Andreas Hieber - Universität Bern

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Universität Bern
November 1997
Historisches Institut
3. Semester
Abt. Neueste Geschichte
Proseminararbeit im Fach Geschichte
Legitimation der Sansculottenbewegung (1793-1795).
Dargestellt am Beispiel der wirtschaftlichen Forderungen
und verglichen mit der Legitimation von Konflikten in der
Frühen Neuzeit
Eingereicht bei PD Dr. Heinrich Richard Schmidt
von Andreas Hieber
Andreas Hieber
Waldheimstr. 36
3012 Bern
Tel.: 031-301 97 32
1
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG ....................................................................................................................................................3
1.1. FORSCHUNG ......................................................................................................................................................3
1.1.1. Die Darstellung vor Soboul .......................................................................................................................3
1.1.2. Die Darstellung Sobouls ............................................................................................................................4
1.1.3. Die Rezeption Sobouls ...............................................................................................................................4
1.1.4. Forschungsstand und Streitpunkte .............................................................................................................5
1.2. MATERIALLAGE ...............................................................................................................................................5
1.3. FRAGESTELLUNG ............................................................................................................................................ 5
1.4. VORGEHENSWEISE ...........................................................................................................................................6
2. DIE HISTORISCHE LAGE ZWISCHEN JUNI 1793 UND MAI 1795 ........................................................6
2.1. DER AUFSTIEG DER SANSCULOTTENBEWEGUNG ..........................................................................................6
2.2. DIE WOHLFAHRTSDIKTATUR UNTER ROBESPIERRE.......................................................................................8
2.3. DAS ENDE DER SANSCULOTTENBEWEGUNG ....................................................................................................8
3. DIE WIRTSCHAFTLICHEN FORDERUNGEN DER SANSCULOTTEN ................................................9
3.1. FORDERUNGEN DER SEKTION“SANS-CULOTTES” AN DEN KONVENT (2. SEPTEMBER 1793) ....................10
3.2. DIE FORDERUNGEN DES BŸRGERS DUPRŽ AN DEN NATIONALKONVENT ...................................................10
3.3. ABSCHRIFT EINES ENTWURFS ........................................................................................................................11
4.
LEGITIMATION ........................................................................................................................................11
4.1. DAS ‘WOHL DER GEMEINSCHAFT’ ALS LEGITIMATION ...............................................................................11
4.1.1. Das ‘allgemeine Wohl’ als BegrŸndung ..................................................................................................12
4.1.2. Die christliche Ethik ................................................................................................................................12
4.1.3. HintergrŸnde und weiterfŸhrende Gedanken ..........................................................................................13
4.2. DIE REPUBLIK ALS LEGITIMATION ...............................................................................................................13
4.2.1. Die ‘Verteidigung der Revolution’...........................................................................................................13
4.2.2. Abgrenzung gegenŸber der aristokratischen Ordnung ............................................................................14
4.2.3. Die Ehre...................................................................................................................................................15
4.2.4. HintergrŸnde und weiterfŸhrende Gedanken ..........................................................................................15
4.3. DAS RECHT AUF LEBEN ALS LEGITIMATION.................................................................................................16
4.3.1. HintergrŸnde und weiterfŸhrende Gedanken ..........................................................................................16
5. GEGENŸBERSTELLUNG DER LEGITIMATION DER SANSCULOTTENBEWEGUNG MIT DER
LEGITIMATION VON VERSCHIEDENEN AUSGEWŠHLTEN UNRUHEN AUS DER FRŸHEN
NEUZEIT..............................................................................................................................................................17
5.1. DER KONFLIKT IM “EIGEN” ROTTENBUCH ..................................................................................................17
5.1.1. Ursachen und Verlauf ..............................................................................................................................17
5.1.2. Legitimation .............................................................................................................................................18
5.2. DIE ZWŠLF ARTIKEL AUS OBERSCHWABEN ..................................................................................................19
5.2.1. Ursachen und Forderungen .....................................................................................................................19
5.2.2. Legitimation .............................................................................................................................................19
5.3. DIE UNRUHEN IM FŸRSTBISTUM BASEL .......................................................................................................20
5.3.1. Der Konfliktverlauf ..................................................................................................................................20
5.3.2. Legitimation .............................................................................................................................................21
5.4. GEGENŸBERSTELLUNG UND GEISTESGESCHICHTLICHE EINORDNUNG .......................................................21
6. ZUSAMMENFASSUNG .................................................................................................................................24
7. BIBLIOGRAPHIE ...........................................................................................................................................26
7.1. QUELLENVERZEICHNIS ..................................................................................................................................26
7.2. LITERATURVERZEICHNIS ...............................................................................................................................26
2
1. Einleitung
1.1.
Forschung
1.1.1.Die Darstellung vor Soboul
Die Rolle der städtischen Volksmassen von Paris war von Anfang an ein mehr oder weniger
bedeutender Bestandteil der historischen Darstellung der Französischen Revolution. Michelet stellte in
den 1850er Jahren als erster das Volk – allerdings als undefinierte Masse – sogar in den Mittelpunkt
seiner Revolutionsgeschichte 1 . Michelet sah im Volk eine homogene, revolutionäre Masse mit
sozialistischen Idealen und interpretierte die Aktionen der Pariser Bevölkerung aus der Perspektive
seiner Zeit und somit auch vor dem Hintergrund der von Marx und Engels geprägten Epoche. Auch
Ernest Meillé sah 1898 im Klassenkampf zwischen Arbeitern und der bourgeoisen Schicht die
revolutionäre Triebfeder für die Aufstände der Pariser Sektionen 2. Der gleiche Ansatz diente Daniel
Guérin 1946 3 . Er interpretierte den Kampf der Pariser Sektionen als Versuch einer proletarischen
Revolution und stellte ihn in den Zusammenhang der Theorie der permanenten Revolution.
Verbindendes Element dieses historiographischen Ansatzes ist die Betonung der politischen
Motivation der Volksbewegung zum Einen und die geringe Bedeutung des Kampfes gegen die
Aristokratie zum Andern. Die ökonomischen Interessen der Sektionen, ihre versorgungspolitischen
Forderungen sowie die Zwangswirtschaft waren lediglich das kämpferische Mittel und nicht originärer
Bestandteil der Interessen der Volksmassen.
Die
Geschichtsschreiber
Mortimer-Ternaux
und
Taine
bildeten
mit
ihrem
Ansatz
einen
zeitgenössischen Gegensatz. In ihren Werken, die in den 1860er respektive den 1880er Jahren
erschienen, traten sie der Volksbewegung mit Verachtung gegenüber. Sie sahen in ihr lediglich eine
unkontrollierte, destruktive Masse4.
Weder Michelet noch Meillé noch die anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, welche ihr Augenmerk
auf das Volk, die Sektionen, die Sansculotten - oder wie immer die städtischen Volksmassen von
Paris jeweils genannt wurden – gelegt hatten, gestanden dieser einen eigenständigen und
spezifischen, sowohl von den Interessen der besitzenden Oberschicht, als auch von denjenigen der
abtretenden Aristokratie abgrenzbaren, Charakter zu. Die Volksmassen blieben in den Darstellungen
des 19. Jahrhunderts eine zwar starke, aber stets passive und reagierende Macht, der es letztlich
nicht gelang, eine autonome Politik zu formulieren oder durchzusetzen. Die Geschichte der Sektionen
blieb die Geschichte der Revolution.
1911 erst vermochte Braesch diese spezifischen und eigenständigen Züge der Sansculotten anhand
der Geschichte der Kommune herauszuarbeiten 5. Er konzentrierte sich in seiner Darstellung auf die
politischen Bestrebungen der Sansculotten und vernachlässigte ihre wirtschaftlichen und sozialen
Interessen. Albert Mathiez beschäftigte sich in der Folge mit Fragen der Versorgung und zeigte den
Unterschied auf zwischen den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Sansculotten und der
1
Michelet, Jules: Histoire de la Révolution française. (Die vollständige bibliographische Angabe steht jeweils in
der Bibliographie am Ende der Arbeit. Die verwendeten Abkürzungen werden in der Bibliographie kursiv
geschrieben.)
2 Meillé, Ernest: Les sections de Paris.
3 Guérin, Daniel: Klassenkampf.
4 Mortimer-Ternaux, Michel.: Histoire de la Terreur. Sowie: Taine, Hippolyte: Les origines de la France.
5 Braesch, F.: La Commune.
3
Oberschicht des dritten Standes 6. Er machte deutlich, dass die Sansculotten der Handelsfreiheit die
Zwangswirtschaft und dem Recht auf Eigentum das Recht auf Leben gegenüberstellten. Analog zu
Braesch vernachlässigte Mathiez hingegen die politischen Aspekte7.
1.1.2.Die Darstellung Sobouls
Sobouls Monographie zur Sansculottenbewegung des Jahres II der Republik (September 1793 –
September 1794) stellte eine Zäsur in der Erforschung der Geschichte der Volksmassen dar 8 .
Ausgangspunkt seiner Darstellung war die Frage nach der Zusammensetzung der Sansculotten.
Anhand von Sitzungsprotokollen, politischen Schriften und ähnlichen Quellen zeigte er, dass sich das
Kader der Bewegung aus Handwerkern, Ladenbesitzern, Gesellen, Schriftstellern und Künstlern
rekrutierte. Er zeigte auf, wie die Wortführer der Sektionen zum einen gegen die Aristokratie und ihre
politischen Strukturen kämpften und zum andern ein soziales Ideal, geprägt von den wirtschaftlichen
Strukturen des vorindustriellen Zeitalters (geschützte Märkte, Zünfte, Preisabsprachen) verfolgten.
Soboul sah in der Bereitschaft der Sansculotten, die Revolution mit allen Mitteln zu verteidigen, sowie
im hartnäckigen Versuch, die Wirtschaft, wenn nicht vollständig zu lenken so doch stark zu
kontrollieren, den Ausdruck dieser beiden Hauptinteressen. Als Bewegung lässt sie sich dadurch von
den Interessen der “Bourgeoisie” 9 mit ihren liberalen Interessen abgrenzen. Der eigenständige
Charakter geht bei Soboul über die wirtschaftlichen Anliegen hinaus. Die Sansculotten hatten mit dem
Modell
einer
basisdemokratisch
regierten
Republik
der
bürgerlichen
Vorstellung
eines
Representativsystems auch auf politischem Gebiet eine Alternative entgegenzuhalten. Soboul stützte
seine These mit den Ereignissen des Jahres II der Republik. Er machte deutlich, dass die
Sansculotten, unterstützt durch die wirtschaftliche Not, welche die Massen zu mobilisieren vermochte,
die Revolutionsregierung zur Umsetzung ihrer Ideale zwang. Gegen den Willen der “Bourgeoisie”
gelang es der Pariser Sansculotterie, die Zwangswirtschaft sowie die Verteidigungsmassnahmen
durchzusetzen.
1.1.3.Die Rezeption Sobouls
Die These Sobouls ist von Anfang an auf sehr viel Zustimmung gestossen und löste eine Reihe
nachfolgender Arbeiten aus, welche seine Standpunkte stützten und verifizierten (Rudé, 1959) 10 und
diese auch für spätere (Tonesson, 1959) 11 oder frühere (Rose, 1980)12 Phasen der Französischen
Revolution, sowie für Aspekte der Revolutionsgeschichte, bei der die Sansculotten eine führende
Rolle übernommen hatten, wie zum Beispiel die Revolutionsarmee, bestätigten (Cobb, 1963) 13. Auch
die neuere Forschung basiert auf der These Sobouls aus dem Jahre 1958. Kennzeichnend für den
grössten Teil der neueren Forschung ist die Konzentration auf Teilaspekte der Bewegung. So wurde
das Augenmerk auf die Welt der Arbeit und der Berufe (Gourden, 1988) 14 , die Sprache (Sewell,
6
Mathiez, Albert: La vie chère.
Zur Darstellung vor Soboul siehe: Soboul, Albert: Franzšsische Revolution und Volksbewegung, S. 9 - 15.
8 Soboul, Albert: Les Sans-culottes parisiens.
9 Zitat: Soboul, Albert: Franzšsische Revolution und Volksbewegung, S. 14.
10 Rudé, George: Die Massen.
11 Tonesson, Kare : La défaite.
12 Rose, Richard B.: The making.
13Cobb, Richard: Les armées révolutionaires.
14 Gourden, Jean-Michel: Gens de métier.
7
4
1980)
15
oder einzelne Persönlichkeiten (Gayot, 1996)
16
und Redner (Monnier, 1995)
17
der
Sansculottenbewegung gelegt. Festhalten lässt sich, dass Sobouls These der überwiegenden
Mehrheit der Arbeiten als ‚historische Wahrheit‘ zu Grunde liegt. Dies insbesondere auch seit Soboul
zusammen mit Monnier die These verifizierte, als er eine Prosopographie der Kader der Sansculotten
veröffentlichte18.
1.1.4.
Forschungsstand und Streitpunkte
Fundierte Kritik und ernsthaften Zweifel an den Hauptthesen Sobouls übte Richard Andrews 198519.
