2 - SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina

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2. Palästina-Konferenz, Stuttgart, 10. – 12.05.2013
Podium 6 – Vortrag Hermann Dierkes, Ratsmitglied in Duisburg
Liebe Freundinnen und Freunde,
um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich eingangs betonen, dass ich hier nur für mich
selber spreche und nicht für die Partei DIE LINKE, in der ich aktiv bin.
Liebe Freundinnen und Freunde,
kritischen Beobachtern fällt immer wieder auf, dass der Mainstream-Diskurs hierzulande bis
hinein ins linksliberale Lager, wenn es um Nahost, Israel, Palästina und die Rolle der
deutschen Politik geht, sich um die schlichte Benennung von nachprüfbaren und
offenkundigen Tatsachen entweder herumdrückt oder nur widerstrebend einräumt. Ursache
und Wirkung werden regelmäßig vertuscht oder verdreht. Ganz schnell wird die
„Verantwortung aus unserer Geschichte“ aufgeboten, was in bestimmter Weise richtig ist – ich
komme noch darauf zurück - , aber überwiegend als Totschlagargument missbraucht wird, um
ganz andere Interessen zu bedienen. Einige der schlimmsten Auswüchse des israelischen
staatlichen Handelns werden inzwischen bestenfalls als „Fehler“ dargestellt, „bedauert“ oder
als unerklärlicher Irrationalismus „auf beiden Seiten“ verkauft. Es werden aber nie die
systembedingten Hintergründe und ihre Logik aufgedeckt, was natürlich sofort Konsequenzen
nahelegen würde, die man scheut. Aber genau darüber ist zu reden.
Und noch eins möchte ich eingangs klarzustellen: Ich bin davon überzeugt, dass uns eine
besondere Verpflichtung daraus erwächst, dass in deutschem Namen mit dem Völkermord an
den europäischen Juden eine Menschheitstragödie angerichtet wurde. Die Shoah oder auch
nur ähnliche rassistische Ausgrenzung, Gewalt und Vernichtung darf sich nicht wiederholen.
Nirgendwo und gegen niemanden. Wehren wir den Anfängen, bevor es wieder zu spät ist.
Diese Verpflichtung muss allerdings universell wahrgenommen werden durch
Strafverfolgung, soweit sie durch die fortgeschrittene Zeit überhaupt noch möglich ist, durch
Wiedergutmachung der körperlichen und materiellen Schäden, soweit dies überhaupt noch
machbar ist, durch umfassende Erinnerungsarbeit (in Bildung, Museen, Gedenkstätten, im
öffentlichen Leben usw. Ich darf Euch in diesem Zusammenhang mitteilen, dass wir in
Duisburg – der Stadt in der ich kommunalpolitisch aktiv bin - die längst überfällige
Errichtung eines Dokumentationszentrums „Duisburg in der Nazizeit“ mitinitiiert haben); des
weiteren durch konsequenten Kampf gegen Rassismus jeder Art sowie besondere Förderung
jüdischen Kulturlebens usw. Die strikte Einhaltung von Menschen- und Völkerrecht,
demokratischen Prinzipien, soziale Gerechtigkeit und der zügige Abbau von ausbeuterischen
Beziehungen, konsequente Friedenspolitik und Antikolonialismus müssen die Markenzeichen
jeder Politik nach Auschwitz sein.
Diese Aufzählung und ein Vergleich mit der tristen Wirklichkeit weltweit reichen aber bereits,
um beurteilen zu können, dass es mit den Lehren aus der Geschichte leider noch nicht so weit
her ist. Ich will aktuell nur erwähnen, welche unsäglichen Debatten und Zerreißproben uns
noch bevorstehen durch die Armutswanderung in der EU, wo sich bereits tausende Roma aus
Rumänien und Bulgarien auf den Weg nach Westen machen, um ein besseres Leben zu
suchen. Dass neben den Juden rd. eine halbe Million Sinti und Roma von den Nazis
umgebracht worden sind, und dass auch daraus eine besondere Verpflichtung erwächst, ist
dem deutschen Mainstream weitgehend fremd. Ich will schließlich nur die verbreitete
Islamophobie erwähnen oder das Erstarken ausgesprochen judenfeindlicher Parteien wie im
EU-Mitgliedsland Ungarn.
