakisch) (550, ethn 750 T)
Komi (400 T) (V Syrjänisch, Permjakisch, Yaz'va)
UGRISCH
[3, H 0; 14.5 Mio]
OB-UGRISCH
UNGARISCH
SAMOJEDISCH
NORD
SÜD
Chanti (Ostjakisch) (12, ethn 20 T); Mansi (Wogulisch) (3 T)
Ungarisch (14.5 Mio)
[6, H 2; 30 Tsd]
Nenets (Nenzisch, Jurakisch) (27 T)
Enets (Enzisch, Jenissei-Samojedisch) (0.1 T)
Nganasan (Nganassanisch, Tawgy) (1 T)
Selkup (Ostjak-Samojedisch) (1.6 T)
Kamas (Sajan) H, Mator (Motor) H
Einen ersten Eindruck über die Verwandtschaft einzelner uralischer Sprachen liefert die Tab 2 mit
ausgewählten uralischen Etymologien. Sie zeigt auf den ersten Blick, dass Finnisch und Estnisch sehr
eng verwandt sind und das samojedische Nenets - trotz erkennbarer Verwandtschaft - stark abweicht.
Die besondere Nähe des Chanti zum Ungarischen - beides sind ugrische Sprachen - erschließt sich
nicht ohne Weiteres, sondern setzt den Einsatz subtilerer linguistischer Techniken voraus. Man
erkennt auch, dass uralisches p zu ungarischem f wird, uralisches k zu ungarischem h werden kann,
konsonantische uralische Anlaute im Ungarischen entfallen u.s.w.
Tab 2
Ausgewählte uralische Etymologien
Deutsch
Finn.
Estn.
Samisch
Mari
Komi
Chanti
Ungar.
Nenets
Baum
Fisch
Haus
pun
kala
kota
pun
kala
koda
guolle
goatte
pu
kol
kudo
pu
-ka
kul
kat
fa
hal
ház
pä
xalä
-
Kopf
Auge
Hand
Ader
Herz
Blut
pää
silmä
käte
suoni
sydäm
veri
pea
silm
kät
soon
südam
veri
-
-
albme
gietta
suodma
aððam
varra
in a
kö
sün
šüm
vür
pom
sin
ki
s?n
s?l?m
-
sem
köt
ton
s?m
-
fej
szem
kéz
ín
szív
vér
pä
sew
ten
sej
-
wer
ken
ke(s)
gi
ke
kin
-
ki
xi
gehen
wissen
geben
men
tunte
anta
min
tunde
anda
manna
dow'da
-
mija
omta
mun
t?d
ud
men
ontas
men
tud
ad
min
tumda
-
eins
zwei
drei
vier
fünf
sechs
yhte
kahte
kolme
neljä
viite
kuute
üht
kaht
kolm
neli
viit
kuut
ok'ta
guokte
golbma
njaelje
vitta
gutta
ikte
kok
kum
nyl
vi
kut
?tik
kyk
kujim
nol
vit
kvajt
it
kät
kolem
nelä
vet
kut
egy
két
három
negy
öt
hat
-
Die Heimat der gemeinsamen Muttersprache aller uralischen Sprachen, also des Proto-Uralischen, lag
wahrscheinlich im zentralen oder südlichen Uralgebiet. Diese angenommene Urheimat war natürlich
bestimmend für die Namensgebung dieser Sprachfamilie. Der Prozess der Ausbreitung der einzelnen
Gruppen in ihre heutigen Gebiete wird unten ausführlicher behandelt.
Typologisch haben die uralischen Sprachen eine große Bandbreite. Allerdings sind einige
Eigenschaften vorherrschend oder doch weit verbreitet: eine reiche agglutinative Morphologie mit
monosemantischen Suffixen, insbesondere ein reichhaltiges Kasus-System mit bis zu 20 'Fällen',
Wortstellung SOV (in den westlichen uralischen Sprachen durch Fremdeinfluss oft SVO), Negation
durch ein flektierbares Hilfsverb, ursprünglich eine geringe Neigung zur Numerus-Markierung,
Vokalreichtum, Vokalharmonie und Konsonantenstufung. Diese Merkmale werden unten ausführlicher
erläutert.
