URALISCHE SPRACHEN Prof Dr Ernst Kausen © 2000 Inhalt 1 2 3 4 Einleitung und Übersicht Externe Beziehungen Klassifikation Sprachliche Charakterisierung 1 Einleitung und Übersicht Die uralische Sprachfamilie umfasst etwa 30 Sprachen und wird von rund 25 Mio. Menschen gesprochen. Sie erstreckt sich über weite Teile des nördlichen Eurasiens von Skandinavien bis über den Ural auf die Taimyr-Halbinsel. Außerdem gehört das Ungarische als ein nach Westen versprengter Ausläufer zu dieser Familie (Karte). Hauptzweige Das Uralische zerfällt in zwei klar definierte Hauptzweige, die sich vor mindestens 6000 Jahren getrennt haben: (1) den größeren westlichen Zweig des Finno-Ugrischen mit heute über 99% der uralischen Sprecher und insgesamt 24 Sprachen und (2) den kleineren nördlich und östlich des Urals beheimateten Zweig des Samojedischen mit noch vier Sprachen, die von 30.000 Menschen in riesigen dünn besiedelten Gebieten Nordsibiriens gesprochen werden (vgl Tab 1). Der sprachliche Abstand zwischen Finnisch und Ungarisch - beide Mitglieder des finnisch-ugrischen Zweigs - kann mit dem zwischen Deutsch und Russisch verglichen werden, die Unterschiede zwischen einzelnen finno-ugrischen und samojedischen Sprachen sind noch erheblich größer. Tab 1 Die uralische Sprachfamilie [31, H 2; 24 Mio] URALISCH FINNO-UGRISCH SAMISCH-FINNISCH OSTSEEFINNISCH SAMISCH (LAPPISCH) WEST NORDWEST SÜDWEST OST [25, H 0; 24 Mio] [17, H 0; 7.2 Mio] [7, H 0; 7.2 Mio] Finnisch (Suomi) (6 Mio) Karelisch (130 T) Estnisch (1.1 Mio) Wepsisch (3 T), Ingrisch (0.3 T), Wotisch (H), Livisch (H) [10, 0 H; 23 Tsd] Nord-Saami (20 Tsd, ethn 40 T), Lule (2 T), Pite (H) Ume (H), Süd-Saami (0.6 T) Inari (0.3 T), Skolt (0.3 T), Akkala (H), Kildin (1 T), Ter (H) MORDWINISCH Erzya (500 T), Mokscha (430 T) MARI Mari (Tscheremissisch) (600 T) PERMISCH Udmurtisch (Wotjakisch) (550, ethn 750 T) Komi (400 T) (V Syrjänisch, Permjakisch, Yaz'va) UGRISCH [3, H 0; 14.5 Mio] OB-UGRISCH UNGARISCH SAMOJEDISCH NORD SÜD Chanti (Ostjakisch) (12, ethn 20 T); Mansi (Wogulisch) (3 T) Ungarisch (14.5 Mio) [6, H 2; 30 Tsd] Nenets (Nenzisch, Jurakisch) (27 T) Enets (Enzisch, Jenissei-Samojedisch) (0.1 T) Nganasan (Nganassanisch, Tawgy) (1 T) Selkup (Ostjak-Samojedisch) (1.6 T) Kamas (Sajan) H, Mator (Motor) H Einen ersten Eindruck über die Verwandtschaft einzelner uralischer Sprachen liefert die Tab 2 mit ausgewählten uralischen Etymologien. Sie zeigt auf den ersten Blick, dass Finnisch und Estnisch sehr eng verwandt sind und das samojedische Nenets - trotz erkennbarer Verwandtschaft - stark abweicht. Die besondere Nähe des Chanti zum Ungarischen - beides sind ugrische Sprachen - erschließt sich nicht ohne Weiteres, sondern setzt den Einsatz subtilerer linguistischer Techniken voraus. Man erkennt auch, dass uralisches p zu ungarischem f wird, uralisches k zu ungarischem h werden kann, konsonantische uralische Anlaute im Ungarischen entfallen u.s.w. Tab 2 Ausgewählte uralische Etymologien Deutsch Finn. Estn. Samisch Mari Komi Chanti Ungar. Nenets Baum Fisch Haus pun kala kota pun kala koda guolle goatte pu kol kudo pu -ka kul kat fa hal ház pä xalä - Kopf Auge Hand Ader Herz Blut pää silmä käte suoni sydäm veri pea silm kät soon südam veri - - albme gietta suodma aððam varra in a kö sün šüm vür pom sin ki s?n s?l?m - sem köt ton s?m - fej szem kéz ín szív vér pä sew ten sej - wer ken ke(s) gi ke kin - ki xi gehen wissen geben men tunte anta min tunde anda manna dow'da - mija omta mun t?d ud men ontas men tud ad min tumda - eins zwei drei vier fünf sechs yhte kahte kolme neljä viite kuute üht kaht kolm neli viit kuut ok'ta guokte golbma njaelje vitta gutta ikte kok kum nyl vi kut ?tik kyk kujim nol vit kvajt it kät kolem nelä vet kut egy két három negy öt hat - Die Heimat der gemeinsamen Muttersprache aller uralischen Sprachen, also des Proto-Uralischen, lag wahrscheinlich im zentralen oder südlichen Uralgebiet. Diese angenommene Urheimat war natürlich bestimmend für die Namensgebung dieser Sprachfamilie. Der Prozess der Ausbreitung der einzelnen Gruppen in ihre heutigen Gebiete wird unten ausführlicher behandelt. Typologisch haben die uralischen Sprachen eine große Bandbreite. Allerdings sind einige Eigenschaften vorherrschend oder doch weit verbreitet: eine reiche agglutinative Morphologie mit monosemantischen Suffixen, insbesondere ein reichhaltiges Kasus-System mit bis zu 20 'Fällen', Wortstellung SOV (in den westlichen uralischen Sprachen durch Fremdeinfluss oft SVO), Negation durch ein flektierbares Hilfsverb, ursprünglich eine geringe Neigung zur Numerus-Markierung, Vokalreichtum, Vokalharmonie und Konsonantenstufung. Diese Merkmale werden unten ausführlicher erläutert. Die finno-ugrische Sprachen Die bekanntesten finno-ugrischen Sprachen sind das Ungarische (14.5 Mio Sprecher), das Finnische (6 Mio) und das Estnische (1.2 Mio). Diese drei sind auch die einzigen uralischen Sprachen mit dem Status einer Nationalsprache. Das Samische oder Lappische bildet eine Gruppe von 10 Sprachen mit rund 35.000 Sprechern, die hauptsächlich in Norwegen und Schweden, aber auch in Finnland und Russland auf der Kola-Halbinsel gesprochen werden. Das Livische ist eine fast ausgestorbene dem Finnischen eng verwandte Sprache in Lettland. Alle anderen uralischen Sprachen haben ihre Verbreitungsgebiete im heutigen Russland. Zunächst schließen sich dem Estnischen in Russland in einer breiten Zone bis zur Kola-Halbinsel die Sprachen Wotisch, Ingrisch (beide fast ausgestorben), Wepsisch (8 Tsd Sprecher) und Karelisch (70 Tsd, Autonome Republik Karelien) an. Im zentralen Wolgagebiet finden wir in eigenen Autonomen Republiken das Mordwinische (mit 1.1 Mio die größte uralische Sprache Russlands), das Mari oder Tscheremissische (600 Tsd Sprecher) und das Udmurtische (600 Tsd). Weiter nördlich schließt sich das Komi mit etwa 500 Tsd Sprechern an. Östlich des Urals werden im Ob-Gebiet die beiden ob-ugrischen Sprachen Chanti (oder Ostjakisch, 15 Tsd Sprecher) und Mansi (oder Wogulisch, 5 Tsd) in einem eigenen Autonomen Bezirk (Okrug) gesprochen. Sie sind die nächsten Verwandten des weit nach Westen vorgedrungenen Ungarischen. Alle bisher genannten Sprachen gehören zum finno-ugrischen Zweig des Uralischen. Die samojedische Sprachen Die trotz sowjetischer Ansiedlungspolitik meist nomadisch gebliebenen Samojeden bewohnen im Norden Russlands ein riesiges Gebiet vom Weißen Meer bis zur Halbinsel Taimyr. Die wichtigste Gruppe sind die Nenets oder Nenzen (auch Juraken genannt); mit 27 Tsd Sprechern machen sie den weitaus größten Teil der Samojeden aus und leben in einem Autonomen Bezirk. Ihr Gebiet reicht vom Weißen