Die Berufung auf historische Verpflichtungen wird aber unredlich, ja zur Farce, wenn man
sich den praktischen Konsequenzen systematisch verweigert oder – wie im Falle Deutschland
und Israel, – im Namen der historischen Verantwortung eine Unterstützung einfordert, die vor
allem auf eigene Vorteile für Wenige aus ist, koloniale Unterdrückung und Expansion
unterstützt und zu neuem schwerem Unrecht schweigen soll.
Liebe Freundinnen und Freunde,
weniger als 40 Prozent, der Menschen, die sich in unterschiedlicher Weise als jüdisch
definieren (religiös, ethnisch), leben heute in Israel. Die überwältigende Mehrzahl von ihnen
hat den Holocaust nicht erlebt bzw. überlebt. Über 60 Prozent der Menschen, die sich religiös
oder ethnisch als Juden definieren, leben nicht in Israel. Im Unterschied zu der israelischen
(hebräischen) Siedlernation leben diese also nicht auf einem gemeinsamen Staatsgebiet,
sprechen keine gemeinsame Sprache im Alltagsleben, haben keine vollständige
Klassenstruktur und keine säkulare „Hoch“- und Volkskultur. Sie bilden damit keine Nation
im heutigen modernen Sinne des Begriffs. Aber nach zionistischer Ideologie bilden alle Juden
auf der Welt eine einzige Nation. Ihr wahres Heimatland ist nicht ihr Geburtsland, in dem sie
vielleicht seit Generationen leben. Das Heimatland dieser angeblichen Nation ist das biblische
Land Israel, auf das sie einen unveräußerlichen, gottgegebenen nationalen Anspruch habe.
Nichtjuden in der jüdischen Heimstatt – vor allem Araber bzw. Palästinenser - sind danach
lediglich ausländische Eindringlinge. Israel in seiner zionistischen Prägung beansprucht für
alle Juden in der Welt zu reden. Es sieht sich lediglich als Vorhut eines Sammlungsprozesses.
Indessen begreift sich die überwältigende Mehrheit der Juden nicht als Teil der israelischhebräischen Nation und schon gar nicht als Zionisten. Ein relativ hoher Prozentsatz unter
ihnen ist friedenspolitisch aktiv, kritisiert die israelische Politik und unterstützt sogar die
Kampagne BDS. Ein Freund von mir aus der Nähe von Haifa – er ist gebürtiger Schweizer,
aber vor Jahrzehnten nach Israel ausgewandert - schilderte mir das anhand seiner persönlichen
Situation bzw. der seiner Herkunftsfamilie: Seine Schwester – ebenfalls Jüdin wie er - ist
Schweizerin. Er wie sie hätten aber trotz ihrer gemeinsamen Jüdischkeit eine viel größere
Nähe zu ihrem jeweiligen Land und ihrer Umgebung.
Diese Differenzierung ist sehr wichtig, weil wir sonst einer völlig falschen – und im Ansatz
eigentlich rassistischen Sichtweise aufsitzen – die die Jüdischkeit als das zentrale und
verbindende Element zwischen Menschen verschiedenster Nationen, Ethnien und
Staatsbürgerschaften behauptet. Sie ist wichtig, um nicht den schweren Fehler zu machen und
Judentum schlechthin mit Israel gleichzusetzen, wie es der Mainstream-Zionismus verlangt.
Insoweit ist es auch falsch, davon auszugehen, „die Juden“ hätten sich entschieden, einen
eigenen Staat zu bilden, in dem sie unter sich sind oder wenigstens die Mehrheit haben. Es
handelt sich um eine – wenn auch große – Minderheit der Juden.
Die Grundlagen staatlichen Handelns in Israel finden sich in der Doktrin des Zionismus. Sie
reicht in ihren Ursprüngen bis ins 19. Jahrhundert – also weit vor die Zeit der Shoah zurück und hat sich von Anfang an kolonialistischer und rassistischer Versatzstücke der europäischen
Nationalideologien bedient. Ich erwähne nur die Schriften Herzls, Jabotinskys oder Sharetts.
Diese Doktrin umfasst folgende, wesentliche Bestandteile:
- gewaltförmige koloniale Eroberung und fortlaufende Ausdehnung des eigenen
Staatsgebiets
- Vertreibung und ethnische Säuberung insbesondere der arabischen bzw.
palästinensischen Bevölkerung - das ist der große Unterschied zu der südafrikanischen
Apartheid - um Raum für die eigene Bevölkerung zu schaffen, die demografische
Mehrheit zu sichern und jeden Versuch der Eigenstaatlichkeit des kolonisierten und
entrechteten Volkes zu unterdrücken.
