1 Prostitution Friedrich W. Stallberg 1. Gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung der Prostitution 1.1 Grenzen ihrer öffentlichen Bedeutsamkeit Obgleich Prostitution in modernen Gesellschaften, d.h. in allen sozialen Gebilden mit einem Mindestmaß von Schichtung, Normierung und Erwerbsorientierung, unübersehbar auftritt und mit eindeutig problematischen Folgen für Lebenslagen von Menschen verbunden ist, besitzt sie im öffentlichen Bewusstsein für gewöhnlich nur eine relativ geringe Bedeutung. Im Problemkatalog demokratischer Wohlfahrtsstaaten wie der Bundesrepublik steht sie nur an hinterer Stelle – allerdings ist sie bisweilen mitgemeint, wenn etwa Besorgnis über Drogenabhängigkeit, Kriminalität und Aids mitgeteilt wird. Für das Phänomen Prostitution gilt, dass sich einerseits mit einem weithin geteilten Verständnis seiner Schattenseiten und sogar einem hohen Maß an Vertrautheit mit ihnen sicher rechnen lässt, dass es andererseits aber an Bedürfnis und Bereitschaft zur Problemdiskussion erkennbar mangelt. Ganz stark bedingt ist diese Zurückhaltung durch die gesellschaftliche Überzeugtheit von der Normalität und sogar Notwendigkeit kommerzieller Hingabe. Es herrscht allgemein die Annahme vor, sich mit der Existenz von Prostitution abfinden zu müssen – sei es, weil dieser bei aller Ablehnung zugeschrieben wird, sie stärke die soziale Kerninstitution Ehe und schütze vor den destruktiven Folgen überschüssiger Sexualenergie, sei es nur, weil es aussichtslos erscheint, sie durch staatliche Intervention zum Verschwinden zu bringen. Die Macht der „Theorie“, es zwar mit einem Ärgernis zu tun zu haben, dessen Grundlage aber weder verändern zu können noch zu sollen, sorgt für die Abwesenheit des „Übels“ von den zentralen Bühnen der Schaupolitik und seine Nicht-Thematisierung in den großen Reformdebatten; sie lässt auch die Sensibilität für die soziale Dimension des Phänomens, insbesondere für die vielfach durch Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse gekennzeichnete Lebenssituation der Prostituierten, leicht verkümmern und im politischen Raum ein Interesse an einer engen, auf Regelungsfragen eingegrenzten Problemsicht wirksam werden. Mit der Geltung dieser Perspektive bleibt Prostitution Gegenstand zumeist unbeachteten Verwaltungshandelns, die Schilderung ihrer öffentlich durchaus bewegenden Realität eine vorwiegend kulturelle Veranstaltung, der eventuelle Ärger über ihre Natur oder ihre konkrete Gegenwart schließlich eher persönliche Angelegenheit. 2 1.2 Bedingungen und Merkmale der Problembildung Prostitution muss nun aber nicht jeder Problematisierung entbehren, dafür enthält sie ein viel zu großes Störpotential. Immer wieder mal wird der Zustand von missmutigem Stillschweigen gegenüber ihren vermeintlichen Auswüchsen durchbrochen, äußern sich Besorgnis und Unzufriedenheit auch öffentlich. Diese Thematisierung vollzog sich früher mit moralischen, sozialhygienischen und kriminologischen Argumenten. Geltend gemacht wurden vorzugsweise sittliche Gefährdung der Jugend, Infektionsrisiken für den Nutzerkreis oder Begleitkriminalität. Heute richtet sich Beschwerdeaktivität in Routinezeiten zumeist auf Beeinträchtigungen, die der Sexmarkt für städtische Umwelten, das heißt für Passanten, Anwohner oder Handel, schafft. Die Betroffenheit entzündet sich am Ort der Prostitution; man wünscht sich diese anderswo, unauffälliger, durch Kontrolle zumindest eingeschränkt. Über den Unmut über diverse Belästigungen hinaus können es kommunalpolitische Interessen an der Umgestaltung von Stadtstrukturen sein, welche Prostitution – sozusagen als Modernisierungshemmnis – ins Gespräch kommen lassen. Da die örtlichen Bedingungen der Ausübung des „Lasters“ den Ausgangspunkt für Kritik und Diskussion bilden, beschränkt sich deren Reichweite auch auf den Rahmen der jeweils betroffenen Kommune. Anderswo nimmt man schon Notiz, wenn lange und erregt genug über den richtigen Ort der Prostitution gestritten wird, doch bleibt das Problem ihrer Umsetzbarkeit eines der jeweiligen Stadt, gibt es kaum Engagement für übergreifende Lösungskonzepte. Was die einzelnen Kampagnen und Konflikte soziologisch eint, sind allerdings bestimmte Entstehungsbedingungen und Verlaufsmuster (vgl. Stallberg/Merchel/Behler/Brodd 1982). Normalerweise sind Debatten über Prostitution örtlich, zeitlich und vom Teilnehmerkreis her eng eingegrenzt. Ein Durchbruch zu breiterer Beachtung bis hin zur gesamtgesellschaftlichen Ebene kann sich nur unter ganz besonderen historischen Umständen ergeben. Diese liegen dann vor, wenn größere oder relativ einflussreiche Gesellschaftsgruppen ihre Interessen oder Werte durch Ausmaß, Erscheinungsform oder die Art der Regulierung von Prostitution verletzt sehen und daraufhin lautstark Veränderung fordern. Hintergrund für die Initiativen kann ein Wandel der Prostitution selbst, etwa eine starke Zunahme oder nur vermehrte Sichtbarkeit, oder die plötzliche Unwirksamkeit früher erfolgreicher Kontrollpraktiken sein, aber auch eine Verschiebung der Toleranzgrenzen der problematisierenden Gruppe. Beispiele für das Aufkommen neuer Bewertungen von Prostitution bieten die im viktorianischen England geführte Kampagne gegen die staatliche Förderung des Sexmarktes und der moralische Kreuzzug zur Schließung der Rotlichtdistrikte in den USA Anfang dieses Jahrhunderts (Holmes 1972, Walkowitz 1989) Auch die in der Weimarer Republik geführte Debatte über die gesetzliche Neuregelung der Prostitution ließe sich in diesem Zusammenhang noch nennen. Typisch ist es gleichwohl aber nicht, dass sich der Wandel des Verständnisses von Prostitution auf dem Weg politischer Initiativen und Konflikte durchsetzt; eher entwickeln sich neue Problemdefinitionen undramatisch und ohne größere öffentliche Anteilnahme. 3 1.3 Aktuelle Einschätzung der Prostitutionsfrage Gegenwärtig erfährt die Prostitutionsfrage in den Medien Westeuropas und Nordamerikas sowie insbesondere in der Welt des Bildungs- und Sozialwesens eine Beachtung, wie sie annähernd zuletzt und zum einzigen Mal um die Jahrhundertwende gegeben war. Ließ damals die Massenhaftigkeit der Prostitution auf dem Hintergrund von ökonomischer Not und Deklassierung großer Bevölkerungsgruppen Betroffenheit und Besorgnis in einen lebhaften Diskurs einmünden, so hat der seit den 80er Jahren zu beachtende Aktualitätszuwachs vielfältigere Ausgangsbedingungen. Gleichermaßen entstanden ist Probleminteresse aus dem an verschiedenen Orten aufbrechenden Dissens über das Wie und Wo der Sexindustrie, aus der Etablierung eines Sextourismus in der Dritten Welt einerseits, der zunehmenden Einschleusung asiatischer, afrikanischer und osteuropäischer Armutsmigrantinnen in die Prostitutionsmärkte des Westens andererseits, aus der Konfrontation mit der Beschaffungsprostitution weiblicher Drogenabhängiger, aus Einblicken in die Auswirkungen sexuellen Missbrauchs und schließlich dem dramatischen Auftreten der AIDS-Epidemie und der „Entdeckung“ der Prostituierten als hilfs- wie kontrollbedürftiger Risikogruppe. Ungeachtet dieser guten Thematisierungsgründe lässt sich die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Prostitution überhaupt nicht ohne das Aufkommen und die starke öffentliche Präsenz der Frauenbewegung vorstellen; sie hat sich der Sache – hier als extremer Ausdruck sexueller Gewalt, von anderen Vertreterinnen als besondere Form weiblicher