Kernpunkt seiner Kritik ist die These Sobouls, dass es sich bei den revolutionären Aktionen der
Sansculotten um einen Aufstand des einfachen Volks handelte 20. Ausgangspunkt von Andrews Kritik
ist eine genaue Überprüfung der Kader der Sansculotten. Er stellte fest, dass es sich bei ihnen
keineswegs um Kleinbürger mit bescheidenen Produktionsverhältnissen, sondern um meist
wohlhabende Arbeitgeber handelte, rekrutiert aus der immensen Masse an Emigranten, welche im
ausgehenden 18. Jahrhundert Paris als Zufluchtsort aufsuchten, um eine neue Existenz aufzubauen 21.
Weniger
das Ideal, als vielmehr der Zwang zur Neuorientierung sei ausschlaggebendes
Handlungsmotiv gewesen. Andrews attestierte dieser sozioökonomischen Gruppe der Kader zwar
durchaus einen patriotischen Kampfgeist und eine Hingabe für die Ziele der Revolution, sieht aber
hinter den Aktionen der Sansculotten, namentlich dem Kampf für stabile Preise und der daraus
resultierenden Zwangswirtschaft, andere Motive als Soboul. Die wirtschaftliche Gleichheit, die bei
Soboul Motiv und Ziel der Sansculottenbewegung ist, interpretierte Andrews als propagandistische
Formel der sansculottschen Oberschicht mit dem Ziel, die Inflation zu bekämpfen, die Wirtschaft zu
stabilisieren und die arbeitslosen Massen von der Strasse wegzubringen. Weitergeführt bedeutet
dieser Gedanke bei Andrews, dass die Sansculottenkader nicht die Reglementierung der Wirtschaft,
sondern die Schaffung einer Arbeitsmoral als gemeinsames Ziel hatten. Anders ausgedrückt:
Hauptfeind der Sektionsführer war die unproduktive und doch vermögende Bevölkerungsgruppe, die
aristokratische Schicht auf der einen, sowie die Nutzniesser der wirtschaftlichen Misere, die Wucherer
und Börsenhändler auf der anderen Seite. Indem sie die Spekulation mit dem Mittel der
Zwangswirtschaft zu verunmšglichen suchten, könnten drei Ziele der Sansculottenkader verwirklicht
werden: Die normalisierte Wirtschaft sicherte ihnen Arbeit und Einkommen, die wirtschaftliche
Konkurrenz der Wucherer und des Kapitals konnte ausgeschaltet und die Revolution könnte mit Hilfe
der mobilisierten, weil ernährten Volksmassen vorangetrieben werden 22.
Der Vorwurf von Andrews an Soboul war, dass dieser die Quellen zuwenig nach ihrem politischen
Gehalt untersuchte und statt dessen die Propagandaschriften eins zu eins als Programm der
Bewegung
15
16
17
18
19
20
21
22
übernahm.
Andrews
Conclusio
ist
dann
auch
derjenigen
Sobouls
Sewell, William: Work and revolution. Sowie: Sonennscher, Michael: rethinking the language.
Gayot, Gérard: Les Sans-Culottes de Sedan.
Monnier, Raymonde: Cordeliers, Sans-Culottes et Jacobins.
Monnier, Raymonde: Répertoire.
Andrews, Richard M.: Social structure.
Ebd., S. 71f.
Ebd., S. 83 - 91.
Ebd., S. 92 - 98.
5
diametral
entgegengesetzt. Die revolutionäre Phase des Jahres II war keine “Revolution von unten”, sondern
eine des werktätigen Bürgertums23.
1.2.
Materiallage
Das Quellenmaterial zur Sansculottenbewegung aus der Zeit der Revolutionsregierung kann in drei
Gruppen zusammengefasst werden. Die umfangreichste Quellengruppe bilden die öffentlichen, an ein
breites Publikum gerichteten Dokumente: Petitionen, Reden, Sitzungsprotokolle sowie Anordnungen
und Lageberichte der Kommissare. Eine zweite Quellengruppe könnte mit dem Oberbegriff ,interne
Dokumente’ beschrieben werden. Darunter fallen die Polizeiberichte und –Akten, welche mit dem
Zweck erstellt wurden, Unruhen und politische Tendenzen innerhalb der Sansculottenbewegung
festzustellen. Auch diese Quellengruppe ist umfangreich und ergiebig. Die letzte und zahlenmässig
kleinste Gruppe von Quellen bilden Selbstaussagen und persönliches Material der Sansculotten, wie
Briefe oder Tagebücher24.
Die Erforschung der Sansculotten wird dadurch erschwert und für gewisse Fragen verunmöglicht,
dass grosse Quellenbestände während des deutsch – französischen Krieges 1871 durch Brände im
Rathaus und im Gebäude der Polizeipräfektur vernichtet wurden 25.
1.3.
Fragestellung
In der vorliegenden Arbeit geht es darum aufzuzeigen, wie die Sansculotten ihre wirtschaftlichen
Forderungen legitimierten. Das zentrale wirtschaftliche Anliegen der Sansculottenbewegung war die
gesetzliche Regelung der Lebensmittelpreise, oftmals verbunden mit der umfassenden Forderung
nach einer staatlich gelenkten Wirtschaft. Im Zentrum der Arbeit stehen jedoch nicht die Forderungen
selber, sondern deren Legitimation. Nicht die Ansprüche, sondern die Argumente,
welche die
Sansculotten heranzogen, um diese zu begründen, zu rechtfertigen und zu legitimieren, sind
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Die ökonomischen Forderungen eignen sich für diese
Frage besonders gut, weil sie sehr häufig und über den ganzen Zeitraum hinweg auftauchen.
Die Zeit, die betrachtet wird, dauert vom Sommer 1793 bis zum Frühjahr 1795. Die Debatte um die
Festsetzung der Lebensmittelpreise wurde in der Volksbewegung schon vor der von uns behandelten
Zeit geführt26. Das Thema war also nicht neu. Von Interesse für unsere Fragestellung ist der gewählte
Zeitraum jedoch darum, weil er die Zeitspanne umfasst, in der die Sansculottenbewegung ihren
Höhepunkt erreichte und darauf vollständig zusammenbrach.
Eine zweite Frage, welche in dieser Arbeit gestellt wird, ergibt sich aus einem Vergleich der
Legitimation der Sansculottenbewegung mit der Legitimation von Konflikten aus der Frühen Neuzeit:
Lässt sich bezŸglich der Legitimation eine Kontinuität mit früheren Jahrhunderten feststellen oder
wurde im Zusammenhang mit der Französischen Revolution auch in diesem Punkt mit der Tradition
gebrochen?
23
Ebd., S. 100.
SvP., S. XII - XIV. Sowie: Soboul, Albert: Franzšsische Revolution und Volksbewegung, S. 18f.
25 Die Werke der Autoren des 19. Jahrhunderts haben oft grössere Passagen aus den benutzten Quellen
abgeschrieben. Viel Material steht daher heute noch zur Verfügung.
26 Siehe dazu: Petersen, Susanne: Lebensmittelfrage.
24
6
1.4.
Vorgehensweise
Eingeführt wird die Arbeit mit einer Darstellung der historischen Lage. Dabei wird das Augenmerk
speziell auf den politischen Einfluss der Sansculottenbewegung und auf die wirtschaftlichen Umstände
gerichtet. Anschliessend werden drei Dokumente vorgestellt, in denen die Sansculotten ihre
Forderungen formulierten. Exemplarisch wird dabei das Spektrum der wirtschaftlichen Anliegen der
Volksbewegung skizziert. Dadurch soll der Zusammenhang zur Hauptanalyse, der Frage nach der
Legitimation sichtbar gemacht werden.
Insgesamt siebzehn Dokumente bilden die Grundlage für die Untersuchung der Legitimation. Es
handelt sich um Petitionen, Protokolle von Sektionsversammlungen, politische Manifeste, Reden und
ähnliche Zeugnisse jener Bewegung aus der Zeit zwischen Juni 1793 und Mai 1795. Ich stütze mich
bei dieser Arbeit auf eine
herausgegeben
wurde 27 .
Quellensammlung, welche von Walter Markov und Albert Soboul
Sämtliche Texte in der Dokumentensammlung, welche Massnahmen im
Zusammenhang mit Lebensmitteln forderten, wurden in die Analyse einbezogen und auf die
Begründung hin untersucht, einer Kategorie zugeordnet und quantitativ erfasst. Dadurch soll ein
repräsentatives
Bild möglich gemacht werden. Im zweiten Teil wird anhand von drei Konflikten,
welche für gewisse Merkmale der frühneuzeitlichen Legitimation exemplarischen Charakter haben,
eine Gegenüberstellung mit früheren Epochen erfolgen. Ich stütze mich bei der Darstellung der
Konflikte auf die entsprechende Literatur, arbeite in diesem Teil also nicht mit Quellen.
Zum Schluss werden die Resultate zusammenfassend dargestellt.
2. Die historische Lage zwischen Juni 1793 und Mai 1795
2.1.
Der Aufstieg der Sansculottenbewegung
Am 2. Juni 1793 umstellte ein 80'000 Mann starkes Kommando der Nationalgarde den Konvent und
erzwang die Verhaftung einiger Führer der Gironde Partei. Dieses Ereignis, ausgelöst durch den Zorn
der Volksmassen von Paris, besiegelte das Ende der Gironde-Herrschaft im Konvent. Sowohl auf
militärischem, als auch auf wirtschaftlichem Gebiet hatte die Partei versagt. Weder vermochte sie die
Versorgungs- und Inflationsprobleme zu lösen, noch brachte sie es zustande, die nationale
Bedrohung durch die angreifenden Mächte abzuwehren28. Dieser 2. Juni kennzeichnet den Beginn
einer “neuen revolutionären Ära” 29: Die kurze Herrschaft der Pariser Sansculotten.
Der im April gegründete Wohlfahrtsausschuss wurde am 10. Juli von den gemässigten Kräften
gesäubert und trat von diesem Datum an mit einer veränderten Besetzung in Erscheinung, namentlich
mit Saint-Just, Saint-André und, ab dem 27. Juli, Robespierre. Robespierre gelang es, die politische
Autorität vollständig auf den Wohlfahrtsausschusses zu übertragen.
Zur selben Zeit breitete sich in den Departements im Westen des Landes, aber auch in Marseille,
Toulon und Lyon die Konterrevolution aus. Die geflohenen girondistischen Führer setzten sich
vielerorts an die Spitze der Erhebungen. Zeitgleich mit den konterrevolutionären Bestrebungen in den
insgesamt 60 Departements gerät auch der Krieg in der Vendée 30 in die entscheidende und
kräftezehrendste Phase. Die Gefahr einer Invasion von aussen wurde ebenfalls immer bedrohlicher.
27
28
29
30
SvP. Es handelt sich um eine zweisprachige Ausgabe.
Vgl.: Soboul, Albert: Die Grosse Französische Revolution, S. 268 - 277.
Zitat: Ebd.: S. 276
März - September 1793. Vgl.: Furet, François: Kritisches Wörterbuch der Franz. Revolution, S. 269 - 287.
7
Im Norden die Engländer und Österreicher, die Holländer und Hannoveraner bei Dünnkirchen, die
Preussen im Osten sowie die Piemonteser im Süden bekämpften die französische Revolution von
aussen31.
Ende Juli 1793 ist die Nation also kurz vor dem Zerfall, die Revolution so gefährdet wie kaum zuvor. In
dieser Situation kommt es in Paris zum Schulterschluss der Bergpartei mit den Sansculotten. Die
Sektionen, die organisierte Volksmasse, bilden in dieser revolutionär-republikanischen Koalition die
Basis und die Stosskraft, der Konvent und der Wohlfahrtsausschuss die Regierung. Diese Allianz
sicherte den Sansculotten eine Machtbasis, mit welcher sie ihre politischen und sozialen Forderungen
zumindest vorübergehend durchzusetzen vermochten.
Im Juni 1793 führte die unzureichende Gelddeckung zu einer Assignatenentwertung 32. Das Kapital
wurde, um nicht an Wert zu verlieren, anderweitig angelegt. Kapitalexport sowie Immobilien- und
Warenkäufe boten sich als Möglichkeiten an. Das Horten von Waren sowie der Schwarzmarkt führten
im Juli 1793 zur Aufhebung des ‘kleinen Maximums’, einer im Mai desselben Jahres beschlossene
Preisfestsetzung. Es machte keinen Sinn Lebensmittelpreise festzusetzen, wenn als Folge davon
nicht mehr ausreichend Nahrungsmittel erhältlich waren.
Die starke Inflation schlug sich insbesondere in den Lebensmittelpreisen nieder. Zwischen Juni und
September erhöhte sich der Weinpreis von zehn auf sechzehn Sous pro Liter. Ein Pfund Butter
kostete im Juni 26,5 Sous, im September 35. Noch drastischer verteuerten sich Eier, Kaffee, Zucker
und Seife. Die Preissteigerung betrug 25 % für Kaffee, 100% für Eier sowie 200 % für Seife 33. Eine
zusätzliche Belastung für den Grossteil der Bevölkerung waren die plötzlichen Preisschwankungen34.