- Ausgeprägte strukturelle Ungleichheit bei den Grund- und Zivilrechten bis hin zu
sozialräumlicher Apartheid von Ethnien und/oder Glaubensgemeinschaften, die als
fremd und minderwertig stigmatisiert werden, hier insbesondere der Islam, aber nicht
nur.
- Selbstdefinition als Schutzwall des Westens gegen die arabisch-muslimische Welt.
Der Anteil religiöser Rechtfertigungen und die national-religiösen politischen Formationen
haben dabei in den letzten drei Jahrzehnten enorm zugenommen, obwohl in Israel schon
immer galt: „Du brauchst nicht an Gott zu glauben, Du musst nur daran glauben, dass ER
Palästina den Juden versprochen hat“.
Das heutige Israel ist nicht nur ein Ergebnis des zionistischen Kolonialprojekts, sondern auch
ein Instrument zu seiner weiteren Ausdehnung (1). Seine bisherigen Regierungen mit
unterschiedlicher Zusammensetzung und fast sämtliche politischen Parteien stehen dazu. Sie
machten daraus nie ein Geheimnis und es ist überhaupt nicht nur der erstarkende rechte Rand
(Nationalreligiöse, rechtsradikale Siedlerverbände usw.), der diese Positionen vertritt. Die
staatspolitischen Ziele werden in Israel mehr oder weniger offen, sehr oft brutal offen,
diskutiert und programmatisch festgelegt - von Ben Gurion über Sharon bis hin zu Netanjahu,
von Ministern über regierungsnahe „think tanks“ wie das Reut-Institut, über die großen
Medien bis hin zu den wichtigsten Rabbinern. „Ziel und Prüfstein des Zionismus ist die
vollständige Umsetzung der Kolonisierung aller Gebiete des Landes Israel durch die Juden“,
so der spätere erste Staatspräsident Ben Gurion im Jahr 1937 (2). Die Kolonisierung von
Palästinensergebiet schreitet bis heute unablässig fort. Ein rassistischer Diskurs gegenüber
„den Arabern“ ist allgegenwärtig. „Jede Teilung Palästinas, jede „Grüne Linie“, jedes
Abkommen und jeder Vertrag, die ein Stück des „Landes Israel“ gegenüber der jüdischen
Kolonisierung verschließen, ist aus Sicht des Zionismus höchstens eine Durchgangsetappe,
darf aber niemals für immer gelten.“ (3)
Aber diese traurigen und empörenden Tatsachen finden sich in aller Regel nicht in den
deutschen Mainstream-Medien. Sie zählen nicht zur Beurteilungsgrundlage in der
Mainstream-Politik. Nein, uns wird die Mär von der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“
vorgegaukelt, die so verletzlich sei, deren Existenzrecht infrage gestellt und die von den bösen
Nachbarn nicht in Frieden gelassen werde und die ständig zur „Selbstverteidigung“ mit
militärischen Mitteln gezwungen sei.
Eine solche Staatsdoktrin ist auf Unrecht, Lebenslügen, Erpressung, Unterdrückung und
Feindschaft programmiert. Kein moderner Staat der Welt kann praktisch ethnisch oder religiös
homogen sein. Es kann nicht hingenommen werden, dass ein Staat seine Grenzen nicht
definiert, weil er auf Ausdehnung angelegt ist, dass er jahrzehntelang besetzte Gebiete offen
oder de facto annektiert. Dass Israel sich bis heute keine Verfassung gegeben hat, kommt
hinzu. Die immer stärker geforderte Anerkennung Israels als „jüdischer Staat“, und nicht als
eines Staates für Juden, was noch etwas anderes wäre, und schon gar nicht eines Staates für
alle seine Bürger – ist, so der Jerusalemer Prof. Sari Nusseibeh, logisch und moralisch sehr
problematisch „wegen der rechtlichen, religiösen, historischen und sozialen Auswirkungen.“
(…) Sie „impliziert, dass Israel entweder eine Theokratie ist (oder sein sollte) oder ein
Apartheidstaat“ (4). Die strukturelle Diskriminierung von Nichtjuden in Israel ist massiv, was
Bürgerrechte betrifft und den Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt. Das Eherecht liegt in der
Hand des Rabbinats. Die Staatsziele laufen auf eine Ethnokratie hinaus. Damit sind Gleichheit
und Demokratie für alle seine Bürger definitiv unmöglich.