Emanzipation gedeutet – nachdrücklich angenommen, ihr zu zusätzlicher Legitimität als Gesprächsgegenstand verholfen sowie neue, anregende Perspektiven in wissenschaftliche Forschung und soziale Praxis eingebracht. Themen und Bezugspunkte der derzeitigen Prostitutionsdebatte spiegeln denn auch den feministischen Einfluss deutlich wieder: Anstatt der Kontrolle von Ursachen oder Folgen der Prostitution sind mehr und mehr die Lebensbedingungen der in ihr tätigen Frauen selbst in den Brennpunkt gerückt. Zu der Frage, wie sich deren Verbesserung erreichen ließe, hat sich inzwischen eine spezielle Diskussion mit einer Vielzahl von Tagungen, Rundfunk- und Fernsehsendungen sowie Buch- und Zeitschriftenbeiträgen entwickelt. Für deren Verlauf ist eine neue und gleich ungewöhnlich große Offenheit für Erfahrungen und Standpunkte der Betroffenen selbst typisch. Mitgeteilt oder interpretiert werden diese von Vertreterinnen der noch kleinen, aber gut organisierten Prostitutionsbewegung. Diese hat sich in den 70er Jahren in den USA, später auch in Westeuropa als ein Diskussions- und Handlungszusammenhang formiert, in dem eine (Ex-)Betroffenenelite den Kampf für die Rechte der weiblichen Prostitution führt (vgl. Hübner/Roper 1988; Jennis 1990; Scambler/Scambler 1997) Dies geschieht insofern sehr erfolgreich, als diese Gruppierung – in der Bundesrepublik vor allem Berlin („Hydra“), Hamburg („Solidarität Hamburger Huren“) und Frankfurt („HWG“) aktiv – im Bündnis mit Mitstreiterinnen aus Sozialarbeit und Rechtswesen ihr Beteiligungsrecht gut genutzt und insbesondere die sozial- und herrschaftskritische Öffentlichkeit für ihre Problemperspektive gewonnen hat (vgl. Prostituiertenprojekt Hydra 1988). 4 Diskutiert wird immer mehr auf der Grundlage eines Verständnisses der Prostituierten als professioneller Sexarbeiterin, deren Risiken und Leiden primär in der Diskriminierung ihrer selbstgewählten Tätigkeit zu suchen sind. Daraus ergibt sich dann das entschiedene Eintreten für die gesellschaftliche Anerkennung von Prostitution als legitimer Berufsarbeit. Mit dem Aufgreifen dieser Position durch die Bundestagsfraktion der Grünen hat die neue Problemdefinition in Deutschland schon 1990 die parlamentarische Ebene erreicht. Nach einem Jahrzehnt weiterer politischer Bemühungen, juristischer Expertisen und regelmäßig wiederholter Forderungen der organisierten Sexarbeiterinnen ist das Entdiskrimierungsanliegen schließlich zu einem der erfolgreich durchgesetzten Reformprojekte der sozialdemokratisch-grünen Regierung Schröder geworden. Das zum 1.1. 2002 in Kraft getretene Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse von Prostituierten erlaubt nach niederländischem Vorbild die Ausübung von Prostitution als vertraglich abgesicherte Dienstleistung mit dem Zugang zu Sozialund Krankenversicherung und der Einklagbarkeit verweigerter Honorare. Mit dieser relativ undramatisch, ganz ohne erregte Gegenwehr verbliebener Moralisten verlaufenen Legalisierung ist das öffentliche Interesse an der professionellen Prostitution und ihrer Umstände wieder weitgehend erloschen; nur die Beachtung der wirklich Betroffenen ziehen noch die Fragen auf sich, inwieweit rechtliche Gleichstellung auch gesellschaftliche Akzeptanz vorbereitet, worin die genauen Folgen für traditionelle Formen der Prostitutionskontrolle wie die städtischen Sperrbezirke bestehen, und was die Nutznießerinnen bislang von der Aufnahme geregelter Beschäftigungsverhältnisse abhält. Jedoch haben sich gleich mit Beginn des dritten Jahrtausends Hintergründe, Anlässe und Impulse für eine ganz andere Problematisierung ergeben. Neu in den Blickpunkt getreten ist der von organisierten Banden mit hoher Profitrate und geringem Bestrafungsrisiko betriebene Handel mit jungen Frauen aus Osteuropa, der zunehmend als Zwangsprostitution thematisiert wird (Arlacci 2000; Lamnek 2003). Auf der Grundlage der desolaten Lebensbedingungen in den Nachfolgegesellschaften des Staatssozialismus sind vermutlich schon Hunderttausende migrationswilliger Frauen angeworben und , egal ob und wie zuvor über den Einsatz in der westlichen Sexindustrie informiert , dort ihrer Handlungsfreiheit durch Rechtlosigkeit und totale, gewaltsame Kontrolle beraubt worden. Öffentliche Aufmerksamkeit bis hin zu skandalisierenden Titelgeschichten, Dossiers und Magazinsendungen in den Massenmedien erlangen vor allem spektakuläre Opferkarrieren mit erschreckender Erniedrigung und Zerstörung, aber auch die grenzenlose, häufig staatlich tolerierte Kriminalität der Täter und schließlich die berechnende Suche männlicher Sexkunden nach Niedrigpreis-Prostitution. Mit tiefer ansetzenden Stellungnahmen und Dokumentationen zu den Hintergründen und Strukturen der Zwangsprostitution und zu Möglichkeiten strafrechtlicher und helfender Intervention haben inzwischen EU und OSZE, in Deutschland die Bundesregierung, das BKA und der eigens gegründete Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozeß auf die Problematik reagiert. 5 2. Prostitution als Thema der Sozialwissenschaft 2.1 Wandlungen der Prostitutionswissenschaft Die jüngsten Entwicklungen im gesellschaftlichen Verständnis der Prostitutionsfrage spiegeln sich in Stand und Bedeutung der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr deutlich wieder. So gibt es einen starken Aufschwung der Forschung zu Gründen, Formen und Folgen des Sexhandels. Diese Konjunktur ist im wesentlichen Antwort auf die geschilderten gesellschaftspolitischen Vorgaben und Informationsbedürfnisse. Daneben ruht sie aber auch auf innerwissenschaftlichen Bedingungen. In der Fachwelt hat die Überzeugung an Boden gewonnen, dass Prostitution aus sozialen Lagen und Prozessen heraus zu beschreiben wie erklärbar ist. Sie wird mit immer mehr Selbstverständnis als Anwendungsfall für den Zusammenhang von Abweichung und Kontrolle sowie als Reflex des gesellschaftlichen Verhältnisses zu Sexualität wahrgenommen. Insbesondere gilt sie auch als Indiz für das Geschlechterverhältnis, als extremer Ausdruck weiblicher Unterprivilegierung und von daher ist sie zu einem Phänomen geworden, dessen Erforschung gerade Sozialwissenschaftlerinnen in hohem Maße anzieht. Das, was sich nun in den Sozialwissenschaften an Sichtweisen und Befunden zum Thema Prostitution entwickeln kann, erlangt innerhalb der Sachdiskussion ständig mehr Einfluss – so ist eine zweite Veränderung beschrieben. Dieser Bedeutungsgewinn steht im Zusammenhang mit dem Ansehensverlust der Kontrollidee. Die traditionellen Problemzugänge von Medizin, Kriminologie und Psychologie zeichnete die Absicht aus, die staatliche Kontrolle von Prostitution und Prostituierter sowohl zu begründen als auch praktisch anzuregen und zu verbessern. Hinter dieser Zielbestimmung standen die Vorstellungen der Schädlichkeit der „Gewerbsunzucht“ sowie auch die Einschätzung der „Dirne“ als psychisch gestört und/oder potentiell straffällig. Mit dem nachlassenden Interesse des Wohlfahrtsstaates an einer möglichst effektiven Bekämpfung des „Lasters“ wird nun auch die wissenschaftliche Unterstützung seiner Anstrengungen zusehends unnötig und unmodern. Wo aber Interventionsmotive und –wünsche nicht mehr den Blick verstellen, wächst die Offenheit für ein unabhängig erzeugtes Wissen über die genaueren Bedingungen, die Frauen zur Prostitution bringen und in ihr halten, und darüber, wie und mit welchen Auswirkungen sie ausgeübt wird. 2.2 Genese des soziologischen Probleminteresses Auf gesellschaftswissenschaftliche Interpretationen und Analysen von Prostitution lässt sich noch nicht allzu lange zurückgreifen. Auch hat sich ihre Entwicklung nicht von heute auf morgen vollzogen. Die erste konsequent soziologische Thematisierung von Prostitution verdanken wir Kingsley Davis, einem Verfechter des nordamerikanischen Strukturfunktionalismus (Davis 1937). In einem knappen, inzwischen klassisch zu nennenden Aufsatz hat er Ende der 30er Jahre einige der Fragen und Zusammenhänge formuliert, die auch jetzt noch die Diskussion beeinflussen. 