Wintersemester 2005/2006 Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien Proseminar: Die Literatur der Weimarer Republik Dozent: Stefan Tomasek Schriftliche Hausarbeit zur Erlangung eines Leistungsnachweises: Vergleich des Romans „Berlin Alexanderplatz“ mit der filmischen Umsetzung von 1931 vor dem Hintergrund der Haltung Döblins gegenüber dem Medium Film und den kontemporären Verhältnissen vorgelegt von: Sebastian Bernhardt, 2. Semester Sebastian Bernhardt eMail: [email protected] 2. Semester, LA Gym weitere Fächer: Philosophie, Romanische Philologie (Französisch) Abgabetermin: 27.03.2006 Inhaltsübersicht 1 Einleitung ………………………………………………………………… Seite 2 2 Die architektonischen Besonderheiten bezüglich Erzählsituation, histoire und discours im Roman und ihre Umarbeitung für den Film ……………… Seite 3 3 Die Konzeption der Biberkopf – Figuren in Roman und Film ………… 4 Die Umarbeitung des Films: gescheiterte Adaption, durch Zensur gegeißelte Produktion oder logische Konsequenz der Intention des Autors? 4.1 Die filmische Schreibweise im Roman ………………………………… 4.2 Döblins Konzeption des Kinos ……………………………………….... 4.3 Die Umsetzung des Romans in Jutzis Verfilmung …………………….. 4.4 Die Schlusszenen: neue Chance durch spinozistische Wandlung oder empirisch evozierte Besinnung zur Ehrlichkeit? …….……………….. 4.5 Die filmische Umsetzung in der Kritik ………………………………… 5 Schluss …………………………………………………………………… Seite 7 Seite 11 Seite 13 Seite 14 Seite 21 Seite 23 Seite 24 6 Literaturverzeichnis ………………………………………………………. Seite 26 Hiermit versichere ich, die vorliegende Arbeit selbständig angefertigt, nur die angegebenen Hilfsmittel benutzt und wörtlich oder dem Sinne nach den Quellen entnommene Stellen als solche gekennzeichnet zu haben. Die Arbeit hat noch nicht zum Erwerb eines anderen Scheins vorgelegen. Sebastian Bernhardt 1 1 Einleitung Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ von 1929 gilt als einer der bedeutendsten deutschen Romane des zwanzigsten Jahrhunderts. In ihm werden die Montagetechnik und die Verfremdung im anonymen Alltagsleben der Großstadt konsequent eingesetzt. Der Autor selbst wirkte am Drehbuch des zwei Jahre später unter Federführung der Allianz Film GmbH realisierten Werks mit. Er erntete jedoch sehr viel Kritik für die drastische Vereinfachung und die Überführung des revolutionären Stoffes in konventionelle Form und konservativere Denkmuster. Bis heute finden sich in der Forschung noch Aussagen, die behaupten, der Roman sei an sich filmischer als seine kinematographische Umsetzung. Der Film ist allerdings keine willkürliche Geißelung der Literatur, seine Form ist vielmehr an das erwartete Publikum und dessen Rezeptionskapazität angepasst. Döblin strebte an, den komplexen Stoff an die Möglichkeiten des Kinos anzupassen und damit auch der breiten Masse zugänglich zu machen. Die Kritiker konnten sich offenbar nicht mit dieser Herangehensweise anfreunden und ließen sich daher negativ über die Umarbeitung aus. In dieser Hausarbeit wird Jutzis Film mit seiner Romanvorlage „Berlin Alexanderplatz“ verglichen und nachvollzogen, inwieweit die filmische Darstellung von der im Roman abweicht. Dazu wird einerseits die Erzählsituation beider Werke analysiert, die Konzeption der BiberkopfFiguren erläutert, Döblins eigene Haltung zu Kunst und Kino betrachtet und die Stilmittel beider Werke betrachtet. Es werden sodann die Schwierigkeiten bei der Übertragung des höchst komplexen Stoffes auf das Medium „Film“ herausgearbeitet, womit dann die These, es handele sich beim Roman um ein vorgefertigtes Drehbuch, verworfen wird. Vielmehr wird sich zeigen, dass der discours der Vorlage den Spielfilm überfordern muss. Ein Blick auf die abweichenden Schlussszenen verdeutlicht dann nochmals die auf den erwarteten Publikumsgeschmack zurückzuführende Trivialisierung der Adaption, in deren Ende sämtliche philosophische Deutungsansätze verworfen werden und die Handlung zu einem banalen Schluss geführt wird. Stets werden Begründungen in den technischen Gegebenheiten, Döblins Intentionen und den politischen Rahmenbedingungen gesucht, wobei sich herausstellt, dass der Film im Allgemeinen organisch aus den Prämissen Jutzis und Döblins erwachsen und nicht in erster Linie, wie anzunehmen wäre, auf die Androhung der Zensur zurückzuführen ist. Die Arbeit wird mit einem Blick auf die Kritiker des Projekts abgeschlossen, wobei herausgestellt wird, dass die vernichtenden Urteile häufig ungerechtfertigt sind, sofern man die Herangehensweise Döblins und Jutzis berücksichtigt und akzeptiert. 2 2 Die architektonischen Besonderheiten bezüglich Erzählsituation, histoire und discours im Roman und ihre Umarbeitung für den Film Der Titel des Romans „Berlin Alexanderplatz – Die Geschichte vom Franz Biberkopf“ evoziert als Haupthandlungsstrang den Werdegang eines „ehemaligen Zement- und Transportarbeiter[s]“1 mit dem Namen Franz Biberkopf. Die histoire2 wäre unspektakulär, da hier die Geschichte eines Mannes vorläge, der an mangelnder Erkenntnis scheitert. Nachdem er vier Jahre im Gefängnis gesessen hat, meint er seine Schuldigkeit abgegolten, ohne selbstreflexiv gebüßt zu haben, und nun ein anständiger Mensch werden zu können. Dieser Vorsatz leitet ihn zu einer Odyssee, da er ihn ohne intellektuelle Grundlage fasst und in Ermangelung der Fähigkeit zur Deutung fremder Verhaltensweisen erneut in das kriminelle Milieu gerät, bis er letztlich im Angesicht des Todes seine Fehler einsieht und ein neues Leben auf der Basis reflektierter Erkenntnis führt. Ein extrem beschränkter Überblick über die Handlung des Biberkopf-Stranges wäre hiermit, sämtlicher Details beraubt, bereits erschöpfend und zeigt die Simplizität des Geschilderten. Doch konstituiert sich dieser Roman nicht lediglich aus dieser einen Geschichte, sondern besteht ebenso aus mythischen Einschüben, Beschreibungen der Stadt Berlin und weiteren sentenzenähnlichen Einwürfen, die auf den ersten Blick arbiträr und chaotisch die Erzählung zu unterbrechen scheinen. Die Montage der verschiedenen Elemente verfremdet die Handlung, die nun nicht mehr geradläufig vonstatten geht, sondern auf diese Weise unübersichtlicher zu werden scheint. Eben daher bemerkt Jahnn 1929 bereits: Nicht gelungen ist ihm [Döblin – Anm. S.B.], Berlin oder den Alexanderplatz so zu schildern, wie etwa die Stadt Dublin durch Joyce geschildert wurde. Die höllische Straße und die Totalität der Nebensächlichkeiten. Der Roman Döblins sollte heißen: Franz Biberkopf. […] Man sucht Berlin und hat den Biberkopf noch nicht richtig gefunden. 3 Jahnn hat in dem Roman in Anlehnung an James Joyces „Odyssee“, in der die Stadt Dublin im Mittelpunkt steht, Berlin gesucht und zeigt sich verärgert darüber, dass man auf diesem Wege, wenn schon Berlin nicht isoliert herausschälbar ist, nicht einmal Biberkopf findet. Seine Rezension des Werkes weist aber bereits darauf hin, dass eben nicht ausschließlich die Figur des Franz Biberkopf, ebenso wenig wie die Stadt Berlin, in das Zentrum gerückt werden darf. Vielmehr muss der Transportarbeiter als ein Exempel unter vielen im Angesicht der Massengesellschaft innerhalb der modernen Großstadt angesehen werden. Seine Geschichte wird eben nicht von den Großstadtschilderungen gestört, ebenso wie man aber auch Jahnss Ansatz zurückweisen muss. Kreutzer konstatiert dazu trefflich: Alfred Döblin – Berlin Alexanderplatz (im Folgenden: BA), Seite 11 Die Begriffe „histoire“ und „discours“ werden hier im Sinne Genettes verwendet. 3 Hans Henny Jahn in: Der Kreis 6 (1929), S. 735, Wiederabdruck in: Alfred Döblin im Spiegel der Kritik, Seite 228 1 2 3 Wer in ihm [dem Roman] vor allem den Biberkopf sucht, mag seine Schwierigkeiten umgekehrt ausdrücken: man sucht den Biberkopf und hat Berlin noch nicht richtig gefunden. Zusammengenommen bedeutet das aber: das Buch ist so gebaut, dass es möglich ist, in ihm vorwiegend entweder Berlin oder den Biberkopf zu suchen. 4 Die Reduktion auf eine Suche nach der Person Biberkopf innerhalb des Romans ist allerdings auch nicht zweckdienlich, immerhin erfahren wir über sein Leben vor dem Gefängnis nichts, er sammelt im Verlauf des Romans zumindest in den ersten acht Büchern keine neuen Erfahrungen, die Figur bildet sich also nicht individuell, sondern wird von den äußeren Umständen gebildet. So belehrt uns auch der Erzähler in Berlin Alexanderplatz: […] es ist kein Grund zum Verzweifeln. Denn der Mann, von dem ich berichte, ist zwar kein gewöhnlicher Mann, aber doch insofern ein gewöhnlicher Mann, als wir ihn genau verstehen und manchmal sagen: wir könnten Schritt um Schritt dasselbe getan haben wie er.5 Die Leser können sich zum Teil in ihn hineinversetzen, keinesfalls konstruiert der Erzähler hier einen pars pro toto der gesamten Entwicklung, sondern ein Exempel in Episoden. Die Figur des Biberkopf ist häufig entkontextualisert, wie sich bereits aus den Beschreibungen ableiten lässt: „Jetzt seht ihr Franz Biberkopf als einen Hehler, Verbrecher, der andere Mensch hat einen andern Beruf, er wird bald noch schlimmer werden.