Die Verfechter der israelischen Staatsdoktrin wollen alles, nur keine Anerkennung des
Gleichheitsprinzips gegenüber den Palästinensern, auch nicht im Kernland Israels in den
Grenzen von vor 1967, keine Versöhnung, keinen historischen Kompromiss, der gerechten
Frieden und souveräne palästinensische Staatlichkeit bringt. Das alles wird ständig durch
Wort und Tat bezeugt. Es ist also wieso so oft genau das Gegenteil von dem, was uns die
israelische Regierungspropaganda und ihre Nachbeter weis machen wollen. Es sind die
Palästinenser, die keinen ernsthaften „Verhandlungspartner“ haben.
Zeev Maoz, ein bedeutender israelischer Militäranalytiker, schreibt: „Israel hat eine stark
entwickelte Sicherheitsdoktrin, (aber) es hat keine Friedenspolitik. (…) Israels Geschichte
vom Frieden schaffen ist von Reaktion geprägt, sie zeigt ein Muster von Zögerlichkeit,
Vermeiden von Risiken, Stückwerk, das in starkem Kontrast steht zu seiner provokativen,
wagemutigen und schiessfreudigen strategischen Doktrin. (…) Im Wesentlichen ist das Militär
die einzige Regierungsorganisation, die in Krisenzeiten politische Optionen bietet –
typischerweise militärische Pläne. Israels Außenministerium und diplomatisches Korps sind
auf die Funktion einer Werbeagentur reduziert, die erklärt, warum Israel in Krisensituationen
mit Gewalt statt mit Diplomatie vorgeht“ (5).
Die zionistische Doktrin, die darauf aufbauende Staatsform und das staatliche Handeln ziehen
die gewohnheitsmäßige Verletzung und Missachtung von Menschen- und Völkerrecht nach
sich, die Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens, das enge Bündnis mit der Supermacht
USA und den rechtesten Teilen des US-Establishments, den rechtesten Regimes der Welt (z.B.
den ehem. Militärdiktaturen Lateinamerikas, dem Apartheidregime Südafrikas), eine
unerhörte Ressourcenvergeudung für Rüstung, einschließlich unerklärter atomarer
Bewaffnung, für „Sicherheit“ und Geheimdienste. Im Verbund mit der inzwischen
vorherrschenden harten neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik haben wir bereits
eine unerhörte soziale Spaltung und Verarmung. Sie dürfte inzwischen auf rd. 25 % der
Bevölkerung hinauslaufen. Die große Sozialbewegung vom Sommer 2011 war ein erster
wichtiger Vorbote kommender innerer Auseinandersetzungen. Ich bin optimistisch – sie war
nicht die erste und nicht die letzte angesichts des Kurses auch der neuen Regierung. Sie kann
in Kombination mit weiteren Faktoren: Veränderung in der arabischen Welt und
internationalem Druck eine Öffnung für eine fortschrittliche historische Lösung schaffen.
Um einen gerechten Frieden für Nahost zu erreichen, muss der koloniale und rassistische
Zionismus überwunden werden. Er ist das Haupthindernis.
Israels Politik und seine heutige staatliche Verfasstheit können nicht im Namen der
„deutschen Verantwortung vor der Geschichte“ kritiklos hingenommen, schöngeredet und
systematisch unterstützt werden, wie es der deutsche Mainstream bisher macht. Das ist nicht
geschichtsbewusst, das ist nicht nur feige und unverantwortlich, nein, das ist Komplizenschaft
bei neuem, schwerem Unrecht. Es ist ein Hohn auf den Holocaust.
Die Mainstream-Politik bei uns und in der EU, ihre Analytiker und Apparate wissen das alles.