Die finno-ugrische Sprachen
Die bekanntesten finno-ugrischen Sprachen sind das Ungarische (14.5 Mio Sprecher), das Finnische
(6 Mio) und das Estnische (1.2 Mio). Diese drei sind auch die einzigen uralischen Sprachen mit dem
Status einer Nationalsprache.
Das Samische oder Lappische bildet eine Gruppe von 10 Sprachen mit rund 35.000 Sprechern, die
hauptsächlich in Norwegen und Schweden, aber auch in Finnland und Russland auf der Kola-Halbinsel
gesprochen werden. Das Livische ist eine fast ausgestorbene dem Finnischen eng verwandte Sprache
in Lettland. Alle anderen uralischen Sprachen haben ihre Verbreitungsgebiete im heutigen Russland.
Zunächst schließen sich dem Estnischen in Russland in einer breiten Zone bis zur Kola-Halbinsel die
Sprachen Wotisch, Ingrisch (beide fast ausgestorben), Wepsisch (8 Tsd Sprecher) und Karelisch (70
Tsd, Autonome Republik Karelien) an. Im zentralen Wolgagebiet finden wir in eigenen Autonomen
Republiken das Mordwinische (mit 1.1 Mio die größte uralische Sprache Russlands), das Mari oder
Tscheremissische (600 Tsd Sprecher) und das Udmurtische (600 Tsd). Weiter nördlich schließt sich
das Komi mit etwa 500 Tsd Sprechern an.
Östlich des Urals werden im Ob-Gebiet die beiden ob-ugrischen Sprachen Chanti (oder Ostjakisch, 15
Tsd Sprecher) und Mansi (oder Wogulisch, 5 Tsd) in einem eigenen Autonomen Bezirk (Okrug)
gesprochen. Sie sind die nächsten Verwandten des weit nach Westen vorgedrungenen Ungarischen.
Alle bisher genannten Sprachen gehören zum finno-ugrischen Zweig des Uralischen.
Die samojedische Sprachen
Die trotz sowjetischer Ansiedlungspolitik meist nomadisch gebliebenen Samojeden bewohnen im
Norden Russlands ein riesiges Gebiet vom Weißen Meer bis zur Halbinsel Taimyr. Die wichtigste
Gruppe sind die Nenets oder Nenzen (auch Juraken genannt); mit 27 Tsd Sprechern machen sie den
weitaus größten Teil der Samojeden aus und leben in einem Autonomen Bezirk. Ihr Gebiet reicht vom
Weißen Meer im Westen bis über die Mündung des Jenissej hinaus. Die nahverwandten Enets an der
Jenissej-Mündung zählen nur noch etwa 100 ältere Sprecher.
Zahlenmäßig wesentlich geringer sind die nördlich und östlich anschließenden Nganassen (etwa
1.000) und die südöstlich im Gebiet des mittlerem Ob lebenden Selkupen (2.000). Die
süd-samojedischen Sprachen Mator und Kamas sind ausgestorben. Mator wurde im frühen 19. Jhdt.
durch eine Turksprache ersetzt (es wurde vorher durch intensive linguistische Feldarbeit erschlossen),
der letzte Kamas-Sprecher starb 1989.
Älteste Belege, Schriftsprachen
Das Ungarische ist die uralische Sprache mit den ältesten schriftlichen Belegen. Nach ersten
verstreuten Einzelwörtern in anderssprachigen Texten ist eine Leichenrede aus dem Ende des 12.
Jahrhunderts der früheste Textbeleg. Er besteht aus 38 Zeilen und hat einen Umfang von 190
Wörtern. Es folgt um 1300 eine altungarische Marienklage, eine künstlerisch wertvolle Nachdichtung
eines lateinischen Textes, gewissermaßen das erste ungarische Gedicht. Das älteste karelische
Sprachdenkmal stammt aus dem 13. Jhdt. und ist ein sehr kurzer auf Birkenrinde geschriebener Text.