6 Mit seiner Forderung, zwischen den Ursachen des Auftretens von Prostitution schlechthin und ihres je gegebenen gesellschaftlichen Ausmaßes sowie den Gründen für ihre individuelle Ausübung oder Inanspruchnahme zu unterscheiden, hat er der nachfolgenden Forschung die Richtung gewiesen, mit seinem besonderen Interesse an der Interdependenz zwischen Prostitution und anderen gesellschaftlichen Institutionen den traditionellen Glaubenssatz von der Nützlichkeit der kommerziellen Hingabe analytisch untermauert. Die Betonung funktionaler Aspekte hat sich in der späteren Prostitutionstheorie immer wieder fortgesetzt und auch, wenngleich sicher nur indirekt, das Selbstverständnis der Prostituierten geprägt. Ähnlich beispielgebend wie Davis hat zu Beginn der 50er Jahre Edwin M. Lemert, einer der Begründer des Labeling Approach, die Prostitutionsfrage aufgenommen (Lemert 1951). In seiner „Social Pathology“ stellt er Prostitution und die Prostituierten in den Zusammenhang einer reaktionsorientierten Soziologie abweichenden Verhaltens. Prostitution wird als besondere Form sekundärer Abweichung analysiert; in den Blick treten zum einen Bedingungen und Verlauf der Karriere sexueller Außenseiterinnen, zum anderen die Ansatzpunkte und Folgen der gesellschaftlichen Normierung und Kontrolle ihres Handelns. Lemerts Untersuchung hat erst zwei Jahrzehnte später wirklich Schule gemacht. Bis dahin gab es nur vereinzelte Beiträge zur Prostitutionssoziologie. Zumindest zwei Arbeiten in dieser Richtung wurden auch in Deutschland unternommen. Eine erste soziologische Einführung in die Prostitutionsfrage findet sich in Schelskys Soziologie der Sexualität (1955). Sein Blick auf das Phänomen verrät die funktionalistische Orientierung, modifiziert allerdings durch einen starken Institutionsbezug. Während Schelsky Prostitution nur recht grob in den Zusammenhang von Sexualität und sozialem Handeln einordnet, ihre systematische Erforschung aber nicht vorzubereiten versucht, hat sich W. Bernsdorf (1968) ungefähr ein Jahrzehnt später gerade für die Grundlegung einer besonderen Soziologie des „Lasters“ engagiert. Bernsdorf hätte insofern der Wegbereiter einer soziologischen Prostitutionsforschung in Deutschland sein können. Jedoch fand seine gründliche Rezeption aller möglichen – vorbzw. außersoziologischen – Theorien und Befunde seinerzeit noch wenig Anklang. Auch ist seine Entscheidung, Prostitution in den Katalog der soziologischen Begriffe aufzunehmen (Bernsdorf 1969), bis heute ohne Fortführung. Gewinn aus Bernsdorfs Vorarbeiten ziehen indes viele der später geleisteten Sachanalysen. Einen beträchtlichen Aufschwung nimmt die Beschäftigung mit der Prostitutionsfrage in den 70er Jahren. Die Impulse kommen zum einen aus der Aktualität neuer faszinierender Ideen über den Zusammenhang von Norm, Abweichung und Kontrolle, zum anderen aus der starken Zunahme des Interesses an Fragen der Lebenssituation randständiger Gesellschaftsgruppen. Prostitution wird der sozialwissenschaftlichen Intelligenz nun zunehmend wichtig als Feld von Unterprivilegierung und Diskriminierung, als spezifische Lebenswelt und subkulturelles Phänomen, obgleich die Bereitschaft zu Kontakt und gar Identifikation mit den Handelnden immer noch eingeschränkt bleibt. 7 Im Mittelpunkt des neuentstehenden Forschungsbemühens steht eindeutig die Frage nach Bedingungen und Verlauf der Tätigkeit als Prostituierte, mit deren Beantwortung das Prostitutionsphänomen insgesamt erhellt erscheint. In der jetzt recht zahlreich veröffentlichten Literatur finden sich sowohl übergreifende, soziale Hintergründe wie typische Interaktionsprozesse in den Blick nehmende Laufbahnanalysen als auch speziellere, etwa auf den Erwerb der berufsnotwendigen Normen und Fertigkeiten oder die subjektive Verarbeitung anfallender Rollenprobleme hin konzentrierte Untersuchungen. Zumeist also geht es um die Ermittlung der für den und auf dem Weg in die Prostitution wichtigen Ereignisse, Motive und Phasen. Neben diese Sozialisationsanalysen treten aber auch solche der Organisation: hier wird die Struktur einzelner Prostitutionsorte und –formen aufgedeckt, die Untersuchung der jeweils typischen Arbeitsbedingungen, Situationen und Beziehungen in Angriff genommen. In der Bundesrepublik kann die Prostitutionsforschung von der Abweichungs- und Diskriminierungsdebatte zunächst nur wenig profitieren. Das empirische Interesse gilt weit weniger Fragen sexuellen Normbruchs als denen ökonomischer Benachteiligung, physischer und psychischer Behinderung und des Eingeschlossenseins in totalen Institutionen. Einzig Dorothea Röhr legt 1972 eine umfassende Untersuchung zu Sozialisation , Selbstverständnis und Handlungsproblemen der professionellen Prostituierten vor – bis heute unübertroffen, was die Breite der Materialbasis und den differenzierten theoretischen Hintergrund anbelangt (Röhr 1972). Nennenswert bleibt die schmalere Studie von Hess, die nach Vorbild der nordamerikanischen Karriereforschung den Einstieg von Call Girls verfolgt (Hess 1978). Zu mehr Aktivität und Ansehen in der deutschen Sozialwissenschaft gelangt die Prostitutionsfrage erst zu Beginn der 80er Jahre, als ihre Bedeutung noch einmal kräftig zunimmt und eine zweite Forschungswelle in Bewegung kommt. Es sind jetzt vor allem die Verstärkung des feministischen Probleminteresses, Anstöße aus dem Umkreis der Prostitutionsbewegung und Besorgnisse über die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, welche zu den vorhandenen Untersuchungsmotiven stoßen und zu einer enormen Ausweitung und Differenzierung der Forschung beitragen. Themen und Tendenzen der jüngsten Forschungsprozesse lassen sich ungefähr so bezeichnen: Es fällt erstens eine starke Historisierung der Prostitutionsstudien ins Auge – immer mehr von ihnen rekonstruieren die Merkmale der kommerziellen Hingabe, speziell der Organisationsformen und Kontrollprozeduren, in zurückliegenden Phasen gesellschaftlicher Entwicklung; dabei richtet sich die Aufmerksamkeit bevorzugt auf spätmittelalterliche Verhältnisse sowie auf die Wandlungen der Prostitutionsausübung und – politik gegen Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. u.a. Otis 1980; Rossiaud 1989; Schulte 1979; Schuster 1995; Stumpp 2001). Die Forschung löst sich zweitens ein wenig von der Realität des Handelns der Prostituierten, um dafür dessen gesellschaftliche Wahrnehmung und Kontrolle zu untersuchen. Entstanden sind so einige Analysen verschiedener Systeme und Methoden der Prostitutionspolitik mit ihren 8 Bedingungen, Legitimationsweisen, praktischen Schwierigkeiten und Folgeproblemen (vgl. Gleß 1999; Reynolds 1986; Stallberg 1983). Ein dritter Trend ist in der häufigen Verortung der Prostitution in den Kontext der Frauenfrage zu beobachten, mit etwa der Prüfung ihres emanzipatorischen