TYS311 HS 2007 I. SPRACHWISSENSCHAFTLICHER TEIL Sprachliche Variation im literarischen Text – linguistische und übersetzungsbezogene Aspekte (mit praktischen Übungen) 1. amanuensis Kjetil Berg Henjum E. Coseriu (1971:185) vertritt die These, "daß die dichterische Sprache die volle Funktionalität der Sprache darstellt, daß also die Dichtung der Ort der Entfaltung, der funktionellen Vollkommenheit der Sprache ist". Sprachen sind gekennzeichnet durch Heterogenität. In literarischen Texten können sich alle Möglichkeiten realisieren, die in einer Sprache enthalten sind – dies allerdings immer unter den Bedingungen der Schriftlichkeit. Sprachliche Variation ist bezogen auf unterschiedliche Dimensionen (zur Einführung, siehe Stedje, Sprachen in der Sprache): Medium (gesprochen/geschrieben), Zeit (historisches Sprachstufen, veraltete/neue Sprachformen, etc.), Raum, soziale Gruppe, Stil, Textsorte, Domäne. In der Tatsache, dass jede Sprache durch Heterogenität gekennzeichnet ist und dass sich in literarischen Texten alle Möglichkeiten, die in einer Sprache enthalten sind, realisieren können, findet man die wichtigste Ursache für die Probleme der Übersetzer, die Frustration der Leser übersetzter Werke und die Faszination der Übersetzungsforscher: in ihrer Gesamtheit stellen literarische Texte alle nur denkbaren Übersetzungsprobleme. Im ersten Teil des Kurses werden die linguistischen (sozio- und varietätenlinguistischen) Grundlagen erarbeitet. Als Beispiele dienen u.a. literarische Texte, die auch im literatur- und kulturgeschichtlichen Teil (Beatrice Sandberg) behandelt werden: Döblin, Berlin Alexanderplatz, Frisch, Stiller, Horváth, Geschichten aus dem Wiener Wald. Im zweiten Teil des Kurses werden die linguistischen Grundlagen auf die Übersetzungstheorie und auf die Übersetzungen der oben erwähnten Werke von Döblin, Frisch und Horváth sowie anderer aktueller Textbeispiele bezogen. Pensum erster Teil des Kurses: 1. Kommunikationswissenschaftliche und textlinguistische Grundlagen Adamzik, K. 2001 Sprache: Wege zum Verstehen, Tübingen/Basel [Kap. 45 Texte und NichtTexte, und Kap. 48 Textum - das Gewebe: 258-263 und 281-289] Brinker, K. 1992 Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin 3. Aufl. 1992 (= Grundlagen der Germanistik, 29) [Textuelle Grundfunktionen: 99-120] Burger, H./Imhasly, B. 1978 Formen sprachlicher Kommunikation. Eine Einführung, München [Geschriebene Sprache - Allgemeine Bedingungen: 99-110] Fix, U. 2000 1 Aspekte der Intertextualität. In: Brinker, K. u.a. (Hrsg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. I, Berlin/New York (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 16/1), 449-457. 2. Heterogenität der Sprache - sprachliche Variation Polenz, P. von 1999 Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. III: 19. und 20. Jahrhundert, Berlin/New York 1999 [Regionale und soziale Varietäten: 454-469] Polenz, P. von 2000 Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. I: Einführung, Grundbegriffe, 14. bis 16. Jahrhundert, 2. Aufl., Berlin/New York. [Sprachliche Variation: 58-71] Schlieben-Lange, B. 1991 Soziolinguistik. Eine Einführung. 3. Aufl. Stuttgart (= Urban-Taschenbücher, 176). [Kap. Heterogenität der historischen Einzelsprache: 87-97] Stedje, A. 1998 Deutsche Sprache gestern und heute. Einführung in Sprachgeschichte und Sprachkunde. 3. Auflage. München: Fink (UTB 1499). [Kap. 17 Die Sprachen in der Sprache, Abschnitte 17.1, 17.2.1-17.2.5., 17.3., 17.4.] 3. Deutsche Literatursprache des 19. und 20. Jahrhunderts Löffler, H. 1994 Germanistische Soziolinguistik. Berlin 2. Aufl. 1994 (= Grundlagen der Germanistik, 28), 110-112. Polenz, P. von 1999 Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. III: 19. und 20. Jahrhundert, Berlin/New York 1999, 473-484. 4. Zu Döblin, Berlin Alexanderplatz Schildt, Joachim 2003 Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte II: Berlin. In: Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Band 2.3. 