Altpermisch, die früheste belegte Form des Komi, erhielt im 14. Jhdt. durch den Misssionar Stephan
ein eigenes Alphabet, das auf dem griechischen und altslawischen Alphabet basiert. Das älteste
estnische Buch wurde 1525 gedruckt, blieb aber nicht erhalten; der erste erhaltene estnische Text sind
11 Seiten eines 1535 gedruckten religiösen Kalenders. Die finnische Literatur beginnt 1544 mit den
Rukouskirja Bibliasta des Mikael Agricola, 1548 folgt seine Übersetzung des Neuen Testaments. Die
ältesten lappischen Texte stammen aus dem 17. Jhdt.
Außer den erwähnten Sprachen mit frühen Sprachdenkmälern haben inzwischen fast alle uralischen
Sprachen eine schriftliche Form gefunden, wenn auch eine eigentliche literarische Produktion nur bei
den größeren Sprachen stattgefunden hat. Die uralischen Sprachen in Russland benutzen geeignete
Modifikationen des kyrillischen Alphabets, die westlichen Sprachen das lateinische.
2
Externe Beziehungen des Uralischen
Es gibt zahlreiche Versuche, die Verwandtschaft der uralischen Sprachen mit anderen Sprachgruppen
wie dem Indogermanischen und Altaischen, aber auch einzelner kleinerer sibirischer Sprachfamilien
nachzuweisen. Längere Zeit wurde die Hypothese einer ural-altaischen Sprachfamilie diskutiert. Sie
findet heute in dieser Form kaum noch Anhänger. Allerdings wird intensiv an Hypothesen gearbeitet,
das Uralische zusammen mit dem Indogermanischen, Altaischen und weiteren Gruppen zu
sogenannten Makrofamilien zusammenzufassen, eine nicht leichte Aufgabe, wenn schon die
Rekonstruktion des Proto-Uralischen wegen seines hohen Alters äußerst schwierig ist. Zu nennen sind
hier die Arbeiten von A. Dolgopolsky (Nostratische Makrofamilie, die auch noch das Drawidische und
Afro-Asiatische umfasst) und J. Greenberg (Eurasiatische Makrofamilie, die sich auf Indogermanisch,
Uralisch, Altaisch, Japanisch, Koreanisch, altsibirische Sprachen und Eskimo-Aleutisch 'beschränkt').
Uralisch-Jukagirisch ?
Eine ernst zu nehmende Hypothese ist die der Verwandtschaft des Uralischen mit dem Jukagirischen,
das in dieser Darstellung allerdings als isolierte altsibirische Sprache behandelt wird. Jukagirisch wird
von einigen hundert Menschen in Nordost-Sibirien gesprochen. Nach Ruhlen 1991 beweisen die
Arbeiten von Collinder 1965 und Harms 1977 jenseits jeden Zweifels die Verwandtschaft des
Jukagirischen mit den uralischen Sprachen. Collinder 1965 stellt fest: 'Die Gemeinsamkeiten des
Jukagirischen und Uralischen sind so zahlreich und charakteristisch, dass sie Überreste einer
ursprünglichen Einheit sind. Das Kasus-System des Jukagirischen ist fast identisch mit dem des
Nord-Samojedischen. Der Imperativ wird mit den selben Suffixen gebildet wie im Süd-Samojedischen
und den konservativsten finno-ugrischen Sprachen... Jukagirisch hat ein halbes Hundert
gemeinsamer Wörter mit dem Uralischen, und zwar ohne die Lehnwörter. ... Man sollte bemerken,
dass alle finno-ugrischen Sprachen in der Kasus-Flektion mehr vom Samojedischen abweichen als
das Jukagirische.' Es wäre danach durchaus möglich, von einer uralisch-jukagirischen Sprachfamilie
zu sprechen.