Gehalts, ihrer Deutung als Radikalisierung der Frauenrolle und der Analyse als ungeschütztes Arbeitsverhältnis auf der einen (Giesen/Schumann 1980; Kontos 1983; Pheterson 1990), der Aufdeckung ihres destruktiven Potentials bis hin zur Definition als „Vergewaltigung auf Raten“ (Hoigard/Finstad 1987) auf der anderen Seite. Erwähnenswert sind schließlich viertens die erheblichen Aktivitäten zum Gewinn empirischer Daten zu den Entstehungsgründen, Wegen und Welten der Jugendprostitution – oft mit dramatischen Vorzeichen oder Schlußtönen (Segeth 1980; Weisberg 1985), fünftens die im Gefolge der staatlich initiierten Aids-Präventionsforschung vermehrt unternommene gesundheitswissschaftliche Prostitutionsanalyse (Ahlemeyer 2002; HeinzTrossen 1993; Krüger 2001) sowie sechstens die vor allem in Westeuropa starke Beschäftigung mit internationalen Entwicklungen der Prostitution, d.h. der zunehmenden, zumeist illegalen, Präsenz von Frauen aus der Dritten Welt und Osteuropa in der hiesigen Prostitutionsszene und den Gründen und Auswirkungen des sog. Sextourismus (Agisra 1990; Barry 1983; Henning 1997; Schneider 1997 ). Nach rund 20 Jahren der Ideenbildung und Datensammlung stellt sich die sozialwissenschaftliche Prostitutionsforschung heute relativ vielfältig und gut entwickelt dar. Es gibt Hunderte einschlägige Veröffentlichungen zu zahlreichen Problemaspekten, eine produktive Konkurrenz unterschiedlicher Orientierungen, Konzepte und Methoden und einen Grundbestand sich immer wieder bestätigender Annahmen und Einsichten. Andererseits sind aber auch manche Schwächen und Lücken der Forschung unverkennbar: die Untersuchungen sind noch weitgehend explorativer Art und methodologisch wenig ehrgeizig; sie gewinnen ihre Einblicke häufig noch durch Gelegenheitsgespräche und –beobachtungen (Schneeballforschung), allenfalls haben sie den Rang von Stadtstudien (vgl. Pfingsten-Würzbug 1995 für Braunschweig; Friedrichsmeier 1991 für Stuttgart, Kahmann/Lanzerath 1981 für Hamburg, Röhr 1972 für Frankfurt), ganz selten erforschen sie Prostitution im Rahmen der gesamten nationalen Gesellschaft (als Ausnahmen vgl. Weisberg 1985; Winick/Kinsie 1971; mit Einschränkungen Leopold/Steffan 1997) Skandalisierung und Parteinahme reduzieren des öfteren die Offenheit für die Sache und die beteiligten Strukturen und Personen. 3. Bestimmung der Prostitution 3.1 Ansätze und Probleme der Definition Wer ist heute überhaupt zur Gruppe der Prostitution zu zählen? Welche Bedingungen müssen erfüllt, welche Handlungen ausgeübt sein, um von Prostitution sprechen zu können? 9 In der Sozialwissenschaft ist man sich relativ einig, wie diese Fragen zu beantworten sind und woran Definitionen anzuknüpfen haben. Die vorliegenden Definitionsvorschläge unterscheiden sich vornehmlich durch die Höhe des begriffsklärerischen Aufwands bzw. die Anzahl der ins Feld geführten Merkmale. Auf der einen Seite stehen pragmatisch gegebene Kurzdefinitionen wie sie etwa zuletzt Gela Weigelt (1989, S. 12) liefert, wenn sie Prostitution als „eine Beschäftigung, die Geschlechtsverkehr im Tausch für Geld involviert“ umschreibt. Auf der anderen Seite finden sich die Ergebnisse ausgiebiger Begriffsüberlegungen, die beispielhaft Bernsdorf (1968) vorgelegt hat. Ihm zufolge ist Prostitution „eine geregelte und sozial gebilligte oder geduldete Einrichtung in herrschaftlich organisierten Gesellschaften, die dem Manne und der Frau außerhalb monogamer und polygamer Eheformen in historisch wechselnder Gestalt nebenoder außerehelichen Geschlechtsverkehr ermöglicht, wobei der eine Partner seinen Körper gewerbsmäßig oder gelegentlich preisgibt, wenn ihm materielle Vorteile dafür gewährt werden“. Grundlegend für den Hauptstrom der Begriffsdebatte dürfte der Ansatz von Benjamin und Masters (1964) sein. Ihrer Meinung nach bestimmt sich Prostitution durch fünf wesentliche Merkmale: eine Person bietet sexuelle Dienste freiwillig an, für diese Dienste wird seitens des Empfängers direkt und mit Geld gezahlt, Prostituierte gehen mit einem größeren Personenkreis sexuellen Kontakt ein, die Transaktion zwischen Prostituierten und Kunden ist vorübergehender und flüchtiger Art, und sie zeichnet sich schließlich durch Anonymität und Sachlichkeit aus. Einen eher nonkonformistischen, machttheoretisch orientierten Zugang zum Phänomen hat kürzlich Julia O’Connell Davidson (Davidson 1998) gewählt. Sie leugnet natürlich nicht den Austauschaspekt der Prostitution, zieht es aber vor, diese als Verhältnis zu bestimmen, in welchem es darum geht, Kontrolle über den Körper einer anderen Person zu gewinnen. Der Kunde zahlt den je geforderten Geldbetrag „in order that he may command the prostitute to make body orifices available to him, to smile, dance or dress up for him, to whip, spank, massage or masturbate him, to submit to being urinated upon, shackled or beaten by him or otherwelse submit to his wishes and desires” (1998, 9f.) Die angestrebte Kontrolle variiert stark nach den Organisationsstrukturen der Prostitution, insbesondere dem Status dritter Parteien und kann von vollständiger Verfügungsgewalt bis zu zeitlich und sachlich genau eingegrenzten oder sogar widerrufbaren Nutzungsansprüchen reichen. Prostitutionsdefinitionen geraten wie alle Abgrenzungen gesellschaftlicher Realität dadurch leicht in Schwierigkeiten, dass sich ihr Gegenstand ständig wandelt und mit ihm auch seine Wahrnehmung durch die handelnden Menschen. Von daher würde es auch Sinn machen, die Frage, was denn nun Sexarbeit charakterisiert, wieviel Wahllosigkeit und wieviel Indifferenz etwa für sie unumgänglich sind, einfach offen zu lassen bzw. sie empirisch jeweils neu, durch die Rekonstruktion des zeitgenössischen Verständnisses, zu klären. Ich denke aber, der Veränderlichkeit von Prostitution und der Situationsgebundenheit ihrer subjektiven Zuschreibung lässt sich dadurch schon Rechnung tragen, dass man ihre Elemente als in der sozialen Realität 10 unterschiedlich stark ausgeprägt und mitunter kaum mehr erkennbar begreift. Auch gehört ja Prostitution zu den eher stabilen Phänomenen und mögen allenfalls ihre Grenzen in Bewegung geraten. So sei hier das Wagnis eingegangen, sie als jeweils neu vereinbarte und direkt bezahlte sexuelle Dienstleistung zu bezeichnen, die (zumeist weibliche) Personen aus freien Stücken für einen wechselnden Kreis von Kunden erbringen, denen gegenüber emotionale Distanz besteht. Prostitution kann professionell und ausschließlich, genau so aber auch als zeitweilige Problemlösung oder gar Überlebenstechnik ausgeübt werden. Ihr nachzugehen, heißt aber stets, Anstößiges zu tun. Je nach Art, Umfang und Dauer der Tätigkeit wird nur unterschiedlich stark gegen soziale Normen verstoßen und ändert sich auch der Grad des individuellen Betroffenseins von Ächtung und Ausschluss. 