Milieu und Kultur

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UHH – FB Sozialökonomie – Wulf D. Hund – Politische Soziologie 1 – SoSe 2011 – Montesquieu 1
Kultur und Milieu:
Charles de Montesquieu
Charles-Louis de Secondat Baron de La Brède et de Montesquieu, geb. am 18.1.1689 in einer Familie aus dem Amtsadel; nach der Schule Studium der Rechte in Bordeaux und Paris,
naturwissenschaftliche Studien; 1716 Präsident des Parlements in Bordeaux; 1721: ›Lettres
Persanes‹; häufige Aufenthalte in Paris, 1726 Verkauf des Richteramtes; 1728 Mitglied der
Académie Française; 1729-31 Aufenthalte in Deutschland, Italien und England; 1734:
›Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence‹; 1748 ›De
l'esprit des lois‹ (indiziert 1751); gest. am 10. 2. 1755 in Paris.
Literatur:
[GG] Ch. de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Hrsg. v. E. Forsthoff. 2 Bde. Tübingen
1951.
[GdG] Ch. de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Auswahl v. K. Weigand. Stuttgart 1965.
Ch. de Montesquieu: Persische Briefe. Frankfurt etc. 1964.
Ch. de Montesquieu: Größe und Niedergang Roms. Hrsg. v. L. Schuckert. Frankfurt 1980.
L.Althusser: Montesquieu. La politique et l'histoire. Paris 1964 (2.Aufl.),
R. Aron: Hauptströmungen des klassischen soziologischen Denkens. Hamburg 1979.
D. W. Carrithers, P. Coleman (Hrsg.): Montesquieu and the Spirit of Modernity. Oxford 2002.
E. Durkheim: Montesquieus Beitrag zur Gründung der Soziologie. In: ders., Frühe Schriften
zur Begründung der Sozialwissenschaft. Darmstadt, Neuwied 1981, S.85 - 128.
M. Hereth: Montesquieu zur Einführung. Hamburg 1995.
Im Zentrum der theoretischen Überlegungen Montesquieus steht der Begriff
des Gesetzes:
[1]
»Gesetze im weitesten Sinne des Wortes sind Beziehungen, die sich aus der
Natur der Dinge mit Notwendigkeit ergeben. In diesem Sinne haben alle Wesen ihre Gesetze: die Gottheit und die körperliche Welt, höhere geistige Wesen, Tiere und Menschen haben ihre eigenen Gesetze...
Die Schöpfung ... setzt ... unveränderliche Gesetze voraus... Es wäre
sinnlos, zu behaupten, daß der Schöpfer auch ohne diese Regeln die Welt
regieren könnte, da die Welt ohne sie nicht bestehen könnte« (GG 2, 19f.).
Die Gesetze lassen sich je nach den Verhältnissen der Menschen in Naturgesetze und positive Gesetze einteilen:
[1 - a -]
»Allen ... Gesetzen voran stehen die Naturgesetze ... Um sie recht zu verstehen, muß man sich einen Menschen vor der Gründung der Gemeinschaften vorstellen ... Ein solcher Mensch würde zunächst nur seine Schwäche
empfinden und äußerst furchtsam sein; und bedürfte es hierzu eines Erfahrungsbeweises, so hat man ihn bei den Wilden der Urwälder gefunden: alles
macht sie zittern, alles treibt sie zur Flucht.
In diesem Zustand fühlt sich jeder unterlegen und dem anderen kaum
gewachsen. Man wird also nicht den Angriff suchen, und Friede wäre so das
erste Naturgesetz.
Mit Unrecht legt Hobbes den Menschen als ersten den Wunsch bei, einander zu unterjochen. Der Gedanke an Macht und Herrschaft ist so kompli-
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ziert und hängt von so vielen anderen Gedanken ab, daß die Menschen ihn
nicht als ersten gehabt haben können« (GG 1, 12f.).
Als weitere Naturgesetze zählt Montesquieu den Trieb zur Nahrungssuche,
das gegenseitige Verlangen der Geschlechter und den der Erkenntnis entspringenden Drang, in Gesellschaft zu leben, auf, um dann den Gesellschaftszustand und die positiven Gesetze zu charakterisieren:
[1 - b -]
»Sobald die Menschen in Gesellschaft leben, verlieren sie das Gefühl ihrer
Schwäche; die Gleichheit, die unter ihnen bestand, geht verloren und der
Kriegszustand beginnt.