Meer im Westen bis über die Mündung des Jenissej hinaus. Die nahverwandten Enets an der Jenissej-Mündung zählen nur noch etwa 100 ältere Sprecher. Zahlenmäßig wesentlich geringer sind die nördlich und östlich anschließenden Nganassen (etwa 1.000) und die südöstlich im Gebiet des mittlerem Ob lebenden Selkupen (2.000). Die süd-samojedischen Sprachen Mator und Kamas sind ausgestorben. Mator wurde im frühen 19. Jhdt. durch eine Turksprache ersetzt (es wurde vorher durch intensive linguistische Feldarbeit erschlossen), der letzte Kamas-Sprecher starb 1989. Älteste Belege, Schriftsprachen Das Ungarische ist die uralische Sprache mit den ältesten schriftlichen Belegen. Nach ersten verstreuten Einzelwörtern in anderssprachigen Texten ist eine Leichenrede aus dem Ende des 12. Jahrhunderts der früheste Textbeleg. Er besteht aus 38 Zeilen und hat einen Umfang von 190 Wörtern. Es folgt um 1300 eine altungarische Marienklage, eine künstlerisch wertvolle Nachdichtung eines lateinischen Textes, gewissermaßen das erste ungarische Gedicht. Das älteste karelische Sprachdenkmal stammt aus dem 13. Jhdt. und ist ein sehr kurzer auf Birkenrinde geschriebener Text. Altpermisch, die früheste belegte Form des Komi, erhielt im 14. Jhdt. durch den Misssionar Stephan ein eigenes Alphabet, das auf dem griechischen und altslawischen Alphabet basiert. Das älteste estnische Buch wurde 1525 gedruckt, blieb aber nicht erhalten; der erste erhaltene estnische Text sind 11 Seiten eines 1535 gedruckten religiösen Kalenders. Die finnische Literatur beginnt 1544 mit den Rukouskirja Bibliasta des Mikael Agricola, 1548 folgt seine Übersetzung des Neuen Testaments. Die ältesten lappischen Texte stammen aus dem 17. Jhdt. Außer den erwähnten Sprachen mit frühen Sprachdenkmälern haben inzwischen fast alle uralischen Sprachen eine schriftliche Form gefunden, wenn auch eine eigentliche literarische Produktion nur bei den größeren Sprachen stattgefunden hat. Die uralischen Sprachen in Russland benutzen geeignete Modifikationen des kyrillischen Alphabets, die westlichen Sprachen das lateinische. 2 Externe Beziehungen des Uralischen Es gibt zahlreiche Versuche, die Verwandtschaft der uralischen Sprachen mit anderen Sprachgruppen wie dem Indogermanischen und Altaischen, aber auch einzelner kleinerer sibirischer Sprachfamilien nachzuweisen. Längere Zeit wurde die Hypothese einer ural-altaischen Sprachfamilie diskutiert. Sie findet heute in dieser Form kaum noch Anhänger. Allerdings wird intensiv an Hypothesen gearbeitet, das Uralische zusammen mit dem Indogermanischen, Altaischen und weiteren Gruppen zu sogenannten Makrofamilien zusammenzufassen, eine nicht leichte Aufgabe, wenn schon die Rekonstruktion des Proto-Uralischen wegen seines hohen Alters äußerst schwierig ist. Zu nennen sind hier die Arbeiten von A. Dolgopolsky (Nostratische Makrofamilie, die auch noch das Drawidische und Afro-Asiatische umfasst) und J. Greenberg (Eurasiatische Makrofamilie, die sich auf Indogermanisch, Uralisch, Altaisch, Japanisch, Koreanisch, altsibirische Sprachen und Eskimo-Aleutisch 'beschränkt'). Uralisch-Jukagirisch ? Eine ernst zu nehmende Hypothese ist die der Verwandtschaft des Uralischen mit dem Jukagirischen, das in dieser Darstellung allerdings als isolierte altsibirische Sprache behandelt wird. Jukagirisch