3.2 Erscheinungsformen Prostitution tritt uns in der Realität vornehmlich (ich schätze in ca. 9/10 aller Fälle) als eine Beziehung entgegen, in welcher Frauen ihre sexuellen Dienste anbieten und Männer die Nachfragenden sind. Diese weiblich-heterosexuelle Form der bezahlten Hingabe hat denn auch das Interesse der Prostitutionsforschung fast vollständig in Anspruch genommen und ist auch das Thema dieses Artikels. Andererseits bleibt es trotz des Bedeutungsgefälles notwendig, darauf hinzuweisen, dass sich Prostitution auch als männlichhomosexuelle, weiblich-homosexuelle und männlich-heterosexuelle Beziehung ereignen kann. Die erstgenannte Variante ist empirisch durchaus belangvoll und zeigt sich in der historisch und räumlich übergreifenden Etablierung eines speziellen Sexmarktes (Strichjungenprostitution), die beiden anderen Formen haben demgegenüber eher noch Seltenheitswert, wenngleich Globalisierung und Kommerzialisierung der Sexualität auch hier Bewegung stiften. Die gerade getroffene Unterscheidung der Prostitution nach dem Geschlecht der Beteiligten ist nur wenig in Gebrauch. Von seiten der mit dem Problem befassten Instanzen wie auch sonstiger Beobachter wird lieber nach dem Ort der Ausübung (etwa Straßen-, Lokal-, Bordell-, Appartmentprostitution), der Stärke des Engagements (Gelegenheits-, Halbtags-, Vollzeitprostitution) oder auch dem rechtlichen Status (amtlich zugelassene bzw. registrierte – „wilde“ Prostitution) differenziert. Wissenschaftlich sind diese Typologien freilich nur von Wert, wenn sie den Blick für die in der Prostitution in der Tat ganz unterschiedlichen Arbeitsbedingungen öffnen. Vorstöße zu einer solchen Tiefendifferenzierung sind bislang selten geblieben. Empfehlen lässt sich am ehesten der Ansatz von G. Miller (1978, S. 126ff.). Miller unterscheidet Prostitution nach dem Grad der Exklusivität und der je vorhandenen Anbindung an Einrichtungen der Sexindustrie. Das erste Kriterium bezieht sich darauf, dass Prostituierte in ungleichem Maße über die Chance verfügen, sich männlichen Nachfragern zu verweigern bzw. sich auf eine begrenzte Klientel zu konzentrieren. Die Entscheidungsmöglichkeit kann bei entsprechender Marktmacht, die wiederum durch spezielle äußere Attribute und/oder einen differenzierten, über bloße Sexualität u.U. 11 hinausgehenden Service begründet ist, ziemlich weit reichen; sie vermag sich genau so unter ungünstigen Arbeitsbedingungen (geringe Kompetenzen, geringe Nachfrage, starke äußere Zwänge) völlig aufzulösen. Das zweitgenannte Unterscheidungsmerkmal reflektiert die Tatsache, dass manche Prostituierte unabhängig, quasi als Unternehmerinnen, tätig sind, wohingegen die Mehrzahl innerhalb der einschlägigen Prostitutionsbetriebe – in der Bundesrepublik heute u.a. Eros-Zentren, sonstige „Sammelquartiere“, Klubs, Saunen, Massagesalons – eher unselbständig, in vordefinierten Rollen, operiert. Die organisierte Anbindung sagt freilich nur wenig über die wirkliche Autonomie aus. Diese bestimmt sich letztendlich daran, inwiefern der Part des Zuhälters besetzt ist und mit welcher Kontrollintensität er ausgeübt wird. 3.3 Ausmaß der Prostitution Über die zahlenmäßige Größe des Problems Prostitution lässt sich nur ziemlich ungenau Auskunft geben. Zunächst erscheint die Beschaffung verlässlicher Daten gar nicht so beschwerlich: Prostitution ist ja ein Phänomen, was auf Öffentlichkeit angewiesen und an bestimmten Orten aufzusuchen ist. Es bestand darüber hinaus hierzulande traditionell eine erst kürzlich mit der Reform der staatlichen Gesundheitskontrolle entfallene Registrierungspflicht für die der Sexarbeit nachgehenden Frauen, und schließlich gibt es auf örtlicher Ebene behördliche Spezialisten, die ihr Wissen über die Prostitutionsentwicklung laufend auf den neuesten Stand bringen und jährlich berichten. Diese mitgeteilten Kontrolldaten stehen kaum unter dem Verdacht systematischer Verzerrung; es gibt im Unterschied zu manch anderer Abweichungsstatistik kein besonderes institutionelles Interesse an der Vergrößerung oder Verringerung der Fallzahl. Die genannten günstigen Umstände werden nun aber durch Widrigkeiten der Prostitutionserfassung mehr als wettgemacht. Dies liegt einmal daran, dass die in den deutschen Städten geführten Daten zu keiner nationalen Statistik vereinigt werden. Schwerer wiegt noch die Tatsache, dass gegenwärtig ein erheblicher Teil der in der Prostitution tätigen Frauen – womöglich der größere – jeden Institutionenkontakt meidet. Dies gilt insbesondere für zwei in den letzten Jahren sehr bedeutungsvolle Prostitutionsgruppen: Drogenabhängige sowie illegal in Deutschland lebende bzw. arbeitende ausländische Frauen. Von daher ist mit einem beträchtlichen Dunkelfeld zu rechnen, wenngleich die amtliche Zählung die „wild“ Anschaffenden durchaus einbezieht. Es gibt zwei weitere Erschwernisse für eine präzise Ausmaßermittlung: Prostituierte zeichnen sich durch eine hohe Mobilität aus, arbeiten im Laufe eines Jahres häufig an mehreren Orten und werden möglicherweise auch mehrfach oder aber der Kürze des jeweiligen Aufenthalts wegen überhaupt nicht gezählt. Problematischer stellen sich Zuordnungsfragen dar: macht es wirklich Sinn, drogenabhängige Mädchen und Frauen, die ihre Sucht zwar durch Sexarbeit finanzieren, dem eigenen Verständnis wie auch ihrer sozialen Identität nach aber primär ein Drogenproblem haben und bezeichnen, in der Gruppe der professionellen Prostituierten aufgehen zu lassen? Wollen wir 12 desgleichen nicht zumindest auseinanderhalten, ob sich Daten auf freiwillige oder erzwungene Prostitution beziehen? Um nun das Problemausmaß numerisch sichtbar zu machen: Prostitution konzentriert sich traditionell auf die Metropolen sowie Großstädte mit Mittelpunktlage. Die dort erhobenen Zahlen liegen zwischen bis zu 500 (bei einer Stadt von der Größe Dortmunds) und 5000 (im Falle von Berlin und Hamburg). Fasse ich diese Angaben großzügig zusammen, gelange ich zu einem Wert von etwa 50.000 in der alten Bundesrepublik tätigen weiblichen Prostituierten. Mit Blick auf die Angleichung der käuflichen Sexualität in Ostdeutschland und vor allem den durch Armutsmigration stark zunehmenden „Prostitutionsuntergrund“ erscheint es mir legitim, die tatsächliche Zahl der in der Prostitution regelmäßig oder von Fall zu Fall aktiven Frauen auf bis zu 200.000 zu schätzen (bei demgegenüber etwa 10.000 „Strichjungen“). Einigermaßen bestätigt wird meine Umfangsberechnung durch eine neuere Untersuchung von Stefanie Markert (1991). Markert nennt auf der Grundlage einer Befragung der deutschen Gesundheitsämter eine Mindestzahl von 50.000 Prostituierten. Darin noch nicht erfasst sind ihrer Meinung nach die Mehrzahl der ausländischen und Beschaffungsprostituierten sowie auch viele der in Appartments arbeitenden oder über Agenturen vermittelten Frauen. Den Anteil der ausländischen Prostituierten gibt sie (im Anschluss an die Befragungsdaten) mit 24% an, die Zahl der durch Drogenabhängigkeit in die Prostitution Gezwungenen veranschlagt sie im Sinne anderer Publikationen auf 11-16.000 (Markert 1991, S. 408). Allerdings muß inzwischen die Ausländerinnenquote wesentlich höher eingeschätzt werden; sie dürfte keineswegs mehr unter 50% liegen (Krüger 2001). Vergleichen wir aktuelle Daten zur Verbreitung weiblicher Prostitution mit älteren lässt sich eine auf den ersten Blick wohl erstaunliche Konstanz erkennen. Die Relation zwischen der Gesamtbevölkerung Deutschlands und der Größe der Randgruppe Prostituierte scheint sich seit der Jahrhundertwende allenfalls kurzzeitig – während einzelner Phasen extremen Umbruchs – stärker bewegt zu haben (vgl. Borelli/Starck 1957, S. 35). Soweit kommunale Entwicklungen genauer betrachtet werden, ergibt sich für den Zeitraum seit 1950 entweder ein Stillstand oder aber ein begrenztes Wachstum von Prostitution, keineswegs aber deren Rückgang (Kahmann/Lanzerath 1981, S. 123; Röhr 1972, S. 59). Dies widerlegt die von Interpreten des Wandels der Sexualmoral getroffene Voraussage, mit etwa