Jede einzelne Gesellschaft gelangt zum Gefühl ihrer Kraft und damit wird
ein Kriegszustand von Volk zu Volk hervorgerufen. Die einzelnen in jeder
Gemeinschaft werden sich allmählich ihrer Kraft bewußt; sie versuchen, sich
die größten Vorteile dieser Gemeinschaft zu sichern, und dadurch kommt es
zu einem Kriegszustand zwischen ihnen.
Diese beiden Arten von Kriegszustand führen zur Schaffung der Gesetze
unter den Menschen. Als Bewohner eines Planeten, der so groß ist, daß es
notwendigerweise mehrere Völker geben muß, haben sie Gesetze, die ihre
Beziehungen untereinander regeln: das ist das Völkerrecht. Als Glieder einer
Gesellschaft, die aufrechterhalten werden soll, haben sie Gesetze, die sich
auf das Verhältnis der Regierenden zu den Regierten beziehen: das ist das
Staatsrecht. Und weiter haben sie Gesetze, die sich auf das Verhältnis aller
Bürger zueinander beziehen: das ist das bürgerliche Recht ...
Das Gesetz ganz allgemein, ist die menschliche Vernunft, sofern sie alle
Völker der Erde beherrscht; und die Staats- und Zivilgesetze jedes Volkes
sollen nur die einzelnen Anwendungsfälle dieser menschlichen Vernunft
sein.
Sie müssen dem Volk, für das sie geschaffen sind, so genau angepaßt
sein, daß es ein sehr großer Zufall wäre, wenn sie auch einem anderen Volke angemessen wären ... Sie müssen ... der Natur des Landes entsprechen,
...der Lebensweise der Völker, ob Ackerbauer, Jäger oder Hirten: sie müssen dem Grad von Freiheit entsprechen, der sich mit der Verfassung verträgt; der Religion der Bewohner, ihren Neigungen, ihrem Reichtum, ihrer
Zahl, ihrem Handel, ihren Sitten und Gebräuchen« (GG 1, 14ff.).
Der hier schon angesprochene Zusammenhang von Gesetz und Freiheit
wird weiter präzisiert und aus ihm die Forderung nach Gewaltenteilung abgeleitet:
[2]
»(D)ie politische Freiheit besteht nicht darin, zu tun was man will. In einem
Staat, das heißt in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, das tun zu können, was man wollen darf, und nicht
gezwungen zu sein, zu tun, was man nicht wollen darf...
Politische Freiheit findet sich nur in gemäßigten Regierungsformen. Aber
sie ist nicht immer in den gemäßigten Staaten vorhanden. Sie findet sich dort
nur dann, wenn man die Macht nicht mißbraucht ... Um den Mißbrauch der
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Macht zu verhindern, muß vermöge einer Ordnung der Dinge die Macht der
Macht Schranken setzen« (GG 1, 212f.).
Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgender Staatsaufbau:
[3]
»Es gibt in jedem Staat drei Arten von Vollmacht: die legislative Befugnis, die
exekutive Befugnis ... und die ... richterliche Befugnis ...
Sobald ... die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist, gibt
es keine Freiheit ... Freiheit gibt es auch nicht, wenn die richterliche Befugnis
nicht von der legislativen und von der exekutiven Befugnis geschieden wird«
(GdG 212f.).
»Stets gibt es im Staat Leute, die durch Geburt, Reichtum oder Auszeichnungen hervorragen. Wenn sie aber mit dem Volk vermengt würden
und wie die andern bloß eine Stimme besäßen, so würde die gemeinsame
Freiheit für sie Sklaverei bedeuten. Sie hätten keinerlei Interesse an der Verteidigung der Freiheit, denn die meisten Beschlüsse würden zu ihren Ungunsten gefaßt. Ihre Teilnahme an der Gesetzgebung muß daher ihrer anderweitigen Vorrangstellung innerhalb des Staates angemessen sein. Das
trifft zu, wenn sie eine Körperschaft bilden, die das Recht hat, Unternehmungen des Volkes auszusetzen, genauso wie das Volk das Recht hat, die ihrigen auszusetzen.
Auf diese Weise wird die legislative Befugnis sowohl der Adelskörperschaft als auch der gewählten Körperschaft der Volksvertreter anvertraut.
Jede hat ihre Versammlungen und Abstimmungen für sich, sowie getrennte
Gesichtspunkte und Interessen« (GdG 217).
»Die exekutive Befugnis muß in den Händen eines Monarchen liegen,
weil in diesem Zweig der Regierung fast durchweg unverzügliches Handeln
vonnöten ist, das besser von einem als von mehreren besorgt wird« (GdG
218).