wird von einigen hundert Menschen in Nordost-Sibirien gesprochen. Nach Ruhlen 1991 beweisen die Arbeiten von Collinder 1965 und Harms 1977 jenseits jeden Zweifels die Verwandtschaft des Jukagirischen mit den uralischen Sprachen. Collinder 1965 stellt fest: 'Die Gemeinsamkeiten des Jukagirischen und Uralischen sind so zahlreich und charakteristisch, dass sie Überreste einer ursprünglichen Einheit sind. Das Kasus-System des Jukagirischen ist fast identisch mit dem des Nord-Samojedischen. Der Imperativ wird mit den selben Suffixen gebildet wie im Süd-Samojedischen und den konservativsten finno-ugrischen Sprachen... Jukagirisch hat ein halbes Hundert gemeinsamer Wörter mit dem Uralischen, und zwar ohne die Lehnwörter. ... Man sollte bemerken, dass alle finno-ugrischen Sprachen in der Kasus-Flektion mehr vom Samojedischen abweichen als das Jukagirische.' Es wäre danach durchaus möglich, von einer uralisch-jukagirischen Sprachfamilie zu sprechen. 3 Die Klassifikation der uralischen Sprachen Die frühesten Wahrnehmungen verwandtschaftlicher Beziehungen von Sprachen, die wir heute als uralisch bezeichnen, gehen auf das Ende des 9. Jhdt. (sic!) zurück. Der Wikinger Othere berichtet von der Ähnlichkeit des Karelischen und Lappischen. Im 15. Jhdt. werden Beziehungen zwischen dem Ungarischen und dem Chanti-Mansi erkannt. Weitere wichtige Stationen: 1671 bemerkt der Schwede G. Stiernhielm die enge Verwandtschaft des Estnischen, Lappischen und Finnischen, außerdem sieht er eine entferntere Beziehung dieser Gruppe zum Ungarischen. 1717 konstatiert J.G. von Eckhart in Leibniz' Sammelwerk Collectanea Etymologica darüber hinaus die Relation des Samojedischen zu den finnischen und ugrischen Sprachen. 1730 klassifiziert P.J. von Strahlenberg die finnisch-ugrischen Sprachen bis auf das Lappische, 1770 ergänzt der deutsche Historiker A.L. von Schlözer Strahlenbergs Klassifikation um die lappische Komponente. Somit ist die im wesentlichen heute noch akzeptierte Gliederung der finno-ugrischen Sprachfamilie bereits sechs Jahre vor W. Jones' berühmter Rede über das Indogermanische vorhanden. Weitere konsolidierende Schritte sind die Arbeiten der Ungarn J. Sajnovics und vor allem S. Gyarmathi 1799. Er zeigt, dass das Ungarische der nächste Verwandte des Chanti und Mansi ist und diese drei einen eigenen Zweig, das Ugrische, ausmachen; er belegt durch gültige Etymologien die Beziehungen des Ugrischen zu den finnischen Sprachen und fasst die damals bekannten samojedischen Sprachen zu einer eigenen Gruppe zusammen. 1840 erschließt der Finne M.A. Castrén durch Feldstudien das Samojedische systematisch, klärt die interne Nord-Süd-Gliederung des Samojedischen und etabliert die Zweiteilung der Gesamtfamilie in einen samojedischen und finno-ugrischen Zweig. Die Arbeiten Castréns werden durch den Ungarn I. Halasz 1893 durch 245 gesamt-uralische Etymologien endgültig auf sicheren Boden gestellt. Aktuelle Gliederungsthesen Trotz dieser frühen Klassifikationsleistungen sind auch heute keineswegs alle Probleme der internen Gliederung des Uralischen gelöst. Gerade in den letzten Jahren wurden scheinbar sichere Erkenntnisse - wie die Zweiteilung des Finnisch-Ugrischen in eine Finnische und Ugrische Komponente - in Frage gestellt. Ein weiteres Problem ist die Einordnung des Samischen. Als allgemein