der höheren Chance der Trennung von Ehen, der Duldung vor- und außerehelicher Sexualbeziehungen und dem Verfall des Virginitätsideals müsse die Prostitution mehr und mehr entbehrlich werden. Vielmehr haben alle kulturellen, politischen, ökonomischen und rechtlichen Veränderungen nur die Art der Ausübung und Kontrolle, nicht aber den Umfang von Prostitution berühren können. Auch die Motive dafür, sexuelle Dienstleistungen anzubieten und nachzufragen, dürften gegenwärtig teilweise andere als noch vor Jahrzehnten sein; ihre gesellschaftliche Verbreitung und ihre handlungsleitende Kraft sind aber offenbar gleich geblieben. Das Ausmaß der Prostitution lässt sich natürlich nicht ohne den Blick auf die männlichen Kunden bestimmen. Die Größe dieser Gruppe ist freilich ganz 13 selten nur zu ermitteln versucht worden. Es fehlt am öffentlichen Interesse daran: „Freier“ bilden traditionell keinen Bezugspunkt für gesellschaftspolitische Eingriffe. Ihre Lebenslage gilt nicht als zu verändernde, ihr Handeln nicht als kontrollbedürftig. Es ist aber nicht nur mangelnder praktischer Nutzen, welcher die Nachfragerschar ungezählt lässt. Es besteht darüber hinaus ein gesellschaftliches Diskretionsgebot: so wie der einzelne Kunde auf Anonymität hält, so mag auch der Staat den Makel massenhafter Prostitutionsnachfrage seitens seiner männlichen Bürger nicht offenlegen. Wenn nun ein wenig doch über den „Freier“ gemutmaßt und ansatzweise auch geforscht wird (vgl. Ahlemeyer 2002; Diana 1985; Kleiber/Velten 1994; Prostitutionsprojekt Hydra 1991), so entweder, um durch Aufzeigen ihrer Vielzahl und der Ununterscheidbarkeit vom „Nicht-/NochNicht-Freier“ für Sexarbeit Anerkennung und Rechte zu fordern, oder, um durch Daten über Kundenverhalten (speziell die Bereitschaft zu Kondomnutzung) AIDS-Prophylaxe fundieren und verfeinern zu können. Die zuletzt publizierten Ausmaß-Angaben entspringen freilich nicht Zählungen der Kunden selbst – und sei es nur an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeitpunkten -, Basis ist vielmehr die aus Prostituiertenbefragungen erhobene Zahl durchschnittlicher Sexualkontakte. Bei 32 ermittelten Kundenkontakten pro Woche und 50.000 Prostituierten kommt Markert auf einen Wert von 80 Mill. im Jahr (Markert 1991, S. 419). Deren Aufteilung auf einzelne Kunden ist dann nur noch eine auf Milieuerfahrung sich stützende Schätzung: genannt wird eine Zahl von 3,2 Mill. Männern, die in der (alten) Bundesrepublik als „Freier“ aktiv sind, das sind 15 Prozent aller 20-60jährigen. Einen anderen Weg zur Bestimmung des „Freierpotentials“ bietet der Blick in umfassende sexualwissenschaftliche Repräsentativbefragungen. Den dort mitgeteilten Daten zufolge verfügt mindestens 1/10, höchstens 1/3 aller männlichen Gesellschaftsmitglieder über Kundenerfahrung (vgl. Clement 1986; Kleiber/Velten 1994; Reinisch/Beasley 1991). Was sich nach diesen Angaben als gesichert festhalten lässt, sind die stattliche Größe der Prostitutionsnachfrage sowie eine gewisse Normalität des „Freierseins“ im männlichen Lebenslauf. Es bleibt aber unklar, wie sich einmalige, gelegentliche und regelmäßige Prostitutionskunden zahlenmäßig zueinander verhalten, und vor allem, für wie viele Kunden sich das Auftreten auf dem Sexmarkt etwa auf soziale Benachteiligung, psychische Gestörtheit, physische Schädigung oder sexuelle Abweichung gründet und wie viele, im Gegensatz dazu, nur aus Geselligkeit, Langeweile, Neugier oder überzähliger Kaufkraft heraus den bezahlten Kontakt in Anspruch nehmen. 4. Erklärung der Prostitution 4.1 Stand, Fragen und Ansätze Das Vorhandensein von Prostitution sowie auch die negative Bewertung prostitutiven Handelns scheinen relativ unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen zu sein; es gibt sie immer und überall. So ist es auch nicht 14 verwunderlich, dass für ihre Erklärung sozialwissenschaftlich nicht allzuviel Aufwand getrieben wird. Im Gespräch über Prostitution allgemein und schlechthin finden sich überwiegend Deutungen und Sichtweisen (Prostitution als Institution, als Beruf, als Stigma, als Milieu, als sexuelle Gewalt). Ursachen werden gewiss auch zugeschrieben, aber eher beiläufig und unangestrengt. Beliebt ist der Austausch prostitutionstheoretischer Überschriften und Kurzformeln: Patriarchat, Monogamievorschrift, Warenförmigkeit von Sexualität, früher auch Klassengesellschaft und Privateigentum. So wie es gute Gründe dafür gibt, Prostitution als historisch gegeben vorauszusetzen und sich auf die Erforschung ihrer Formen und Folgen zu konzentrieren, so lässt sich aber auch für ihre Erklärungsbedürftigkeit plädieren. In den Blick treten gleich mehrere Ebenen bzw. Ansatzpunkte der Theoriebildung. Zu fragen wäre: Warum entsteht, oder besser, warum erhält sich Prostitution? Worin besteht ihr besonderer gesellschaftlicher Nutzen? Warum gilt sie durchweg als kontrollpflichtige Abweichung? Unter welchen Bedingungen wird sie zum sozialen Problem erhoben? Warum und wie geraten Frauen in die Rolle der Prostituierten, und schließlich, was lässt jemanden zum Prostitutionskunden werden? Antworten auf diese Fragen oder zumindest eine von ihnen lassen sich von ganz unterschiedlichen Theorierichtungen geben. Dabei sind es durchweg allgemeine gesellschafts- und handlungstheoretische Ansätze, von deren Anwendung Einsichten bisher erhofft wurden; aus dem Studium des Phänomens selbst entwickelte Erklärungen bleiben dagegen die Ausnahme. Belangvolle Beiträge zur Theorie der Prostitution liefern meines Wissens der funktionalistische, der sozialstrukturelle, der interaktionistische, der sozialisationstheoretische und der kontrolltheoretische Ansatz. Der funktionalistische Ansatz erklärt Prostitution aus ihrem Beitrag zur Absicherung der gesellschaftlichen Institution Ehe und – in geringerem Maße – zur Verdeutlichung der Grenzen zwischen sozial akzeptiertem und unerwünschtem Sexualverhalten (vgl. insbesondere Davis 1937). Sein Problem ist, dass inzwischen fast alle Befunde eher für eine gegenseitig unabhängige Entwicklung von Ehe und Sexarbeit sprechen. Zur sozialstrukturellen Position lassen sich der materialistische sowie der feministische Ansatz rechnen. Der erstere versucht, die Existenz der Prostitution aus dem Klassencharakter und den Eigentumsverhältnissen der modernen Gesellschaft abzuleiten (vgl. beispielhaft Rühle 1971, zuerst 1930); er lebt heute allenfalls in abgemilderten Annahmen eines Zusammenhangs von sozialer Lage und Druck zu prostitutivem Handeln noch fort. Als weitaus einflussreicher muss der feministische Erklärungsansatz gelten. Er verbindet Prostitution mit dem Faktum der Machtungleichheit zwischen den Geschlechtern, wobei – mikrotheoretisch – der Weg der sozial unterprivilegierten Frau in die Sexarbeit ganz gegensätzlich begründet wird: hier als Entscheidung für Autonomie, dort als Folge besonders großer Abhängigkeit (Heyl 1979; James/Davis 1982). Interaktionstheoretisch lässt sich Prostitution aus den spezifischen Situationen und Definitionen erkläre, mit welchen Frauen vor, bei und nach ihrem Einstieg in die „Gewerbsunzucht“ in Berührung kommen, die also den 15 Prozess des Sichprostituierens begünstigen und die Identität der Beteiligten nach und nach verändern (vgl. Hess 1978). Der sozialisationstheoretische Ansatz geht von der ursächlichen Bedeutung zurückliegender, bewusster oder auch unbewusster, Ereignisse und Erfahrungen für die individuelle Prostitutionstätigkeit aus (vgl. etwa Röhr 1972). Welche und wie viele lebensgeschichtliche Bedingungen für Prostitution verantwortlich gemacht werden und wie verbindlich dies geschieht, ist ganz unterschiedlich. Auf der einen Seite stehen soziologisch eher wertlose Theorien einer abgrenzbaren, abnormen Prostituiertenpersönlichkeit, auf der anderen Behauptungen einer nur begünstigenden Wirkung negativer Sexualerfahrungen. Eine nur geringe Verbreitung besitzt bislang der kontrolltheoretische Ansatz. Sein besonderes Interesse gilt den Bedingungen und Prozessen, welche dafür sorgen, dass Prostitution sozial ausgegrenzt und reguliert wird, aber auch umfassender, all den Normierungen, die menschlicher Sexualität zuteil werden und die Handlungsalternative Prostitution ins Spiel kommen lassen (Stallberg 1988). Auf einer konkreten Ebene geht es schließlich um die Klärung des Zusammenhangs von Prostitutionsort und –kontrolle, d. h. um die Konstruktion einer Landkarte des Unmoralischen (Symanski 1981). 