“6 Franz Biberkopf fungiert hier als Platzhalter, er tritt jeweils in verschiedenen unabhängigen Rollen auf. Nach dem Verlust seines Armes „[…] will ich nischt mehr wissen von anständiger Arbeit […]“7, er lässt sein vorangegangenes Leben fallen. Das Motiv des Fallenlassens durchzieht ohnehin den gesamten Roman, so lässt er seine aufgebaute Existenz mit Lina, nachdem sein Freund Lüders ihn eigentlich auf harmlose Weise hintergangen hat, später auch die mit Cilly aufgrund des zweiten Schicksalsschlages, dem Verlust seines Armes, ebenso einfach fallen und beginnt völlig neu. Ohne den Erzähler, der hier inhaltliche Kohärenz durch Nennung des Namens schafft, wäre keine einheitliche Linie mehr erkennbar, die Figur Franz baut nicht auf ihren Erfahrungen auf, es kommt allenfalls zu kurzen Reminiszenzen ohne Deutung seitens Biberkopfs.8 Nicht dass Biberkopf der Individualität ermangelte. Aber er läßt sich im alten Sinne als Person verstehen, die in einem Bildungsgang keimhafte Anlage zu ihrer ureigenen Möglichkeit entfaltet hat. Trotz tragender individueller Züge bleibt Biberkopf bis in die letzten Phasen der Erzählung zugleich „Mikrobe“ im Strome der großstädtischen Kollektive, und daher auch durchsichtiges Medium für deren soziale und sozialpsychologische Verfassung. 9 Dieser Zusammenfassung des exemplarisch-individuellen Charakters Biberkopfs ist bei der Betrachtung des Handlungsstranges Rechnung zu tragen. Leo Kreutzer – Stadt erzählen, in: Die schöne Leiche aus der Rue Bellechasse (im Folgenden: Rue Bellechasse), Seite 89 5 BA, Seite 217 6 BA, Seite 253 7 BA, Seite 271 8 BA, Seite 100: Hier wird bereits sein Problem im sich bis zum Schluss des Romans durchziehenden Motiv der mangelnden Errinyen umrissen! 9 Hans Peter Bayerdörfer - Berlin Alexanderplatz, in: Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts (im Folgenden: Bayerdörffer BA), Seite 155 4 4 Die in der aktuellen Forschung diskutierte These, bei der Teil-Geschichte des Biberkopf handele es sich um einen Bildungsroman,10 kann meines Erachtens nicht aufrecht erhalten werden, da es sich viel eher auch strukturell um eine Art Episodenerzählung handelt. Es soll allerdings nicht in Abrede gestellt werden, dass die einzelnen Episoden keinesfalls arbiträr aufeinander folgen. Innerhalb der jeweiligen Passage ist keine Entwicklung und kein Fortschritt des Biberkopf auszumachen, auch sammelt er keine oder kaum Erfahrungen zur Bewältigung zukünftiger Situationen, dennoch führt die Abfolge die einzelnen Passagen dazu, dass sich im Gesamtkontext eine Evolution vollziehen kann. Möhrmann spricht hier von „Stationen, die zu einem absoluten Tiefpunkt führen, von wo aus sich dann die Peripetie vollzieht.“11 Noch während Franz seinem Vorsatz folgt, anständig zu bleiben, macht sich sein Mangel an Einsicht bemerkbar, indem er seine Erfahrung aus dem Totschlag der Ida noch nicht verarbeitet hat. Er hat keine intellektuellen Konsequenzen aus seiner cholerischen Affekthandlung gezogen, weshalb er denkt er auch noch daran denkt, seine Kraft weiterhin zur Durchsetzung seiner Ziele einzusetzen. „Mensch, Luder, wenn du wüsstest, wer ich bin wat eine schon mal gespürt hat von mir, dann würdest du nicht.“12 Das Episodenhafte des Handlungsstranges wird dadurch deutlich, dass sich Franz eben nicht gebildet hat, sondern auf einem Punkt verharrt. Sämtliche Handlung vollzieht sich nicht aus ihm heraus, sondern durch die Stadt Berlin, sein äußeres Umfeld. Nicht aus eigenen Motiven, sondern durch äußeren Zwang wird Franz folglich in das Verbrechen, bei dem er seinen Arm verliert, involviert.13 Kommentierend befinden sich jeweils Bibelstellen und mystische Motive, durch die der Tod, der sich erst am Ende als solcher zu erkennen gibt,14 mit Biberkopf in Kontakt tritt. Zudem werden das rege Treiben in der Stadt, eine längere Szene über den Schlachthof Berlins, Zeitungsausschnitte und Schlagertexte oder Bibelzitate montiert. Mit diesen, einen großen Teil des Textes einnehmenden Sequenzen, tritt die Erzählung absolut aus der Biberkopf-Geschichte heraus, läuft gleichsam parallel oder in sie verwoben mit. Wenn immer wieder versucht wird, den Materialkomplex Berlin der Biberkopf-Geschichte zuzuordnen […] so trifft eher das Umgekehrte zu: Döblin montiert in seinen Aufriß der Stadt Berlin auch diese „Geschichte“. Sie gehört, freilich in herausragender Weise, zu den Materialien, aus denen das Bild dieser Stadt zusammengesetzt wird.15 10 hierzu: Rue Bellechasse, Seite 88 Renate Möhrmann – Biberkopf, was nun? Großstadtmisere im Berliner Roman der präfaschistischen Ära, in: Diskussion Deutsch 9 (1978), Heft 40, Seite 133 – 151, hier Seite 139 12 BA, S.112 13 vgl. BA, S.211 14 vgl. BA, S. 433 15 Rue Bellechasse, Seite 90 11 5 Die Biberkopf-Geschichte ist damit eben nur das die Gesamtheit bündelnde und reflektierende Zentrum des discours, der sich seinerseits allerdings aus der Gesamtschilderung der Stadt Berlin zusammensetzt. Weil dieses Werk eben so allumfassend, strukturell aber auch durch die Montagen so unübersichtlich ist, muss bezüglich der histoire in dem hier gezeigten Maße problematisiert und damit aufgezeigt werden, dass eine eindeutige Betrachtung aufgrund der Komplexität des discours den Rahmen dieser strukturalistischen Betrachtung sprengt. Auch die Erzählsituation ist nicht stabil, so lässt sich bisweilen Nullfokalisierung mit einer auktorialen Erzählhaltung16 durch vom eigentlichen Geschehen weit entfernte Exkurse17 feststellen, doch tritt der Erzähler an anderen Stellen auch komplett in den Hintergrund, wenn lediglich noch wörtliche Rede aneinandergereiht wird.18 Weiterhin finden sich auch Exempel der aktorialen Erzählhaltung durch innere Monologe oder erlebte Rede Biberkopfs.19 Konträr verhält es sich im Film. Hier ist eindeutig als histoire die Geschichte vom Franz Biberkopf auszumachen, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis anständig sein will, doch dabei zunächst scheitert, bis er am Ende zur Einsicht gelangt. Die wenigen diskursiven Einschübe der filmischen Montage dienen hier lediglich der Illustration, keinesfalls aber konstituieren diese Elemente des discours die histoire explizit. Die Handlung des Films ist deutlich besser zu fassen, sie ist einfacher, greifbarer, verliert allerdings auch an Reizen, da sie deutlich weniger aussagekräftig erscheint. Die Erzählsituation ist fast durchgehend starr auktorial. Während der Roman in keine feste Kategorie einzuordnen ist, stellt der technisch modernere Film eine Rückkehr in eine ältere, zumindest nicht mehr avantgardistische Ästhetik dar.20 Döblin lässt seine eigene theoretische Maxime aus den Aufsätzen zur Literatur21 bezüglich des Films zugunsten einer absoluten Simplifikation auf einen einigermaßen trivialen Strang fallen. Der Film agiert stringent und ohne „Doppelbödigkeit“22, lediglich einige kurze Unterbrechungen durch die Montagetechnik durchziehen den Handlungsstrang. 16 im Sinne der Erzähltypologie Franz K. Stanzels So zum Beispiel in BA, Seite 54, wo von einem Jungen berichtet wird und der Erzähler bereits darüber informiert ist, wie dessen weiteres Leben verlaufen wird und sogar wie seine Todesanzeige lauten wird. 18 vgl. BA, Seite 54 in direkter Folge auf die vorhergehende Passage. Siehe hierzu auch: Matthias Hurst – Erzählsituationen in Literatur und Film, darin: Die Grenzen des Films – Berlin Alexanderplatz (im Folgenden: Hurst), Seite 245 – 269, dabei: Seite 245 - 251 19 vgl. BA, Seite 349 unten – 350, wo die Perspektive ständig wechselt. 20 Dieser Aspekt wird unter anderem auch in Rue Bellechasse, Seite 93, näher beleuchtet. 21 „Wenn ein Roman nicht wie ein Regenwurm in zehn Stücke geschnitten werden kann und jeder Teil bewegt sich selbst, dann taugt er nichts“ – zitiert nach: Giovanni Scimonelli – „Berlin Alexanderplatz“ und die Krisenjahre der Weimarer Republik (im Folgenden: Scimonelli), in: Internationales Alfred Döblin Colloquium Münster/Marbach (1993), Seite 165 - 178, hier: Seite 169 22 Phil Jutzis Berlin Alexanderplatz oder Franz Biberkopfs Sieg über Berlin, in: Hanno Möbius, Guntram Vogt – Erzählsituationen in Literatur und Film. Ein Modell zur vergleichenden Analyse von literarischen Texten und filmischen Adaptionen (Im Folgenden: Möbius/Vogt), Seite 91 - 110, hier: Seite 109. 17 6 Es geht aus dieser Betrachtung hervor, dass die kaum greifbare und überaus komplexe histoire des Romans zu einer trivialen Filmgeschichte avanciert und auch auf der Ebene des discours, abgesehen von kurzen Unterbrechungen durch Montageelemente in der Adaption, eine im Roman so nicht vorhandene Stringenz in der Chronologie auszumachen ist. 3 Die Konzeption der Biberkopf – Figuren in Roman und Film Die Figur des Franz Biberkopf ist lediglich dem Namen, nicht aber ihrem Verhalten nach in Roman und Film identisch. Zwar lernen wir Franz in beiden Fällen quasi in medias res nach abgebüsster Haftstrafe kennen, ohne Näheres über seine Vergangenheit zu erfahren, doch zeigen sich im Verlauf der Geschichte eklatante Abweichungen in seiner Figur. In Jutzis Umsetzung von 1931 tritt Biberkopf sittlich deutlich gefestigter auf, er lebt zunächst mit Cilly zusammen, der er bis zu seinem tragischen Unfall treu verbunden bleibt und daraufhin mit Mieze bis zu deren gewaltsamen Tod durch Reinhold zusammenlebt. Die Figur im Roman dürfte den Meisten weniger sympathisch erscheinen: [Die Rede ist hier von Franz in einem Rückblick auf die von ihm im Affekt umgebrachte Ida – Anm. S.B.] Der sie getötet hat, geht herum, lebt, blüht, säuft, frißt, verspritzt seinen Samen, verbreitet weiter Leben. Sogar Idas Schwester ist ihm nicht entgangen.23 Franz Biberkopf ist hier als respekt- und sittenloser Lebemann gezeichnet, der noch nicht einmal vor der Schwester seiner ehemaligen Geliebten, die er selbst getötet hat, als Objekt seiner sexuellen Begierde zurückschreckt. „Er aber hat seine vier Jahre abgemacht.