Antwort auf Ulrich Hauser, Journalist vom Stern (24

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Ein Vergleich von Christentum und Buddhismus: Mystik, Meditation und
Achtsamkeit. In dieser Antwort auf eine Frage des Stern-Journalisten Ulrich
Hauser geht es darum, ob Meister Eckehart, der größte christliche Mystiker,
von der Kirche ermordet worden ist. Dann wird auf Grundlage einer aussagekräftigen Recherche der ältesten Quellen das Thema Mystik, Meditation
und Achtsamkeit im Christentum und Buddhismus betrachtet.
Antwort an Ulrich Hauser, Verfasser eines ausführlichen BuddhismusArtikels im Stern vom 12. 2. 04:
Lieber Herr Hauser,
Im folgenden möchte ich Ihre Frage beantworten, ob ich Belege hätte, dass
Meister Eckehart umgebracht worden ist, und in diesem Zusammenhang auch
auf weitere Kernthemen zu sprechen kommen. Die überlieferten Ereignisse
zu den letzten Lebensjahren Meister Eckeharts machen einen gewaltsamen
Tode sehr wahrscheinlich:
Meister Eckehart hat sich in zwei Verhandlungen im Rahmen eines Inquisitionsverfahrens, das der Erzbischof von Köln gegen ihn betrieb, sehr deutlich
gegen die Vorhaltungen und das ganze Verfahren gewandt (zum Beispiel mit
solchen Aussagen: dass man wohl kaum etwas gegen ihn unternommen hätte,
wenn sein Ruhm beim Volke und sein Einsatz für die Gerechtigkeit geringer
gewesen wäre; dass von hohen Dingen nur mit hohen Worten, emphatischem
Ausdruck und erhabener Seele gekündet werden könne; oder dass er kein
Häretiker sein könne, weil dies eine Sache des Willens sei). 1327 appelliert er
in einem Protestschreiben an den Papst in Avignon, das dieser aber verwirft.
In einer Erklärung an das Volk betont Eckehart, dass er sein ganzes Leben
lang jeden Irrtum im Glauben und jeden Verstoß gegen die Sittlichkeit nach
Kräften gemieden habe, und sollte es daher irgend jemandem gelingen, ihm
einen Irrtum nachzuweisen, widerrufe er das Gesagte vor dem Volke. Er
betonte zugleich, dass man vieles, was er gesagt habe, missverstanden habe,
insbesondere seine wiederholten Äußerungen über ein "Etwas in der Seele",
das "an sich ungeschaffen und unerschaffbar von göttlichem Adel" sei.
Er musste nach Avignon reisen, um sich dort vor einer päpstlichen Untersuchungskommission zu verteidigen. Im März 1329 wird Eckehart von Papst
Johannes XXII als Ketzer verurteilt. Doch die Verurteilungsbulle spricht von
Eckehart bereits als von einem "Verstorbenen", sowie von einem Manne, der
vor seinem Tode all das widerrufen habe, was in seinen Schriften und Predigten durch die Entscheidung des apostolischen Stuhles als ketzerisch, irrig
oder glaubensgefährlich erwiesen worden wäre.
Eckehart ist vermutlich im oder vor April 1328 gestorben. Genaues Datum
und genauer Sterbeort sind nicht bekannt. Angesichts seiner entschiedenen,
in überlegener Weise begründeten und überaus geradlinigen Zurückweisung
aller Ketzervorwürfe, sowie seiner öffentlichen Erklärung an das Volk, ist es
mehr als unwahrscheinlich, dass er die ihm mit der Papstbulle zugeschriebene Widerrufung tatsächlich geleistet habe. Vielmehr liegt nahe, 1) dass er aus
dem Wege geräumt wurde, aber - aufgrund seiner ganz außergewöhnlichen
Popularität im einfachen Volk, seines Professorentitels und seiner hohen
Stellung im Dominikaner-Orden - nicht mit einer öffentlichen Hinrichtung;
und 2) dass man ihn danach als "Verstorbenen" erklärte und ihm jenen Widerruf andichtete. So schien die von Eckehart ausgehende Gefahr gebannt.
Sie war offenbar sehr groß, wie aus dem Wortlaut der Bulle hervorgeht.