akzeptiert können folgende Aussagen gelten: (1) Das Uralische bildet eine Sprachfamilie, die primär in einen finno-ugrischen und einen samojedischen Zweig zerfällt. (2) Gültige genetische Untereinheiten des Finno-Ugrischen sind das Ostseefinnische (Finnisch, Estnisch, Karelisch, Wepsisch, Ingrisch, Wotisch, Livisch), das Samische (mit 10 Sprachen oder Dialekten), das Permische (Udmurtisch und Komi) und das Ugrische (Ungarisch, Ob-Ugrisch mit Chanti und Mansi). Der linguistische Nachweis der ugrischen Einheit hat sich dabei als äußerst schwierig herausgestellt. Häufig - aber nicht von allen Forschern - werden Mari und Mordwinisch zu einer Einheit WOLGAISCH, das Ostseefinnische und Samische zu SAMISCH-FINNISCH zusammengefasst. Die finno-ugrischen Sprachen, die nicht zu den ugrischen gehören, wurden von den meisten Forschern als eine genetische Einheit FINNISCH betrachtet. Solche Klassifikationen gehen also von folgender Grundstruktur aus: Grundstruktur URALISCH FINNO-UGRISCH FINNISCH UGRISCH SAMOJEDISCH Sie unterscheiden sich nur durch die Feingliederung der finnischen Gruppe. So ziemlich alle möglichen Varianten sind vorgeschlagen worden, wichtige Arbeiten zur Gliederung des FINNISCHen kamen zu folgenden Ergebnissen: Collinder 1965 Austerlitz 1968 Sauvageot 1973 FINNISCH OSTSEEFINNISCH SAMISCH MORDWINISCH MARI PERMISCH FINNISCH SAMISCH-FINNISCH WOLGAISCH PERMISCH Harms 1974 Voegelin 1977 FINNISCH WESTFINNISCH SAMISCH-FINN. MORDWINISCH MARI PERMISCH FINNISCH FINNO-WOLGAISCH SAMISCH-FINNISCH WOLGAISCH PERMISCH FINNISCH OSTSEEFINNISCH SAMISCH WOLGAISCH PERMISCH Janhunen 1992 berücksichtigt die Reihenfolge der Abspaltungen vom Finno-Ugrischen, was auf einen binären Stammbaum führt, der nur zweigliedrige Verzweigungen besitzt. Er geht von der Abspaltungsfolge 1. Ugrisch, 2. Permisch, 3. Mari, 4. Mordwinisch und 5. Samisch aus. Als Rest bleibt das Ostseefinnische. Dagegen nimmt Abondolo 1998 gerade das umgekehrte Abspaltungsszenario an und verneint damit die Existenz einer genetischen Einheit FINNISCH gegenüber dem Ugrischen. Er sieht folgende Abspaltungsfolge vom Finno-Ugrischen: 1. Samisch-Finnisch, 2. Mordwinisch, 3. Mari, 4. Permisch. Übrig bleibt als Kern das Ugrische. Man erhält folgende binäre Abstammungsstruktur: Abondolo 1998 FINNO-UGRISCH SAMISCH-FINNISCH MORDWINISCH-MARI-PERMISCH-UGRISCH MORDWINISCH MARI-PERMISCH-UGRISCH MARI PERMISCH-UGRISCH PERMISCH UGRISCH Die verschiedenen aktuellen Ergebnisse zusammenfassend, scheint es momentan sinnvoll zu sein, innerhalb des FINNO-UGRISCHen nur das SAMISCH-FINNISCHE zu einer engeren genetischen Gruppe zusammenzufassen, dem die Einheiten MORDWINISCH, MARI, PERMISCH und UGRISCH gleichrangig zur Seite gestellt werden. Man erhält dann folgende Struktur (vgl auch Tab 1): URALISCH FINNO-UGRISCH SAMISCH-FINNISCH OSTSEEFINNISCH SAMISCH MORDWINISCH MARI PERMISCH UGRISCH SAMOJEDISCH Künftige Forschung wird zeigen, ob die hier wegen der neueren Resultate nicht aufgenommene Untereinheit FINNISCH linguistisch relevant ist. WOLGAISCH (MORDWINISCH und MARI) als eigenes Taxon scheint in der neueren Diskussion kaum noch Anhänger zu finden. Urheimat und Ausbreitung Wie gerade gezeigt, korrespondiert eine bestimmte Klassifikationsvariante eng mit einer Hypothese über die Ausbreitung der jeweiligen Sprachgruppe von einer angenommenen