“24 Somit ist für ihn die gesamte Angelegenheit ad acta gelegt und nicht mehr von Belang. Verständnisvolle Einsicht oder aber Reue empfindet er nicht. Daher fällt es ihm auch nicht schwer, seine Geliebte Lina mit einer Witwe, die ihn für den Akt bezahlt, zu hintergehen. Zwar […] denkt er an seine Dicke, aber nicht ganz ernst, bleibt stehen, sie ist ein goldtreues Mädel, wat sollen die Zicken Franz, pah, Geschäft ist Geschäft. Da klingelt er [bei der Witwe, die ihn bezahlt – Anm.:S.B.], lächelt in Vorahnung […]25 Aus demselben Grunde kann er auch ohne Skrupel von einem Tag auf den anderen verschwinden, ohne seine Lina darauf vorzubereiten, dass sie ihn nie wieder sehen wird.26 Der Mädchenhandel im fünften Buch27 ist ebenfalls ein Kapitel seines Lebens, das nicht zur Identifikation des gemeinen Kinozuschauers mit dem Titelhelden beitrüge. Der gutmütige Franz läßt sich hier von Reinhold vor allem auf Kosten der Frauen ausnutzen, die ihrerseits zwar ihr 23 BA, Seite 102 BA, Seite 102 25 BA, Seite 111 26 vgl. BA, Seite 120 27 vgl. BA, Seite 178 - 187 24 7 „elastisches Herz“28 bemerken, dennoch aber nicht mit dem Respekt behandelt werden, der einem Menschen zustünde. Diese Begründung der so genannten Freundschaft zwischen Franz und Reinhold wird im Film komplett ausgespart. Ein derartiger, außerhalb des Randes der Sittlichkeit liegender Vorgang wie der Frauentausch hätte im Kino höchst wahrscheinlich den Geschmack der Masse nicht getroffen oder sie vielmehr gegen den Film aufgebracht und kritische Reaktionen hervorgerufen. Stattdessen macht Franz gleich zu Beginn in der dritten Szene die Bekanntschaft mit Cilly, die der ebenfalls in dieser Szene auf ihn aufmerksam gewordene Reinhold dazu verpflichtet, für ihn Biberkopfs Vertrauen zu verdienen, um diesen daraufhin mit Reinhold und dessen kriminellen Machenschaften in Kontakt zu bringen. Es wird von Anfang an Reinholds rein egoistische, auf Ausnutzung der Gutmütigkeit und Tumbheit Biberkopfs ausgelegte Intention deutlich, die sich im Roman eher tiefenpsychologisch, zumindest weniger explizit, entwickelt. Nach seinem Sturz aus dem Wagen wird er im Roman erneut, wie bereits vor seinem Gefängnisaufenthalt, zum „Luden“29, dessen neue Geliebte Mieze nun für ihn anschaffen geht. In Jutzis Werk wird davon nichts erwähnt, vielmehr wird hier zumindest privat die „heile Welt“ aufrechterhalten. Franz sorgt für Mieze und sich in einer sozusagen proletarischen Beziehung durch die Einbrüche mit der Pums-Bande, von Prostitution wird nichts erwähnt. Auch sein „Saufen“30 wird in der Adaption weniger drastisch gezeichnet. Insgesamt verdeutlicht diese Gegenüberstellung, dass der Charakter Franz Biberkopf bei der Transformation aus dem Roman in den Film deutlich abgeschwächt, gleichsam verharmlost wird und sich mithin bildlich besser zur Identifikation eignet. Denn in beiden Fällen soll die Figur ansatzweise pars pro toto bleiben, wobei es deutlich einfacher ist, sich in ein schriftlich vorliegendes Seelenleben hineinzuversetzen als in eine filmisch vorgeführte Situation, in der dem Zuschauer lediglich die Außensicht bleibt. Beiden Fassungen gemein ist allerdings die Konzeption Franzens als eines Mannes, der sich seiner Verantwortung nicht bewusst ist, der sich stets auf sein Schicksal beruft und unfähig zum Reagieren ist.31 Ohne es zu merken begleitet er Reinhold mit der Pumsbande zu einem Einbruch32 und im Film überlässt er in der zweiten Szene seinen Koffer einem wildfremden Mann zum Tragen, der das 28 BA, Seite 179 BA, Seite 314 30 BA, Seite 120 31 Diesen Gedanken greift auch Scimonelli auf und stellt heraus: Die […] Schicksalsschläge erleidet Franz gerade deswegen, weil er unfähig ist zu reagieren. […] Seine Passivität wird zum Selbstzertörungswunsch. Seite 181. 32 vgl. BA, Seite 209 29 8 Gepäckstück in logischer Konsequenz entwendet. Franz kann seine Umwelt nicht einschätzen und aus diesem Grunde widerfahren ihm die Schicksalsschläge. Aus den geschilderten Abweichungen und auch der geringeren zur Verfügung stehenden Erzählzeit resultiert auch eine Änderung im Kursus des Franz Biberkopf. Treffen ihn im Roman drei Schicksalsschläge, nach denen er erneut nach Berlin gelangt, sind es im Film lediglich deren zwei, worauf im nächsten Kapitel ausführlich eingegangen wird.33 Die Anonymisierung des Charakters wird durch seine im Roman „apolitische Haltung“34 gefördert, indem er bisweilen diesbezüglich Position bezieht und sie dann aber nach kürzester Zeit verwirft. So wirbt er, kurz nachdem er seine neue Freundin Lina, ihrerseits polnischer Abstammung35, kennen gelernt hat, mit den folgenden Worten für seine Krawattenhalter: Ach Gottchen, das liebe Köpfchen, son kleines Köpfchen und die Härchen, nicht, ist schön, aber Alimente zahlen, da gibt’s nichts zu lachen, das treibt in Not. Kaufen Sie sich solchen Schlips bei Tietz oder Wertheim oder, wenn Sie bei Juden nicht kaufen wollen, woanders. Ich bin ein arischer Mann. 36 Er vertritt zwar mehrmals politische Thesen, doch finden sich keine rationalen Begründungen seiner Standpunkte, und im späteren Verlauf offenbart uns der Text sogar, dass Franz, der zu diesem Zeitpunkt regelmäßig politische Verhandlungen besucht, „[…] wirklich nischt mit Politik zu tun [hat – S.B.], die war ihm sein Lebelang über.“37 „Er hat nichts gegen die Juden, aber Ordnung muss sein.“38 Es ist keine rationale Begründung für seine Haltung auszumachen, seine Meinungsbildung verläuft in Postulaten. Diese entpolitisierte Haltung steht zwar häufig im Kontrast zu den montierten Einschüben über kontemporäre politische Entwicklungen, ist allerdings dennoch keinesfalls etwas Individuelles. Vielmehr betrachten alle Personen aus seinem Umfeld jegliche Ansätze politischen Engagements mit Sorge39 und auch sonst scheint es in seinem Milieu üblich zu sein, die Politik zu vernachlässigen. Im Film wird nahezu jeglicher Ansatz der Politisierung nicht nur bezüglich der Personen, sondern auch im gesamten discours, fallengelassen. Kurze ideologische Dispute, Einschübe oder 33 Im Roman ist der erste Schicksalsschlag der Betrug durch seinen Partner Lüders, der zugleich der Onkel seiner Geliebten ist und Franz hintergeht. Nachdem Biberkopf ihm von seiner bezahlten Affäre mit der reichen Witwe erzählt hat, versucht Lüders ebenfalls, an sie heranzukommen. Als Franz das erfährt, bemerkt er, „sein Grundsatz, so einfach er ist, muß irgendwo fehlerhaft sein.“ (BA, Seite 121). Siehe auch Seite 112 – 116! Die Figur des Lüders ist im Film komplett ausgespart, und so bleibt auch dieser Schicksalsschlag außen vor. Die anderen beiden Schläge in seinem Leben korrespondieren, es handelt sich um den Einbruch mit dem daraus resultierenden Verlust des Armes und der Verlust Miezes. 34 Birgit Kreutzahler – Das Bild des Verbrechers in Romanen der Weimarer Republik (Im Folgenden: Bild des Verbrechers), Seite 317 35 vgl. BA, Seite 66 36 BA, Seite 68 37 BA, Seite 273 38 BA, Seite 82 39 siehe BA, Seite 275, oben 9 Bemerkungen sind hier kaum vorhanden, mit Ausnahme eines kurzen Verweises auf den Davidsplan und die schlechte Lage in Deutschland in Szene sechs, in der Biberkopf das erste mal am Alexanderplatz für seine Ware wirbt. In beiden Fällen wird also vermutlich gerade wegen des historischen Kontextes der politischen Unsicherheiten am Vorabend der Machtergreifung durch die NSDAP in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit keinerlei eindeutige und ins sich konsistente politische Stellungnahme ausgeführt. Franz Biberkopf ist eben weder im Film, und noch weniger im Roman, […] ein traditioneller, psychologisch gestalteter Held, sondern Biberkopf ist eng mit seiner Umwelt verbunden und durch sie geprägt, und ist, […] nicht als individuelle Person zu verstehen[…]. 40 Der Figur Franz Biberkopf direkte Eigenschaften zuzuschreiben ist deshalb so schwierig, weil er gleichsam eine Reflektorfigur der äußeren Umstände ist. In ihm spiegelt sich die Situation seiner Zeit in der unteren Arbeiterschicht wieder, und eben diese Anonymität wird durch seine apolitische Haltung noch verstärkt.41 Biberkopf reflektiert damit an sich die vorherrschenden Zustände der Berliner Unterwelt, doch darf die Deutung hier nicht aufhören. Vielmehr […] ist die Berliner Unterwelt zwar Zerrspiegel, aber auch als solcher noch Spiegel einer Wirtschafts- und Sozialordnung, in der – verborgen – die Gewalt regiert.42 Auch das geschilderte Milieu fungiert mithin als pars pro toto. Einzig sein sich durch beide Werke ziehendes gutmütiges, gutgläubiges, aber auch jähzorniges Naturell bleibt als fester Charakterisierungsaspekt. Die parabolische Figur Biberkopf trifft nicht nur die kriminellen Menschen des bei Kreutzahler erwähnten „Lumpenproletariats“, sondern ist vielmehr konzipiert für jene, „die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und [… die…] vom Leben mehr […] verlangen als das Butterbrot.“43 40 Bild des Verbrechers, Seite 315 Kreutzahler bezeichnet das Milieu Biberkopfs als „Lumpenproletariat“ (Bild des Verbrechers, Seite 318 f.), welches sie als „Subkultur“ der normalen Arbeiterschicht auffasst und in welchem lediglich bezüglich weniger Punkte Abweichungen von der normalen Arbeiterschaft bestehen. Ich halte eine derartige Spezialisierung für problematisch, da ja letztlich der Erzähler selbst des Öfteren die lebensweltliche, allgemeingültige Dimension des Geschilderten betont. 