Mit dem Anspruch, der maßgebliche Hüter und Arbeiter auf dem Acker des
Herrn zu sein, dem der Schutz vor dem "gefährlichen Unkraut der Irrlehre
aufgetragen" sei, meint der "Heilige Vater" in seiner Verurteilungsbulle Auf
dem Acker des Herrn zu Meister Eckehart Folgendes: "dass in dieser Zeit
einer aus deutschen Landen, Eckehart mit Namen, und, wie es heißt, Doktor
und Professor der Heiligen Schriften, aus dem Orden der Predigerbrüder,
mehr wissen wollte, als nötig war. Nicht entsprechend der Besonnenheit und
nach der Richtschnur des Glaubens hat er zahlreiche Lehrsätze vorgetragen,
die den wahren Glauben in vieler Herzen vernebeln, und die er hauptsächlich
vor dem einfachen Volke in seinen Predigten lehrte und auch in Schriften
niederlegte." (Zitiert nach Gerhard Wehr: Die Deutsche Mystik: Mystische
Erfahrung und Theosophische Weltsicht, München: Scherz Verlag, 1991.)
Angesichts des Inquisitionsverfahrens, das sich über Jahre bis 1328 gegen ihn
erstreckt hatte, wäre es für die Kirche ein überaus günstiger Zufall gewesen,
wenn Eckehart so bald nach seinem Protestschreiben an den Papst und seiner
öffentlichen Erklärung an das Volk plötzlich eines natürlichen Todes gestorben wäre. In einem solchen Falle wäre es zudem mehr als verwunderlich,
dass Datum, Ort und Zeugen des angeblich natürlichen Todes nicht bekannt
geworden sind. Bei einem natürlichen Tod hätte sich die Kirche zweifellos
und mit Zeugen darum gekümmert.
Es wird heute zunehmend über den Buddhismus berichtet. Er beginnt, sich
im Westen auf machtvolle Weise zu verankern. So wird die Frage einer angemessenen Einbringung der buddhistischen Lehren in das Abendland heute
immer wichtiger. In diesem Zusammenhang rückt besonders das Verhältnis
zum Christentum in den Blickpunkt. Dabei bleiben generell bestimmte Dinge
unerwähnt, die aber wesentlich scheinen.
Unter den christlichen Mystikern, soweit ich sie überblicke, hat am ausgeprägtesten Meister Eckehart den in der monotheistischen Religiosität angelegten Grund-Dualismus zwischen einem Über- bzw. Quell-Selbst "allmächtiger Schöpfergott", einem Gegner-Selbst "Satan", sowie (im angst- bzw.
schuldvollen Spannungsfeld zwischen diesen beiden postulierten Mächten)
einem menschlichen Kern-Selbst "ewige Seele" aufgelöst.
Im Grunde verwendet er, ausgehend von der Prägung der Menschen, die
christlichen "Selbst"-Vorstellungen nur, um von ihnen wegzuführen bzw. die
Intuition für die befreiende "Nicht-Selbst"-Realität im Hier und jetzt zu öffnen. Dies rückt ihn, trotz seiner Verwendung der Begriffe "Gott" und "Seele",
sehr nahe an die Lehre des Buddha vom "Nicht-Selbst aller Dinge" - dass
alles fließt, im Wahrheit nicht trägt, im allbezogenen, allverbindenden NichtSelbst. So hat bereits Arthur Schopenhauer die Aussage getan:
"Wenn man von den Formen absieht und den Sachen auf den Grund geht,
wird man finden, dass Shakyamuni (der Buddha) und Meister Eckhard dasselbe lehren."
Ein Beispiel für die große Nähe Eckeharts zum Buddha ist die oben zitierte
Kernlehre vom "Etwas in der Seele", das an sich "ungeschaffen und unerschaffbar von göttlichem Adel" sei. Denn als "ungeschaffen und unerschaffbar" kann es eben nicht von einem "Schöpfergott" stammen. Eine berühmte
Definition des Nirvâna im Pali-Kanon lautet ganz ähnlich: "Das Ungeschaffene, Unbedingte, Ungewordene, Ungemachte". Auch gilt das Nirvâna als ein
"dhamma", dies heißt als ein unfassbares oder unbegreifbares "Ding" (als ein
"Etwas" in einem unfassbarem Sinne). Ein Mensch, der es verwirklicht, gilt
als ein "Edler" (vgl. Eckeharts "Adel"). Außerdem steht Eckeharts "Etwas in
der Seele", mithin sogar der Kern der Seele, höher als eine "eingehauchte"
bzw. "geschaffene Seele".