Urheimat in ihren heutigen geographischen Raum. Die Festlegung der Urheimat des Proto-Uralischen ist wegen des hohen Alters der Proto-Sprache eine schwierige Aufgabe. Man nimmt allgemein an, dass sie im zentralen oder südlichen Uralgebiet mit einem Zentrum westlich des Gebirgszuges zu lokalisieren ist. Als erste trennten sich die Vorfahren der heutigen Samojeden und zogen ostwärts. Diese Trennung erfogte vor mindestens 6000, wenn nicht 7000 Jahren, was aus der relativ geringen Zahl (ca 150) gesamt-uralischer Etymologien zu schließen ist. Die Aufspaltung des Samojedischen in die heutigen Sprachen begann wohl erst vor etwa 2000 Jahren. Die finno-ugrische Gruppe war von Anfang an die bei weitem größere. Erste Aufspaltungen dieser Gruppe gehen mindestens auf das 3. Jt. vC zurück. Wie schon oben erwähnt, ist die Reihenfolge der Abspaltungen und damit der Verlauf der Ausdehnung der finno-ugrischen Sprachen inzwischen (seit etwa 1970) strittig. Seit Donner 1879 wurde allgemein akzeptiert, dass sich das Ugrische als erste Gruppe vom Finno-Ugrische trennte und als Rest die 'finnische' Einheit zurückließ. Die neueren Resultate (Sammallahti 1984 und 1998, Viitso 1996) sehen dagegen die samisch-finnische Gruppe als eine periphere Einheit an, die zuerst und zwar schon im 3. Jt. vC vom finno-ugrischen Kern abrückte. Es folgten das Mordwinische und das Mari (etwa um 2000 vC) und schließlich das Permische in der Mitte des 2. Jt. vC. Als Kern blieben die Sprachen zurück, aus denen sich das Ugrische entwickelte. Wohl bereits 1000 vC kann man die Trennung des Ungarischen von den ob-ugrischen Sprachen ansetzen. Die Ungarn (Selbstbezeichnung Magyaren) zogen seit 500 nC zusammen mit türkischen Stämmen westwärts und erreichten und eroberten das schwach besiedelte Karpatenbecken 895 nC. (Der Name Ungar stammt aus dem Bulgar-Türkischen oder Tschuwaschischen von 'on-ogur' = 'zehn Ogur-Stämme'). 4 Bemerkungen zur linguistischen Charakteristik der uralischen Sprachen Das Proto-Uralische konnte mit den Methoden der komparativen Linguistik bis zu einem gewissen Grade rekonstruiert werden. Besondere Schwierigkeiten macht dabei der große Abstand des Finno-Ugrischen vom Samojedischen, also letztlich das hohe Alter des Proto-Uralischen, das auf mindestens 7000 Jahre geschätzt wird. Nicht alle Gemeinsamkeiten der uralischen Sprachen können als Erbgut aus dem Proto-Uralischen angesehen werden: einige spiegeln Sprachuniversalien wieder, andere den Einfluss benachbarter nicht-uralischer Sprachgruppen. Hier kommen vor allem das Indogermanische (insbesondere Iranisch, Germanisch, Baltisch und Slawisch) aber auch die Turksprachen in Frage. Im folgenden werden ausgewählte Merkmale uralischer Sprachen zusammengestellt, die im Vergleich zu indogermanischen Sprachen besondere Aufmerksamkeit verdienen. Eine umfassende Darstellung des Proto-Uralischen enthält Hajdú 1987. Phoneme Für die Darstellung des rekonstruierten Konsonanten- und sehr reichhaltigen Vokalsystems des Proto-Uralischen verweise ich auf die weiterführende Literatur (Abondolo 1998, Hajdú 1987, Harms 1979). Als Beispiel sei das Phoneminventar des Finnischen herangezogen: Konsonanten Vokale p,t,d,k; v,j,s,h; m,n,ŋ; l,r i,e,?,a,o,ö,u,y in kurzer und langer Form Die lange Form der Vokale wird im Finnischen durch Doppelsetzung, im