42 Hans-Peter Bayerdörfer – Der Wissende und die Gewalt. Alfred Döblins Theorie des epischen Werkes und der Schluss von Berlin Alexanderplatz (im Folgenden: Bayerdörffer Wissen und Gewalt), in: Materialien zu Alfred Döblin „Berlin Alexanderplatz“, Seite 150 – 185, hier: Seite 162 43 BA, Seite 12 41 10 4 Die Umarbeitung des Films: gescheiterte Adaption, durch Zensur gegeißelte Produktion oder logische Konsequenz der Intention des Autors? 4.1 Die filmische Schreibweise im Roman Häufig findet man in der Forschungsliteratur die Behauptung, der Roman selbst sei als Vorlage für ein Drehbuch zu verstehen, indem seine filmische Schreibweise bereits auf das Kino abziele. So behauptet Kaemmerling: Von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz zu behaupten, er lese sich wie ein geschriebener Film, scheint kaum übertrieben zu sein. In der Montage von zahllosen Handlungsfragmenten, von Dialogfetzen, knappen Ortsbeschreibungen, Ausschnitten aus aktuellen Meldungen, Zeitungsartikeln und Plakattexten will Döblin die Großstadt erzählen. […] Das industrielle Großstadtleben in seiner Vielzahl gleichzeitiger Geschehnisse und Gegebenheiten […], verlangt deshalb von dem Schriftsteller, […]diese unablässig auf den einzelnen eindringende Bewegung der Umwelt jeweils für einen kurzen Moment aufzuhalten und sie zu einer systematischen Abfolge von Bildern zu ordnen, die sich wie im Film vor dem Auge des Lesers verlieren sollen. 44 Er glaubt in den Beschreibungen des Romans bereits Hinweise auf unterschiedliche Perspektivisierungen, Schnitte und Kameraführungen gefunden zu haben, was er exemplarisch widerspruchsfrei ausführt. So kann verschiedenen Situationen konkrete Kameraeinstellungen zuordnen. Ohne Zweifel lässt sich nicht abstreiten, dass die herausgearbeiteten Einstellungen bei der gegebenen Situationsbeschreibung möglich wären, […m]it Sicherheit können diese Einstellungsgrößen im Entwurf und Ablauf der Szene als sozusagen gedankliche ‚Konstruktions- und Imaginationshilfen’ herausgelesen werden, sie sind jedoch nicht zwingend. Andere Einstellungsmöglichkeiten und – Kombinationen wären denkbar, die diese Funktion ebenfalls erfüllen könnten. 45 De facto darf hier keine voreilige Urteilsfindung vollzogen werden. Sofern man möchte, so führt auch Hurst aus, könnte man jegliche Art der schriftlichen Darstellung daraufhin analysieren, in welcher filmischen Darstellungsmöglichkeit sie vor unserem inneren Auge ablaufen. Zudem verweist Kaemmerling auf dem Film entnommene Stilmittel wie Verkürzungen oder Dehnungen, Raffungen, sowie „Vorlauf, Rücklauf, Vertauschung“46. Das spezifisch Filmische bleibt hier jedoch im Verborgenen, denn Anachronien, zeitdehnendes oder summarisches Erzählen waren schon lange vor der Erfindung des Kinos üblich. Darüber hinaus übergeht Kaemmerling diverse Elemente, „[...] um seinen Nachweis einer filmischen Schreibweise nicht zu gefährden.“47 Es übersteigt sowohl die kinematographische Imaginationskapazität des Publikums als auch die Möglichkeiten des Films (und das bis heute!), Elemente wie beispielsweise das Anfangskapitel wahrlich zu übertragen. […] Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um. Die schwarzen Torflügel, die er seit einem Jahre mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, Ekkehard Kaemmerling – Die filmische Schreibweise (im Folgenden: Kaemmerling), in: Materialien zu Alfred Döblin „Berlin Alexanderplatz“ (im Folgenden: Materialien), Seite 185 – 198, hier: Seite 185 – 186 45 Matthias Hurst – Erzählsituationen in Literatur und Film, darin: Die Grenzen des Films – Berlin Alexanderplatz (im Folgenden: Hurst), Seite 245 – 269, hier: Seite 255 46 hierzu Kaemmerling – „Zeiterfahrung“, Seite 188 - 192 47 Hurst, Seite 255 44 11 warum Widerwillen), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle. Die Strafe beginnt. 48 Derartige Hintergrundgedanken und –informationen sind filmisch nicht explizierbar, von Drehbuchcharakter kann hier keine Rede sein. Der Ausdruck „Filmisches Schreiben“ darf entsprechend nicht darauf reduziert werden, in der Literatur Elemente der kinematographischen Darstellung zu entdecken. Vielmehr erwächst der Terminus aus der sich vollziehenden Evolution des modernen Lebens angesichts Industrialisierung und Urbanisierung mit der drastischen Beschleunigung des alltäglichen Lebens und den daraus folgend gewandelten Perzeptionsgewohnheiten der Masse. Es handelt sich um eine moderne, der zeitaktuellen Wahrnehmung der Realität angepasste Schreibweise mit einer „strukturellen Korrespondenz literarischer und filmischer Darstellungsweisen“49. Das Paradigma des „Filmischen“ sei dabei nicht überbewertet, ohne Zweifel war der Roman bisweilen in seiner Entwicklung schneller als der Film, doch, so Melcher, […] ist der Begriff „filmische Schreibweise“ dennoch gerechtfertigt, da die veränderte Wahrnehmungsweise erst im Film ihren adäquaten Ausdruck findet. Der Film ist schließlich dasjenige Medium, in dem sich die Prinzipien der Moderne par excellence vereinen[…]. 50 In diesem Sinne ist auch die These, Berlin Alexanderplatz konstituiere sich aus dieser künstlerischen Ausdrucksform, nicht mehr von der Hand zu weisen, wobei Döblin selbst sogar noch weiter geht und einen „Kinostil“51 fordert, der sich von der verschönenden, literarischen Sprache löst und das rein Intellektualistische und Literarische hinter sich lässt. Die Durchbrechung der Grenzen des Literarischen und eine Anpassung an die veränderten Rezeptionsbedingungen ist Döblin durch die Implementierung der verfremdenden Montageelemente gelungen, seine Schreibweise ist filmisch im Sinne eines modernen künstlerischen Expressionsstils, keinesfalls aber handelt es sich um ein größtenteils filmisches Werk der Literatur. Anderenfalls […] müsste die Umsetzung des Romans „Berlin Alexanderplatz“ in einen Film ein Kinderspiel sein. Die beiden Verfilmungen [Er meint neben Jutzis Verfilmung auch noch die spätere Serie Fassbinders – Anm. S.B.] aber zeigen, daß es sich anders verhält.52 Hursts Bemerkung trifft zu, in der Tat lässt sich aus den offensichtlichen Schwächen und der daraus folgenden Kritik an den Filmen ableiten, dass eine Verfilmung doch nicht so einfach ist, 48 BA, Seite 15 Vietta – Expressionistische Literatur und Film, nach: Andrea Melcher – Vom Schriftsteller zum Sprachsteller? Alfred Döblins Auseinandersetzung mit Film und Rundfunk (im Folgenden: Melcher), Seite 83, Kursivschrift durch S.B. 50 Melcher, Seite 83 51 Melcher, Seite 85: „Auf den Punkt gebracht, heißt dies: Abschaffung des ‚Erzählerschlendrians’, „man erzählt nicht, sondern man baut“ und beschränkt sich „auf die Notierung der Abläufe, Bewegungen […]“, die „Hegemonie des Autors ist zu brechen“.“ Döblin strebt eine Loslösung vom bisherigen stringenten Erzählen der Geschichte einer Person an, „in höchster Gedrängtheit und Präzision hat die ‚Fülle der Gesichte’ vorbeizuziehen […].“ 52 Hurst, Seite 263 49 12 wie sie im Falle eines „Drehbuchs in Romanform“ oder besser eines „Romans in Drehbuchform“ sein müssten. Die folgende Analyse wird sich der filmischen Umsetzung Phil Jutzis unter Mitwirkung Alfred Döblins von 1931 widmen und nebenbei vergleichend das sehr ähnliche Hörspiel von 1929/30 hinzuziehen. 4.2 Döblins Konzeption des Kinos Zum besseren Verständnis der folgenden Gedanken zur kinematographischen Umsetzung des Romans erscheint mir ein grober Abriss zu Döblins Herangehensweise an das Kino unerlässlich. Aufgrund des Reflektorcharakters der Figur Biberkopf lässt sich hier bereits aus der werkimmanenten Deutung Einiges bezüglich der kontemporären Herangehensweise an das Kino erkennen. Der Strafentlassene besucht im Angesicht seiner Unsicherheit im hektischen Berlin kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis eine Kinovorstellung, wobei er, wie viele andere, dem Film erst ab dem zweiten Teil beiwohnt: Der lange Raum war knüppeldickevoll […]. Einem Gänsemädchen soll Bildung beigebracht werden, warum, wird einem so mittendrin nicht klar. […] Ganz wunderbar ergriff es Franz, als das Kichern um ihn losging. Lauter Menschen, freie Leute, amüsieren sich, hat ihnen keiner was zu sagen, wunderbar schön, und ich stehe mitten mang.53 Es geht hier nicht um intellektuell zutreffende Inhalte oder in sich konsistente Erzählungen, im Gegenteil: Das Kino wird als das Medium der Masse aufgefasst, es dient zunächst der Ablenkung und dem Amüsement. Während der Filmvorführung sind sämtliche Gegensätze aufgehoben, es entsteht im Saal ein friedlicher und zufriedener Mikrokosmos, in welchem sogar Franz aufgeht. Durch das gezeigte Geschehen wird Biberkopfs bis dahin unterbewusstes Verlangen nach einer Frau deutlich. Auch später wird der Aspekt des Unbewussten im Kino aufgegriffen, als Eva, die zur Ablenkung beim Verschwinden Miezes ins Kino geht, dort angesichts einer Mordszene ohnmächtig wird.54 Vorrangig dient es hier entsprechend der Ablenkung und Entspannung, kann aber durch die Traumersatzfunktion auch die verdrängte Realität ins Bewusstsein rufen.55 Tatsächlich fand Döblin erst mit der Entwicklung des Tonfilms zu diesem Medium, welches er zuvor aufgrund seiner mangelnden Entwicklung nicht als Kunstform ernst genommen hatte. Generell war in dieser Zeit eine Debatte entbrannt, ob es sich bei dem potentiellen Massenmedium des Films denn um Kunst handele. 