Der Unterschied zwischen Meister Eckehart und Buddha ist, dass der Erwachte die Seele (jîva) als ein Synonym für das "Ich" betrachtet hat, als eine
weitere bloß metaphysische Idee von etwas Substanzhaftem, Beständigem
oder Gleichbleibendem im Menschen. Der Buddha hat dieses Substanzhafte,
Beständige oder Gleichbleibende im Menschen verneint; angesichts des immer bloß erfahrbaren "Alles Fließt" sämtlicher Körper-Geist-Phänomene. Der
Erwachte sieht das "Ich" als eine rein konventionelle, nicht als eine höchste
Realität. Eckeharts Lehren sind zwar nicht identisch mit den Lehren des
Buddha, stehen ihnen aber doch sehr nahe. Der Buddha hätte jene Aussage
Eckeharts wohl folgendermaßen formuliert: "Die konventionelle Wahrheit
des ,Ich' birgt die höchste Wahrheit des Ungeschaffenen, Unbedingten, Ungewordenen ,Nirvâna'."
Von einer besonderen Ausnahme wie Meister Eckehart einmal abgesehen,
gilt der folgende und heute kaum bewusst gemachte Grundunterschied (der
ausgehend von den ältesten vollständig überlieferten Redensammlungen des
historischen Buddha im Pali-Kanon eindeutig besteht):
Die Lehre des historischen Buddha (und auch noch relativ ausgeprägt der
spätere Buddhismus) ist eine Praxislehre, mit der inneren und äußeren Natur
als ihrem einzigen Ausgangspunkt. Hier gilt eine natürliche Achtsamkeit als
der innere Pfad zur Befreiung. "Meditation" (bhavanâ) bedeutet die systematische Entwicklung von Achtsamkeit. In den buddhistischen Urschriften sind
"Achtsamkeit" und "Meditation" Hauptthemen. Sie gelten als die Quelle des
kulturübergreifenden Befreiungsweges von ethischer Motivation, geistiger
Ruhe und befreiender Schau, bzw. des "einzigen", "einen" oder "direkten
Weges zur Befreiung" (ekayâno maggo).
Die monotheistischen Religionen sind Glaubenslehren, mit Vorstellungen als
ihrem Ausgangspunkt. Dies impliziert "Dogmen" (der Begriff "Dogma" ist
hier zentral), welche der menschlichen Erfahrung und den natürlichen Gesetzen objektiv widersprechen. Dazu gehören besonders die auch urtextlich
verankerten Dogmen "Auferstehung von den Toten", "Ewiges Leben", oder
die Kausalitätsfiktionen hinter einem "Jüngsten Gericht", sowie einer Erlösung der Menschheit durch einen Kreuzestod.
Die Begriffe "Achtsamkeit" und "Wachsamkeit", oder auch "Meditation" als
deren systematische Einübung, kommen in den Urtexten der monotheistischen Weltreligionen nicht vor.
Diesem Unterschied kommt eine besondere Bedeutung zu. Denn laut dem
historischen Buddha sind Achtsamkeit und Meditation die Quelle des universellen Befreiungsweges von Ethik, Ruhe und Einsicht, bzw. des "einzigen",
"einen" oder "direkten Weges zum Nirvâna". Aus buddhistischer Sicht kann
es deshalb in einer Religion, wenn in ihr Achtsamkeit und Meditation keine
Rolle spielen, auch nicht wirklich um innere Befreiung gehen. In der Tat gilt
in den monotheistischen Religionen die Natur des Menschen als "Erbsünde".
Der spätere Buddhismus dagegen lehrt die "Buddha-Natur" und der frühe
Buddhismus von die volle Befreiungsfähigkeit des Menschen.
Auch das Fehlen des Themas Achtsamkeit und Meditation in den Urschriften
der monotheistischen Religionen belegt, dass es hier um reine Glaubenslehren geht, mit bloßen Vorstellungen bzw. Dogmen als ihrem Ausgangspunkt.
Die nicht-gedankliche Achtsamkeit und Meditation, die immer auf unsere
konkreten Erfahrungen (die fließenden, letztlich ungreifbaren materiellen und
geistigen Phänomene) ausgerichtet sind, befreien von allen bloßen Vorstellungen bzw. Dogmen. Denn sie sind in der konkreten Erfahrung objektiv
nicht verifizierbar, nur glaubbar. Dass sie so vielfach geglaubt und stark
verteidigt werden werden, hat in erster Linie psychologische Gründe, etwa
eine Trostfunktion. Sie kommen bestimmten Anhaftungen entgegen ("Auferstehung von den Toten" etwa der Identifikation mit dem vergänglichen Körper, und "ewiges Leben" der Fixierung auf das vergängliche Leben).