»(D)ie Richter der Nation sind ... lediglich der Mund, der den Wortlaut des
Gesetzes spricht, Wesen ohne Seele gleichsam, die weder die Stärke noch
die Strenge des Gesetzes mäßigen können« (GdG 221).
Die Rechte des Volkes beschränken sich in diesem System auf die Wahl von
Repräsentanten:
[4]
»(D)as Volk ... darf nur durch die Wahl von Repräsentanten an der Regierung mitwirken. So weit reicht sein Horizont ...
In den verschiedenen Distrikten müssen alle Bürger bei der Wahl der
Repräsentanten das Recht zur Stimmabgabe besitzen, diejenigen ausgenommen, die in solch einem Elend leben, daß man ihnen keinen eigenen
Willen zutraut ...
Die Repräsentanten sind in der Lage, die Angelegenheiten zu erörtern.
Das ist ihr großer Vorteil. Das Volk ist dazu durchaus nicht geeignet. Das ist
eines der großen Gebrechen der Demokratie« (GdG 217, 216).
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Neben Wahlzensus und Repräsentation tritt als wichtigstes Element zur Gewährleistung des Staatszweckes die Trennung von Staatsrecht und bürgerlichem Recht:
[5]
»Wie die Menschen auf ihre natürliche Unabhängigkeit verzichtet haben, um
unter staatlichen Gesetzen zu leben, so haben sie auch auf die natürliche
Gütergemeinschaft verzichtet, um sich bürgerlichen Gesetzen zu unterstellen.
Diese ersten Gesetze verschaffen ihnen die Freiheit, die zweiten das Eigentum. Man darf nun nicht nach den Gesetzen der Freiheit ... das entscheiden, was nur durch die Gesetze über das Eigentum entschieden werden
darf. Es ist ein Trugschluß, zu behaupten, daß das Wohl des einzelnen dem
Gemeinwohl weichen müsse: ... denn es entspricht immer dem Interesse
des Gemeinwohls, daß jeder sein Eigentum, das ihm die bürgerlichen Gesetze gewährleisten, unverändert behält...
Wir können also den Grundsatz aufstellen, daß, wo es sich um das Gemeinwohl handelt, dieses nie darin besteht, daß man einen einzelnen seines
Vermögens beraubt oder ihm auch nur durch Gesetz oder eine politische
Maßnahme den geringsten Teil davon entzieht. In diesem Fall muß man
strikt auf dem bürgerlichen Gesetz bestehen, das die Schutzwehr des Eigentums bildet« (GG 2, 226f.).
Im Zusammenhang mit der Eigentumsfrage und dem Verhältnis von Reichtum und Armut rechnet Montesquieu auch Grundelemente der Sozialpolitik
zu den Staatsaufgaben:
[6]
»Ein Mensch ist nicht arm, weil er nichts besitzt, sondern weil er nicht arbeitet. Wer kein Vermögen hat, aber arbeitet, hat ebenso gut sein Auskommen,
wie der, der hundert Taler Einkommen hat, ohne zu arbeiten ...
Voraussetzung für den Reichtum eines Staates ist eine lebhafte Industrie.
Bei der großen Zahl von Handelszweigen läßt es sich unmöglich vermeiden,
daß einer von ihnen Not leidet und infolgedessen die Arbeiter sich in augenblicklicher Notlage befinden.
Dann muß der Staat rasche Hilfe leisten können, um zu verhindern, daß
das Volk leiden muß oder einen Aufstand macht. Für solche Fälle braucht
man Armenhäuser oder andere gleichartige Einrichtungen, die einem solchen Elend vorbeugen können« (GG 2, 157ff.).
Alle diese Überlegungen bettet Montesquieu in seine um den Begriff des
Klimas zentrierte Milieutheorie ein:
[7]
»Wenn es wahr ist, daß der Charakter des Geistes und die Leidenschaften
des Herzens in den verschiedenen Klimaten außerordentlich verschieden
sind, dann müssen die Gesetze auf die Unterschiedlichkeit dieser Charaktere Bezug haben …
Kalte Luft zieht die Oberfläche der äußeren Gewebe unseres Körpers zusammen. Das vermehrt deren Spannkraft … Sie vermindert die Ausdehnung
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dieser Gewebe, dadurch vermehrt sie ihre Kraft. Warme Luft dagegen erschlafft die Außenseite der Gewebe …; sie vermindert also ihre Stärke …
In den kalten Klimaten besitzt man mehr Kraft … Diese größere Stärke
muß viele Wirkungen hervorbringen, zum Beispiel mehr Selbstvertrauen, und
das heißt: mehr Mut … Die Bewohner warmer Länder sind furchtsam, wie es
die Greise sind; die der kalten Länder sind mutig wie die jungen Leute« (GG
1, 310f.).