53 BA, Seite 32 BA, Seite 360 55 siehe hierzu: Melcher, Seite 38 - 41 54 13 Fest steht in jedem Falle, dass auch Döblin der pekuniäre Aspekt der Filmproduktion bewußt war und er aus diesem Grunde auch eine wirtschaftliche Orientierung zulassen musste. Er selbst sah die Notwendigkeit der sprachlichen Präzisierung und der Konzentration auf das Wesentliche, damit der Zuschauer nicht durch unnötige Details abgelenkt würde. Döblin war mit Sicherheit auch der Problematik der Rezeptionskapazität des Publikums gewahr, wodurch sich die Gefahr der Missverständnisse geboten hätte. So hatte kurz zuvor Eisenstein mit seinen intellektuellen Montagen zwar avantgardistische Meisterwerke geschaffen, doch wurde er häufig nicht verstanden. Verbunden mit den technischen Repressalien musste es entsprechend, gerade bei einer Verfilmung innerhalb von ca. 90 Minuten, zu drastischen Einschnitten kommen. „Die Filmtechnik bietet dem Dichter ein Sieb, einen fruchtbaren Trichter; da kann keine Kunst heil durch.“56 Wenngleich diese Äußerung vor der Ära des Tonfilms getätigt wurde, so verliert sie dennoch nicht an Wahrheit. Dennoch konnte er sich für eine filmische Umsetzung seines Romans begeistern, da hier anhand der Technik der Fotografie, der Hintergrundmusik und der Sprache eine sehr wichtige und treffende Atmosphäre geschaffen werden könne.57 Zusammenfassend lässt sich also herausstellen, dass Döblin eine Simplifikation seines Stoffes zugunsten der Wahrung des Massencharakters des Films akzeptierte oder gar anstrebte. Anhand seiner eigenen Ziele wollen wir im Folgenden Döblins filmische Umsetzung von Berlin Alexanderplatz messen und herausstellen, inwieweit hier noch weitere, mit den Prämissen des Empfängerhorizonts und der technischen Möglichkeiten nicht erklärbare Abweichungen zu konstatieren sind. 4.3 Die Umsetzung des Romans in Jutzis Verfilmung Im Jahre 1931 verfasste Alfred Döblin gemeinsam mit Hans Wilhelm das Drehbuch zu dem Film, den Phil Jutzi als Regisseur noch im selben Jahr fertig stellte. Nachdem die Ufa abgesprungen war, sicherte sich die Allianz Tonfilm GmbH die Rechte an der Umsetzung und engagierte für die Rolle des Franz Biberkopf Heinrich George, der dieser Figur bereits im zwei Jahre zuvor erschienenen Hörspiel seine Stimme geliehen hatte. Die Realisierung stand unter dem Druck, kommerziellen Erwägungen der Allianz Rechnung zu tragen und außerdem nicht von eventuellen politisch motivierten Boykotten behindert zu werden. Döblin im Berliner Börsenkurier am 14.September 1922, zitiert nach: Helmut Kiesel – Döblin und das Kino. Überlegungen zur ‚Alexanderplatz’-Verfilmung, Internationales Alfred Döblin Kolloquium Münster/Marbach) im Folgenden: Kiesel, Seite 284 – 297, hier: Seite 287 57 siehe hierzu: Kiesel, Seite 288 sowie Melcher, Seite 54 f. 56 14 Döblin sah den Roman an sich bereits als den Filmmassen zugänglich an, erkannte aber dennoch die Notwendigkeit weiterer Reduktion. Der Film beginnt mit einer Aufnahme des Alexanderplatzes aus der Vogelperspektive, während dort reges Treiben herrscht. Nach Einblendung des Titels wird das Bild langsam ausgeblendet, die Geschichte beginnt zunächst im Dunkel, aus dem langsam die fensterlose, riesig erscheinende Mauer des Tegeler Gefängnisses aus der „Froschperspektive“ (von unten steil nach oben aufgenommen) aufgeblendet wird. Hier verharrt die Kamera kurz, bevor zu einer Einstellung überblendet wird, bei der aus derselben Kameraperspektive eine innerhalb der Außenmauer liegende, nun von Fenstern durchzogene Front gezeigt wird. In der nächsten Einstellung ist auch der bisher durch die Aufnahmen von unten nach oben entstandene Eindruck des Bedrohlichen stark abgemildert, indem hier die nun durch mehrere Fenster geöffnete Fassade parallel zur Bildfläche verläuft. Daraufhin wird auf eine Kamerafahrt übergeblendet, in der die einzelnen Fenster in Nahaufnahme gezeigt werden. Vollkommen berechtigter Weise spricht Hurst hier von einer „Öffnung“, einer Überwindung der Verschlossenheit und von signalisierter Freiheit durch die letzten Einstellungen.58 Die filmische Erzählung beginnt also am Alexanderplatz, fokussiert ihren Blick dann auf die Außenansicht des Gefängnisses und dringt in der Folge auch in dessen Inneres. Letztlich wird hier in kürzester Zeit auch Franz Biberkopf eigener Weg von der Anonymität im Gewirr des Alexanderplatzes hinein in das Gefängnis gezeigt. Der Kameraschwenk setzt sich in der folgenden Einstellung fort, es ist ein Schild mit der Aufschrift „Verwaltung der Strafanstalt Tegel“ zu sehen und in direkter Folge endet die Bewegung vor einem verschlossenen Stahltor, auf dem die Aufschrift „Vorsicht“ zu lesen ist und aus dem kurz darauf Franz Biberkopf mit einem Wächter tritt. Der Strafentlassene versucht sich noch vergebens am letzten Stellvertreter des sicheren Lebens im Gefängnis, dem Wärter, festzuklammern, doch schickt jener ihn mit den Worten „Na gehen Sie schon!“ fort. Die siebente Einstellung nimmt das erste Bild der hohen Mauer wieder auf, doch handelt es sich hier nicht um die subjektive Sicht Biberkopfs59, sondern lediglich um eine symbolische Darstellung seines Inneren. Verbunden mit der von ihm nicht wahrgenommenen Warnung auf dem Tor manifestiert sich hier die im Roman explizierte Formel: „Die Strafe beginnt“60. Der Protagonist ist seiner Freiheit für den Moment unwiederbringlich beraubt, was durch seinen scheiternden Versuch der Rückkehr durch das Tor symbolisiert wird. Die topographische Grenze zwischen Gefängnis und Freiheit wird semantisch kontrahiert, der semantische Raum der Unfreiheit, im Film expliziert durch die Hintergrundmusik, das Gefangenenthema, liegt für Biberkopf außerhalb des Gefängnisses. 58 Hurst, Seite 265 f. Hurst, Seite 266 60 BA, Seite 15 59 15 Bereits anhand dieses kurzen Exempels ist ersichtlich, dass der Film durchaus symbolisch arbeitet und auch um Umsetzung des im Roman Intendierten bemüht ist, doch manifestiert sich ebenso die geringere Flexibilität dieses Mediums. Der im Roman omnipräsente Wechsel der Erzählperspektiven wäre im Film nicht zu realisieren61, es findet sich hier ein extradiegetischheterodiegetischer Erzähler, die Vielfalt der unterschiedlichen Gedanken, Sentenzen, montierten Motive und der wechselnden Sicht ist nicht herzustellen. Auch ist der Film durchgehend chronologisch, die Retardierungen und Anachronien mussten dem neuen Medium weichen.62 Entsprechend ist keine vorlagengetreue Adaption zu erwarten, doch bieten sich bei näherer Betrachtung interessante Übertragungen des discours auf die filmische Dimension. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nähert sich Biberkopf erstmals der Stadt Berlin, indem er mit der Straßenbahn in die Innenstadt fährt. Diese Szene enthält diverse Aufnahmen des hektischen Großstadtlebens, durchzogen von Nahaufnahmen auf Biberkopfs immer orientierungsloseres Gesicht und die seine Unsicherheit manifestierende Körperhaltung, bis er letztlich während der Fahrt abspringt und sich mit dem bedrohlichen Autoverkehr konfrontiert sieht. Der vorbeifahrende Autobus wird aus der Froschperspektive aufgenommen, was abermals die Bedrohlichkeit der Situation aufzeigt. Möbius und Vogt sprechen hier von einer „Fahrt in die Desorientierung“63. Das Verschwimmen der Aufnahmen deutet Biberkopfs inneren Zustand an, bevor er sich in den scheinbar sicheren Hausflur retten kann, in dem er einem fremden Mann begegnet, dem er sogleich den Koffer mit all seinen Habseligkeiten anvertraut und dessen bestohlen wird. Er hat sich mithin seines vorherigen Lebens entledigt, und, wie ihm ein Passant mokant entgegnet: „Kannste wenigstens nischt verlieren“. Die Umstehenden nehmen keinen Anteil an seinem Unglück. An dieser Stelle wird offenkundig, dass auf dem Platz diverse Menschen unterschiedlicher Schichten verkehren. Herbert Ihrerings Kritik, der Alexanderplatz sei bei Jutzi rein auf die Unterwelt beschränkt, lässt sich mithin widerlegen.64 Für wenige Sekunden ist daraufhin ein sonst nicht näher vorgestellter und auch später nicht mehr auftauchender Arbeiter beim Entladen der Ware aus seinem Wagen zu sehen. Er stürzt ein Fass zu Boden und rollt es daraufhin weg. Diese montierte Halbtotale darf als Parallele zu Franzens Situation gedeutet werden, der gegen seinen Willen aus der sicheren Haftanstalt gestoßen wurde und den es nun in seiner Passivität an den Alexanderplatz verschlagen hat. In der Tat wird im Film zwar die angemahnte Vielfältigkeit vernachlässigt, keinesfalls aber ausgeklammert. Der Fokus liegt auf Biberkopf, der im Verlauf der Erzählung wieder in sein kriminelles Milieu abgleitet und sich aus ihm bis zum Ende des Romans nicht mehr lösen kann. 61 Hurst, Seite 263 vgl. Möbius/Vogt, Seite 106 63 Möbius/Vogt, Seite 106 64 Herbert Ihrering: Der Alexanderplatz-Film, im Berliner Börsen Courier, Jg. 64, vom 09.10.1931, Wiederabdruck in: Materialien, Seite 241 f. 62 16 Die ohnehin schon als „ziellos“65 kritisierten Montagen hätten noch weiter zur Unübersichtlichkeit beigetragen, wären auch noch die kulturellen Gegensätze an diesem Platz vergegenwärtigt worden. Doch auch der Vorwurf der Ziellosigkeit der Montagen lässt sich zurückweisen. Nachdem Franz Mieze und Reinhold kennen gelernt hat, tritt er zum ersten Mal als Verkäufer auf dem Alexanderplatz auf. Während er in einer Halbtotale vor mehreren Menschen gezeigt wird, folgt ein Schnitt zur nächsten Einstellung in weit eingestellter Vogelperspektive auf den Verkehr. Zwar ist Biberkopf noch zu erahnen, doch nicht mehr zu hören. Er ist zu diesem Zeitpunkt äußerlich pars pro toto, geht in der Masse auf, lediglich durch seine mangelnde Einsicht sticht er in der Folge noch hervor. Für den Moment scheint er noch eins zu sein mit der Stadt, dem Verkehr und der Masse. Er ist zu diesem Zeitpunkt bereits mit Cilly liiert, die von Reinhold