Die Titelgeschichte The Science of Meditation des amerikanischen TimeMagazine vom Oktober 2003 war eine bebilderte Gegenüberstellung der
großen Religionen zum Thema "Meditation". Einleitend stand dort: "Through
The Ages: Meditation, nearly as old as humanity, has always been part of
Eastern religions. Now the West is rediscovering its own meditative past."
Die nachfolgenden Resümees beschreiben Meditation bloß für den Hinduismus und den Buddhismus als ursprünglich. Zum Hinduismus heißt es: "Meditation is described in ancient Hindu texts. It has been a part of Hinduism
and its many offshoots ever since." Zum Buddhismus: "588 B. C. Buddha:
After meditating under a banyan tree, Prince Siddhartha Gautama achieved
enlightenment. Buddhism in all its many forms would be the ultimate result."
Für Christentum, Judentum und Islam wird dort Meditation lediglich für
deren spätere bzw. mystische Richtungen angegeben, jedoch nicht für die
Urquellen dieser drei monotheistischen Religionen. Im Falle des Christentums wird der Beginn der Meditation den Wüstenvätern zugeordnet, ab dem
2. Jh. n. Chr.: "They used meditation to get closer to God." Im Falle der
jüdischen Kabbalisten wird Meditation als "one way Cabalists would try to
commune with God" erwähnt, und zu den Muslimen heißt es: "Sufis incorporated meditation into their rituals of worship". Laut Time sind durch Martin
Luthers Sicht Mystik und Meditation verdrängt worden.
Christlich-mystische Meditation bzw. Kontemplation als "Gespräch mit Gott"
oder, um mit einem modernen Ausdruck zu sprechen, als "Herzensgebet", ist
nicht identisch mit der buddhistischen Achtsamkeitsmeditation. Die Lehre
des historischen Buddha von der höchsten Realität, die zu verwirklichen jede
Form von Achtsamkeitsmeditation bezweckt, ist mit dem Glauben an einen
höchsten Gott nicht vereinbar. Der Buddhismus ist die einzige nichttheistische Weltreligion.
Der Hauptgrund für diese Nicht-Kompatibilität lässt sich in zwei Schritten so
resümieren:
"Der Gott- und Seelenglaube ist der menschliche Ich- und Mein-Glaube in
seiner metaphysisch überhöhten Form, das unbewusst machtvollste Rückversicherungsprojekt des ,Selbst' in der Geschichte."
"Solange es um ein Selbst geht, sei es ein ‚kleines' oder ein ‚großes', ein
,konventionelles' oder ein ,wahres', ein ,teuflisches' oder ,göttliches', wird
man sich darum drehen. Solange man sich darum dreht, ist man in Rotation:
unruhig, unklar - unfrei. In diesem Zustand ist man nicht, was man sein könnte - wahrer Mensch."
Die buddhistische Kernlehre vom "Nicht-Selbst", dadurch begründet, dass
alle Phänomene im beständigen Fluss und Wandel, dies heißt in Wahrheit
nicht tragfähig sind, bezieht sich auf alles Bedingte und das Unbedingte (das
unvergänglich und tragfähig, aber trotzdem kein "Selbst" ist). Ein "wahrer",
innerlich freier Mensch zu werden, der immer auch wahres Mitgefühl empfindet, ist das Ziel des Buddhismus in all seinen Formen.
Ich habe die ganze Bibel in Luthers Übersetzung (www.bibel-online.net), in
der revidierten Fassung von 1984, nach den folgenden Begriffen durchsucht:
1) "Achtsamkeit" (im Buddhismus das befreiende Mittel zur Untersuchung
aller materiellen und geistigen Phänomene im Hinblick auf ihre wahre Beschaffenheit bzw. Natur); Fundstelle - keine.
2) Der verwandte Begriff "Bewusstheit"; Fundstelle - keine.
3) Der verwandte Begriff "Gewahrsein"; Fundstelle - keine.
4) Der verwandte Begriff "Wachsamkeit" (im Buddhismus das Mittel zum
Verstehen der Sinneserfahrungen, von dem, was sie innerlich auslösen; bzw.
das Mittel zur Behütung des Geistes); Fundstelle - keine.
5) "Meditation" (im Buddhismus die systematische Einübung der Achtsamkeit); Fundstelle - keine.