3
Die Klassifikation der uralischen Sprachen
Die frühesten Wahrnehmungen verwandtschaftlicher Beziehungen von Sprachen, die wir heute als
uralisch bezeichnen, gehen auf das Ende des 9. Jhdt. (sic!) zurück. Der Wikinger Othere berichtet von
der Ähnlichkeit des Karelischen und Lappischen. Im 15. Jhdt. werden Beziehungen zwischen dem
Ungarischen und dem Chanti-Mansi erkannt. Weitere wichtige Stationen: 1671 bemerkt der Schwede
G. Stiernhielm die enge Verwandtschaft des Estnischen, Lappischen und Finnischen, außerdem sieht
er eine entferntere Beziehung dieser Gruppe zum Ungarischen. 1717 konstatiert J.G. von Eckhart in
Leibniz' Sammelwerk Collectanea Etymologica darüber hinaus die Relation des Samojedischen zu
den finnischen und ugrischen Sprachen.
1730 klassifiziert P.J. von Strahlenberg die finnisch-ugrischen Sprachen bis auf das Lappische, 1770
ergänzt der deutsche Historiker A.L. von Schlözer Strahlenbergs Klassifikation um die lappische
Komponente. Somit ist die im wesentlichen heute noch akzeptierte Gliederung der finno-ugrischen
Sprachfamilie bereits sechs Jahre vor W. Jones' berühmter Rede über das Indogermanische
vorhanden.
Weitere konsolidierende Schritte sind die Arbeiten der Ungarn J. Sajnovics und vor allem S. Gyarmathi
1799. Er zeigt, dass das Ungarische der nächste Verwandte des Chanti und Mansi ist und diese drei
einen eigenen Zweig, das Ugrische, ausmachen; er belegt durch gültige Etymologien die Beziehungen
des Ugrischen zu den finnischen Sprachen und fasst die damals bekannten samojedischen Sprachen
zu einer eigenen Gruppe zusammen.
1840 erschließt der Finne M.A. Castrén durch Feldstudien das Samojedische systematisch, klärt die
interne Nord-Süd-Gliederung des Samojedischen und etabliert die Zweiteilung der Gesamtfamilie in
einen samojedischen und finno-ugrischen Zweig. Die Arbeiten Castréns werden durch den Ungarn I.
Halasz 1893 durch 245 gesamt-uralische Etymologien endgültig auf sicheren Boden gestellt.
Aktuelle Gliederungsthesen
Trotz dieser frühen Klassifikationsleistungen sind auch heute keineswegs alle Probleme der internen
Gliederung des Uralischen gelöst. Gerade in den letzten Jahren wurden scheinbar sichere
Erkenntnisse - wie die Zweiteilung des Finnisch-Ugrischen in eine Finnische und Ugrische
Komponente - in Frage gestellt. Ein weiteres Problem ist die Einordnung des Samischen. Als
allgemein akzeptiert können folgende Aussagen gelten:
(1) Das Uralische bildet eine Sprachfamilie, die primär in einen finno-ugrischen und einen
samojedischen Zweig zerfällt.
(2) Gültige genetische Untereinheiten des Finno-Ugrischen sind das Ostseefinnische (Finnisch,
Estnisch, Karelisch, Wepsisch, Ingrisch, Wotisch, Livisch), das Samische (mit 10 Sprachen oder
Dialekten), das Permische (Udmurtisch und Komi) und das Ugrische (Ungarisch, Ob-Ugrisch mit
Chanti und Mansi). Der linguistische Nachweis der ugrischen Einheit hat sich dabei als äußerst
schwierig herausgestellt.
Häufig - aber nicht von allen Forschern - werden Mari und Mordwinisch zu einer Einheit WOLGAISCH,
das Ostseefinnische und Samische zu SAMISCH-FINNISCH zusammengefasst. Die finno-ugrischen
Sprachen, die nicht zu den ugrischen gehören, wurden von den meisten Forschern als eine genetische
Einheit FINNISCH betrachtet. Solche Klassifikationen gehen also von folgender Grundstruktur aus:
Grundstruktur
URALISCH
FINNO-UGRISCH
FINNISCH
UGRISCH
SAMOJEDISCH
Sie unterscheiden sich nur durch die Feingliederung der finnischen Gruppe. So ziemlich alle möglichen
Varianten sind vorgeschlagen worden, wichtige Arbeiten zur Gliederung des FINNISCHen kamen zu
folgenden Ergebnissen:
Collinder 1965
Austerlitz 1968
Sauvageot 1973
FINNISCH
OSTSEEFINNISCH
SAMISCH
MORDWINISCH
MARI
PERMISCH
FINNISCH
SAMISCH-FINNISCH
WOLGAISCH
PERMISCH
Harms 1974
Voegelin 1977
FINNISCH
WESTFINNISCH
SAMISCH-FINN.