widerwillig den Auftrag erhalten hat, ihm Biberkopf als Helfer für seine Machenschaften zuzuspielen. Cillys Besuch bei Franzens Arbeit auf dem Alexanderplatz ist gerahmt von zwei montierten Aufnahmen mit weiter Einstellungsgröße von oben auf den Alexanderplatz mitsamt des Bahnhofs, wobei jeweils ein Zug der S-Bahn Berlin durch das Bild fährt. Hier entdeckt man eine Parallele zur kaltblütigen Präzision Reinholds, der mit großer Genauigkeit seine kriminellen Taten vollzieht und am Ende auch nicht vor dem Mord an Mieze zurückschreckt. Symbolisiert wird das dadurch, dass die Berliner S-Bahn seit 1928 das erste reguläre Eisenbahnsystem Deutschlands mit automatisch schließenden Türen war und ohnehin in ihrer Präzision dem Massenansturm der Großstadt auch technisch gewachsen war. Damit lässt sich eine Parallele zur Schlachthofszene im Roman66 ziehen, die ebenfalls zunächst kaum in den Handlungsstrang einzuordnen ist. Scimonelli deutet den Schlachthof als „perfekte Tötungsmaschine“, als Parallele zu Reinholds „kaltblütiger Gewalt“67, und eben diese Funktion übernimmt hier das technisch präzise Massenbeförderungsmittel. In der übernächsten Szene wird Biberkopfs mangelndes Einschätzungsvermögen seiner Umwelt präsentiert, als sich die Pumsbande über ihn mokiert und ihn anhält, ein Lied zu singen. Er ergreift diese Gelegenheit und stimmt „Ich hatt’ einen Kameraden“ (ursprünglicher Text von Ludwig Uhland) an, wobei er den Text abändert: Ich hatt’ einen Kameraden, einen bess’ren find’st du nicht damdadam Und jetzt ist alles vorbei, und jetzt habe ich bezahlt, und jetzt fang’ ich wieder von vorne an und jetzt wird gearbeitet und geschuft’ 65 ebd., Seite 242 BA, Seite 140 - 143 67 beide Zitate: vgl. Scimonelli, Seite 168 - 169 66 17 und der neue Biberkopf, der steht seinen Mann, und der alte Biberkopf, der kommt nicht mehr ran, ja der alte Biberkopf ist tot, mausetot. Er erkennt nicht, dass er sich unter Kriminellen befindet, die er mit einem solchen Lied unnötig provoziert. Daneben wird auch noch deutlich, dass Biberkopf auch im Film keine Schuldgefühle wegen Ida mit sich trägt, er hat mit der Haftstrafe bezahlt und kann nun einfach von vorn anfangen. Seine komplette Neukonstitution, die in Kapitel drei dieser Hausarbeit herausgestellt wurde, findet sich in diesen Zeilen in verklausulierter Form wieder. Es wird ersichtlich, dass der Protagonist ohne konkrete Basis einfach den Grundsatz des „ehrlich Werdens“ gefasst hat und es sich bei diesem Prinzip bereits um sein gesamtes Konzept dafür handelt, ehrlich zu bleiben. Zudem offenbart sich hier die beinahe vollständige Isolierung der Figur vom Leben vor der Haftstrafe: Die adaptierte Erzählung berichtet noch weniger von seinem Vorleben als der Roman, scheinbar ist der alte Biberkopf also de facto „mausetot“. Erst nach dem Verlust des Arms durch den Anschlag Reinholds kehrt Biberkopf zu seiner kriminellen Vergangenheit zurück, nun ist der „neue“ Biberkopf gleichsam gestorben. Er ist aus dem Auto geworfen und von einem Verfolgerauto überfahren worden. Im Film sitzen in diesem Auto Henschke und Cilly, die Franz tragischerweise eigentlich retten wollten, und wundern sich über das Holpern des Wagens. In der nächsten Einstellung ist Biberkopf mit verbundenem Kopf und nicht bei Bewusstsein zu sehen, wobei dieses Bild überblendet wird von anachronen Retrospektiven seines bisherigen Weges seit der Entlassung aus Tegel. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nähert er sich zum zweiten Mal der Stadt, dieses Mal nicht mehr unter dem Eindruck der Desorientierung, sondern der Idylle. 68 Die Kamera fährt von den Dächern eines Hinterhofs an den Fenstern vorbei hinunter zu Franz, der hier Mieze trifft, die dort „Liebe kommt, Liebe geht, das kann keine Regierung verbieten“ singt. Die Liebe bleibt auch in Zeiten politischer Unruhen, und der Film erschien im Angesicht der Notverordnungen69, als fester Ankerpunkt bestehen, doch ist dieser Aspekt hier auch janusköpfig. Einerseits handelt es sich um einen festen Wert, anderseits kommt und geht sie ja auch, „heute blond, morgen braun, ja wer wird denn sein Herz fest verliehen’?“ heißt es weiter und deutet auf den von Scimonelli im Kontext des Romans herausgearbeiteten Verlust der Moralkriterien70 hin. Dieser „intertextuelle“ Marker deutet nicht nur auf den politischen Kontext hin, sondern lädt auch zur Kontextualisierung bezüglich Biberkopfs eigener Geschichte ein: 68 vgl. Möbius/Vogt, Seite 106 siehe Möbius/Vogt, Seite 109 70 vgl. Scimonelli, Seite 170. 69 18 Man macht nicht viel Geschrei um Liebe heut, das ist vorbei. Man verträgt sich, oder schlägt sich. Ein Tag ist wie ein Jahr man fragt sich nicht, was vorher war. Dieser Abschnitt scheint die im Film vermutlich aus moralischen Gründen weggelassene Episode des Frauentauschs zwischen Reinhold und Franz implizit zu thematisieren, außerdem erscheint das Verhalten Biberkopfs, seine Vorgeschichte stets im Dunkel zu lassen und auch sich selbst nicht damit zu befassen, als im Sinne des damaligen common sense normal. Wie Möbius und Vogt herausstellen, trifft sich Biberkopf darauf mit Mieze im Park und dort werden sie auch ein Paar.71 Die beim ersten Anmarsch auf Berlin negativ thematisierte Naturferne des großstädtischen Lebens72 scheint aufgehoben, Franz kann sich in einer natürlichen Idylle am Wasser für seinen erneuten Anlauf rüsten. Biberkopf schließt sich mit den Verbrechern zusammen und es geht ihm finanziell so gut, dass er beginnt, mit seinem Vermögen vor Reinhold zu prahlen und ihn damit zu reizen. Auf einem Fest beginnt er, Reinhold gegenüber von seiner Mieze zu schwärmen, woraufhin Biberkopfs Lieblingslied73 ertönt und die Kamera im Saal langsam bis zur Decke fährt, wo sich eine Engelsfigur befindet. Danach wird über eine kurze Montage des nächtlichen Berlin direkt zu Mieze geblendet, der Cilly gerade aufgibt, sich vor Reinhold in Acht zu nehmen. Die „Fahrt nach oben“ darf als implizite, dennoch aber zukunftsgewisse Prolepse auf die Ermordung angesehen werden, insbesondere, weil kurz darauf die Szene folgt, in der Franz Miezes Treue demonstrieren will, dabei aber aufgrund eines Missverständnisses kurz davor ist, in einem cholerischen Anfall einen erneuten Totschlag zu begehen, womit er Reinhold letztlich zum Mord an Mieze motiviert. Der Rest des Films lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Nach Miezes Ermordung unterschätzt Franz die Lage zunächst und sagt, er laufe keiner Frau hinterher. Als Cilly ihm den Zeitungsartikel über die aufgefundene Leiche zeigt, lässt sich Franz nicht davon abhalten, mit den ständig wiederholten Worten „Wir fahren in die Hölle!“ in die Kneipe zu gehen und sich den bereits dort postierten Schutzpolizisten zu widersetzen, da er sich an Reinhold rächen will, woraufhin er von ihnen abtransportiert wird. Er wird vor Gericht freigesprochen, Reinhold zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Biberkopf ist zwar zunächst verzweifelt, doch Cilly ermuntert ihn, sich erst jetzt als aus dem Gefängnis entlassen zu betrachten. In der letzten Szene ist er erneut als Händler auf dem Alexanderplatz zu sehen, der an mit „Stehaufmännchen“ handelt, die „Metall am rechten Fleck“ haben. Er hat erkannt: 71 vgl. Möbius/Vogt, Seite 106 f. vgl. Möbius/Vogt, Seite 105 73 Sein Lieblingslied: Wenn der Mensch hat seine dreißig Jahre/Ist das Leben grade gut. 72 19 „Auf die Beine kommt’s nicht an, und auf den Arm, kommst’s ooch nich’ an, nur, was er hier im Brustkorb hat.“ Daraufhin folgt ein Schnitt, und über der Vogelperspektive auf den Alexanderplatz wird „Ende“ eingeblendet. Als generelle Aussage lässt sich konstatieren, dass der Film deutlich weniger aufgeschlossen gegenüber den Verbrechern ist. So wird die Prostitution Miezes nicht expliziert, auch erscheinen die Raubzüge, an denen Franz beteiligt ist, gleichsam als Ausrutscher. Der Film ist damit konservativer als der Roman, der letztlich der Literaturperiode konvenierend den Verbrecher als Jedermann darstellt.74 Es wird deutlich, dass der Film stark reduziert wurde, dennoch aber bisweilen ähnliche Aussagen trifft wie der Roman, nur entsprechend deutlich verklausulierter. Die Beschränkung auf die Biberkopf-Geschichte ist beabsichtigt und darf im Sinne einer gerechten Beurteilung nicht zur Last gelegt werden. Die Montagen ergeben entgegen dem Urteil einiger Kritiker durchaus einen Sinn und behalten auch stets einen Bezug zum Protagonisten. Die cineastische Umsetzung folgt sehr stark dem Manuskript des Hörspiels von 1929, welches allerdings nicht gesendet wurde. Doch handelte es sich bei dieser Selbstzensur keinesfalls um einen politischen Oktroy, sondern vielmehr um die künstlerische Unzufriedenheit Döblins mit dem Werk. In diesem Sinne muss man zwar davon ausgehen, dass Hörspiel und Film im Angesicht politischer Ängste des Juden Alfred Döblin entstanden, auch wenn die bisher angenommene Absetzung seines Hörspiels aus politischen Gründen widerlegt ist und die darin enthaltenen Kürzungen nachweislich nicht aufgrund der Zensur entstanden75, was zuvor lange angenommen worden war.76 Tatsächlich ist der politische Aspekt für die Entschärfung des Stoffes sekundär, im Fordergrund stand einfach die Prämisse der Accessibilität für die breite Masse, kurzum die common-sense-Fähigkeit, zu der jedoch unzweifelhaft unter anderem auch der politische Kontext gehört. Der Schluss weicht allerdings eklatant ab, und so stellte bereits die kontemporäre Kritik fest: Übrig bleibt eine Verbecher- und Zuhälter-Geschichte, die zufällig in Berlin spielt, und deren Held nach Mord und Totschlag sich zu der Erkenntnis durchringt: „Lieber Hosenträger verkaufen, als Zuhälter und Verbrecher sein!