4.2 Wege zur Prostitution Das Hauptaugenmerk aller Prostitutionstheorie richtet sich auf die Erklärung der Beweggründe für die Gewährung bezahlter sexueller Hingabe. Nur die Frage, was Frauen trotz der allerseits bekannten Risiken von Ächtung und Ausbeutung, die Grenze zur professionellen Prostitution überschreiten lässt, ist dauerhaft und differenziert bearbeitet worden. Zu ihrer Klärung ist eine ansehnliche Menge von Theorien, Modellen und Konzepten entstanden. Ihren hier wesentlichen sozialwissenschaftlichen Teil zeichnet ziemlich viel Gemeinsamkeit aus: die einzelnen Annahmen und Thesen sind durchweg aus empirischen Fallstudien entwickelt – jedoch nicht im engeren Sinn empirisch geprüft -, es erfolgt häufig eine Orientierung an Theorien der Abweichung (Anomie-, Subkultur-, Lerntheorie, vorrangig aber Defintionstheorie), und es wird immer wieder ein Grundbestand übereinstimmender Motive und Bedingungen angeführt. Zusammenfassen lassen sich die Theorieergebnisse etwa so: Um Prostitutionstätigkeit im Wohlfahrtsstaat zu erklären, ist auf verschiedene Ebenen mit jeweils verschiedenen Faktoren Bezug zu nehmen. Es ist einmal sinnvoll, zwischen primären und sekundären Ursachen zu unterscheiden (James 1976). Primäre Ursache oder Rahmenbedingung dafür, Prostitution aufzunehmen, ist die gesellschaftliche Existenz einer illegitimen Gelegenheitsstruktur. Frauen erfahren in ihrer Sozialisation, dass sie in einer Welt leben, in welcher Sexualität gegen Geld getauscht werden kann, es eine relativ gleichbleibende Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen gibt. Sie lernen freilich auch, dass ein Eingehen auf diese Wünsche als moralische Abweichung angelastet wird. Die Bereitschaft, den Warencharakter von Sexualität sich persönlich zunutze zu machen, entsteht nun durch verschiedene sekundäre Ursachen. Es 16 handelt sich dabei um begünstigende, anziehende und auslösende Größen (Benjamin/Masters 1964, S. 88f.) oder, anders ausgedrückt, um unbewusste, rationale und situationsbezogene Motive. Auf Prostitution vorzubereiten scheinen insbesondere frühe Erfahrungen mit und durch Sexualität. Einschlägige Forschungen belegen eindrucksvoll, dass Prostituierte sowohl an ihrer Mutter als auch an sich selbst schon in jungen Jahren den Status der Frau als Sexualobjekt wahrgenommen haben (vgl. u.a. Giesen/Schumann 1980). Darüber hinaus ist ein großer Teil von ihnen zum Opfer sexueller Gewalt geworden. Die umfassenden empirischen Studien bieten dafür eindeutige Ergebnisse: bei James (1980) waren 52,8 Prozent der Prostituierten vergewaltigt worden, 18 Prozent Inzestopfer; Diana (1985) ermittelte einen Opferanteil von 38,4 Prozent, (dabei handelte es sich in ca. 40 Prozent der Fälle um innerfamiliäre Gewalt); Leopold und Steffan stießen in ihrer deutschen Untersuchung (1997) auf 30% mit Gewalterlebnissen innerhalb und außerhalb der Familie. Als nachgewiesen kann auch gelten, dass spätere Prostituierte erheblich früher als der Durchschnitt ihrer Geschlechtsgenossinnen sexuelle Beziehungen eingehen. Diese Erfahrungen wie auch andere, die ganz typisch für eine beeinträchtigte, leidvolle Primärsozialisation sind, stellen weder hinreichende noch notwendige Bedingungen für die Aufnahme von Prostitution dar; sie erleichtern aber die Übertretung sexueller Normen und können sich dafür mit anderen Faktoren zusammentun. Anziehungskraft übt Prostitution für viele Frauen insofern aus, als sie Einkünfte verspricht, die sich selbst in hochqualifizierten Berufstätigkeiten nur schwer erzielen lassen. Von daher ist sie – gewinnt der Wunsch nach einem höheren Lebensstandard erst einmal handlungsleitende Bedeutung – nahezu alternativlos und keineswegs nur für Frauen mit relativ niedrigem Bildungsstatus und ungewissen beruflichen Aussichten (die freilich auch derzeit noch unter den Prostituierten überwiegen, vgl. wieder Diana 1985; Friedrichsmeier 1991) attraktiv. Sie wird zusätzlich häufig mit der Chance finanzieller Unabhängigkeit verbunden, als leicht, eigenverantwortlich und zeitlich begrenzt auszuübende Arbeit definiert und als Teil einer unkonventionellen, interessanten und großzügigen Lebensweise eingeschätzt. Das Verständnis von Prostitution als dem besten Weg zur Sicherheit und Freiheit reicht noch nicht hin, um diesen illegitimen Beruf zu ergreifen. Es bedarf bestimmter Situationen, um Ängste, Zweifel und moralische Hemmungen zu überwinden und den Zugang zum „Milieu“ gezielt zu suchen. Entsprechenden Einfluss können biographische Krisen, berufliche Unzufriedenheit, Verschuldung oder akute Konsumbedürfnisse nehmen. Sie legen die Entscheidung zur Prostitution nahe, die selten jedoch ohne die Bekräftigung oder Überzeugung durch schon berufserfahrene Frauen oder den eigenen Vorteil suchende männliche Bekannte getroffen wird. Es wird in der Regel zugeredet, positiv informiert und Wissen darüber vermittelt, wie und wo sich der Einstieg in den Beruf herstellen lässt. Inwieweit dann so etwas wie eine „Lehre“ stattfindet (vgl. Bryan 1965) oder sich die Einführung in das Gewerbe auf die Aufgabe einiger Grundregeln beschränkt, wird unterschiedlich beurteilt. Vermutlich hängt die Organisation des Einweisungsprozesses von der Form ab, in welcher die Prostitution ausgeübt 17 werden soll: je höher die verlangten Kompetenzen und auch je schwieriger die Bedingungen, desto länger die Sozialisationszeit. Physischer Zwang spielt allen Befunden nach bei der Aufnahme von Prostitution hierzulande nur in relativ wenigen, wenngleich wieder zunehmenden (speziell bei ausländischen Frauen) Fällen eine Rolle, ist aber stets auf seinen Anteil gegenüber Freiwilligkeit zu prüfen. Die für den Eintritt in die Prostitution verantwortlichen Faktoren können im Einzelfall ganz unterschiedlich gewichtet sein. Mal wird der Situation, mal der Sozialisation mehr Bedeutung zukommen. Wichtig ist die Einsicht, dass sich die Konfrontation mit den einflussnehmenden Umständen und Ereignissen im Rahmen eines unterschiedlich langen, in einzelnen Phasen zerlegbaren Prozesses abspielt. Das Nachzeichnen dieser Vorgeschichte in ausgesuchten bzw. den überhaupt zugänglichen Fällen ergibt eine idealtypische Prostituiertenlaufbahn (Davis 1971; Hess 1978), die sich dann auch weiter bis hin zum gewandelten, mit Sexarbeit verbundenen Selbst- und Fremdverständnis verfolgen lässt. Der aktuelle Strukturwandel der westlichen Prostitution in Richtung einer immer stärkeren Geprägtheit durch Zwangsrekrutierung und totale Kontrolle lässt die vorgestellte Konzeption inzwischen ergänzungsbedürftig erscheinen. Eine erst noch zu entwickelnde Theorie der Zwangsprostitution muß ihre Erklärung auf Migrationsdruck sowie Anwerbe-, Täuschungs- und Unterdrückungsprozesse konzentrieren. 