MORDWINISCH
MARI
PERMISCH
FINNISCH
FINNO-WOLGAISCH
SAMISCH-FINNISCH
WOLGAISCH
PERMISCH
FINNISCH
OSTSEEFINNISCH
SAMISCH
WOLGAISCH
PERMISCH
Janhunen 1992 berücksichtigt die Reihenfolge der Abspaltungen vom Finno-Ugrischen, was auf einen
binären Stammbaum führt, der nur zweigliedrige Verzweigungen besitzt. Er geht von der
Abspaltungsfolge 1. Ugrisch, 2. Permisch, 3. Mari, 4. Mordwinisch und 5. Samisch aus. Als Rest bleibt
das Ostseefinnische. Dagegen nimmt Abondolo 1998 gerade das umgekehrte Abspaltungsszenario
an und verneint damit die Existenz einer genetischen Einheit FINNISCH gegenüber dem Ugrischen.
Er sieht folgende Abspaltungsfolge vom Finno-Ugrischen: 1. Samisch-Finnisch, 2. Mordwinisch, 3.
Mari, 4. Permisch. Übrig bleibt als Kern das Ugrische. Man erhält folgende binäre
Abstammungsstruktur:
Abondolo 1998
FINNO-UGRISCH
SAMISCH-FINNISCH
MORDWINISCH-MARI-PERMISCH-UGRISCH
MORDWINISCH
MARI-PERMISCH-UGRISCH
MARI
PERMISCH-UGRISCH
PERMISCH
UGRISCH
Die verschiedenen aktuellen Ergebnisse zusammenfassend, scheint es momentan sinnvoll zu sein,
innerhalb des FINNO-UGRISCHen nur das SAMISCH-FINNISCHE zu einer engeren genetischen
Gruppe zusammenzufassen, dem die Einheiten MORDWINISCH, MARI, PERMISCH und UGRISCH
gleichrangig zur Seite gestellt werden. Man erhält dann folgende Struktur (vgl auch Tab 1):
URALISCH
FINNO-UGRISCH
SAMISCH-FINNISCH
OSTSEEFINNISCH
SAMISCH
MORDWINISCH
MARI
PERMISCH
UGRISCH
SAMOJEDISCH
Künftige Forschung wird zeigen, ob die hier wegen der neueren Resultate nicht aufgenommene
Untereinheit FINNISCH linguistisch relevant ist. WOLGAISCH (MORDWINISCH und MARI) als
eigenes Taxon scheint in der neueren Diskussion kaum noch Anhänger zu finden.
Urheimat und Ausbreitung
Wie gerade gezeigt, korrespondiert eine bestimmte Klassifikationsvariante eng mit einer Hypothese
über die Ausbreitung der jeweiligen Sprachgruppe von einer angenommenen Urheimat in ihren
heutigen geographischen Raum. Die Festlegung der Urheimat des Proto-Uralischen ist wegen des
hohen Alters der Proto-Sprache eine schwierige Aufgabe. Man nimmt allgemein an, dass sie im
zentralen oder südlichen Uralgebiet mit einem Zentrum westlich des Gebirgszuges zu lokalisieren ist.
Als erste trennten sich die Vorfahren der heutigen Samojeden und zogen ostwärts. Diese Trennung
erfogte vor mindestens 6000, wenn nicht 7000 Jahren, was aus der relativ geringen Zahl (ca 150)
gesamt-uralischer Etymologien zu schließen ist. Die Aufspaltung des Samojedischen in die heutigen
Sprachen begann wohl erst vor etwa 2000 Jahren.