»Die Wärme des Klimas kann so außerordentlich sein, daß der Körper
vollständig kraftlos ist. Dann teilt sich die Ermattung auch dem Geist mit, es
gibt keinen Wissensdrang, keine edle Handlung, keine hochherzige Empfindung; die Neigungen bleiben ganz passiv, Nichtstun ist das Glück… [D]ie
Knechtschaft [wird dort] leichter ertragen als geistige Anstrengung, deren es
zur eigenen Beherrschung bedarf« (GG 1, 314).
Diese Konzeption führt zu einer zwiespältigen Haltung bei der Diskussion
des Themas ›Sklaverei‹, die hinsichtlich der Beurteilung Afrikas noch durch
Argumente verstärkt wird, die gleichzeitig die Kultur der Afrikaner abwerten
und den Kolonialhandel legitimieren:
[8]
»Da … alle Menschen von Geburt aus gleich sind, so muß man sagen, daß
die Sklaverei gegen die Natur verstößt, obgleich sie in einigen Ländern auf
natürlichen Ursachen beruht«.
Es gibt Länder, wo die Hitze den Körper so entnervt und den Willen
schwächt, daß die Menschen nur durch die Furcht vor Strafe zur Erfüllung
einer lästigen Pflicht getrieben werden können: hier verstößt die Sklaverei
also nicht so sehr gegen die Vernunft« (GG 1, 336).
»So ist es … nicht verwunderlich, daß die Feigheit der Völker in den heißen Gegenden sie fast immer zu Sklaven gemacht … hat. Das ergibt sich als
natürliche Folge.
Das hat sich auch in Amerika bewahrheitet: die despotischen Reiche Mexiko und Peru lagen nahe am Äquator« (GG 1, 371f.)
»(I)n Asien … (herrscht) der Sklavengeist, der es nie verlassen hat, und
in der ganzen Geschichte dieses Landes ist es unmöglich, einen einzigen
Zug zu finden, der eine freie Seele verrät …Afrika entspricht in seinem Klima
dem des südlichen Asiens und lebt in der gleichen Knechtschaft (GG 1,
378f.)
»Die meisten Völker der afrikanischen Küsten sind Wilde oder Barbaren
… Sie kennen kein Gewerbe, keine Künste, aber sie haben kostbare Metalle
im Überfluß … Alle gesitteten Völker sind daher in der Lage, mit ihnen vorteilhaften Handel zu treiben; sie können sie eine Menge wertloser Sachen
schätzen lehren und dafür einen hohen Preis erzielen« (GG 2, 25).
Vor diesem Hintergrund muß eines der umstrittensten Kapitel im ›Esprit de
lois‹ gelesen werden, das in der Literatur teils als ein Meisterwerk ironischer
Distanzierung und Kritik, teils als Camouflage gewertet wird, die Montesquieus Interesse am kolonialen Sklavenhandel verbergen soll:
[9]
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»Wenn ich unser Recht zur Versklavung der Neger zu begründen hätte,
dann würde ich folgendes sagen:
Da die Völker Europas die Völker Amerikas ausgerottet haben, mußten
sie die Völker Afrikas zu Sklaven machen, um sie zur Urbarmachung so großer Gebiete zu benutzen.
Der Zucker wäre zu teuer, wenn man die Pflanzungen, die ihn erzeugen,
nicht von Sklaven bearbeiten ließe.
Die Menschen, um die es sich dabei handelt, sind schwarz von Kopf bis
zu den Füßen und haben eine so platte Nase, daß es fast unmöglich ist, sie
zu beklagen.
Man kann sich nicht vorstellen, daß Gott … eine Seele … in einen ganz
schwarzen Körper gelegt habe …
Ein Beweis dafür, daß die Neger keine gesunde Vernunft haben, liegt darin, daß sie eine Halskette aus Glasperlen höher schätzen als eine aus Gold
…
Es ist unmöglich sich vorzustellen, daß diese Leute Menschen seien,
denn wenn wir sie für Menschen hielten, müßte man anfangen zu glauben,
daß wir selbst keine Christenmenschen seien« (GG 1, 334).
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