Ein Mehlmangel sowie die starke Belastung durch die Inflation führten im Juli zur Schliessung
zahlreicher Bäckereien. Die Hungersnot wurde drückender und die Regierung sah sich gezwungen,
verschiedene Massnahmen zu ergreifen. Am 21. Juli 1793 liess sie in Paris Lebensmittelkarten
verteilen und am 26. Juli erliess sie ein strenges Gesetz gegen den Wucher 35. Ende Juli verbesserte
sich die Situation daher vorübergehend. Doch bereits im August kam es in der Hauptstadt erneut zu
einer Verknappung des Brotes. Der Konvent und der Wohlfahrtsausschuss wussten, wie wichtig die
Unterstützung der Sansculotten in dieser kritischen Phase der Revolution war. Das entscheidende
Mittel, den Rückhalt bei den Volksmassen zu sichern, war ihre ausreichende Versorgung mit
Lebensmitteln. Auf Beschluss des Konvents wurden Vorratslager errichtet. Die Massnahme entpuppte
sich aber als “fadenscheinige Konzession an die Forderungen des Volkes” 36. Die Teuerung, eine der
Hauptursachen, wurde dadurch nicht geringer. Ende August waren die drängenden wirtschaftlichen
und sozialen Probleme noch immer nicht gelöst. Keine der Massnahmen zeigte die erhoffte Wirkung.
Gleichzeitig wehrte sich der Konvent gegen die Forderung der Sansculotten, die Lebensmittel zu
taxieren und zu reglementieren.
31
Soboul, Albert: Die Grosse Französische Revolution, S. 285.
Die Assignaten lösten die Francs als Währung ab. Vgl. dazu: Soboul, Albert: Die Grosse Französische
Revolution, S. 287.
33 Alle Daten: Rudé, George: Die Massen, S. 167.
34 Ebd.
35 Der Konvent beschloss die Verordnung zur Einführung der Todesstrafe für Händler, die ihre Lagerbestände an
Grundnahrungsmittel nicht vorschriftsgemäss anmeldeten.
36 Soboul, Albert: Die Grosse Französische Revolution, S. 292.
32
8
2.2.
Die Wohlfahrtsdiktatur unter Robespierre
Erst der Druck des Volkes, der mit den Septemberunruhen seinen Kulminationspunkt hatte,
vermochte die entscheidenden Wohlfahrtsmassnahmen zu erzwingen: Das Massenaufgebot 37 , die
damit zusammenhängende Zwangswirtschaft und in der Folge auch die Schreckensherrschaft 38. Die
wichtigste Komponente der Zwangswirtschaft war das Gesetz vom 29. September welches ein
allgemeines Maximum festsetzte. Sowohl die Preise für die wichtigsten Lebensmittel wie auch die
Löhne wurden festgesetzt. Die Massnahme zeigte unmittelbare Wirkungen. Die Inflation wurde
geringer und das Bündnis zwischen Sansculotten und Revolutionsregierung gefestigt. Die
ausreichende Versorgung war für kurze Zeit gewährleistet.
Bereits im Frühjahr des Jahres 1794 wussten aber die landwirtschaftlichen Produzenten sowie die
Zwischenhändler die Gesetze der Zwangswirtschaft zu umgehen. Der Schwarzmarkt und höhere
Preise waren die Folgen. Die Regierung war ausserstande das allgemeine Maximum zu handhaben.
Zwei Reaktionen waren möglich. Entweder intensivierte sie die Gewalt oder aber sie musste die
Gesetze lockern. Das hiess die Gewinnanteile der Bauern und Händler heraufsetzen. Sie entschied
sich für letzteres und kehrte somit dem sozialen Programm der Sansculotten den Rücken. Die Einheit
zwischen Robespierre und der Volksbewegung war gebrochen. Die Hinrichtung Héberts und seiner
Mitkämpfer am 22. März 1794 sowie die Auflösung der Revolutionsarmee waren Ausdruck dieses
Bruchs. Zwischen März und Juli stiegen die Preise weiter, während die Löhne nur leicht erhöht
wurden. Verschiedentlich kam es zu Unruhen. Vor allem Arbeiter aus den verschiedenen
regierungseigenen Betrieben forderten angemessene Lohnerhöhungen. Ausschlaggebendes Ereignis
für den Sturz Robespierres am 26. Juli 1794, dem 9. Thermidor war die Bekanntgabe der neuen
Lohnsätze für Paris. Der angekündigte Lohn war immer noch gleich hoch wie im ursprünglichen
Gesetz zum
allgemeinen Maximum
festgeschrieben und trug den Preissteigerungen der
vorangegangenen Monate in keiner Weise Rechnung. Die grosse Mehrheit im Konvent war seit
längerem unzufrieden mit der Politik des Schreckens und nutzte den Unmut grosser Teile der
Volksbewegung um Robespierre und seine Gefolgsleute zu verhaften und hinzurichten. Die Sektionen
von Paris verweigerten Robespierre ihre Unterstützung. Die Revolution trat in eine neue Phase.
2.3.
Das Ende der Sansculottenbewegung
Der 9. Thermidor bedeutete das Ende der Wohlfahrtsdiktatur unter Robespierre. Die Kader der
ehemaligen
Revolutionsregierung
wurden
ausgeschaltet,
das
Regierungssystem
der
Schreckensherrschaft zerfiel. Die Regierungsgewalt war nicht mehr konzentriert, sondern wurde auf
16 verschiedene Ausschüsse verteilt. Im Konvent war die Bergpartei in der Minderheit, und die
Sektionsversammlungen durften nur noch einmal pro Dekade 39 abgehalten werden. Von Oktober
1794 bis März 1795 verstärkten die Thermidorianer den Kampf gegen die Jakobiner und die
Sansculotten. In 37 der 48 Sektionen wurden Kommissionen geschaffen, die das Verhalten der
früheren Sektionsfunktionäre zu überprüfen hatten. Die Pariser Kommune wurde abgeschafft und die
Sektionen gesäubert, zweihundert ehemalige Kämpfer unter Anklage gestellt. Grosskaufleute, Beamte
37
38
Die “levée en masse” vom 23. August 1793.
Soboul, Albert: Die Grosse Französische Revolution, S. 291.
9
und freiberuflich Tätige traten in den Sektionen an die Stelle der Handwerker und Kleinhändler. Die
Sansculotten hatten ihre wichtigste Organisationsstruktur und faktisch ihre Handlungsfähigkeit
verloren40.
Zum wirtschaftlichen Konzept der Thermidorianer gehörte die Aufhebung der Zwangswirtschaft. Sie
stand im Widerspruch zum Postulat der Handels- und Produktionsfreiheit. Zwischen August und
Dezember 1794 wurde deshalb sukzessive die freie Wirtschaft wieder eingeführt. Die Inflation,
während der Schreckensherrschaft als Folge der gelenkten Wirtschaft gebändigt, setzte wieder ein,
nachdem am 24. Dezember 1794 das allgemeine Maximum aufgehoben wurde. Ein enormer
Preisanstieg war eine der direkten Konsequenzen der liberaleren Politik. Die Assignaten besassen im
Dezember 1794 noch 20 und im Mai noch 7,5 Prozent ihres Nominalwertes. Zum Vergleich: im
Dezember 1793 war sie wieder auf 50 Prozent ihres ursprünglichen Wertes gestiegen. Auch die
Preise für Lebensmittel waren betroffen von dieser Geldentwertung. 41 Zwischen Dezember und Mai
1795 verschlechterte sich die Lage ununterbrochen und die Regierung sah sich gezwungen, das Brot
und das Fleisch zu rationieren. Die Regierung war jedoch nicht imstande die versprochene und für die
Rationierung notwendige Menge Brot und Fleisch anzubieten, so dass zunehmend auch diese Güter
dem freien Markt und damit der Inflationsspirale überlassen wurden. 42 Die wirtschaftliche Not sowie
die anhaltenden politischen Demütigungen der Thermidorianer gegenüber den ehemaligen
Machthabern (Jakobiner und Sansculotten) schufen ein Klima, in dem die Unzufriedenheit des
einfachen Volkes sich zu Verzweiflung und Widerstandsbereitschaft entwickelte 43 . Dies ist der
Hintergrund, vor dem die Aufstände des 1. April und des 20. bis 23. Mai 1795 stattfanden. Ein letztes
Mal bewaffneten sich die Sansculotten einiger, nicht vollständig gesäuberten Sektionen, besetzten
den Konvent und forderten die Verfassung des Jahres 1793, die Freilassung der gefangengehaltenen
Jakobiner und Massnahmen zur Kontrolle der Lebensmittelversorgung 44. Den Demonstranten fehlte
jedoch die politische Führung und ein klarer Aktionsplan, so dass es der Regierung nach heftigen
Kämpfen gelang den Aufstand zu unterdrücken, die Massen zu entwaffnen, die gegenwärtigen sowie
die, für die Zukunft in Frage kommenden Führer zu beseitigen und dadurch dem politischen Einfluss
der Sansculottenbewegung ein für alle Mal ein Ende zu setzen 45.
3. Die wirtschaftlichen Forderungen der Sansculotten
Nachfolgend werden drei Dokumente als Beispiele von Forderungen vorgestellt. Sie sollen illustrieren
welche Vorstellungen die Sansculotten bezüglich der Verteilungs- und Preispolitik vertraten und
welche Massnahmen sie vorschlugen, um die Versorgungsprobleme zu lösen. Die beiden ersten
Dokumente wurden im Spätsommer / Herbst des Jahres 1793 verfasst. Zu einer Zeit also, als die
Volksbewegung ihren Höhepunkt erreicht hatte und ihr Einfluss am stärksten war. Sie stehen in
direktem Zusammenhang mit dem Gesetz des allgemeinen Maximums, welches wenige Wochen
später, auf Druck des Volkes erlassen wurde. Das dritte Dokument wurde am Ende des betrachteten
39
40
41
42
43
44
45
Eine Dekade bezeichnete im Revolutionskalender eine 10 Tage dauernde Woche.
Rudé, George: Die Massen, S. 177.
Ebd., S. 192.
Ebd.
Ebd. S. 193.
Ebd. S. 202 - 210.
Vgl. zum Ende der Sansculottenbewegung auch: Markov, Walter: Volksbewegungen, S. 140 – 162.
10
Zeitraums erstellt und steht daher im Zeichen des letzten Aufstandes, des letzten Versuches der
Sansculotten, ihre Ideale und Ziele noch zu erreichen. Kurze Zeit danach verschwand die Bewegung
der Sansculotten.
3.1.
Forderungen der Sektion “Sans-Culottes” an den Konvent (2. September 1793) 46
Am 2. September 1793, also unmittelbar vor den Septemberunruhen
vom 4. und 5. September
fordert die Sektion “Sans-Culottes” den Konvent auf, Gesetze zu erlassen um der gegenwärtigen
Krise entgegenzuwirken. Hauptanliegen der Sektion war, die Wirtschaftsfreiheit zu beschränken.
Ausgehend von der Forderung, die Preise aller Hauptnahrungsmittel “unveränderlich auf den Preis der
sogenannten “früheren Jahre” 1789 bis 1790 festzusetzen” 47, entwickelt die Sektion ein umfassendes
Modell, um wieder zu “Ruhe und Überfluss” 48 zu gelangen. Die Rohstoffpreise, die Industrie- und
Handelsgewinne sowie die Löhne sollten gesetzlich geregelt werden. Zuschüsse vom Staat an die
Departemente sollten einen einheitlichen Lebensmittelpreis gewährleisten. Vorgeschlagen wurde auch
eine Art Risikogarantie für die Bauern: Im Falle einer Missernte sollten sie entschädigt werden. Mit
diesen Massnahmen sollte die Versorgung der Bevölkerung gesichert werden. Daneben forderte die
Sansculotten in der Adresse eine sehr strenge Begrenzung des Eigentumsrechts. Der Konvent solle
ein “Maximum für Vermögen” 49 , also eine Vermögenshöchstgrenze festsetzen. Insbesondere die
Produktionsmöglichkeiten waren davon betroffen: “Keiner soll mehr Ländereien pachten dürfen, als für
eine festgesetzte Anzahl von Pflügen gebraucht wird.” 50 Zudem soll jeder Bürger nur eine Werkstatt
oder einen Laden besitzen dürfen. Die Sektion versprach sich dadurch langfristig eine Nivellierung der
Vermögen. Das Eigentum wurde nicht grundsätzlich in Frage gestellt, die Eigentumsregelung aber
sollte den spezifischen wirtschaftlichen Bedürfnissen der Sansculotten angepasst werden51.
3.2.