Ungarischen durch einen Akzent (z.B ház) ausgedrückt. Vokalharmonie und Vokalassimilation Vokalharmonie ist die qualitative Abhängigkeit eines Suffixvokals vom Wurzelvokal, im weiteren Sinne die qualitative Angleichung zwischen Vokalen eines Wortes. Beides kommt in den uralischen Sprachen weitverbreitet vor. Ob es sich um ein proto-uralisches Merkmal handelt, ist umstritten: hier könnte turkischer Einfluss vorliegen. Die Beispiele stammen aus dem Finnischen und Ungarischen. Der Suffixvokal richtet sich nach der Qualität des Wurzelvokals; hierbei bilden a,o,u einerseits und ä,ö,ü andererseits disjunkte Klassen: Finn. tallo kynä Haus Feder tallo-ssa kynä-ssä im Haus in der Feder Ung. asztal Tisch asztal-ok Tische föld Land föld-ök Länder Ähnliche Regeln gelten nicht nur im Finnischen und Ungarischen, sondern auch in manchen Dialekten des Mordwinischen, Mari, den ob-ugrischen Sprachen und dem samojedischen Kamas. In anderen uralischen Sprachen fehlt dagegen die Vokalharmonie völlig. Streng genommen von der Vokalharmonie zu trennen ist die Vokalassimilation. Z.B. assimiliert unbetontes Suffix-e im Finnischen zum vorhergehenden Vokal: Finn. talo+hen > taloon talo+i+hen > taloihin in das Haus (das h entfällt) in die Häuser Im Ungarischen assimiliert der Suffixvokal der Endung -hez qualitativ (in seiner Rundung) zum vorhergehenden Vokal: Ung. ház-hoz = zum Haus; kéz-hez = zur Hand; betu-höz = zum Brief Konsonantenstufung (Stufenwechsel) Im Samisch-Finnischen werden 'harte' Konsonanten durch stimmhafte, frikative oder liquide Varianten ersetzt, Doppelkonsonanten zu Einfachkonsonaten entschärft, wenn die folgende Silbe durch ein Suffix geschlossen wird (z.B. beim Genetiv-Suffix -n). Finn. mato matto poika lintu Wurm Decke Junge Vogel madon maton pojan linnun des Wurmes der Decke des Jungen des Vogels Im Finnischen gelten allgemein folgende Übergangsregeln: pp > p, tt > t, kk > k; mp > mm; t > d, p > v, k > Ob auch in den samojedischen Sprachen Spuren der Konsonantenstufung zu finden sind, ist umstritten. Gäbe es sie, würde das auf einen proto-uralischen Ursprung hinweisen. Die meisten Forscher gehen von einer samisch-finnischen Innovation aus. Agglutinative Morphologie Die uralischen Sprachen benutzen zur Bildung der Formen der Nomina und Verben die Agglutination (lat. Anleimung). Jedem Morphem (Wortbildungselement) entspricht dabei eindeutig ein Bedeutungsmerkmal (z.B. Genetiv, Lokativ; Tempus, Person), die einzelnen Morpheme werden unter Berücksichtigung der Vokalharmonie - unmittelbar aneinandergereiht. Die Morpheme sind also monosemantisch und juxtaponierend. Es gibt keinen Zweifel, dass bereits das Proto-Uralische vom agglutinierendem Sprachtyp war. (Beispiele unter Nominalbildung und Verbalbildung.) Nominalbildung Die Kasus des Nomens werden in den uralischen Sprachen ausschließlich durch Suffixe gebildet, nie durch Präfixe. Adjektiv-Attribute, Demonstrativa und Zahlwörter zeigten ursprünglich keine Kongruenz in Kasus und Numerus mit dem zugeordneten Nomen, wurden also nicht 'mitdekliniert'. Ung. a négy nagy ház-ban in den vier großen Häusern (a = bestimmter Artikel) Allerdings ist das Finnische unter dem Einfluss seiner idg. Umgebung zur Kongruenz übergegangen: Fin. pieni poika pienet pojat neljä-ssä iso-ssa talo-ssa kleiner Junge kleine Jungen in den vier großen Häusern Das Proto-Uralische besaß mindestens einen Nominativ (unmarkiert), Akkusativ, Ablativ, Lokativ und Lativ (Richtungsfall). Die Anzahl der Fälle reicht in den modernen uralischen Sprachen von 3 beim Chanti, über 6 beim Lappischen, 15 im Finnischen bis zu 16 (oder gar 21) im Ungarischen. Kasusbildung in einigen uralischen Sprachen Finn. Komi Ungarisch Nenets Bedeutung talo-ssa talo-i-ssa talo-sta kerka-yn kerka-yas-yn kerka-ýs ház-ban ház-ak-ban ház-ak-ból xarda-xa-na xarda-xa-?