“ Das ist gewiß sehr brav. Es ist ein bißchen zu brav. Man glaubt’s nicht ganz. 77 Dieser Aspekt soll nun im noch folgenden Kapitel untersucht werden. 74 vgl. Bild des Verbrechers, Seite 370 hierzu Gabriele Sander – Erläuterungen und Dokumente Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz, im Folgenden: Erläuterungen und Dokumente, Seite 225 f. 76 So führen Möbius/Vogt noch aus, die Umarbeitung sei auch von „[…] den zeitgeschichtlichen politischen Verhältnissen aufgezwungen (Zensur)“ geprägt, s. Möbius/Vogt, Seite 100. 77 Hans Siemsen in „Die Welt am Montag“ vom 12.10.1931, zitiert nach Materialien und Erläuterungen, Seite 238 75 20 4.4 Die Schlusszenen: neue Chance durch spinozistische Wandlung oder empirisch evozierte Besinnung zur Ehrlichkeit? Im Roman verfällt Biberkopf dem Wahnsinn, nachdem er von Miezes Ermordung erfahren hat. Er wird in die „Irrenanstalt Buch, festes Haus“78 eingeliefert, wo er die Nahrungsaufnahme verweigert, in Agonie verfällt und letztlich der Tod mit ihm in Kontakt tritt. Er erkennt seine Fehler, bemerkt die bisher verdrängte Schuld am Ableben Idas ebenso wie seine weiteren Unzulänglichkeiten unter größten Qualen und hört in letzter Instanz auf den Tod: „Erkenne, bereue. Was Franz hat, wirft sich hin. Er hält nichts zurück.“79 Offensichtlich, so stellte bereits Sanna heraus, „ist der Eintritt in den Raum des Wahnsinns, der die Widerstände des Helden bricht, unabdingbar.“80 Der Tod zeigt Biberkopf, dass sein kapitaler Fehler gewesen sei, nie nach den Hintergründen und Modalitäten zu fragen. Was bistu fürn Richter über die Menschen und hast keene Oogen. Blind bist du gewesen und frech dazu, hochnäsig […] und die Welt soll sein, wie er will. Ist anders, mein Junge, jetzt merkst dus. Die kümmert sich nicht um dir. […] Wie der [gemeint ist Biberkopf, Anm. S.B.] noch unter die Räder liegt, schwört der: ick will stark sein. Sagt nich: nu mal überlegen, den Grips zusammmennehmen, - nee der sagt: ich will stark sein. Und nicht merken willst du, daß ich zu dir rede. Aber jetzt hörste mir.81 Es offenbart sich hier, dass der Tod bereits zuvor anwesend war und dass es er es auch war, der von Zeit zu Zeit im Roman Fragen an Biberkopf gerichtet hat, auf die jener nicht reagierte. Franz habe seine Augen nicht geöffnet, er wurde nicht eins mit der Stadt, weil er die restlichen Menschen inklusive der Stadt Berlin nicht wahrnahm82 und zudem eine fehlerhafte, freche, da zu egozentrische Erwartungshaltung vom Leben hatte. Es genügt eben nicht, einfach seine Anständigkeit zu beschließen und auf die Wohlgesonnenheit des Lebens zu warten, man muss die Handlungen, seine Fehler und die Anderen „Herankommen lassen“83, um aus der sozialen Interaktion zu lernen. „Die Verinnerlichung der Erfahrung schließt die Annäherung an die Großstadtwüste […] mit ein […]“84, Biberkopf ist nicht länger pars pro to to in unterschiedlichen Episoden, sondern ist sich seines bisherigen Lebens bewusst und zieht seine Rückschlüsse daraus. [Am Schluss - S.B. …] hat Franz Biberkopf aufgehört, exemplarisch zu sein und ist lebendig in den Himmel der Romanfiguren entrückt worden. Hoffnung und Erinnerung werden ihn in diesem Himmel, der kleinen Portierloge, 78 BA, Seite 419 BA, Seite 441 80 Simonetta Sanna – Die Quadratur des Kreises. Stadt und Wahnsinn in Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin (in Folgenden: Sanna), Seite 44. Ich verweise hier auf Aspekte insbesondere auf den Seiten 11 – 75, die den Rahmen dieser Hausarbeit sprengen, dennoch aber höchst interessant sind. 81 BA, Seite 433 82 hierzu: Sanna, Seite 37 83 BA, Seite 436 84 Sanna, Seite 62 79 21 über sein Gescheitertsein trösten. Wir aber sehen ihm in seine Loge nicht nach. Denn das ist ja das Gesetz der Romanform: kaum hat der Held sich selber geholfen, hilft uns sein Dasein nicht länger. 85 Biberkopf trägt nun seine individuelle Geschichte mit sich, hat erkannt, dass er sich nicht seiner Schicksalsuntergebenheit hingeben darf. Diese Erkenntnis ist bereits die Tätigkeit, durch das Verstehen kämpft Biberkopf gegen sein Schicksal. Hier war Döblin der Überzeugung, Denkund Tätigkeitsvermögen seien identisch. Er war von der monistischen Auffassung Baruch de Spinozas inspiriert, in dessen System Denken und Bewegung äquivalent sind.86 Biberkopf beruft sich nicht länger auf das Schicksal und ist somit nicht mehr unwissend im spinozistischen Sinne87. Dieser intellektuelle Wandel, das innere Erwachen, wird durch den körperlichen Zusammenbruch Franzens symbolisiert.88 Im Film wird dieser Aspekt lediglich angedeutet, indem die Pumsbande nach der Gerichtsverhandlung bemerkt, Franz sei „schwach auf de Beene“. Eine Wandlung ist dennoch nicht zu bemerken. Er verfällt dem Wahnsinn nicht, der Tod offenbart sich nicht als Erzähler der Geschichte und es kommt zu keiner expliziten Erkenntnis. Während Döblin – naturphilosophisch begründet – demonstriert hatte, wie seine Figur erst im Eingeständnis vollkommener Schwäche eine Chance zur „Wiedergeburt“ erhält und damit die historisch-existentielle IchUmorientierung bezeichnet, bleibt Jutzi beim vordergründigen Bild des Stadt-Abenteurers.89 Stattdessen handelt Franz mit Stehaufmännchen mit „Metall am rechten Fleck“. Es ist sein „eiserner Wille“90, durch den er trotz aller Schicksalsschläge über die Stadt, deren Wahrzeichen zerstört ist, triumphiert. Seine Stimme ist nun auch während der montierten Stadtbilder zu hören. [Dieses S.B. …] bieder-auftrumphende[…] „Hand auf’s Herz“ als Rezept gegen die drohende Arbeitslosigkeit, Verlust eines Armes, Ermordung seiner Freundin, ist schon Anfang der dreißiger Jahre kitschiges Melodram gewesen, im eklatanten Gegensatz zum Roman.91 Der Film reduziert den Roman entsprechend auch am Schluss um sämtliche die Rezeptionskapazität des common sense übersteigende Aspekte und erfüllt damit sein Ziel, den Anforderungen des Massenmediums gerecht zu werden. Walter Benjamin: Krisis des Romans. Zu Döblins „Berlin Alexanderplatz“, Wiederabdruck in: Materialien, Seite 108 – 114, Zitat Seite 113. Auch wenn ich Benjamins Bezeichnung der Biberkopf-Geschichte als ‚éducation sentimentale’ im Sinne der großen Bildungsromane nicht teile, so ist doch der zitierte Aspekt nicht zu bestreiten. 86 Siehe hierzu: Otto F.Best – Zwischen Orient und Okzident: Döblin und Spinoza. Einige Bemerkungen zur Problematik des offenen Schlusses von Berlin Alexanderplatz, in: Colloquia Germanica, Band 12/1979 (im Folgenden: Döblin und Spinoza), Seite 94 – 105, vgl. zum genannten Aspekt Seite 99 87 vgl. Döblin und Spinoza, Seite 100 f. 88 vgl. Döblin und Spioza, Seite 100 89 Möbius/Vogt, Seite 109 90 Möbius/Vogt, Seite 109 91 Möbius/Vogt, Seite 110 85 22 4.5 Die filmische Umsetzung in der Kritik Offenbar haben die meisten Kritiker die von Jutzi übernommene Absicht Döblins, dem Massencharakter des Kinofilms gerecht zu werden, nicht bedacht oder akzeptiert. Nahezu übereinstimmend konstatieren und beklagen sie den Vorrang der Biberkopf-Geschichte vor dem Alexanderplatz-Motiv […].92 In der Tat war auf breiten Fronten der Rezensenten große Enttäuschung bezüglich der Umsetzung zu bemerken, es wurden Vorwürfe laut, die Autoren hätten sich mit diesem Film an die Filmindustrie verkauft. Häufig wurde moniert, dass der Titel des Films „Berlin Alexanderplatz“ eigentlich verfehlt sei, da es sich in der cineastischen Umsetzung eindeutig um die Geschichte des Franz Biberkopf handele.93 Insgesamt wurde eine sträfliche Vereinfachung bemängelt, und Georg F. Salomy urteilte sogar, dass der Stoff durch die Fixierung auf einen Charakter und die Ausblendung Berlins die „innere Kraft“94 verliere. Zudem wurde bisweilen kritisiert, dass der Hauptdarsteller Heinrich George zu viel von sich in die Rolle gelegt und damit dem Biberkopf-Charakter entgegengewirkt habe95. Hier wird zweifelsohne ein sehr hoher Maßstab angesetzt, den das Projekt bereits in seiner Zielsetzung nicht erfüllt. Döblin war insgesamt bestrebt, auch für die unteren Schichten zu schreiben und zu schaffen, weshalb es logischer Weise zu einer den Kritikern unter der Prämisse der literaturtransformativen Herangehensweise missfallenden Umdeutung des Romans kommen musste, der bei aller Volksnähe in einigen Passagen dennoch einem Großteil der Arbeiterschicht Schwierigkeiten bereitet hätte. Der Film soll gar nicht konsequent die im Roman gelegten Möglichkeiten umsetzen, lediglich aufgrund mangelnder Akzeptanz dessen folgten die überwiegend negativen Kritiken. „Er ist, wenn man das Niveau der Tonfilmproduktion bedenkt, ein wertvoller Film. Er ist, wenn man die Möglichkeiten des Stoffes und des Themas betrachtet, bedenklich.