Die Forderungen des Bürgers Dupré an den Nationalkonvent 52
Die zweite Quelle ist eine Petition an den Nationalkonvent. Diesmal nicht von einer Sektion, sondern
einem einzelnen Bürger. Der Autor, ein gewisser Dupré, entwirft darin ein volkswirtschaftliches Modell,
mit dem Frankreich endlich seine Probleme dauerhaft lösen könnte. Ausgangspunkt der
Überlegungen ist die desolate Versorgungslage, verbunden mit der Erkenntnis, dass es sich hierbei
um ein prinzipielles Problem handelt und nicht um eine vorübergehende Krise. Der Verfasser legt
einen Plan vor, aufbauend auf dem Grundgedanken eines kontrollierten Handels mit festgesetzten
Margen und einer indirekten Staatssteuer, mit dem Frankreich “neu aufgebaut” 53 werden soll. Der
Staat kauft nach Dupré die Güter bei den Produzenten zu einem angemessenen Preis auf und
verkauft sie weiter mit kleinem aber festgesetztem Gewinn, mit dem die Staatsausgaben gedeckt
werden. Auch der Gross-, sowie der Einzelhändler sind an einen vorgeschriebenen Gewinnsatz
gebunden. Ziel dieser Politik ist zum einen, dass “Getreideexport, Wucheraufkauf und Börsenwucher
46SvP.,
47
48
49
50
51
52
53
Nr. 31 (2. 9. 1793), S. 136 - 141.
Ebd., S. 139.
Ebd., S. 141.
Ebd., S. 139.
Ebd., S. 141.
Ebd.
SvP., Nr. 35 (Datum fehlt) S. 156 - 163.
Ebd., S. 159
11
unterbunden werden” 54 sowie, dass sich die Republik
“ohne Anleihen, ohne Steuern 55 und vor
allem, ohne (...) Lebensmittelmangel (...) erhalten” 56 kann. Weiter verspricht sich der Autor eine
langfristig stabile sowie international handelsfähige Volkswirtschaft. Dauerhaft soll “eine Stärkung der
Republik und die Liebe zu ihr”57 erreicht werden.
3.3.
Abschrift eines Entwurfs58
Am 14. Mai 1795 legte der Bürger Journet der Abteilung Ernährung des Wohlfahrtsausschusses einen
Wirtschaftsentwurf vor. Er forderte darin die Regierung auf abzuklären, ob es sich bei der
Lebensmittelkrise um einen tatsächlichen Mangel handelt oder ob die Versorgungskrise nicht vielmehr
das Produkt einer böswillig produzierten Not ist. Für den Fall, dass dies so sei, und eigentlich
genügend Lebensmittel vorhanden wären, um das Land zu ernähren, forderte er die Regierung auf,
alle Nahrungsmittel in der ganzen Republik aufzukaufen und zu verteilen.
In elf Artikeln entwarf er einen Plan, wie die Regierung dabei vorgehen sollte. Ziel des Programms war
die Sicherung der Versorgung bis zur nächsten Ernte. Als erstes sollten die “Grundbesitzer, Landwirte,
Händler und Privatleute”59 in Frankreich dazu verpflichtet werden, alle Nahrungsmittel in ihrem Besitz
zu deklarieren. Anschliessend sollten im ganzen Land Kontrollen durchgeführt werden. Das nicht
deklarierte Gut würde beschlagnahmt und deren Besitzer zum Tode verurteilt. Alle Lebensmittel,
ausser das für den Eigenbedarf Notwendige, sollten den
Besitzern zum Tagespreis abgekauft
werden. Die Ware sollte anschliessend in gleich grosse Rationen aufgeteilt und an die Bevölkerung
weiterverkauft werden. Die reichen Bürger hätten dabei den vollen, die Bedürftigen den halben Preis,
den die Regierung bezahlt hätte, aufwerfen müssen. Wein, Holz und Kohle war ebenfalls zu
rationieren. Der Plan schien ihm geeignet um die Republik bis zur nächsten Ernte mit dem
Notwendigsten zu versorgen.
4.
Legitimation
In einem zweiten Teil der Quellenanalyse möchten wir untersuchen, wie die Forderungen legitimiert
wurden. In unserem Zusammenhang bezeichnet der Begriff Legitimation den argumentativen
Hintergrund von Aktionen und Forderungen der Sansculottenbewegung. Die Frage, die uns im
folgenden interessiert, lautet also: Welche Ideale, Grundsätze, Vorstellungen und Implikationen lagen
den Forderungen zu Grund und sollten diesen Ausdruckskraft und Durchsetzungsvermögen
verleihen?
4.1.
Das ‘Wohl der Gemeinschaft’ als Legitimation
Eine vielschichtige Legitimation ist das ‘Wohl der Gemeinschaft’. Das Glück der Gesamtheit des
Volkes ist im Verständnis der Sansculotten zum Einen der Zweck der Republik und zum Anderen
auch eines der Hauptargumente zur Legitimation ihrer Forderungen. Der Begriff
54
55
56
57
58
59
Ebd.
Gemeint sind hier wohl direkte Steuern.
SvP., Nr.35 (Datum fehlt) S. 159.
Ebd., S. 161.
SvP., Nr. 108 (14. 5. 1795) S. 486 - 491.
Ebd., S. 489.
12
‘Wohl der
Gemeinschaft’ bezeichnet jedoch eine Oberkategorie welche wir im folgenden zu gliedern versuchen,
um verschiedene Unterkategorien sichtbar zu machen.
4.1.1.
Das ‘allgemeine Wohl’ als Begründung
Der Schutz des Eigentums wird dahingehend relativiert, als es einem gesamtgesellschaftlichen
Interesse untergeordnet werden sollte. “Aber wissen sie nicht (...), dass Eigentum nur soweit gut ist,
als es den Bedarf des einzelnen befriedigt?” 60 Das Eigentum, der Besitz ist also nicht mehr à priori
“heilig” und “unverletzlich”, wie dies bis anhin vertreten worden war, sondern ist der Existenzsicherung
der Bürger untergeordnet. Der Schutz der Allgemeinheit ist oberste Prämisse. Ähnlich verhält es sich
mit der Freiheit, eines der Hauptpostulate der Revolution. Zwar wird die Freiheit als Grundrecht des
Menschen akzeptiert, damit sie jedoch nicht zur Gefahr wird, müssen Gesetze die Freiheit “zum
Wohle der Allgemeinheit regeln”61. Auch die Kontrolle des Handels, um den Wucher zu unterbinden
wird dadurch legitimiert, dass bisher der einzelne seinen Profit auf Kosten der Allgemeinheit gemacht
hat62. Der Verzicht auf Überfluss, ist für “wirkliche Brüder” die zwangsläufige Konsequenz bei denen
immer die Allgemeinheit prioritär ist63.
Die Wendung ‘zum Wohle der Allgemeinheit’ ist eine positive Formulierung. Analog zur positiven
Verwendung, gibt es verschiedentlich Fälle bei denen die Sansculotten ihre Forderungen im Prinzip
zwar gleich, von der Formulierung her jedoch umgekehrt legitimieren. Das Elend, die Armut, die
Verzweiflung64 oder der Hunger werden als Gründe angeführt, um die Verteilung der Lebensmittel
sowie deren Preise festzusetzen
65
. Im Zentrum der Legitimation steht das Glück und das
Wohlergehen des Volkes, der Allgemeinheit. Das “Elend der Allgemeinheit” 66 ist die negative
Formulierung, eine sprachliche Variante. Die Legitimation mit dem Wohl der Allgemeinheit wurde in
acht Fällen verwendet67.
4.1.2.
Die christliche Ethik
Eine weitere Grundlage, auf der die Forderungen legitimiert werden und die im Zusammenhang mit
dem Wohl der Gemeinschaft steht, bilden die christlichen Wertvorstellungen. Zwar wird in keinem
Fall auf die Religion oder auf die Bibel direkt Bezug genommen, vielmehr werden vor allem bei negativ
besetzten Begriffen moralische Kriterien, die stark ans Evangelium erinnern, impliziert. Rücksicht auf
den Nächsten als Leitfaden des selbständigen Handelns wird gefordert. Keiner soll etwas tun dürfen,
was dem andern Schaden könnte68. Die neu gewonnene wirtschaftliche Freiheit muss Hand in Hand
gehen mit dem Gebot der Nächstenliebe. Am deutlichsten sichtbar und aufs schärfste verurteilt wird
dieses Verhalten anhand der Figur des Hamsterers welcher für die landesweite Hungersnot
60
Ebd., S. 139.
Ebd., S. 157.
62 Ebd., S. 159.
63 Ebd., S. 157.
64 SvP., Nr. 28 (19. 8. 1793) S. 129.
65 SvP., Nr. 11 (31. 5. 1793) S. 65
66 SvP., Nr. 40 (29. 9. 1793) S. 177.
67 SvP., Nr. 11, S. 67; Nr. 22, S. 103; Nr. 28, S. 129; Nr. 35, S. 157; Nr. 40, S177; Nr. 42, S. 185; Nr. 67, S. 303;
Nr. 108, S. 487.
68 SvP., Nr. 31 (2. 9. 1793) S. 139.
61
13
verantwortlich gemacht wird69. Der Hamsterer, bös- und eigenwilliger Nutzniesser und Verursacher
der Versorgungskrisen, profitiert, indem er die Lebensmittel zurückhält, um sie dann zu überhöhten
Preisen auf den Markt zu bringen. Er ist die Personifizierung des Bösen. “Was gibt es schändlicheres,
als willkürlich einen Preis für die Lebensmittel zu verlangen, den sieben Achtel der Bürger nicht
aufbringen können?”70 Auch die “offene Beraubung” kommt vor, der “gierige Kaufmann” tritt an die
Stelle des Wucherers71.
Die Vermutung, dass die christliche Ethik den Hintergrund für die Forderungen liefert und dadurch
als Begründung betrachtet werden muss, wird auch im folgenden Fragesatz bekräftigt: “Wie lange
noch werdet ihr es dulden, dass (...) Anmassung, Egoismus, Intrige und Geiz (...) unsere Grenzen der
Tyrannei ausliefern und überall Verwüstung und Tod verbreiten?”
72
Genau die gegenteiligen
moralischen Kriterien gelten in einem christlichen Umfeld als Tugendhaft: Gewissenhaftigkeit,
Bescheidenheit, Loyalität, Grosszügigkeit,
Altruismus und Verzicht 73 . Forderungen werden in
insgesamt fünfzehn Fällen mit ethischen Grundsätzen begründet 74.
4.1.3.
Hintergründe und weiterführende Gedanken
Das Wohl der Gemeinschaft ist die am häufigsten verwendete Legitimation. In allen siebzehn
Dokumenten wurden die Forderungen entweder implizit (christliche Ethik) oder explizit (das
allgemeine Wohl) mit dem Wohle der Gemeinschaft begründet. In allen Fällen wurde also damit
argumentiert, dass der Gemeinnutzen den privaten Interessen übergeordnet ist. Die starke Betonung
der Allgemeinheit erinnert an eines der Hauptpostulate der Revolution
und ist eines der
Wesensmerkmale der Ideale der Sansculotten: die Brüderlichkeit.
4.2.
Die Republik als Legitimation
Neben dem ‘Wohl der Gemeinschaft’ gab es noch eine weitere Oberkategorie, einen weiteren
zentralen Begriff, der in vielfältiger Form als Legitimation Verwendung fand: Die Republik. Drei
Unterkategorien möchten wir voneinander trennen.
4.2.1.
Die ‘Verteidigung der Revolution’
Die Absetzung von König Ludwig XVI und die Verfassung vom 24. Juni 1793 besiegelten das formale
Ende der Monarchie und des Feudalsystems. Die neue republikanische Staatsform war jedoch noch
nicht gefestigt. Die Angriffe der Nachbarländer sowie die ‘konterrevolutionären’ Kräfte im Innern
bedrohten die Revolution. Aus diesem Umstand ergab sich eine Legitimation, die wir mit dem Begriff
‘Verteidigung der Revolution’ beschreiben wollen. In einer Rede vom 28. Juni fordert ein Redner
namens Lacroix vor der Sektion “Unité” den Staat auf, grosse Mengen von Lebensmittel aufzukaufen,
69
SvP., Nr. 31 (2. 9. 1793) S. 139.
Ebd.
71 SvP., Nr. 35 (Datum fehlt) S. 157 - 159.
72 Ebd.
73 Zur Legitimation von Forderungen mit der christlichen Ethik siehe auch: Andrews, Richard M.: Social structure,
S. 94 - 96. Er vermutet, dass die moralischen Werte welche von den Sansculottenkader impliziert wurden, dem
Zweck dienten eine Arbeitsmoral aufzubauen.
74 SvP., Nr. 11, S. 67; Nr. 22, S. 103; Nr. 28, S. 129; Nr. 31, S. 137; Nr. 35, S. 157; Nr. 36, S. 165; Nr. 40, S. 177;
Nr. 52, S. 227; Nr. 61, S. 275; Nr. 63, S. 283; Nr. 72, S. 331; Nr. 87, S. 379; Nr. 100, S. 425; Nr. 101, S. 427; Nr.
108, S. 487.
70
14
um die Versorgung sicherzustellen. Er begründete dies unter anderem damit, dass “die Republik an
den Rand des Grabes gebracht” worden sei und dass die Revolution nun endlich beendigt und die
republikanische Verfassung gesichert werden müsse 75 . Als Begründung für die Herabsetzung des
Brotpreises führte der Jakobinerklub in einer Petition das Argument an, dass “die gewaltige Macht der
Unterdrücker” gebrochen werden muss76. Die Legitimation mit der Verteidigung der Revolution fand
ihren Niederschlag zusammenfassend in den Wörtern ‘Verrat’ und ‘Konterrevolution’. Die Forderung,
die Versorgungswirtschaft staatlich zu kontrollieren, wurde mit dem Hinweis legitimiert, dass dadurch
den Verrätern und der Konterrevolution die wichtigste Waffe entzogen würde, nämlich der Hunger des
Volkes 77 . Auch in der Rede Lacroix’ wurde die Ansicht vertreten, dass durch den Aufkauf der
Lebensmittel “der Plan der Gegenrevolution”, nämlich das Volk auszuhungern, zerschlagen würde 78.