5. Politik der Prostitution Prostitution stellt traditionell ein Phänomen dar, auf das von seiten der von ihr „heimgesuchten“ Gesellschaften in organisierter und normierter Form eingewirkt wird. Die Gesetze, Stellungnahmen und Aktivitäten, mit denen Umfang, Erscheinungsweise und Folgen von Prostitution beeinflusst werden, lassen sich als Prostitutionspolitik bezeichnen. Dieser Politikbereich ist im wesentlichen vom Handeln staatlicher Institutionen, insbesondere der Polizei, geprägt; praktische Beiträge leisten aber auch soziale Dienste und Selbsthilfegruppen, während in eher programmatischer Weise politische Parteien und diverse Interessengruppen (Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Sittlichkeitsvereine u.a.) beteiligt sein können. Für die in Sachen Prostitution tätigen Behörden ist dieses Engagement heute meist nur untergeordnete Aufgabe oder Nebenschauplatz; es bindet wenig Kräfte, braucht kaum Spezialkompetenz und erbringt nur sehr beschränkt legitimatorischen Nutzen. Die Existenz von Prostitutionspolitik lässt sich am ehesten an besonderen Rechtsnormen (in der Bundesrepublik lange Zeit die StGB-Paragraphen 180a, 181, 184, der Artikel 297 des Einführungsgesetzes zum StGB, die §§ 119, 120 des Ordnungswidrigkeitengesetzes, das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, jetzt auch bzw. alternativ das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse von Prostituierten und das Infektionsschutzgesetz) erkennen. Diese werden zumeist weniger diskutiert und reformiert als routinehaft und ausgesprochen selektiv angewendet. 18 Prostitutionspolitik bescheidet sich damit, ihren Gegenstand zu verwalten; beansprucht normalerweise nicht seine Gestaltung. Ihre Handlungsform ist die der Reaktion auf Auffälliges und Unerwünschtes, das sie durch negative Sanktionen einzugrenzen, zu unterbinden oder wieder unsichtbar zu machen versucht. Präventive Maßnahmen, ob nun im Sinne der Verhinderung anstößigen Tuns, des Abwendens psychosozialer Risiken oder gar der Beseitigung von Prostitutionsursachen, gehören dagegen nicht zu ihrem eigentlichen Repertoire. Im historischen und kulturellen Vergleich betrachtet, ist auf Prostitution natürlich durchaus verschiedenartig, wenngleich stets kontrollierend eingewirkt worden. Unterscheiden lässt sich zwischen mindestens drei Interventionsformen. In der Literatur werden sie uneinheitlich benannt, ich spreche hier von Unterdrückung, Regulierung und Duldung. Prostitution zu unterdrücken, bedeutet sie mit einem Verbot zu belegen, ihre Ausübung durch die möglichst perfekte Überwachung der für Sexarbeit geeigneten Orte und aller unter Käuflichkeitsverdacht stehenden Frauen zu verhindern suchen sowie die sich dennoch der „Gewerbsunzucht“ Verschreibenden drakonisch und nach außen abschreckend zu bestrafen. Regulierung umschreibt den staatlichen Versuch, Prostitution durch spezielle Instanzen (Sittenpolizei) lückenlos zu erfassen, sie durch ein rigides Vorschriftensystem zu steuern und sie durch eine Vielzahl repressiver Eingriffe zu isolieren, ohne aber gegen ihre Existenz noch ankämpfen zu wollen. Entwickeln kann sich schließlich eine Politik, die zwar Prostitution als unvermeidbar, obschon ärgerlich, hinnimmt und ihre Ausübung nicht mehr durch ein dichtes Sanktionsnetz erschwert und kriminalisiert, zur Abwehr erwarteter „Auswüchse“ und Gefahren aber weiterhin schlagkräftige Kontrollinstrumente bereithält. In der Prostitutionspolitik der westlichen Wohlfahrtsstaaten gibt es seit längerem einen deutlich erkennbaren Trend hin zu einer duldenden Haltung. Zu dieser Form der Reaktion auf das „Übel“ bewegen mindestens zwei Vorteile: durch den Verzicht auf die Verfolgung faktisch unerreichbarer Ziele – Aufhebung der Prostitution, vollständige Registrierung und räumliche Segregation der Prostituierten – bewahrt sie den Staatsapparat vor unnötigen Anstrengungen und Fehlschlägen; sie überträgt des weiteren das in der modernen Demokratie einschlägige Mindestmaß von Toleranz und Akzeptanz auf das Feld sexuellen Verhaltens, greift dabei aber überkommene moralische Prinzipien und Gesetzesnormen nicht an und belässt die Prostituierte im Status von Abweichung und Randständigkeit. Auch die deutsche Prostitutionspolitik verfolgte seit Gründung der Bundesrepublik einen permissiven Weg, der im internationalen Vergleich als besonders liberal gewürdigt wurde (Haft 1976, S. 122; Winick/Kinsie 1971, S. 13). Tatsächlich sind hierzulande die Ausübung und Inanspruchnahme von Prostitution immer schon grundsätzlich erlaubt. Stark eingeschränkt sind aber die ihr zur Verfügung stehenden Räume, d.h. zumindest die offizielle Duldung gilt lediglich für eigens ausgewiesene und sehr eng gesteckte „Toleranzzonen“. Diese ökologische Kontrolle in Form der Verbannung der Prostitution aus den Innenstädten und ihrer Konzentration auf Bordellstraßen, Eroszentren und sonstige „Standorte“ hat für die Sexarbeiterinnen deutlich 19 nachteilige Effekte: sie bestätigt ihren Status als geduldet, aber verachtet; schafft eine enge, Handlungs- und insbesondere Ausstiegschancen nehmende Bindung ans „Milieu“ und begünstigt die Ausbeutung durch Sexunternehmer, Vermittler und vor allem parasitäre Partner.. Als Reaktion auf diese gewiß auch durch die Tätigkeit selbst produzierten, mit deren Aus- und Eingrenzung aber verstärkten Begleitprobleme der Prostitution sind seit zwei Jahrzehnten verschiedene, teils von Wohlfahrtsverbänden getragene, teils mit Selbsthilfe- und Selbstorganisationsansätzen verbundene Hilfs- und Beratungseinrichtungen für die Zielgruppe Prostituierte entstanden (Stallberg 1985; Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit NRW2002). Schon die Entwicklung dieses Unterstützungssystems, welches die Schattenseiten der gängigen Prostitutionskontrolle in den Blick hob und dieser kompensatorische Elemente mit kritischer Absicht zur Seite stellte, brachte Veränderung in das Verhältnis von Staat, Prostitution und Gesellschaft. Politisch folgenreicher ist aber die jetzt gesetzlich verankerte Legitimation der Dienstleistung Prostitution. In künftigen Diskussionen zu klären bleibt, ob sich diese Neuerung als konsequenter Abschluß oder auch Modernisierung der Prostitutionsduldung begreifen lässt oder schon eine Transformation zu einer qualitativ eigenständigen Politik der Akzeptanz und Normalisierung bedeutet. Unabhängig von dieser Einschätzungsfrage darf dem in Deutschland und den Niederlanden formalisierten, anderswo öffentlich lebhaften Verständnis der Prostitution als entdiskriminierungsbedürftiger Tätigkeit noch keineswegs ein Siegeszug vorhergesagt werden. Ganz im Gegenteil zeichnet sich gegenwärtig eine scharfe Konkurrenzsituation zwischen der akzeptierenden Position und historisch neuartigen Ansätzen zur staatlichen Bekämpfung der Sexarbeit ab. Die letzteren gehen von einer Sicht der Prostitution als extreme Form der Unterdrückung von Frauen aus und verfolgen ihre Aufhebung oder wenigstens Einschränkung durch eine Politik der Kriminalisierung der Kunden aus. 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