Sie kennen die Verhältnisse vor Ort. Die zahlreichen UN-Entschließungen, EUPositionspapiere wie das von 2009, die Stellungnahme des Haager Gerichtshofs gegen die
Mauer auf palästinensischem Gebiet, der Goldstone-Report, Memoranden, wie das von 22
NGOs vom letzten Oktober, der Brief der 26 Elder Statesmen an den Europarat von 2010,
unter ihnen Altkanzler Helmut Schmidt (die meisten unter ihnen haben die bedingungslose
Unterstützung Israels übrigens in ihrer aktiven Zeit mitgemacht), die Ergebnisse des letzten
Russell-Tribunals, die Berichte von Gefangenenhilfsorganisationen, eine unerhörte Fülle von
Stellungnahmen, Literatur und Reportagen – vielfach auch von kritischen Stimmen aus Israel
selbst! - bezeugen die Unrechtspolitik, das Leid der unterdrückten Palästinenser und fordern
Konsequenzen. Große Teile der Weltöffentlichkeit sind inzwischen nicht mehr bereit, diese
Politik widerspruchslos hinzunehmen. Aber die deutsche Bundesregierung behält ihren Kurs
der bedingungslosen Unterstützung Israels bis heute bei. Noch. Kanzlerin Merkel hat vor nun
5 Jahren in der Knesset – auf dem Hintergrund des Atomstreits mit dem Iran – erklärt, die
Sicherheit Israels sei auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte Teil der deutschen
Staatsräson und nicht verhandelbar.
Zeichen der Zeit: Wenn man alle guten Argumente, alle erdrückenden Fakten in den Wind
schlägt, dann bleibt nur noch der Rückgriff auf politiktheoretische Konstrukte aus der Zeit des
aufgeklärten Absolutismus. Schon der Rückgriff von Merkel auf diese vordemokratische Idee
von der Staatsräson ist aufschlussreich und verräterisch. Diese steht für ein Konzept der
Beziehung zwischen Macht und Moral, in dem die ethischen Werte bei Bedarf einem höheren
Staatsziel – dem Fortbestehen des Staates bzw. einer bestimmten Staatsform - zu weichen
haben. Gerhard Fuchs, ein früherer deutscher Botschafter in verschiedenen arabischen
Ländern, zuletzt in Indonesien: „Inzwischen ist die Staatsräson als Rechtfertigungsgrund für
ein Primat der Machterhaltung im politischen Sprachgebrauch weit ausgedehnt worden – als
Bestandteil einer so genannten Realpolitik. Nicht nur zur Bewahrung der Existenz eines
Staates können Moral und Ethik zurückgestellt werden, sondern schon zum Machterhalt einer
Regierung und zur Befriedigung selbstdefinierter staatlicher Grundbedürfnisse. In einem
demokratischen Rechtsstaat kann dieser Begriff eigentlich schon deshalb keinen Platz haben,
weil er die Diskussion unterschiedlicher Staatsziele abschneidet“ (6).
Die deutsche Verfassung kennt keine Staatsräson. Sie legt Grundsätze fest, nach denen sich
die Innen- und Außenpolitik zu richten hat, darunter der Grundrechtskatalog
(Menschenrechte) sowie die Artikel 25 und 26, die von zentraler außenpolitischer Bedeutung
sind. Das Völkerrecht ist laut Verfassung unmittelbar geltendes Recht. „Handlungen“, so das
Grundgesetz, „die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche
Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskriegs
vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“
Merkel ist übrigens nicht die Erfinderin der Idee von der Sicherheit Israels als Teil der
deutschen Staatsräson. Vor ihr haben bereits viele deutsche Politiker und alle Regierungen
praktisch diese Position bezogen. Mit der sogenannten „Staatsräson“ deckt praktisch bisher
eine Bundesregierung nach der anderen die Komplizenschaft mit der Unrechtspolitik
israelischer Regierungen ab. Gleichzeitig wird das „besondere Verhältnis zu Israel“ als
Tarnung für ganz eigene Interessen im Spiel von Power und Money benutzt. So haben bereits
Adenauer und Strauß seinerzeit die weitreichenden Rüstungsbeziehungen angekurbelt.
Adenauer vertrat damals – sinngemäß – die Ansicht: Der Jude in Amerika hat Macht und
Geld und deswegen müssen wir uns mit Israel gut stellen (7). Parallel mit der immer
bedingungsloseren Unterstützung Israels wurde die Aufarbeitung und Verfolgung der
Naziverbrechen weitgehend beendet. Der Kommentator der Nürnberger Rassegesetze,
Globke, wurde Leiter des Kanzleramts. Kohl hielt diese Linie durch, Schröders Position war
es, dass (Zitat) „Israel das bekommt, was es zur Aufrechterhaltung seiner Sicherheit braucht,
und es bekommt es dann, wenn es gebraucht wird“ (8). Israels Haupthandelspartner ist die
EU. Das Land ist de facto Mitglied der EU und genießt dadurch enorme Steuervorteile,
Mittelzuflüsse und Informationen, insbesondere bei Forschung und Entwicklung. Im Sinne
des weiteren „upgrading“ wurde es in die OECD aufgenommen, obwohl die Einhaltung der
Menschenrechte Vertragsbedingung ist. Ich bin unserer Bundestagsabgeordneten Annette
Groth sehr denkbar dafür, dass sie das Thema bereits angesprochen hat. Dieses Abkommen
muss ausgesetzt werden!