Die Verteidigung der Revolution wurde in der “Instruktion”, einem umfangreichen Schreiben, welches
die Sansculotten über die Ziele der Republik informieren sollte,
sogar in einen religiösen
Zusammenhang gestellt. An die Stelle der Kirche tritt die Republik. Der Republikaner soll keine andere
“Gottheit” als sein Vaterland, kein “anderes Idol als die Freiheit” kennen. Daher entstand für den
Patrioten die Pflicht, sich für sein Land aufzuopfern 79 . Als Gegenleistung für seinen Blutzoll und
Einsatz wird er mit dem Lebensnotwendigen versorgt 80. Der ‘Handel’ zwischen dem Volk, welches die
Republik verehrt und verteidigt, und der Republik, die dafür die Bevölkerung ernährt, erinnert sogar
ein wenig an die Ständeordnung. Das Volk tritt an die Stelle des Wehr- und Betstandes, die Republik
an diejenige des Nährstandes. Der Vergleich hinkt jedoch, weil Volk und Republik sich nicht trennen
lassen. Die Verteidigung der Republik wird in neun Dokumenten als Begründung angeführt 81.
4.2.2.
Abgrenzung gegenüber der aristokratischen Ordnung
Der neuen Staatsform stellten die Sansculotten das alte System, das Ancien régime gegenüber. Die
Monarchie verkörperte die gegenteiligen Werte der Republik: Die Ständeordnung setzte durch die
Dreiteilung der Gesellschaft die Idee der Ungleichheit voraus, die Feudalherrschaft gründete auf
einseitiger Abhängigkeit, die Freiheit war nicht gewährleistet. Die ungerechte Verteilung der Güter
allgemein, und der Lebensmittel speziell, brachten die Sansculotten mit der aristokratischen Ordnung
in Verbindung. Die unzureichende Versorgung war Ausdruck der als ungerecht empfundenen
Verteilung. Solche Zustände mussten als mit der Aristokratie verbunden bekämpft, und der, im Umfeld
der königlichen Höfe gedeihende Luxus ausgemerzt werden. Das vorgeschlagene Mittel war die
Kontrolle des Handels 82 . Die in negativen Zusammenhängen verwendeten Begriffe “Aristokratie”,
“Royalismus”, “Tyrannei” oder “Fanatismus” symbolisierten die Abgrenzung zur aristokratischen
Ordnung 83 . Sehr treffend illustriert wurde dieser Bruch mit der herkömmlichen Ordnung in der
“Instruktion” am Beispiel der Kirche. Die Priester und der “Fanatismus” seien verantwortlich für die
75
SvP., Nr. 22 (28. 6. 1793) S. 101.
SvP., Nr. 28 (19. 8. 1793) S. 129.
77 SvP., Nr. 52 (16. 11. 1793) S. 231.
78 SvP., Nr. 22 (28. 6. 1793) S. 105.
79 SvP., Nr. 52 (16. 11. 1793) S. 233 f.
80 SvP., Nr. 31 (2. 9. 1793) S. 139.
81 SvP., Nr. 22, S. 103; Nr. 28, S. 129; Nr. 31, S. 137; Nr. 35, S. 157; Nr. 40, S. 177; Nr. 52, S. 227; Nr. 63, S.
283; Nr. 67, S. 303; Nr. 100, S. 425.
82 SvP., Nr. 35 (Datum fehlt) S. 157.
83 SvP., Nr. 52 (16. 11. 1793) S. 233 - 235.
76
15
Ursachen der “Leiden”, die Frankreich so lange habe ertragen müssen. Durch Lehre und Dogma habe
die Kirche eine “Zwingburg” aufgebaut und den Geist der Menschen “ihren einfältigen Glaubenssätzen
unterjocht.”84
Die Sansculotten legitimierten ihre Forderungen also zum Einen, wie wir gesehen haben, mit
christlichen Werten und bekämpfen gleichzeitig deren institutionelle Form, die Kirche. Dies ist jedoch
nur scheinbar ein Widerspruch. Die alte Kirche war im verhassten Königreich nicht nur eine starke und
einflussreiche Macht, sondern lieferte der feudalen Ordnung auch die moralische Legitimation. Die
Kirche gab der Monarchie den Segen, als Lohn wurde ihr Einfluss aufrechterhalten und verteidigt. Die
Negierung der Kirche ist lediglich eine zwingende Konsequenz, resultierend aus dem Kampf gegen
die Aristokratie. Die Begründung mit dem Kampf gegen die Aristokratie kommt in sechs Fällen vor 85.
4.2.3.
Die Ehre
Die Republik ist der Stolz der Sansculotten. Neben der Volkssouveränität, die sie gewährt, stiftet sie
auch Identifikation. Der Stolz und das Ehrgefühl sind verletzt, wenn sich ein Misstand im Vaterland
bemerkbar macht. Die Ehre musste gerettet, und der Stolz durfte nicht gebrochen werden. Die
Unfähigkeit der republikanischen Regierung, die Volksmassen hinreichend zu versorgen, empfanden
die Verfasser der Adresse als Schmach und Erniedrigung. Aus diesem Grund musste der mangelhafte
Zustand mit Hilfe eines allgemeinen Maximums behoben werden. “Beeilt Euch, die Zeit drängt...Die
ganze Welt sieht auf Euch, die Menschheit wirft Euch die Leiden vor, die die französische Republik
heimsuchen; und die Menschen kommender Jahrhunderte werden Eure Namen für immer
brandmarken, wenn Ihr nicht sofort Abhilfe schafft.” 86 Die Ehre als Legitimation fand in vier
Dokumenten Verwendung87.
4.2.4.
Hintergründe und weiterführende Gedanken
Die Republik als Legitimation für die Reglementierung der Lebensmittelpreise wird, unter
Berücksichtigung aller drei Unterkategorien, in zehn Fällen verwendet; also in ungefähr sechzig
Prozent der Dokumente. Sie ist dahingehend naheliegend, als der Kampf gegen die Aristokratie und
den königlichen Absolutismus schon seit Beginn der Revolution immer zu den Motiven und
Triebfedern des Sansculottschen Widerstandes gehörte 88. Die Republik war die Alternative und die
neue Hoffnung. Die Republik liefert aber noch eine weitere, nicht angeführte und nicht auf
wirtschaftliche Anliegen beschränkte, Legitimation: An die Idee der Republik wurde unweigerlich die
Volkssouveränität geknüpft, was, im Verständnis der Sansculotten, gleichbedeutend war mit der
Übertragung der Regierungsverantwortung von wenigen auf alle. Als Konsequenz ergab sich daraus
das Recht, die politischen Entscheide zu lenken und mit zu gestalten. Nicht Widerstandsrecht,
sondern die Umsetzung basisdemokratischer Vorstellungen war in verschiedenen Fällen die
Begründung dafŸr, dass die Sansculotten überhaupt Forderungen stellten, Programme entwarfen und
84
SvP., Nr. 52 (16. 11. 1793) S. 233 - 235. Dieser Text wurde zur Zeit abgefasst als die Dechristianisierung
eine Radikalisierung erfuhr. Siehe dazu: Furet, François: Kritisches Wörterbuch der Franz. Revolution, S. 27 - 48.
Hier S. 39.
85 SvP., Nr. 22 (28. 6. 1793) S. 303, Nr. 28 (19. 8. 1793) S. 129, Nr. 31(2. 9. 1793) S. 137, Nr. 35 (undatiert) S.
157, Nr. 42 (31. 10. 1793) S. 185, Nr. 52 (16. 11. 1793) S. 233, Nr. 63 (18. 2. 1794) S. 283.
86 SvP., Nr. 31 (2. 9. 1793) S. 137.
87 SvP., Nr. 22, S. 103; Nr. 31, S. 137; Nr. 40, S.177; Nr. 67, S. 303.
16
sich als durchführende Kraft zur Verfügung stellten89. Somit steht die Legitimation mit der Republik
stellvertretend für eine weitere Eigenheit und ein weiteres Merkmal der Volksbewegung: Die
Basisdemokratie.
4.3.
Das Recht auf Leben als Legitimation
Der Begriff, an dem sich die Geister der beiden Linksfraktionen schieden, war die Gleichheit. Während
für Robespierre, den Wohlfahrtsausschuss und die Konventsmehrheit die Gleichheit als ‘égalité de
droit’ verstanden wurde, sahen die Wortführer der Volksbewegung die Gleichheit auch als ‘égalité de
fait’, dies vor allem in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Von der Gleichheit der Lebenshaltung führten
die Sansculotten den Gedanken weiter und forderten die Beschränkung des Eigentumsrechts. Sie
stellten dadurch das Recht auf Leben über die Wirtschaftsfreiheit. Zwei Ausdrucksformen der
Forderung nach Beschränkung des Eigentumsrechts kamen vor. In der “Adresse” an den Konvent
wurde, wie wir oben sahen, eine Vermögenshöchstgrenze und die Beschränkung des Eigentiums an
den Produktionsmitteln gefordert. Diese umfassende Form der Begrenzung des Besitzes findet sich
allerdings nur in einem Dokument90. Die zweite Ausdrucksform ist die Forderung, das Eigentumsrecht
der landwirtschaftlichen Produzenten zu beschränken. Es wurde argumentiert, der Bauer sei lediglich
der Verwalter des Bodens und das Volk, die Republik, der eigentliche Besitzer. In der bereits zitierten
“Instruktion” heisst es, dass “die Erzeugnisse Frankreichs gegen eine dem Bauer zustehende
Entschädigung den Franzosen gehören; Das Volk hat also ein erwiesenes Recht auf die Früchte, die
es selbst hervorgebracht hat”.91 Das Eigentumsrecht des Bauern wurde beschränkt. Er sollte über
seine Ernte keine volle Verfügungsberechtigung haben. Gegen eine Entschädigung hat er die Früchte
des Bodens an den Staat weiterzugeben. Aus diesem Verständnis erwuchs als Konsequenz das
Recht, die Lebensmittel zu taxieren und zu reglementieren 92. “Da die Erzeugnisse der Erde von der
Natur für alle ihre Kinder bestimmt sind, hat das Volk das unbestreitbare Recht, die Habgier der
reichen Grundbesitzer und die Hamsterer in gerechte Grenzen zurückzuweisen und den Preis der
notwendigsten Lebensmittel festzusetzen.” 93 Auch ein allgemeines Recht auf Dasein koppelten die
Sansculotten an diese Auslegung der Gleichheit der Lebenshaltung. Niemand soll fürchten müssen,
dass seine Existenz von der “Laune eines anderen” gefährdet ist 94 . Die Sektion “Sans-Culottes”
schrieb in einem Beschluss, dass die Preise der Lebensmittel festgesetzt werden sollen, damit sie
leben können95. Die Legitimation mit dem Recht auf Leben findet sich in elf Fällen 96.
88
Soboul, Albert: Französische Revolution und Volksbewegung, S. 15.
Als Beispiel für die Beteiligung der Sansculotten an der Durchführung versorgungspolitischer Massnahmen
seien hier die Lebensmittelkommissare sowie die Überwachungsausschüsse angeführt. Zum Begriff der
Volkssouveränität bei den Sansculotten vgl.: Guérin, Daniel: Klassenkampf, S. 11 - 30. Sowie: Soboul, Albert:
Französische Revolution und Volksbewegung, S. 123 - 135.
90 Soboul, Albert: Französische Revolution und Volksbewegung, S. 76.
91 SvP., Nr. 52 (16. 11. 1793) S. 231.
92 Siehe dazu: Soboul, Albert: Französische Revolution und Volksbewegung, S. 70 - 89.
93 SvP., Nr. 22 (28. 6. 1793) S. 105.
94 Ebd.
95 SvP., Nr. 11 (31. 5. 1793) S. 67.
96 SvP., Nr. 11, S. 67; Nr. 22, S. 103; Nr. 31, S. 139; Nr. 40, S. 177; Nr. 52, S. 231; Nr. 61, S. 275; Nr. 63, S. 283;
Nr. 67, S. 303; Nr. 100, S. 425; Nr. 108, S. 487.
89
17
4.3.1.