-na xarda-xa-?-d im Haus in Häusern vom Haus weg Der Numerus (Singular-Dual-Plural) ist keine Proto-Uralische Kategorie, was man daran erkennen kann, dass in den modernen uralischen Sprachen die Pluralmarker außerordentlich vielfältig sind. Einen Dual gibt es heute in den samischen, ob-ugrischen und samojedischen Sprachen. Die Kategorie Genus (grammatisches Geschlecht) existiert in den uralischen Sprachen nicht. Komplexere Nominalketten werden in den uralischen Sprachen nach sehr unterschiedlichen Prinzipien gebildet, die Regeln dafür liegen aber in jeder Sprache fest. Als Beispiel sei hier wieder das Finnische herangezogen. Eine Nominalkette hat die Struktur Finn. Stamm + (Plural) + Kasus + (Possessiv) Finn. talo-i-ssa-ni Haus-PLURAL-INESSIV-POSS 1.sg. Haus-mehrere-in-mein (lit) in meinen Häusern talo-i-sta-si aus deinen Häusern Gesamturalisch gilt bei Possessiv-Konstruktionen die Reihenfolge 'Besitzer vor Besitz': Finn. Ung. isä-n talo János ház-a Vaters Haus, das Haus des Vaters Janos Haus-sein (lit): Janos' Haus Verbalbildung Die uralischen Kategorien des Verbs sind Tempus-Aspekt (Präsens-Futur, abgeschlossenes Präsens-Futur und Vergangenheit), Modus (Indikativ, Imperativ, Konditional-Potential), Person (1-3) und Numerus (Singular, Plural). Ein Genus verbi (Aktiv, Passiv) ist keine gesamt-uralische Kategorie. Konstruktionen mit Hilfsverben sind z.B. im Finnischen - erst unter dem Einfluss germanischer Sprachen entstanden. Als Beispiel ziehen wir wieder das Finnische heran. Zur Verbalbildung im Finnischen am Beispiel laula = singen Präs.Indik. 1 2 3 Imperfekt Singular Plural laula-n laula-t laula-a laula-mme laula-tte laula-vat laula+i+Personalendung laula-i-n > laulo-i-n laula-i-a > laula-i Perfekt Bildung mit Hilfsverb ole + Part.Perfekt laula-nut ole-n laula-nut ol-i-n laula-nut Konditional ich habe gesungen ich hatte gesungen Bildung durch -isi- am Verbstamm: puhu-isi-n ich würde sprechen Negativ-Verb Die Negation wird durch ein konjugierbares Negativ-Verb ausgedrückt, vergleichbar mit der Umschreibung im Englischen 'I do not go': Finn. mene-n e-n mene ich gehe nicht-tun-ich gehen → ich gehe nicht mene-t e-t mene du gehst du gehst nicht Umschreibung für 'haben' Haben wird durch 'sein' mit dem Lokativ ausgedrückt. Finn. isä-llä on tallo Vater-bei ist Haus (lit) → Vater hat ein Haus Ung. János-nak van egy ház-a Janos-bei ist ein Haus-sein (lit) → Janos hat ein Haus Wortstellung Die ursprüngliche uralische Wortstellung im Satz ist SOV (Subjekt-Objekt-Prädikat). Sie ist nach wie vor bei den samojedischen und ob-ugrischen Sprachen die Regel, bei den zentralen finno-ugrischen Sprachen in Russland und im Ungarischen üblich, wenn auch nicht obligatorisch. In den ostseefinnischen Sprachen hat sie sich unter dem Einfluss des Indogermanischen in die Stellung SVO geändert.