Die finno-ugrische Gruppe war von Anfang an die bei weitem größere. Erste Aufspaltungen dieser
Gruppe gehen mindestens auf das 3. Jt. vC zurück. Wie schon oben erwähnt, ist die Reihenfolge der
Abspaltungen und damit der Verlauf der Ausdehnung der finno-ugrischen Sprachen inzwischen (seit
etwa 1970) strittig. Seit Donner 1879 wurde allgemein akzeptiert, dass sich das Ugrische als erste
Gruppe vom Finno-Ugrische trennte und als Rest die 'finnische' Einheit zurückließ. Die neueren
Resultate (Sammallahti 1984 und 1998, Viitso 1996) sehen dagegen die samisch-finnische Gruppe als
eine periphere Einheit an, die zuerst und zwar schon im 3. Jt. vC vom finno-ugrischen Kern abrückte.
Es folgten das Mordwinische und das Mari (etwa um 2000 vC) und schließlich das Permische in der
Mitte des 2. Jt. vC. Als Kern blieben die Sprachen zurück, aus denen sich das Ugrische entwickelte.
Wohl bereits 1000 vC kann man die Trennung des Ungarischen von den ob-ugrischen Sprachen
ansetzen. Die Ungarn (Selbstbezeichnung Magyaren) zogen seit 500 nC zusammen mit türkischen
Stämmen westwärts und erreichten und eroberten das schwach besiedelte Karpatenbecken 895 nC.
(Der Name Ungar stammt aus dem Bulgar-Türkischen oder Tschuwaschischen von 'on-ogur' = 'zehn
Ogur-Stämme').
4
Bemerkungen zur linguistischen Charakteristik der uralischen Sprachen
Das Proto-Uralische konnte mit den Methoden der komparativen Linguistik bis zu einem gewissen
Grade rekonstruiert werden. Besondere Schwierigkeiten macht dabei der große Abstand des
Finno-Ugrischen vom Samojedischen, also letztlich das hohe Alter des Proto-Uralischen, das auf
mindestens 7000 Jahre geschätzt wird. Nicht alle Gemeinsamkeiten der uralischen Sprachen können
als Erbgut aus dem Proto-Uralischen angesehen werden: einige spiegeln Sprachuniversalien wieder,
andere den Einfluss benachbarter nicht-uralischer Sprachgruppen. Hier kommen vor allem das
Indogermanische (insbesondere Iranisch, Germanisch, Baltisch und Slawisch) aber auch die
Turksprachen in Frage. Im folgenden werden ausgewählte Merkmale uralischer Sprachen
zusammengestellt, die im Vergleich zu indogermanischen Sprachen besondere Aufmerksamkeit
verdienen. Eine umfassende Darstellung des Proto-Uralischen enthält Hajdú 1987.
Phoneme
Für die Darstellung des rekonstruierten Konsonanten- und sehr reichhaltigen Vokalsystems des
Proto-Uralischen verweise ich auf die weiterführende Literatur (Abondolo 1998, Hajdú 1987, Harms
1979). Als Beispiel sei das Phoneminventar des Finnischen herangezogen:
Konsonanten
Vokale
p,t,d,k; v,j,s,h; m,n,ŋ; l,r
i,e,?,a,o,ö,u,y in kurzer und langer Form
Die lange Form der Vokale wird im Finnischen durch Doppelsetzung, im Ungarischen durch einen
Akzent (z.B ház) ausgedrückt.
Vokalharmonie und Vokalassimilation
Vokalharmonie ist die qualitative Abhängigkeit eines Suffixvokals vom Wurzelvokal, im weiteren Sinne
die qualitative Angleichung zwischen Vokalen eines Wortes. Beides kommt in den uralischen
Sprachen weitverbreitet vor. Ob es sich um ein proto-uralisches Merkmal handelt, ist umstritten: hier
könnte turkischer Einfluss vorliegen. Die Beispiele stammen aus dem Finnischen und Ungarischen.