Hintergründe und weiterführende Gedanken
Ursprung dieser Legitimation war das philosophische Gedankengut von Rousseau. Die Gleichheit der
Lebenshaltung war für Rousseau die Bedingung für die Freiheit 97. Der Gemeinwille (volonté générale)
lenkt die Kräfte des Staates gemäss dem Gemeinwohl. Er erstrebt immer das allgemein Beste und
kann nicht irren, im Gegensatz zum Gesamtwillen (volonté de tous), der die Summen der
Einzelinteressen vertritt. Nur der Gemeinwille, als eine Art Interessenausgleich, wird immer das
bestmögliche erreichen. Damit der Gemeinwille sich allerdings durchsetzen kann, darf keiner so reich
sein, dass er einen anderen kaufen kann, und keiner so wenig besitzen, dass er sich verkaufen
muss98. Ausgehend von diesem Konzept, übernahmen auch verschiedene, nicht aus den Reihen der
Sansculotten stammende Wortführer der Revolution diese Argumentation. Robespierre ordnete zum
Beispiel, in einer Rede vom 2. Dezember 1792 dem Recht auf Leben alles andere unter 99 . Die
Argumentation war im Sommer 1793 sogar sehr weitverbreitet 100 . Das neue Moment dieser
Begründung ist also weniger die Idee selber, als der konsequente Versuch das gesellschaftliche Ideal
durchzusetzen, der Regierung aufzuzwingen und dadurch zeichnet sich die Sansculottenbewegung
des Jahres II auch aus101.
Soviel zu den Begründungen welche die Sansculotten zur Durchsetzung ihrer Forderungen
verwendeten. Damit lässt sich der erste Teil der anfänglich gestellten Frage beantwortet. Halten wir
vorerst einmal folgendes fest: Die Sansculotten argumentierten bei ihren Forderungen auf drei
Ebenen; einer politischen, einer sozialen und einer ethisch – philosophischen. Die drei Ebenen
widerspiegeln gleichzeitig auch spezifische Wesensmerkmale der Bewegung. Im politischem Sinne ist
dies der Kampf gegen die Aristokratie sowie die Vorstellung einer basisdemokratischen Republik. Auf
sozialem Gebiet wird dies sichtbar in der Bedeutung des allgemeinen Wohls und auf ethisch –
philosophischem Gebiet wurde das Recht auf Leben zum obersten Prinzip erklärt.
5. Gegenüberstellung
der
Legitimation
der
Sansculottenbewegung
mit
der
Legitimation von verschiedenen ausgewählten Unruhen aus der Frühen Neuzeit
Drei Konflikte aus drei verschiedenen Jahrhunderten vor der Französischen Revolution werden im
folgenden skizziert. Um einen Vergleich möglich zu machen, liegt das Augenmerk auf der
Legitimation. Bei allen drei Konflikten geht es um wirtschaftliche Mehrbelastungen oder
Einschränkungen von Seiten der Obrigkeit gegenüber den Bauern. Die Beispiele wurden so gewählt,
dass sie für eine bestimmte Art der Legitimation oder für eine Entwicklung exemplarischen Charakter
haben. Ziel der Gegenüberstellung ist es, die Legitimation der Sansculottenbewegung in einen
geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen, um dadurch den zweiten Teil der eingangs
gestellten Frage zu beantworten, inwiefern nämlich im Umfeld der Französischen Revolution auch
hinsichtlich der Argumentation ein Bruch mit der Tradition festzustellen ist.
97
Soboul, Albert: Französische Revolution und Volksbewegung, S. 83.
Fenske, Hans: Geschichte der politischen Ideen, S 342 - 344.
99 Soboul, Albert: Französische Revolution und Volksbewegung, S. 83.
100 Ebd., S. 84.
101 Soboul, Albert: Französische Revolution und Volksbewegung, S. 84 f.
98
18
5.1.
Der Konflikt im “Eigen” Rottenbuch102
5.1.1.
Ursachen und Verlauf
Das Augustiner-Chorherrenstift Rottenbuch ist der Schauplatz eines Konfliktes zwischen dem Prälaten
des Klosters, Probst Georg Siessmaier, und den im Eigen Rottenbuch angesiedelten Bauern. In
einem Eigen waren alle Personen (Eigenherr und Eigenleute) sowie die Güter zusammengehörig. Der
Herr hatte die Fürsorgepflicht für die Eigenleute, welche ihrerseits der Gehorsamspflicht nachkommen
mussten. Die Bauern mussten die Güter des Eigens bebauen. Zu diesem Zweck teilte der Probst den
Bauern die Höfe zu. Die ursprüngliche Rechtsform sah vor, dass die Grundholden abgestiftet, das
heisst von ihrem Gut abgezogen und auf ein anderes gesetzt, werden konnten. Der Probst hatte auch
das Recht, die Abgaben zu erhöhen. Zwischen dem ausgehenden 14. Jahrhundert und dem Ende des
16. Jahrhunderts, hatte sich die Praxis im Kloster jedoch verändert. Zum einen war es nicht mehr
üblich, dass Bauern abgestiftet wurden und zum andern war es Usus, dass die Verfügungsgewalt
Ÿber die
beweglichen Güter, wie Werkzeuge oder Vieh, beim Tode der Eltern auf die Kinder
überging. Zudem gab es kaum mehr eine Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungen. Faktisch wurde
die
Existenzgrundlage
weitervererbt.
Die
Rechtsvorstellung
der
Bauern
war
von
der
Unveränderbarkeit der Eigentumsverhältnisse 103 , sowie der Zusammengehörigkeit der Eigenleute
geprägt. Diese Eigentumsordnung war jedoch nirgends schriftlich festgehalten und hing vom guten
Einvernehmen zwischen den Eigenleuten und dem Prälaten ab.
Dieser Konsens wurde gleich nach Amtsantritt Probst Georg Siessmaiers von ihm in Frage gestellt.
Ursprung der Unruhen war die Erhebung einer Weihsteuer im Eigen. Die Bauern wehrten sich
anfänglich, gewährten jedoch kurz darauf die Hälfte des geforderten Betrages. Der Erfolg ermunterte
den Prälaten und führte 1613 zu einer Reihe von Massnahmen, welche die Bauern wirtschaftlich
höher belasteten und deren Freiheitsrechte einschränkten. Die Bauern reichten beim Herzog in
München Klage ein. Aus diesem Ereignis entwickelte sich ein lang andauernder Streit zwischen den
Bauern und dem Probst.
5.1.2.Legitimation
Die
Haltung
der
Rottenbucher
Bauern
war
während
des
Konflikts
eher
Wiederherstellung der Verhältnisse, wie sie vor der Zeit des Regierungsantritts
defensiv.
Die
Probst Georg
Siessmaiers üblich waren, war das Ziel der Untertanen. Entsprechend legitimierten sie ihre Klagen mit
dem Alten Herkommen. Mittel dieser Legitimation war ein herzöglicher Spruchbrief aus dem Jahre
1470. Der Probst wies den Vorwurf, er habe gegen das alte Recht gehandelt, nicht ab, verwies aber
seinerseits auf den ursprünglichen Status der Bauern. Diese seien eigentlich Freistifter und hätten
daher kein Anrecht auf den Klosterbesitz. Die klagenden Bauern mussten auf dieses Argument hin
ihre Beziehung im Herrschaftssystem definieren. Die Bauern belegten darauf ihr Recht, nicht
Bei der Darstellung des Konflikts im “Eigen” Rottenbuch stütze ich mich auf: Blickle, Renate: “Spenn und
Irrung”. Sowie: dieselbe: Agrarische Konflikte.
103 Im Grunde gab es zwei Eigentümer: Der Grundherr war Obereigentümer (dominus directus) und der Bauer
war Nutzeigentümer (dominus utilis). Der Eigentumsanspruch des Bauern war daher das Recht, das Gut und den
Hof zu benutzen. Siehe dazu: Blickle, Renate: Agrarische Konflikte, S. 174 - 177.
102
19
abgestiftet werden zu können, da dieses Recht, seit über hundert Jahren nicht mehr gehandhabt
worden sei. Sie hätten also das Recht “ersessen”104.
Die Legitimation mit dem Alten Herkommen oder dem alten Recht war typisch in der überwiegenden
Mehrheit der Unruhen während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Im traditionalen
Rechtsverständnis der Bauern waren die Rechtsregeln Gottes Werke. Einmal gesetzt, galten sie als
heilig und unveränderbar. Entsprechend seinem göttlichen Ursprung hatte solches Recht ewig zu
halten. Den herrschaftlichen Versuchen, Recht aus eigener Macht zu schaffen, stellten die Untertanen
die Würde der Überlieferung entgegen, welche sich nicht einseitig verändern liess.105
5.2.
Die zwölf Artikel aus Oberschwaben
5.2.1.Ursachen und Forderungen
Stellvertretend für die Zeit des Bauernkrieges und des Übergangs vom Mittelalter zur frühen Neuzeit,
wollen wir die oberschwäbischen Zwölf Artikel betrachten und nach der angeführten Legitimation
fragen 106 . Die Zwölf Artikel gelten als das Kerndokument des deutschen Bauernkriegs. Sie waren
“Beschwerdeschrift, Reformprogramm und politisches Manifest zugleich” 107 . Die Beschwerden, die
darin zum Ausdruck kamen, müssen vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen, sozialen und
politischen Krise des Feudalismus gesehen werden. Die ländliche Armut, hervorgerufen durch die
Ausdehnung des Zehnten, die hohen Steuern, Missernten sowie neue Steuern, die als Folge des
entstehenden Territorialstaates erhoben wurden, bildeten die wirtschaftliche Komponente der Krise.
Die hohen Belastungen der Höfe führte zu einer Landflucht, wodurch auch die Existenz vieler kleiner
Feudalherren gefährdet wurde. Diese versuchten, der Abwanderung entgegen zu wirken und
verstärkten die Bindungen zu ihren Leibeigenen. Die wirtschaftlichen Belastungen für die Bauern
wurden grösser und die Freizügigkeit eingeschränkt108. Die feudale Ordnung war zu jenem Zeitpunkt
in ihren Grundfesten gefährdet. Dieser Krisenkomplex fand sich in reziproker Form in den Zwölf
Artikeln wieder. Gefordert wurde die freie Wahl des Pfarrers, die Aufhebung der Leibeigenschaft sowie
zahlreiche wirtschaftliche Entlastungen. Die Forderungen, welche die Bauern geltend machten,
müssen als Resultat einer vielschichtigen Krise des Feudalismus und als Ausdruck der
wirtschaftlichen und sozialen Not der Bauern verstanden werden. Die Legitimation der Forderungen
muss hingegen vor dem Hintergrund der Reformation als theologisch - ideelle Umwälzung jener Zeit
analysiert werden.
5.2.2.Legitimation
Im ausgehenden 15. Jahrhundert stiessen die Bauern bei der Durchsetzung ihrer Interessen mit dem
Alten Herkommen an Grenzen. Mit der Ausbildung des Territorialstaats verwendete die Obrigkeit
vermehrt das Satzungsrecht, das römische Recht oder des gemeine kaiserliche Recht.
Blickle, Renate: “Spenn und Irrung”, S. 100.
Bierbrauer, Peter: Bäuerliche Revolten im alten Reich, S. 42.
106 Für die Ausführungen der zwölf Artikel stütze ich mich auf: Blickle, Peter: Die Revolution von 1525. Sowie:
Buszello, Horst: Der deutsche Bauernkrieg.
107 Zitat aus: Blickle, Peter: Die Revolution von 1525, S 21.
108 Verbot des freien Schutzherrn; Verbot der Verbürgerung; Verbot von ungenossen Ehen. Siehe dazu: Blickle,
Peter: Die Revolution von 1525, S. 39 - 50.
104
105
20
Diesem Recht konnte der Bauer nicht mehr mit dem traditionellen Recht entgegnen. Er fand als Folge
der Reformation im Evangelium eine neue Begründungsebene: Das göttliche Recht. Damit war es
möglich, Forderungen zu stellen, welche aus der Bibel hergeleitet werden konnten. Das göttliche
Recht vermochte auch die ständischen Schranken aufzuheben, welche Bauern und Stadtbewohner
bisher trennten. Erst die neue Legitimation machte es möglich, dass der Konflikt sich über die
territorialen Grenzen hinweg ausdehnte. Nicht mehr das enge Bezugsfeld Bauer und Herr war
entscheidend, sondern die gesamte feudale Ordnung und ihre Strukturen konnten mit dem göttlichen
Recht in Frage gestellt werden. Sowohl die Erhebung als ganzes, wie auch die einzelnen
Forderungen wurden in den Zwölf Artikeln aus dem Evangelium begründet. Das göttliche Recht kann,
im Gegensatz zum alten Recht, weder durch Rückgang in die Vergangenheit gefunden werden, noch
basiert es auf dem Argument der Billigkeit, des Verstandes oder der Vernunft. Es lässt sich
ausschliesslich auf die Bibel zurückführen. Genau dadurch liess sich das göttliche Recht vom alten
Recht abgrenzen. Folgerichtig wurde im zwölften Artikel des Dokuments explizit darauf hingewiesen,
dass eine Forderung nichtig wäre, falls nachgewiesen werden könnte, dass sie im Widerspruch zur
Lehre des Evangeliums steht. “Im Evangelium und/oder göttlichen Recht fanden die Aufständischen
eine absolute, tragfähige und mitreissende Legitimation ihres Handelns” 109.
5.3.