Es gibt einen Abschnitt im Evangelium des Lukas (Lk 21,31), welcher in der
genannten Übersetzung mit "Ermahnung zur Wachsamkeit" überschrieben
ist. Aber hier werden die Begriffe "wach" und "hütet euch" in einem ganz
anderen Sinne gebraucht, als in dem auf die wirkliche alltägliche Erfahrung
bezogenen Sinne der Reden des historischen Buddha. In diesem Abschnitt
des Lukas-Evangeliums geht es nämlich um die Vorbereitung auf das vermeintliche Herabschweben des Heilands "in einer Wolke mit großer Kraft
und Herrlichkeit", das sich dereinst mit Zeichen "an Sonne und Mond und
Sternen" ankündigen soll; und "die Menschen werden vergehen vor Furcht
und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde". An
dieser Stelle sind also die Begriffe "wach" und "hütet euch" bloßen Glaubensideen untergeordnet.
Das Gleiche gilt für die einzige Belegstelle in der Bibel für das Eigenschaftswort "achtsam" (3. Mose 22,2). Diese Eigenschaft ist dort laut Gott
höchst-Selbst einem bloßen Glauben untergeordnet, nämlich "dem Heiligen
der Israeliten, den Gaben, die sie mir heiligen, damit sie meinen heiligen
Namen nicht entheiligen". Die Stelle endet auch so: "Ich bin der Herr".
Auch die Belegstellen in der Bibel für "sich bewusst sein" oder "gewahr"
(hier generell nur andere Ausdrücke für "erkennen" oder "wissen") sind charakteristischen bloßen Glaubensvorstellungen untergeordnet, die in der Erfahrung nicht verifizierbar sind; zum Beispiel (2. Kor 2, 11): "damit wir nicht
übervorteilt werden vom Satan; denn uns ist wohl bewusst, was er im Sinn
hat"; oder (1. Kor 4, 4): "Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich
nicht gerechtfertigt; der Herr ist's aber, der mich richtet"; oder auch, zur vermeintlichen "Auferstehung Jesus von den Toten" (Markus 16, 4): "Und sie
sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war".
Die Begriffe "Besonnenheit" und "besonnen" erscheinen in der Bibel. Aber
sie sind nicht synonym mit "Achtsamkeit" und "achtsam", da sie einen gedanklichen Vorgang beschreiben. Man kann sich wohl "auf Gott besinnen",
aber nicht "auf Gott achtsam sein". Denn "achtsam" bezieht sich stets auf die
konkrete Erfahrung. Diesen Unterschied zeigt auch die Verwendung des
Begriffes "Besonnenheit" in der oben zitierten päpstlichen Verurteilungsbulle: "... nicht entsprechend der Besonnenheit und nach der Richtschnur des
Glaubens" - des Papstes oder der Kirche.
Auch gibt es bloß ein paar Belegstellen in der Bibel zu "Besonnenheit" und
"besonnen", was (selbst wenn man eine Ähnlichkeit dieser Begriffe mit
"Achsamkeit" und "achtsam" annehmen möchte) nicht mit der herausragenden Stellung von "Achtsamkeit" und "achtsam" in den umfassenden Redensammlungen des Buddha zu vergleichen ist. Er hat diesem Thema zentrale
Lehrreden gewidmet, besonders "Die Rede von den Vergegenwärtigungen
der Achtsamkeit" Satipatthâna-Sutta, und "Die Rede vom bewussten Einund Ausatmen" Ânâpânasati-Sutta. (Im Buddhismus gibt es dazu so viel
Material, dass der deutsche Theravâda-Bhikkhu Analayo eine ganze Doktorarbeit nur zum ersteren, dem Satipatthâna-Sutta, geschrieben hat: Satipatthâna: The Direct Path to Realisation, Windhorse Publications. Er hat
hier die vielen verschiedenen Kommentare und Deutungen dieser Rede berücksichtigt.) Außerdem taucht "Achtsamkeit" in fast allen zentralen Lehrreihen des historischen Buddha im Pali-Kanon auf.
Die Bibel ist das am meisten verbreitete, und sicher einflussreichste Buch der
Weltgeschichte. Deshalb kommt den darin ausgedrückten Lehren, sowie der
Tatsache, dass in der Bibel bestimmte, für die innere Entwicklung unabdingbare Lehren nicht vorkommen, ein besonderes Gewicht zu.
Mit vielen Grüßen,
Hans Gruber
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