Die bedingungslose deutsche Politik gilt einem kolonialen, auf weitere Expansion angelegten
Siedlerstaat, der sich über dem Völkerrecht wähnt. Wenn das nicht verfassungswidrig ist –
was denn dann? Sie ist mit den eigenen Regierungsrichtlinien unvereinbar, die den Export
von Rüstung in Spanungsgebiete verbieten. Angesichts der engen und bis heute vielfach
geheim gehaltenen deutsch-israelischen Rüstungs- und „Sicherheits“beziehungen seit Mitte
der 50er Jahre – also schon weit vor der diplomatischen Anerkennung Israels durch die
damalige Bundesrepublik im Jahre 1965 – war diese Position de facto die Generalabsolution
für die Unterstützung Israels und seiner gewohnheitsmäßigen Missachtung von Menschenund Völkerrecht.
Die Merkel-Position bereitet inzwischen – vor allem auf dem Hintergrund der veränderten
Lage in der arabischen Welt - einem wachsenden Teil unserer politischen Klasse arges
Kopfzerbrechen. Selbst Bundespräsident Gauck hat bei seinem Israel-Besuch zur
Jahreswende eine Teildistanzierung gewagt. Diplomaten und Völkerrechtler weisen zu Recht
darauf hin, dass die Position von der Staatsräson in der Konsequenz bedeutet, sich
vollkommen in die Hände eines anderen Staates bzw. der dortigen politischen Entscheider zu
begeben, deren Definition von Sicherheit bzw. gefährdeter Sicherheit. Und ich füge hinzu:
deren Rüstungswünschen (atomwaffenfähige U-Boote, modernste Panzerkanonen, Elektronik
usw.) sowie den Profitinteressen der „eigenen“ Rüstungskonzerne. Es bedeutet
schlussendlich, sich die Hände von Entscheidern zu begeben, die die vielbeschworene
Sicherheit für die eigene Bevölkerung eben nicht erhöhen, sondern immer weiter gefährden.
Das ist eine - angesichts der kolonialistischen und militaristischen Prägung der israelischen
Politik – unerhörte, selbstgestellte Falle. Wir können die Analyse aber auch zuspitzen: Das
besondere Verhältnis zu Israel wird auf zynische Weise vor allem dazu instrumentalisiert, um
eigene geostrategische, rüstungspolitische und wirtschaftliche Interessen voranzutreiben. Soll
uns doch einmal jemand erklären, was die milliardenschweren Rüstungsgeschäfte deutscher
Konzerne wie Rheinmetall, HDW, DASA und MTU, der EU- und US-Konzerne oder der
israelischen Rüstungsproduzenten Rafael, IAI oder Elbit mit der Verpflichtung aus den
Naziverbrechen zu tun haben. Was hat der Ressourcenraub von Palästina durch israelische
Agrarkonzerne wie Agrexco mit der Verpflichtung aus der Shoah zu tun, dass man ihn
gewähren lässt? Hier geht es um eiskalte Profitmacherei.
Man braucht kein Prophet zu sein: Die offizielle bundesdeutsche Position ist ein
Auslaufmodell. Sie wird angesichts der weitreichenden Veränderungen in der arabischen Welt
und dem weltweiten Umschwung der öffentlichen Meinung geändert werden müssen. Ich
stimme Ilan Pappe ausdrücklich zu: Wiedergutmachung heute heißt vor allem Unterstützung
der Palästinenser bei der Durchsetzung ihres Rechts auf Selbstbestimmung.