Der Suffixvokal richtet sich nach der Qualität des Wurzelvokals; hierbei bilden a,o,u einerseits und
ä,ö,ü andererseits disjunkte Klassen:
Finn.
tallo
kynä
Haus
Feder
tallo-ssa
kynä-ssä
im Haus
in der Feder
Ung.
asztal
Tisch
asztal-ok
Tische
föld
Land
föld-ök
Länder
Ähnliche Regeln gelten nicht nur im Finnischen und Ungarischen, sondern auch in manchen Dialekten
des Mordwinischen, Mari, den ob-ugrischen Sprachen und dem samojedischen Kamas. In anderen
uralischen Sprachen fehlt dagegen die Vokalharmonie völlig. Streng genommen von der
Vokalharmonie zu trennen ist die Vokalassimilation. Z.B. assimiliert unbetontes Suffix-e im Finnischen
zum vorhergehenden Vokal:
Finn.
talo+hen >
taloon
talo+i+hen > taloihin
in das Haus (das h entfällt)
in die Häuser
Im Ungarischen assimiliert der Suffixvokal der Endung -hez qualitativ (in seiner Rundung) zum
vorhergehenden Vokal:
Ung.
ház-hoz = zum Haus; kéz-hez = zur Hand; betu-höz = zum Brief
Konsonantenstufung (Stufenwechsel)
Im Samisch-Finnischen werden 'harte' Konsonanten durch stimmhafte, frikative oder liquide Varianten
ersetzt, Doppelkonsonanten zu Einfachkonsonaten entschärft, wenn die folgende Silbe durch ein
Suffix geschlossen wird (z.B. beim Genetiv-Suffix -n).
Finn.
mato
matto
poika
lintu
Wurm
Decke
Junge
Vogel
madon
maton
pojan
linnun
des Wurmes
der Decke
des Jungen
des Vogels
Im Finnischen gelten allgemein folgende Übergangsregeln:
pp > p, tt > t, kk > k; mp > mm; t > d, p > v, k > 
Ob auch in den samojedischen Sprachen Spuren der Konsonantenstufung zu finden sind, ist
umstritten. Gäbe es sie, würde das auf einen proto-uralischen Ursprung hinweisen. Die meisten
Forscher gehen von einer samisch-finnischen Innovation aus.
Agglutinative Morphologie
Die uralischen Sprachen benutzen zur Bildung der Formen der Nomina und Verben die Agglutination
(lat. Anleimung). Jedem Morphem (Wortbildungselement) entspricht dabei eindeutig ein
Bedeutungsmerkmal (z.B. Genetiv, Lokativ; Tempus, Person), die einzelnen Morpheme werden unter Berücksichtigung der Vokalharmonie - unmittelbar aneinandergereiht. Die Morpheme sind also
monosemantisch und juxtaponierend. Es gibt keinen Zweifel, dass bereits das Proto-Uralische vom
agglutinierendem Sprachtyp war. (Beispiele unter Nominalbildung und Verbalbildung.)
Nominalbildung
Die Kasus des Nomens werden in den uralischen Sprachen ausschließlich durch Suffixe gebildet, nie
durch Präfixe. Adjektiv-Attribute, Demonstrativa und Zahlwörter zeigten ursprünglich keine Kongruenz
in Kasus und Numerus mit dem zugeordneten Nomen, wurden also nicht 'mitdekliniert'.
Ung.
a négy nagy ház-ban
in den vier großen Häusern (a = bestimmter Artikel)
Allerdings ist das Finnische unter dem Einfluss seiner idg. Umgebung zur Kongruenz übergegangen:
Fin.
pieni poika
pienet pojat
neljä-ssä iso-ssa talo-ssa
kleiner Junge
kleine Jungen
in den vier großen Häusern
Das Proto-Uralische besaß mindestens einen Nominativ (unmarkiert), Akkusativ, Ablativ, Lokativ und
Lativ (Richtungsfall). Die Anzahl der Fälle reicht in den modernen uralischen Sprachen von 3 beim
Chanti, über 6 beim Lappischen, 15 im Finnischen bis zu 16 (oder gar 21) im Ungarischen.
Kasusbildung in einigen uralischen Sprachen
Finn.