Die Unruhen im Fürstbistum Basel
5.3.1.Der Konfliktverlauf
Der Konflikt im Fürstbistum Basel (1726 - 1740) hatte seinen Ursprung in den zwanziger Jahren des
18. Jahrhunderts.110 Der amtierende Bischof verstärkte auf wirtschaftlichem Gebiet seine Ansprüche
und führte absolutistische Reformen durch, welche seinen politischen Einfluss verstärkten. Höhere
Steuerforderungen, sowie die partielle Entmachtung der Landstände 111 destabilisierten das gewohnte
Gefüge. Die Unzufriedenheit der Bauern in der Landvogtei Elsgau verwandelte sich in offenen Protest
und Widerstand als unerwartet ein altes,
für verschollen gehaltenes Rechtsdokument im
bischöflichen Archiv gefunden wurde. Es handelte sich um den Landrodel der Landvogtei Elsgau aus
dem Jahre 1517. Die Kunde des Vorhandenseins solcher schriftlich fixierten bäuerlicher Rechte und
Freiheiten war der Ursprung der Unruhen in der Landvogtei. Es gab zwei Hauptgründe für die
überragende mobilisierende Wirkung sowie die politische Sprengkraft des Dokuments. Erstens: Als
Folge der bischöflichen Reformen war seit Jahren ein Gefühl der Rechtsunsicherheit gewachsen. Dies
liess bei den Bauern den Wunsch nach fixierten Rechten wach werden. Zweitens: Der Rodel mit
seinen Jahrhunderte alten Rechtsvorschriften und Normen lieferte den Aufständischen eine
historische Legitimation für ihren Widerstand. Das bäuerliche Rechtsempfinden erhielt
mit dem
Dokument eine rationale und juristisch abgestützte Argumentationsbasis.
Ausgehend von diesem Ereignis erlebten die Landvogtei Elsgau und weitere Gebiete des Bistums
Basel mehr als ein Jahrzehnt bäuerlicher Aufstände. Zwischen dem Ausbruch der Unruhen 1726 und
ihrem Ende 1740 gab es mehrere Versuche, den Konflikt friedlich zu lösen. Der Kaiser wie auch
109
Zitat aus: Buszello, Horst: Der deutsche Bauernkrieg, S 286.
Für die Darstellung des Konflikts stütze ich mich auf: Suter, Andreas: “Troublen” im Fürstbistum Basel. Sowie:
Derselbe: Absolutismus als repressive Antwort.
111 Die Landstände waren politische Institutionen in der alle drei Stände vertreten waren. Im Fürstbistum Basel
besassen die Landstände ein Steuerbewilligungsrecht welches ihnen der Bischof im Rahmen der Reformen
entzog. Siehe dazu: Suter, Andreas: “Troublen” im Fürstbistum Basel, S. 42 f.
110
21
aussenstehende Gerichte scheiterten mit ihren Schlichtungsbemühungen an der Unnachgiebigkeit der
Konfliktparteien. Die kostspieligen Prozesse, welche die Bauern gegen die Obrigkeit führten, verliefen
schleppend und zäh. Die Fronten verhärteten sich zunehmend. Im Jahr 1733 erfuhr die Unruhe eine
Radikalisierung. Die Bauern verteidigten ihre alten Rechte vermehrt auch mit Gewalt. Beendet wurde
der Konflikt schliesslich 1740 als Frankreich auf bischöfliche Bitte hin Truppen ins Bistum schickte und
die rebellierenden Bauern zur Aufgabe zwang.
5.3.2.Legitimation
Es ist interessant, dass es den beiden Parteien trotz mehrerer Versuche nicht gelang, den Konflikt auf
friedliche Weise beizulegen. Eine mögliche Erklärung dafür finden wir, indem wir dem bäuerlichen
Begründungsmuster die Legitimation der Obrigkeit gegenüberstellen.
Ihre Begründung unterschied sich nicht von derjenigen anderer Konflikte in der Frühen Neuzeit. In den
meisten Fällen rechtfertigten sie ihre Ansprüche mit dem Alten Herkommen. Die Bauern
argumentierten damit, dass älteres Recht, entsprechend seinem göttlichen Ursprung, jüngeres Recht
ausser Kraft setze.
Der Bischof dagegen legitimierte die Verwaltungsreform des Jahres 1726 nicht mehr mit dem Alten
Herkommen, sondern mit dem Zweck und den Zielen dieser Reform. In der abschliessenden
Betrachtung zum Reformwerk hielt der Bischof fest, dass die Reformen “aus unserer väterlicher Sorge
und unserem Bestreben, die Wohlfahrt der Untertanen zu befördern” entstanden seien
112
.
Massnahmen mit dem Zweck des allgemeinen Wohles zu begründen, ist im 18. Jahrhundert sehr
verbreitet. Mehr noch: Der Zweck hat vielerorts das alte Recht als Legitimation ersetzt. Diese
Veränderung kommt in ihrer ganzen Schärfe in einem Brief des Bischofs an den Kaiser zum
Ausdruck. Der Bischof bezeichnete darin die Rechte des Rodels als “verrostete Freiheitsbriefe” 113.
Voraussetzung für das bischöfliche Urteil ist ein neues Rechtsverständnis, welches sich grundsätzlich
von der traditionalen Rechtsauffassung der Bauern unterscheidet. Das weltliche Prinzip der
Zweckbestimmtheit ersetzt die Prämisse des göttlichen Ursprungs. Grundlage der obrigkeitlichen
Argumentation ist das im 16. Jahrhundert entstandene Naturrecht, welches zwischen positivem und
natürlichem Recht unterschied. Während im traditionalen Rechtsverständnis unterschiedslos alle
Gesetze ewig gültig und göttlich waren, zerlegte das Naturrecht die Gesetzesvorschriften in
“vergängliche,
menschliche
Satzungen”
114
einerseits
und
ewig
geltende,
unveränderliche
Gesetzesnormen anderseits. Entsprechend ordnete der Bischof die Rechte, welche die Bauern
geltend zu machen suchten, dem positiven Recht zu und entzog ihnen dadurch die Legitimation. In
einigen wenigen Fällen rechtfertigen aber auch die Bauern ihre Ansprüche nicht mehr ausschliesslich
mit dem Alten Herkommen. Für die gewaltsame Nutzung privatisierter Bergweiden führten die Bauern
neben der altrechtlichen Begründung auch die Existenzsicherung als Legitimation an. Die Unruhen im
Bistum Basel wiesen auf einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel hin, der in der Folge nicht nur
die Rechtsauffassung verändern sollte.
112
113
114
Zitiert nach: Suter, Andreas: “Troublen” im Fürstbistum Basel, S. 391.
Zitiert nach: Ebd., S. 393.
Zitat: Ebd., S. 392.
22
5.4. Gegenüberstellung und geistesgeschichtliche Einordnung
Hauptargument der bäuerlichen Legitimation während der Frühen Neuzeit war – die “Zwölf Artikel aus
Oberschwaben” einmal ausgenommen – das Alte Herkommen. Die Orientierung der Argumentation
war also rückwärtsgewandt, in die Vergangenheit blickend. Das alte Recht, die Gewohnheit und die
Tradition waren die Grundlage der Verständigung und der Begründung. Genau das gegenteilige
Kriterium diente den Sansculotten als argumentativen Rückhalt: Veränderung, Aufbruch, und
Abschied von der Tradition. Nichts durfte so bleiben wie es war. Die bisherige Obrigkeit, die
Aristokratie hatte abzutreten, die Ressourcen mussten nach einem neuen Schlüssel verteilt werden.
Diese Neuorientierung wird am deutlichsten sichtbar bei der “Legitimation mit der Republik”. Formell
unterstrichen wurde diese epochale Zäsur mit der Einführung einer neuen Datierung und dem
Versuch, neue religiöse Kulte einzuführen. Die Sansculotten negierten also den Hauptbestandteil der
Argumentation der Frühen Neuzeit, nämlich das Alte Herkommen und ersetzten diesen mit seinem
Gegenteil. So gesehen stellte die Legitimation der Sansculotten durchaus ein Bruch mit der
Begründungsstruktur der Vergangenheit dar. Bleibt zu fragen, ob es nicht noch andere
Interpretationsmöglichkeiten gibt?
Voraussetzung dafür, dass eine Forderung oder ein Anliegen erfolgreich vertreten werden kann, ist
die Autorität der Instanz auf welche sich die Begründung beruft. Die Rechtsgrundlagen sowie die
allgemeinen moralischen Wertungen sind Ausgangspunkt jeder tragfähigen Legitimation.
Wie aus den drei Beispielen von Konflikten sichtbar wurde, war in der Frühen Neuzeit Gott der
Ursprung des Rechts und dadurch auch die anerkannte letztinstanzliche Autorität. Zum Ausdruck
kommt dieses Verständnis insbesondere darin, dass Recht nicht geschaffen, sondern lediglich durch
Rückgang in die Vergangenheit ,gefunden’ werden konnte. Der göttliche Ursprung des Rechts galt
sowohl für das alte Recht wie auch für das göttliche Recht. Bei der Legitimation der Sansculotten
stellten wir nicht mehr eine göttliche, sondern eine irdische, säkulare Instanz fest. Der Zweck oder
besser, die Vernunft – Ausdruck findend im Prinzip des allgemeinen Wohls und der Ausformulierung
eines Rechts auf Leben – war ein Schwerpunkt der sansculottschen Argumentation und dadurch
auch, um dieselbe Metapher anzuwenden, die letztinstanzliche Autorität.
Die Verlagerung der Autorität von Gott auf die Vernunft des Menschen hatte, wie wir sahen, ihren
Ursprung in der Unterscheidung von positivem und natürlichem Recht im 16. Jahrhundert und fand
als solche während des 18. Jahrhunderts auch praktische Anwendung. Der Bischof des Bistums Basel
legitimierte seine Reformen mit einem rationalen also ,vernünftigen’ Argument.
In dieser Hinsicht ist die Legitimation der Sansculotten während der Französischen Revolution das
Resultat einer Entwicklung welche im 16. Jahrhundert erkennbar und durch die Aufklärer
vorangetrieben wurde. Stellte die Legitimation der Sansculotten also weniger ein Bruch mit der
Vergangenheit dar, als vielmehr die Radikalisierung eines Prozesses, der drei Jahrhunderte früher
seinen Anfang genommen hatte?
War die Vernunft aber tatsächlich die letztinstanzliche Autorität? In 15 von 17 Dokumenten bildeten
christliche oder allgemeine ethische Grundsätze eine Grundlage der Legitimation. Die Vermutung,
dass die moralische Instanz, ähnlich wie in den Konflikten der Frühen Neuzeit, zwar nicht mehr
23
ausdrücklich, aber stillschweigend dieselbe, also göttlich blieb, wäre naheliegend und ist zumindest für
diverse Dokumente vertretbar.
Der Problemkomplex könnte aber auch aus einer leicht veränderten Perspektive betrachtet werden:
Festzustellen war, dass die Sansculotten in sechzig Prozent der Dokumente die Republik als
Legitimation heranzogen. Die Republik war einerseits zwar ein irdisches, nach rationalen Kriterien
gestaltetes Modell, anderseits aber war sie durchaus auch verbunden mit einem irrationalen,
metaphysischen Moment. Schicksal und Verhängnis, Glück und Leid der Gesamtheit der Republik
waren in der Argumentation der Sansculotten eine wichtige Komponente. Die Vorstellung eines
Vaterlands in Harmonie und Brüderlichkeit ist nicht mehr nur rational erklärbar und bedingt eine das
Individuum übergreifende Vision. Den Schluss, den wir aus dieser Betrachtung ziehen müssten, wäre
also, dass der Kern der sansculottschen Argumentation nicht die Vernunft und nicht Gott gewesen
sein könnte, sondern vielleicht eine Konstellation, in der beide enthalten waren, nämlich die Vision
einer Einheit, der Wunsch sich in ein grosses Ganzes einzuordnen und dieses nach eigenen Kräften
zu gestalten. Die Republik war die neue “Gottheit” der Sansculotten.
Zum Schluss soll noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit aufgezeigt werden, die mehr als
Hypothese verstanden werden will. Bei einem direkten Vergleich der sansculottschen Revolution des
Jahres II der Republik und der “Revolution von 1525” 115, deren ideologische Stossrichtung in den
“Zwölf Artikeln” dargelegt wurden, sind gewisse Parallelen festzustellen. Beide Revolutionen wurden
durch politische Umwälzungen und wirtschaftliche Krisen eingeleitet. Im 16. Jahrhundert mit der
Bildung des Territorialstaates, 1793 mit dem Ende der Aristokratie. Sowohl 1525 als auch in den
Revolutionsjahren in Frankreich verschlechterten die wirtschaftlichen Krisen die Lebensbedingungen
und setzten dadurch die Hemmschwelle für Protest und Widerstand herunter. Kern der
Gemeinsamkeiten dürfte jedoch weder die wirtschaftliche Not, noch der politische Umbruch, sondern
die jeweils neue geistige Grundlage der beiden Epochen sein. Sowohl die Ideen der Reformation, als
auch diejenigen der Aufklärung eröffneten den Zeitgenossen neue Horizonte. Der Widerstand bekam
eine allgemeine, programmatische Richtung, ein vages Ziel. Bezogen auf unsere Fragestellung und
auf das Problem der Legitimation bleibt dies nicht ohne Konsequenzen.