2. vollst. neu bearb. Aufl. Berlin, New York:de Gruyter, 2312-2321. Pensum zweiter Teil des Kurses Czennia, B. 2004 „Dialektale und soziolektale Elemente als Übersetzungsproblem“ in Frank, Greiner, Hermans, Kittel, Koller, Lambert, Paul (Hrsg.), Übersetzung – Translation – Traduction Vol 1. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Berlin/New York: Walter de Gruyter, Artikel 53, S. 505-512 Greiner, N. 2004 2 „Stil als Übersetzungsproblem: Sprachvarietäten“ in Frank, Greiner, Hermans, Kittel, Koller, Lambert, Paul (Hrsg.), Übersetzung – Translation – Traduction Vol 1. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Berlin/New York: Walter de Gruyter, Artikel 92, S. 899-907 Henjum, K. B. 2004 „Gesprochensprachlichkeit als Übersetzungsproblem“ in Frank, Greiner, Hermans, Kittel, Koller, Lambert, Paul (Hrsg.), Übersetzung – Translation – Traduction Vol 1. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Berlin/New York: Walter de Gruyter, Artikel 54, S. 512-520 Koller, W. 2004 Einführung in die Übersetzungswissenschaft. 7. Auflage. Wiesbaden: Quelle & Meyer. [Kap. 2.3. Differenzierung des Äquivalenzbegriffs, Abschnitte 2.3.3., 2.3.4., 2.3.5., 2.3.5., 2.3.6., 2.3.7., 2.3.8., S. 228-267] Schwitalla, J. 1997 Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag [Kap. 6 Syntaktische Kategorien, Abschnitte 6.1.-6.3., S. 66-96 + Kap. 10 Lexik, Semantik, Abschnitte 10.1.-10.4., S. 168-181] II. LITERATURWISSENSCHAFTLICHER TEIL Berlin – Wien – Zürich: Literatur, Sprache, Kultur Prof. Beatrice Sandberg (Berlin – Wien – Zürich: Allg. Einleitung, Döblin und Frisch Aman. Tor Jan Ropeid: Horvath Textgrundlagen: Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Kommentierte Gesamtausgabe. München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 12868. Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald. Volksstück in drei Teilen. Text und Kommentar. Frankfurt a.M., Suhrkamp Basis Bibliothek 26. Max Frisch: Stiller. Roman. Frankfurt a.M., Suhrkamp Taschenbuch. Berlin: Vom heutigen Berlin und dessen Rolle als wiedereingesetzter Hauptstadt geht eine Faszination aus, die unschwer an jene Berlins in den 20er Jahren erinnert. Die Bedeutung des damaligen Aufschwungs der Stadt auf allen Gebieten soll erarbeitet werden, um dann zu zeigen, wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz die Polyphonie dieser Stadt mit ihren Menschenschicksalen in seinen Roman einzufangen sucht mit neuen sprachlichen Mitteln und narrativen Techniken, die wiederum nicht unbeeinflusst sind von interkulturellen und übernationalen Anregungen, welche die neue Kunst prägen. Der Text ist Ausgangspunkt für exemplarische narrative Analysen, die ihrerseits wieder Licht werfen sollen auf den sozio-kulturellen Kontext des Romans wie den Film der 20er Jahre, die Schlager und die Musik, die Medienwelt mit ihren aktuellen Themen und Kniffen. Neben den intertextuellen Zusammenhänge mit nationaler und internationaler zeitgenössische Literatur spielt die Bibel eine zentrale Rolle. Sie gibt dem Roman seine mythischreligiöse Tiefe, die einen Kontrast herstellt zur Welt der Kneipen und Hinterhöfe der kleinen Verbrecher und Prostituierten, wo Mord und Totschlag zum Handwerk 3 gehören, aus der Franz Biberkopf einen dreifachen Anlauf zu einem besseren Leben unternimmt. Literatur zu Berlin: Bekes, Peter: Berlin Alexanderplatz. Oldenbourg Interpretationen Bd. 74, München 1995 Enklaar, Jattie/ Ester, Hans (Hg.): Das Jahrhundert Berlins: Eine Stadt in der Literatur, Amsterdam, Rodopi 2000. La Roche, Emanuel: Vom Rhein an die Spree. Deutschlands Hauptstadt zieht um. Vontobel-Stiftung, Zürich 1999. Wien: Wer ist ein echter Wiener? Der hier Geborene, der Zugereiste, der von hier Vertriebene oder der ewig Fremde? Wichtig für Wien ist die Bedeutung der Musik als ein wichtiger, ja zentraler Diskurs neben der Literatur und der Kunst bis heute. Ebenso charakteristisch ist die Multikulturalität der Stadt, die lange Zeit die Metropole der habsburgischen Monarchie und des