Komi
Ungarisch
Nenets
Bedeutung
talo-ssa
talo-i-ssa
talo-sta
kerka-yn
kerka-yas-yn
kerka-ýs
ház-ban
ház-ak-ban
ház-ak-ból
xarda-xa-na
xarda-xa-?-na
xarda-xa-?-d
im Haus
in Häusern
vom Haus weg
Der Numerus (Singular-Dual-Plural) ist keine Proto-Uralische Kategorie, was man daran erkennen
kann, dass in den modernen uralischen Sprachen die Pluralmarker außerordentlich vielfältig sind.
Einen Dual gibt es heute in den samischen, ob-ugrischen und samojedischen Sprachen. Die Kategorie
Genus (grammatisches Geschlecht) existiert in den uralischen Sprachen nicht. Komplexere
Nominalketten werden in den uralischen Sprachen nach sehr unterschiedlichen Prinzipien gebildet, die
Regeln dafür liegen aber in jeder Sprache fest. Als Beispiel sei hier wieder das Finnische
herangezogen. Eine Nominalkette hat die Struktur
Finn.
Stamm + (Plural) + Kasus + (Possessiv)
Finn.
talo-i-ssa-ni
Haus-PLURAL-INESSIV-POSS 1.sg.
Haus-mehrere-in-mein (lit)
in meinen Häusern
talo-i-sta-si
aus deinen Häusern
Gesamturalisch gilt bei Possessiv-Konstruktionen die Reihenfolge 'Besitzer vor Besitz':
Finn.
Ung.
isä-n talo
János ház-a
Vaters Haus, das Haus des Vaters
Janos Haus-sein (lit): Janos' Haus
Verbalbildung
Die uralischen Kategorien des Verbs sind Tempus-Aspekt (Präsens-Futur, abgeschlossenes
Präsens-Futur und Vergangenheit), Modus (Indikativ, Imperativ, Konditional-Potential), Person (1-3)
und Numerus (Singular, Plural). Ein Genus verbi (Aktiv, Passiv) ist keine gesamt-uralische Kategorie.
Konstruktionen mit Hilfsverben sind z.B. im Finnischen - erst unter dem Einfluss germanischer
Sprachen entstanden. Als Beispiel ziehen wir wieder das Finnische heran.
Zur Verbalbildung im Finnischen am Beispiel laula = singen
Präs.Indik.
1
2
3
Imperfekt
Singular
Plural
laula-n
laula-t
laula-a
laula-mme
laula-tte
laula-vat
laula+i+Personalendung
laula-i-n > laulo-i-n
laula-i-a > laula-i
Perfekt
Bildung mit Hilfsverb ole + Part.Perfekt laula-nut
ole-n laula-nut
ol-i-n laula-nut
Konditional
ich habe gesungen
ich hatte gesungen
Bildung durch -isi- am Verbstamm:
puhu-isi-n
ich würde sprechen
Negativ-Verb
Die Negation wird durch ein konjugierbares Negativ-Verb ausgedrückt, vergleichbar mit der
Umschreibung im Englischen 'I do not go':
Finn.
mene-n
e-n mene
ich gehe
nicht-tun-ich gehen → ich gehe nicht
mene-t
e-t mene
du gehst
du gehst nicht
Umschreibung für 'haben'
Haben wird durch 'sein' mit dem Lokativ ausgedrückt.
Finn.
isä-llä on tallo
Vater-bei ist Haus (lit) → Vater hat ein Haus
Ung.
János-nak van egy ház-a
Janos-bei ist ein Haus-sein (lit) → Janos hat ein Haus
Wortstellung
Die ursprüngliche uralische Wortstellung im Satz ist SOV (Subjekt-Objekt-Prädikat). Sie ist nach wie
vor bei den samojedischen und ob-ugrischen Sprachen die Regel, bei den zentralen finno-ugrischen
Sprachen in Russland und im Ungarischen üblich, wenn auch nicht obligatorisch. In den
ostseefinnischen Sprachen hat sie sich unter dem Einfluss des Indogermanischen in die Stellung SVO
geändert.
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