Sowohl der Bauern- wie auch der Volksbewegung stand ein Fundus an Ideen zur Verfügung, der
politisch verarbeitet werden konnte. Die geistige Revolution löste die Legitimation aus ihrem engen,
konsensgebundenen Rahmen. Analog zu den Forderungen, die sich nicht mehr am Gewesenen,
sondern an einer neuen Vorstellung der Zukunft orientierten, wurde auch der Legitimation eine neue
Rolle zugewiesen: Die Legitimation wurde zur Trägerin der ideellen, geistigen Revolution. Nicht
Verständigung, sondern Konfrontation wurden in den beiden Bewegung angestrebt, eine
Veränderung, die über das Bisherige hinausging, war das Ziel 116. Wo wird dieser Neuanfang, der
revolutionŠre Charakter des Aufstands deutlicher sichtbar als in der Legitimation?
Die Frage, ob die Art wie die Sansculotten ihre Forderungen legitimierten, nun im Zeichen der
Kontinuität oder eines Bruches mit der Vergangenheit stand, lŠsst sich also folgendermassen
beantworten: Im Zuge der Französischen Revolution löste sich die Legitimation von ihrem
herkömmlichen Schema. Die Argumente waren nicht mehr gebunden an eine gemeinsame
115
116
Der Begriff “Revolution von 1525” wird in Anlehnung an Peter Blickle als Arbeitsbegriff verwendet.
FŸr die Zwšlf Artikel vgl.: Blickle, Peter: Die Revolution von 1525, S. 135 - 142.
24
Verständigungsbasis zwischen der Obrigkeit und dem dritten Stand. Verschiedene Strömungen
aufnehmend, machte sich die Legitimation selbständig und entwickelte, in Verbindung mit den
revolutionären Forderungen, eine neue Dynamik. Entsprechend vereinten sich in der Legitimation der
Sansculotten herkömmliche sowie geistesgeschichtlich neue Elemente. Sowohl irrationale, an den
göttlichen Ursprung moralischer Werte erinnernde Momente, wie auch rationale, aufklärerische Ideen
vermengten sich. In dieser Hinsicht darf die Legitimation der Sansculotten als Bruch mit der
Vergangenheit verstanden werden.
Ziehen wir jedoch die Vermutung, dass die Revolution des Jahres II der Republik, was die
Legitimation betrifft, in der “Revolution von 1525” ein historisches Pendant findet, in die Analyse ein,
könnten wir hingegen argumentieren, dass, über einen grossen Zeitraum hinweg, eine Kontinuität,
eine Wiederkehr des Gleichen festzustellen ist.
6. Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Sansculotten ihre Forderungen auf drei
verschiedene Arten legitimierten. Zählt man die Texte, in denen mit christlichen oder allgemeinen
ethischen Kriterien argumentiert wird, zur Oberkategorie ‘Wohl der Gemeinschaft’, gibt es keine
Forderung, in der die Legitimation mit dem ‘Wohl der Gemeinschaft’ fehlt. In allen Fällen wird also
implizit oder ausdrücklich damit argumentiert, dass der Gemeinnutzen den privaten Interessen
übergeordnet ist. Die starke Betonung der Allgemeinheit erinnert an eines der Postulate der
Revolution: Die Brüderlichkeit. Solidarität statt Wirtschaftsfreiheit also?
Die Republik als Legitimation für die Reglementierung der Lebensmittelpreise wird, unter
Berücksichtigung aller drei Unterkategorien (Ehre, Verteidigung der Revolution, Abgrenzung
gegenüber der Aristokratie) insgesamt in zehn Fällen verwendet, also in ungefähr sechzig Prozent
der Dokumente. Die Legitimation mit der Republik ist dahingehend naheliegend, als der Kampf gegen
die Aristokratie und den königlichen Absolutismus schon seit Beginn der Revolution immer zu den
Motiven und den Triebfedern des Widerstandes der Sansculotten gehörte. Die Republik war die
Alternative und die neue Hoffnung. Wie eng die emotionale Bindung mit der Republik war, kommt
insbesondere bei der Begründung mit der Ehre zum Ausdruck.
Die dritte Oberkategorie, die festgestellt werden konnte, ist die Legitimation mit dem Recht auf Leben.
In insgesamt elf Fällen wird diese angeführt. Der Handelsfreiheit setzten die Sansculotten die
Zwangswirtschaft entgegen, dem Recht auf Eigentum, das Recht auf Leben. Diese Art der
Legitimation macht deutlich, dass die Sansculotten ein eigenständiges soziales Ideal hatten, welches
sie bereit waren durchzusetzen. Die Idee des sozialen Ausgleichs und der Beschränkung der
Wirtschaft, zugunsten des Rechts auf Dasein hatte ihren Ursprung im philosophischen Gedankengut
des von Rousseau geprägten Zeitalters. Es war auch nicht neu, dass dieses Gedankengut in
politischen Zusammenhängen Verwendung fand. Neu hingegen, und dies war der Verdienst der
Sansculotten, war der Versuch dieses Ideal konsequent durchzusetzen. Letztlich muss die
Zwangswirtschaft und das allgemeine Maximum als Resultat des politischen Willens der Sansculotten
betrachtet werden. So erklärt sich die relativ häufige Verwendung dieser Legitimation.
Auffallendstes Merkmal der sansculottschen Legitimation ist, dass sie sich nicht auf eine
Stossrichtung konzentrierte. Verschiedenartige Elemente und Strömungen prägten die Argumentation
25
der Sansculotten. Neben ‘vernünftigen’, den Ideen der Aufklärung und der Revolution entsprungenen
Begründungen, stellten sich irrationale und auf christliche Werte zurückzuführende Begründungen.
Insbesondere die Legitimation mit der Republik verband diese beiden Aspekte sehr anschaulich.
In der Frühen Neuzeit war die Berufung auf das Alte Herkommen, also die Vorstellung, dass das
Recht göttlichen Ursprung habe und dadurch ewig zu gelten hatte, Grundlage der Legitimation. Das
alte Recht war sowohl für die Obrigkeit als auch für die Untertanen die gemeinsame
Verständigungsebene und Verhandlungsbasis zugleich. Wesensmerkmale des alten Rechts war die
Betonung des Überlieferten. Im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg und den damit verbundenen
politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen verlor die altrechtliche Legitimation an Bedeutung. An
ihre Stelle trat das göttliche Recht. Das Evangelium, das Wort Gottes wurde zur neuen Quelle der
Argumentation und der Rechtsvorstellungen der Bauern. Dieser Bruch mit der Tradition eröffnete den
Aufständischen neue Möglichkeiten und definierte dadurch auch den Rahmen der Forderungen neu.
Nach der Zerschlagung der Bauernbewegung durch die Obrigkeit verschwand die Legitimation mit
dem göttlichen Recht und das Alte Herkommen wurde, bei der grossen Mehrheit der Konflikte,
wiederum zur Grundlage der Legitimation. Im 18. Jahrhundert war es dann die Obrigkeit, die mit
dieser Tradition einseitig brach und ihrerseits den Zweck als Argument zur Durchsetzung ihrer
Interessen anführte. Die Legitimation mit dem Zweck geht zurück auf die im 16. Jahrhundert
aufgetretene,
Unterscheidung
von
positivem
und
natürlichem
Recht.
Erstes
bezeichnete
Rechtsvorschriften und Normen welche menschlichen Ursprung hatten und dadurch auch von Zeit zu
Zeit anders aussehen konnten. Die natürlichen Rechtsnormen dagegen hatten göttlichen Ursprung
und galten ewig.
Beim Versuch, die Legitimation der Sansculotten geistesgeschichtlich einzuordnen und die Frage zu
beantworten, inwiefern diese eine Kontinuität oder einen Bruch mit der Vergangenheit darstellte,
konnten je nach Betrachtungsweise verschiedene Schlüsse gezogen werden. Gerade die
unterschiedlichen Momente, welche die Sansculottenbewegung aufgegriffen hatte, um ihren
Forderungen Ausdruckskraft und Durchsetzungsvermögen zu verleihen, führte dazu, dass diese
Frage letztlich nicht eindeutig zu beantworten war. Ein Versuch wurde trotzdem gewagt: Das
Hauptmerkmal der frühneuzeitlichen Legitimation, das Alte Herkommen, die Tradition ersetzten die
Sansculotten mit der Perspektive der Zukunft. Was bisher war, hatte keine Bedeutung mehr. An diese
Stelle trat die Vision einer Republik, welche sie nach ihren Kräften zu gestalten hatten. So gesehen
stellte die Art wie die Sansculotten ihre Forderungen legitimierten einen Bruch mit der Vergangenheit
dar.
Ursprung der Rechtsvorstellung war, jedenfalls vordergründig, nicht mehr Gott, sondern die Vernunft.
In dieser Hinsicht ist die sansculottsche Legitimation auch Ausdruck der skizzierten Entwicklung, in
der der Zweck den metaphysischen Charakter der Rechtsnormen zu ersetzen begann.
Bei genauerer Betrachtung stellte sich jedoch heraus, dass die Sansculotten keineswegs nur
rationale, aufgeklärte Begründungen anführten und noch weniger implizierten. Der Republik wurde in
der Argumentation der Sansculotten ein höherer Wert zugesprochen. Die Republik war die neue
“Gottheit” der Sansculotten.
Bei einem direkten Vergleich der “Revolution von 1525” mit der Revolution von 1793, konnten
verschiedene Parallelen festgestellt werden. Beide AufstŠnde fanden in Zeiten des politischen
26
Umbruchs sowie wirtschaftlicher Krisen statt und standen beide unter dem Einfluss von neuen
geistigen Stršmungen. Die jeweils neuen geistigen Impulse, 1525 das Gedankengut der Reformation
und im ausgehenden 18. Jahrhundert die AufklŠrung, trugen dazu bei, dass die Legitimation den
herkšmmlichen, Konsens gebundenen Rahmen sprengte und eine neue Dynamik entwickelte. Die
Legitimation orientierte sich nicht mehr an der VerstŠndigung zwischen Obrigkeit und Untertanen,
sondern an der Konfrontation und am Neuanfang. Entsprechend vermengten sich verschiedene
Momente und Stršmungen in der Legitimation der Sansculotten. Rationale Argumente traten neben
irrationale, an den gšttlichen Ursprung moralischer Werte erinnernde Momente. So ist es auch
erklŠrbar, dass je nach Perspektive ein anderer Schluss gezogen werden konnte. Insgesamt
betrachtet und unter BerŸcksichtigung der neuen Rolle welche die Legitimation einnahm, kann jedoch
von einem Bruch mit der Tradition gesprochen werden. Die Vermutung, dass wŠhrend der “Revolution
von 1525” die Legitimation, Šhnlich wie 1793 zur TrŠgerin der geistigen Revolution wurde und
ebenfalls eine neue Rolle einnahm, liess den Schluss oder zumindest die Hypothese zu, dass die
sansculottsche Revolution, was die Legitimation betrifft, im Bauernkrieg des 16. Jahrhundert ein
historisches Pendant findet. Insofern konnte Ÿber einen grossen Zeitraum hinweg eine KontinuitŠt,
eine Wiederkehr, ein revolutionŠres Muster festgestellt oder zumindest vermutet werden.
7. Bibliographie
7.1. Quellenverzeichnis
-
Markov, Walter / Soboul Albert: Die Sansculotten von Paris. Dokumente zur Geschichte der
Volksbewegung 1793 – 1794, Berlin 1957. Bei der Quellenarbeit wurde die folgende AbkŸrzung
verwendet: SvP., Nummer des Dokuments (Datum), Seitenzahl.
7.2. Literaturverzeichnis
-
-
-
-
Bierbauer, Peter: Bäuerliche Revolten im Alten Reich. Ein Forschungsbericht, in: Aufruhr und
Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, herausgegeben von Peter
Blickle u. a., München 1980, S. 1 – 68.
Blickle, Peter: Die Revolution von 1525, München 1975.
Blickle, Peter / Buszello, Horst (Hgg.) : Der deutsche Bauernkrieg, Paderborn 21991.
Blickle, Renate: Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern. 1400 – 1800, in:
Geschichte und Gesellschaft. Bochumer historische Studien, herausgegeben von Winfried
Schulze,
Bd.
27,
Aufstände,
Revolten,
Prozesse.
Beiträge
zu
bäuerlichen
Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa, Stuttgart 1983, S. 166 – 187.
Dies.: “Spenn und Irrung” im “Eigen” Rottenbuch. Die Auseinandersetzungen zwischen
Bauernschaft und Herrschaft des Augustiner-Chorherrenstifts, in: Aufruhr und Empörung? Studien
zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, herausgegeben von Peter Blickle u. a., München
1980, S. 69 – 145.
Braesch, F.: La Commune du 10 août 1792. Etude sur l’histoire de Paris du 20 juin au 2
décembre, Paris 1911.
Cobb, Richard: Les armées révolutionaires. Instrument de la terreur dans les départements. Avril
1793 – Floréal an II, 2 Bde., Paris 1961.
Fenske, Hans / Reinhard, Wolfgang (Hgg.) : Geschichte der politischen Ideen. Von der Antike bis
zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 31995.
Furet, François / Ozouf, Mona (Hgg.): Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, 2
Bde., Frankfurt am Main 1996.
27
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