Vielvölkergebiets war und immer schon als ein Schmelztiegel verschiedener slawischer und mittel- und osteuropäischer Völker und Sprachen, auch des Jüdischen, fungierte. Dass Rassenideologien und Antisemitismus trotzdem in unheimlicher Weise anwesend waren, bringt Horvath zum Vorschein, wenn er verworrene Anschauungen des kleinen Mannes zur Darstellung bringt, in denen sich Völkisches mit Ressentiments, Rassistisches mit persönlicher Gewalttätigkeit und Frauenverachtung vermengen. So wird im (klein)bürgerlichen Alltag der Wiener Vorstadt und der lieblichen Gegend der Wachau unter Klängen von Wiener Walzern und Klaviermusik von Chopin sogar ein Mord möglich ohne dass daraus Konsequenzen entstehen... Ödön von Horváth gibt in seinem Drama Einblick in die vielschichtigen Probleme der Wiener Gesellschaft und von Einzelgestalten in der Umbruchszeit des Nationalsozialismus, der die Gesellschaft verändert und und vor Entscheidungen stellt, aber auch einen politischen Gesinnungswandel in Richtung Anschluss verstehbar macht. Literatur zu Wien: Heuberger, Valeria: Donau abwärts. Vontobel-Stiftung, Zürich 2001. Wessel, Elsbeth: Wien. Oslo, Sypress Forlag, 1999. Zürich („Zürich zum Beispiel ...“ (Benn) Zürich liegt mit seiner halben Million Einwohner (mit Eingemeindungen heute 900.000) in einer ganz anderen Größenordnung verglichen mit den Metropolen Berlin und Wien und ist zudem nicht Hauptstadt, obwohl sie indirekt einen Status hat, der dem einer Hauptstadt nahekommt (größte Stadt der Schweiz und kulturelles und finanzielles Zentrum der Deutschschweiz. Zürich hat verschiedentlich kulturell wichtige Rollen gespielt innerhalb des deutschen Kulturlebens, so im 18. und 19. Jhdt. (Klopstock, Herders und Goethes Besuche bei Lavater und Bodmer/Breitinger; G.Keller und C.F. Meyer als bedeutende Repräsentanten des Realismus und der frühen Moderne) und im 20. Jh.: DADA-Bewegung in den 1920er Jahren, die Zeit ausländischer Autoren und Emigranten in der Stadt (James Joyce, Elias Canetti, Lasker-Schüler, Brecht, 4 Zuckmayer, Th. Mann u.a.), welche das Kulturleben stark beeinflussten und förderten. Durch die Sonderstellung der Schweiz als kriegsfreie Zone ergaben sich spezielle Probleme für die Gesellschaft, die Max Frisch in seinen Dramen und Romanen aufgreift und darstellt. „Ich bin nicht Stiller“ ist ein Mustersatz geworden für den Ausdruck von Widerstand und Verweigerung gegen eine gesellschaftlich-politische ebenso wie gegen eine persönliche Vereinnahmung, die das Individuum und sein Selbstbild verletzt durch stereotype Festlegungen und Bildnisse, wie Frisch dies im gleichnamigen Roman zur Darstellung bringt. Die Gefängnismetapher, die schon Goethe gebraucht hat und die Dürrenmatt später wieder aufgreift in seiner Rede an W. Havel, ist im Stiller-Roman von zentraler Bedeutung im Hinblick auf die Nebenthematik von der problematischen Liebe Stillers (und Frischs) zur Schweiz als Heimat. Literatur zu Zürich: Huonker, Gustav: Literaturszene Zürich. Menschen, Geschichten und Bilder 1914 bis 1945, Zürich 1985. Schaad, Isolde: Grüezi, Salü, Tschau. Zürich, Vontobel-Stiftung, Zürich 1997. Ausgangspunkt und Vorbereitung: 1. Lektüre der Texte in der obigen Reihenfolge 2. Finden von relevanter Fachliteratur zu den Autoren/Werken anhand von Bibliothekskatalogen (nicht Internett-Artikeln! 3. Selbständiger Versuch, aufgrund der Lektüre eigene Eindrücke zu formulieren und das Gelesene einzuordnen. 4. Vorüberlegungen zum methodischen Vorgehen der Arbeit an den Texten. 5. Formulierung konkreter Arbeitsaufgaben innerhalb der 3 Themenbereiche. Um die Arbeitsmenge zu begrenzen, können (was nicht heißt: müssen!) einige Kapitel oder Teile von Kapiteln des Romans kursorisch gelesen werden (überfliegende Lektüre mit Orientierung an Kapitelüberschriften/-einleitungen, Untertiteln und Lesen einzelner Abschnitte). Ein genauer Leseplan über die einzelnen Kapitel ist rechtzeitig zugänglich auf „Mi side“, ebenso werden Aufgabenvorschläge ausgelegt und ausgeteilt. 5