Aber machen wir uns nichts vor: Ohne den massiven öffentlichen Druck, ohne Sanktionen
gegen die israelische Politik und alle Profiteure von Besatzung und Mauer, Land- und
Ressourcenraub wird es nur auf eine Neujustierung im Verhältnis Deutschland – Israel
hinauslaufen. Das Establishment wird versuchen, nur so viel zu ändern wie nötig und so viel
beizubehalten wie möglich. Denn die eigentlichen Gründe der bisherigen bundesdeutschen
und US-amerikanischen „Treue“ zur israelischen Politik – die vielmehr eine Treue zu ihren
eigenen Interessen ist - haben sehr viel weniger mit der Wahrnehmung von historischer
Verantwortung zu tun, aber sehr viel mehr mit geostrategischen Interessen, Rüstungs- und
Wirtschaftsbeziehungen. Die Militär- und Wirtschaftsmacht Israel ist ein wichtiger Teil der
imperialen globalisierten Beziehungen. Seine Laboratoriumsfunktion für neue Waffen und
Sicherheitseinrichtungen und seine Wachhundfunktion für den Westen sind offenkundig.
Umso wichtiger ist es, dass wir laut und deutlich Position beziehen. Wir müssen den
repressiven Konsens der bedingungslosen Solidarität mit Israel brechen, der Kritik an Israel
als „Antisemitismus“ verunglimpft und vor Rufmord nicht zurückschreckt. Wir müssen uns
mit neuen Ideen einmischen, die fortschrittliche Veränderung in Nahost fördern. Die
weltweite Solidaritäts- und Friedensbewegung muss noch viel stärker mit den Palästinensern,
der israelischen Opposition und den progressiven Strömungen in der arabischen Welt
zusammen arbeiten. Noch ein Wort zu der häufigen Entgegnung von pro-zionistischer Seite:
Die Solidaritätsbewegung propagiert nicht ein neues Israel/Palästina - gewissermaßen als
Insel der Glückseligen, weil wir sie bei uns und anderswo nicht durchsetzen können. Der
Kampf um ein anderes Israel ist vor allem Sache der Israelis selbst und künftiger neuer
politischer Mehrheiten. Wir wollen dazu beitragen, dass sich die internationalen
Rahmenbedingungen ändern, dass Israel insbesondere von der deutschen Regierung und von
der EU endlich wie ein normaler Staat behandelt wird, sich an Menschen- und Völkerrecht
hält und für seine ständigen Rechtsbrüche und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen
wird. Wir mischen uns ein, weil für uns Gerechtigkeit und Menschenrechte universelle Werte
sind und weil die bundesdeutsche Politik ein wesentlicher Faktor für die Aufrechterhaltung
des Unrechts in Nahost ist. Unsere Hauptforderungen lauten: Schluss mit der israelischen
Besatzung, mit der bedingungslosen Solidarität der deutschen Politik mit dem israelischen
Mainstream. Schluss mit den Rüstungsgeschäften und –geschenken, handele es sich um
atomwaffenfähige U-Boote, Panzerkanonen, Elektronik oder Drohnen. Wir wollen Fair-Play
für die Palästinenser. Nur das bringt Frieden und Sicherheit auch für die israelische
Bevölkerung. Nur das eröffnet die Chance für einen echten Friedensprozess in der gesamten
Region.
Unsere Solidarität mit den unterdrückten Palästinensern muss auch thematisieren, wie sich
das nationale Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser in seiner Staatlichkeit ausdrückt. Die
sog. Zweistaatenlösung – wie sie vom politischen Mainstream bis in die Linke hinein in
unterschiedlichen Modellen propagiert wird - würde den Palästinensern unter den heutigen
Verhältnissen keine Souveränität bringen, würde sie auf zerstückelte Reste des historischen
Palästina zurückwerfen, ähnlich den ehemaligen Bantustans oder den Indianerreservaten –
obwohl die nordamerikanischen Indianer immerhin volle Bürgerrechte haben. Auch
angesichts der Fakten, die Israel mit westlicher Unterstützung vor Ort geschaffen hat, ist
offenbar nur noch die Karikatur eines palästinensischen Staates möglich. Es handelt sich um
ein Placebo, das den Palästinensern vom politischen Mainstream hingehalten wird, um sie
zum definitiven Verzicht auf ihre Rechte zu bewegen.