“96 Auch die technisch beeindruckenden Montageelemente wurden ambivalent zwischen sehr gut und „richtungslos“97 beurteilt. Bis in die heutige Forschungsliteratur hält sich dieses überwiegend negative Bild der filmischen Umsetzung, sie versetze den modernen Roman zurück in die Ästhetik früherer Zeiten98, oder der Roman sei filmischer als der Film.99 92 Möbius/Vogt, Zitat Seite 102 zu der zeitgenössischen Kritik: Erläuterungen und Dokumente, darin: „Berlin Alexanderplatz“ in Hörspiel und Film, Seite 235 - 241 94 Georg F. Salomy in der B.Z. am Mittag vom 09.10.1931, zitiert nach: Erläuterungen und Dokumente, Seite 236 95 siehe: Erläuterungen und Dokumente, Seite 240 96 Ihering, zitiert nach: Jutzis BA, Seite 102 97 Siegfried Kracauer, zitiert nach: Erläuterungen und Dokumente, Seite 241 93 23 Allen Widerrednern ist gemein, dass sie in ihre Bewertungen Döblins eigene Herangehensweise und Zielsetzung außer Acht lassen und ignorieren, dass dieser Film keinesfalls zur Befriedigung der intellektuellen Minorität konzipiert, sondern letztlich auch kommerziellen Zwängen unterlag und für die breite Masse produziert worden war. Dazu durfte eine Zensur oder ein Verbot auch nicht riskiert werden. Anhand der eigenen Zielsetzung und unter Beachtung der Tatsache, dass der Tonfilm noch in seinen Kinderschuhen steckte, ergibt sich insgesamt also ein deutlich besseres Bild vom Film, wenngleich einige Aspekte, wie zum Beispiel die absolute Fixierung auf die Person Heinrich George, berechtigter Weise kritisiert wurden. Siegfried Kracauer fasste nach ursprünglich vernichtender Kritik höchst treffend zusammen: Der Roman ist „[…] ein Kompromiss zwischen den filmischen Möglichkeiten des Romans und den Forderungen der Branche und des vermeintlichen Publikumsgeschmacks.“100 Nicht zu verachten bleibt auch das politisch unruhige Umfeld, in welchem der uns vorliegende Film bereits einen großen Mut der an ihm Beteiligten beweist. Ein gerechtes Urteil muss also deutlich moderater ausfallen, auch wenn der erwartete kommerzielle Erfolg ausblieb. 5 Schluss Der Roman „Berlin Alexanderplatz“ stellt ein modernes Projekt der Literatur dar, bei dem anhand der Montage verschiedener Sachverhalte eine komplex verzahnte Gesamtgeschichte entsteht. Der Stil ist an die veränderten Rezeptionsgewohnheiten der damaligen Zeit im Angesicht des zunehmenden Verkehrs in den Großstädten und der Beschleunigung der Sehgewohnheiten durch das Medium „Film“ angepasst. Aus diesem Grunde spricht man hier in der Forschung bisweilen von „filmischer Schreibweise“, da sich das im Werk Geschilderte auch vor dem Auge des Betrachters vollzieht und an die Mentalität angesichts der Beschleunigung des Lebens angepasst ist. Diese Feststellung darf aber nicht dazu verleiten, den Roman als vorgefertigtes Drehbuch anzusehen. Im Gegenteil muss Döblins Stil der ständigen Montagen, Perspektiv- und Erzählerwechsel die technischen Möglichkeiten eines Films übersteigen. Es wäre aufgrund der Begrenztheit der Darstellung, den Kameraperspektiven, der Produktionskosten und nicht zuletzt aufgrund der begrenzten Sendezeit von 89 Minuten unmöglich, den Roman in seiner gesamten Fülle abzubilden. Zudem ist eine derart komplexe Struktur auf der Leinwand weitaus schwieriger nachzuvollziehen, da es im Film nicht möglich ist, beliebig zu verschiedenen Stellen der Handlung zurückzukehren. Die Verständlichkeit „auf 98 vgl. Rue Bellechasse, Seite 93 vgl. Hurst, Seite 260 - 261 100 Siegfried Kracauer in: Die neue Rundschau, Dezember 1931, zitiert nach: Materialien und Erläuterungen, Seite 244 99 24 Anhieb“ muss hier also stärker gewahrt bleiben als bei Schriftlichkeit. Hinzu kommt die Tatsache, dass Kino hauptsächlich auf Zerstreuung konzipiert war und der Majorität, sprich der breiten Masse der Bevölkerung, zugänglich war. Ein Film für die intellektuelle Oberschicht wäre zu diesem Zeitpunkt noch weniger rentabel gewesen als heute. Aus diesen Gründen musste die Verfilmung von Phil Jutzi, an deren Drehbuch Döblin selbst mitgearbeitet hatte, in der damaligen Zeit extrem simplifizieren und den Roman um seine Modernität bringen. Die Enttäuschung der Kritiker resultierte daraus, dass sie Döblins Ziel, die Kunst von der rein intellektuellen Betrachtbarkeit zu reinigen und einen Film für die Allgemeinheit zu schaffen, nicht zur Kenntnis nahmen oder es nicht akzeptierten. Der Film von 1931 ist auf Biberkopfs Geschichte beschränkt, er ist deutlich harmloser als die Vorlage, sein Ende ist kitschig und seiner implizit didaktisch-moralischen Funktion durch symbolische Gesellschaftsreflexion beraubt und er enthält sich letztlich jeglicher politisch prekären Äußerungen. Dennoch ginge man fehl in der Annahme, wollte man die Änderungen einzig auf das politische Umfeld zurückführen, welches Döblin nur sekundär zu seinen Entscheidungen bewogen haben dürfte. Vielmehr findet sich die Ursache dieser Verallgemeinerungen in Döblins Bestreben bezüglich der Kunst, sie jedem zugänglich zu machen, was gerade im Bereich des Films von Wichtigkeit ist. Der Film ist allerdings in sofern Produkt seines common sense, als er auf die Rezeptionsgewohnheiten des Publikums eingeht. Wie jede Adaption muss auch „Berlin Alexanderplatz“ die kontemporären Umstände bezüglich des Urteilsvermögens seines Publikums, der breiten Masse, widerspiegeln, um sie zu erreichen. Durch die bisweilen vernichtende Kritik und den ausgebliebenen Erfolg entstand ein sehr undifferenziert negatives Bild vom Film, welches revidiert gehört. Erste Tendenzen zu dieser gerechteren Betrachtung finden sich, wie angegeben, in der aktuellen Forschung und werden sich sicher in den nächsten Jahren weiter durchsetzen. 25 6 Literaturverzeichnis Primärquellen 1. Alfred Döblin – Berlin Alexanderplatz, ungekürzte Ausgabe April 1965, 44. Auflage Mai 2005, dtv München 2. Phil Jutzi – Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte Franz Biberkopf, Deutschland 1931, Länge: 2440 Meter, ca. 89 Minuten Aufsätze 1. Bayerdörfer, Hans Peter – Der Wissende und die Gewalt. Alfred Döblins Theorie des epischen Werkes und der Schluss von Berlin Alexanderplatz, in: Matthias Prangel (Hrsg.) - Materialien zu Alfred Döblin „Berlin Alexanderplatz“ (1975), Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2. Auflage, Seite 150 – 185 2. Bayerdörfer, Hans Peter – Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz, in: Paul Michael Lützeler (Hrsg.) – Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen (1983), Athenäum-Verlag Königstein/Ts., 1. Auflage, Seite 148 – 166 3. Benjamin, Walter – Krisis des Romans. Zu Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (1930), in: Matthias Prangel (Hrsg.) - Materialien zu Alfred Döblin „Berlin Alexanderplatz“ (1975), Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2. Auflage, Seite 108 – 114 4. Best, Otto F. – Zwischen Orient und Okzident: Döblin und Spinoza. Einige Bemerkungen zur Problematik des offenen Schlusses von Berlin Alexanderplatz, in: Bernd Kratz (Hrsg.) - Colloquia Germanica – Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft, Band 12/1979, Francke Verlag Berlin, Seite 94 – 105 5. Hurst, Matthias – Die Grenzen des Films, 1. Berlin Alexanderplatz, in: Matthias Hurst – Erzählisituationen in Literatur und Film (1996), Max Niemeyer Verlag Tübingen, 1. Auflage, Seite 245 – 269 6. Kaemmerling, Ekkehard – Die filmische Schreibweise, in: Matthias Prangel (Hrsg.) Materialien zu Alfred Döblin „Berlin Alexanderplatz“ (1975), Suhrkamp Verlag Frankrfurt am Main, 2. Auflage, Seite 185 – 198 7. Kiesel, Helmut – Döblin und das Kino. Überlegungen zur ‚Alexanderplatz’-Verfilmung, in: Werner Stauffacher (Hrsg.) - Internationales Alfred Döblin Kolloquium Münster 1989/Marbach a.N. 1991 (1993), Peter Lang AG, Europäischer Verlag der Wissenschaften Bern, Seite 284 – 297 8. Kreutzahler, Birgit – Das Bild des Verbrechers in der Weimarer Republik. Eine Untersuchung vor dem Hintergrund anderer Gesellschaftlicher Verbrecherbilder und gesellschaftlicher Grundzüge der Weimarer Republik (1987) – Verlag Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main, 1. Auflage, darin: Seite 10 – 37; Seite 313 – 329 9. Kreutzer, Leo – Stadt erzählen. Roman Film Hörspiel Berlin Alexanderplatz, in: Elmar Buck, Leo Kreutzer, Jürgen Peters – Die schöne Leiche aus der Rue Bellechasse (1977), Rohwohlt Taschenbuch Verlag GmbH Reinbek bei Hamburg, 1. Auflage, Seite 87 – 105 10. Möbius, Hanno/Vogt, Guntram - Phil Jutzis Berlin Alexanderplatz oder Franz Biberkopfs Sieg über Berlin, in: Hanno Möbius/Guntram Vogt – Drehort Stadt: das Thema „Großstadt“ im deutschen Film (1990), Hitzeroth-Verlag Marburg, 1. Auflage, Seite 91 – 110 11. Möhrmann, Renate – Biberkopf, was nun? Großstadtmisere im Berliner Roman der präfaschistischen Ära, in: Heinz Die (Hrsg.) - Diskussion Deutsch: Zeitschrift für Deutschlehrer aller Schulformen in Ausbildung und Praxis, 9. Jahrgang (1978), Heft 40, Seite 133 – 151 12. Sander, Gabriele – Erläuterungen und Dokumente Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz (1998), Verlag Philipp Reclam Junior GmbH & Co., Stuttgart, 1. Auflage, darin: Seite 221 – 244 26 13. Sanna, Simonetta – Die Quadratur der Kreises. Stadt und Wahnsinn in Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin (2000), Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1. Auflage, darin: Seite 31 – 72 14. Scimonelli, Giovanni – „Berlin Alexanderplatz“ und die Krisenjahre der Weimarer Republik, in: Werner Stauffacher (Hrsg.) - Internationales Alfred Döblin Kolloquium Münster 1989/Marbach a.N. 1991 (1993), Peter Lang AG, Europäischer Verlag der Wissenschaften Bern, Seite 165 – 178 Nachschlagewerke zur zeitgenössichen Kritik 1. Sander, Gabriele – Erläuterungen und Dokumente Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz (1998), Verlag Philipp Reclam Junior GmbH & Co., Stuttgart, 1. Auflage 2. Matthias Prangel (Hrsg.) - Materialien zu Alfred Döblin „Berlin Alexanderplatz“ (1975), Suhrkamp Verlag Frankrfurt am Main, 2. Auflage 3. Schuster, Ingrid/Bode, Ingrid – Alfred Döblin im Spiegel der zeitgenössischen Kritik (1973), Francke Verlag Berlin, zu Berlin Alexanderplatz: Seite 207 – 266 27