Ziel sollte ein gemeinsamer bi-nationaler, demokratischer Staat sein mit weitreichenden
Verfassungsgarantien für alle seine BewohnerInnen. Alles spricht dafür. Aber Voraussetzung
ist, wie gesagt, die Überwindung des Zionismus in Israel. Die Debatte um die Einstaatigkeit
und ihre Regularien wird immer wichtiger. Dabei wollen wir uns mit guten Argumenten
einbringen, ohne den Eindruck zu erwecken, wir wollten belehren und hätten sowieso die
besseren Ideen als die Betroffenen. Die Idee der demokratischen Einstaatigkeit sollte auch
nicht die Vorbedingung für die praktische Solidaritäts- und Kampagnenarbeit sein. Wir
müssen, wie gesagt, vor allem mithelfen, die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass diese
Debatten in Israel und Palästina überhaupt ernsthaft geführt werden können und dass
ernsthafte Realisierungschancen entstehen. Die Betroffenen vor Ort müssen letztlich selber
entscheiden können. Ich möchte schließen mit einem Zitat aus einem gemeinsamen offenen
Brief von über 100 namhaften israelischen und jüdischen Linken und Friedensaktivisten vom
Frühjahr 2010 an die Partei DIE LINKE. Es handelt sich um einen Appell, der in seiner
Bedeutung weit über die LINKE als Partei hinausgeht und Solidarität hierzulande insgesamt
einfordert:
„Die intensiven diplomatischen und militärischen Aktivitäten der Bundesrepublik in der
Region und die aktive Unterstützung der israelischen Besatzungspolitik reichen uns, um in der
BRD einen der Akteure zu sehen, die für die durch die israelische Regierung begangenen
Verstöße gegen das Völkerrecht und für die israelischen Kriegsverbrechen mitverantwortlich
sind. Aus diesem Grund denken wir, dass es unser Recht ist, von Euch als AktivistInnen für
soziale Veränderung in Deutschland (…) Verantwortung für das Vorgehen Eures Staates in
Bezug auf unser Land zu übernehmen. Die andauernde Besatzung und Entrechtung sind keine
inner-israelischen Angelegenheiten. Die anti-demokratische Herrschaft des Staates Israel
über mehr als drei Millionen PalästinenserInnen, die kein Wahlrecht haben und die
Kriegsverbrechen, die in den besetzten Gebieten stattfinden, sind die Angelegenheit von allen,
denen die Menschenrechte ein Anliegen sind. Vor allem aber tragen die Bürgerinnen und
Bürger Europas wegen ihrer – auch in der Gegenwart weiterhin stattfindenden –
kolonialistischen Interventionen im Nahen Osten eine besondere Verantwortung für den
Konflikt. Angesichts dessen ist eine Scheu davor, Israel zur Verantwortung zu ziehen,
unangebracht. Die ökonomische, militärische und politische Unterstützung, die Israel von der
EU und besonders von Deutschland erfährt (…) fördern einen Friedensprozess nicht, sondern
tragen zur Aufrechterhaltung der Besatzung und zur umfassenden Repression gegenüber der
palästinensischen Bevölkerung bei. Außerdem verstärkt diese Unterstützung
Militarisierungsprozesse und die Erziehung zu Rassismus und Intoleranz in unserer
Gesellschaft“ (9).
Ich danke für die Aufmerksamkeit!
Zitate:
(1) Moshe Machover, Mathematiker und Mitbegründer der israelischen Linksorganisation
Mazpen in einem Vortrag vor dem Barry Amiel&Norman Melburn Trust am
30.11.2006
(2) a.a.O.
(3) a.a.O.
(4) Sari Nusseibeh, Prof. für Philosophie an der Al Quds-Universität Jerusalem, Al
Jazeera, 30.09.2011
(5) Zeev Maoz, zitiert nach Arn Strohmeyer, Wer rettet Israel/Ein Staat am Scheideweg,
2012, S. 99
(6) Gerhard Fuchs, Zenithonline.de 16.10.2012, Vorsicht Staatsräson! Sowie ders.
Atomstreit mit dem Iran Zenithonline.de 27.02.2012
(7) Bundeskanzler Konrad Adenauer, Rede zum Wiedergutmachungsabkommen mit
Israel von 1953, zitiert nach Volkhard Mosler in Deeg/Dierkes Hg.) Bedingungslos für
Israel?, 2010, www.neuerispverlag.de
(8) Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002 anlässlich der Irak-Krise, zitiert nach Otfried
Nassauer in Deeg/Dierkes Bedingungslos für Israel?, S. 108
(9) Veröffentlicht u.a. in www.steinbergrecherche.com
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