3K\ORJHQHVHYRQ6FKULIWIRUPHQXQGNXOWXUHQLPJOREDOHP 5DKPHQ6FKZHUSXQNW4XLSXXQG0D\D6FKULIWXQGGLH VFKULIWNXOWXUHOOH.RORQLVDWLRQ 'LHWUDQV]HQGHQWDOH3KlQRPHQRORJLHGHU6FKULIWNXOWXU Die Schrift als abstrakte Ideation des nachhaltigen Informationsträgers hat eine äußerst unaufgeklärte Evolutionsgeschichte. Ihr Ursprung liegt nämlich nach wie vor im Dunklen der Geschichte verborgen und läßt sich daher apodiktisch nicht genau verorten; vielmehr muß z.Z. davon ausgegangen werden, daß sie über multiple und raumzeitlich gänzlich independente Ausgangspunkte verfügte. Dementsprechend sind auch ihre konkreten Emanationsformen äußerst pleomorph: Sie reichen von den paläolithischen Kerbhölzern über die altägyptischen Hieroglyphen, den Quipus, die Knotenschnüre des Inkareiches, den, vorwiegend aus blauen Venusmuscheln- und weißen Meeresschnecken-Perlen elaborierten, Wampum-Gürteln der Algonkin und Irokesen, bis zu den mythischen Gemälden der Aborigines, bzw. die Silberschmiedekunst der Tuareg oder dem Teppich vom Bayeux. Der profane Schnittpunkt dieser esoterischen Sinnzusammenhangaufbewahrungsformen ist, daß Eingeweihte, gemeinhin auch Schriftkundige genannt, nach einer hinreichenden Initiationszeit in die Lage versetzt wurden, das zugrundegelegte Zeichensystem normenkonform, in der Regel sowohl aktiv als auch passiv, zu explizieren. Während Außenstehende, unsere abendländische Kultur nennt sie gewöhnlich Analphabeten, hierzu außerstande sind – der Entzweiungscharakter der Schrift wird hierdurch klar ersichtlich, ebenso sein identitätsstiftender Aspekt. Dieser scheinbar diskrepanter, weil dialektischer Gesichtspunkt der Schrift ist freilich etwas Kulturimmanentes, „daß Kultur sowohl integriert wie spaltet“1, ist uneigentlich schon seit der postklassischen Periode der Kultursoziologie bekannt. Die bisherige Begriffseingrenzung erscheint hingegen als noch zu weit gefaßt: Zumindest die letzten drei von mir aufgezählten Emergenzformen der Schrift sind ihrem Wesen nach entweder reale Bilder oder Schmuckapplikationen, was generell nicht als Schriftform klassifiziert wird. Allerdings besteht symboltheoretisch prinzipiell kein Unterschied zwischen der Artefakten- und der Schriftrezeption: „Ein Bild ‚liest’ man, wie man zu sagen pflegt, so wie man Schrift liest. Man beginnt ein Bild zu ‚entziffern’ wie ein Text.“2 Ich plädiere daher vehement dafür, die fraglichen Beispiele einfach als Grenzobjekte der Schriftkultur zu betrachten. Ein symbolisches Notationssystem muß demungeachtet in der Lage sein, abstrakte Denkinhalte systematisch zu reproduzieren, um als vollendete Verschriftungsform anerkannt zu werden. Weder der realexistierende Verbreitungsgrad noch die Option zur heurigen Codedechiffrierungsmöglichkeit ist ergo maßstabsrelevant um als ein Objekt der Schriftkultur zu bestehen. Die konforme sprach-logische Überspitzung lautet daher: Ein Schriftcode ist, was dem Schriftcode bedarf – analoges gilt selbstredend auch elementar für die Schriftkultur. Die relevante und damit auch existentielle Wesensfestlegung der Schriftkultur ist insofern seine maßgeblich primäre Deutung als „ein Instrument zur Ausweitung der Gedächtniskapazität“,3 als ein kognitiv-transzendentales Depot, als ein metaphysischer Reflexionshort der menschlichen Entfaltungsgeschichte. 1 Hartmut Böhme, 9RP&XOWXV]XU.XOWXUZLVVHQVFKDIW, aus: .XUV6, Originalausgabe 1996. 2 Hans-Georg Gadamer, 'LH$NWXDOLWlWGHV6FK|QHQ6, Originalausgabe 1974. 3 Gisbert Ter-Nedden, %XFKGUXFN$XINOlUXQJXQG$OSKDEHWLVLHUXQJ6, Originalausgabe 2004. 'LHVWUXNWXUW\SRORJLVFKH3K\ORJHQHVHGHU6FKULIWNXOWXU Der Urkeim unserer okzidentalen Schriftkultur liegt höchstwahrscheinlich am Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. in der altsumerischen Bilderschrift begründet. Die sumerischbabylonische Keilschrift, 1802 vom deutschen Philologen Georg Friedrich Grotefend in Göttingen enträtselt, ging mehr oder weniger direkt aus ihr hervor und vollführte die Umformung von der piktographisch-ideographischen zur abstrakt-logographischen Symbolschrift. Zeitlich davor anzusiedeln ist die um 3000 v. Chr. auftretende ägyptische Segmentalschrift, welche sich von der Logo- zur Phonographie weiterentwickelte. Gemeinschaftlich mit der aus der mykenischen Epoche stammenden Syllabogrammen Kretas, „eine Schrift, die seit ihrem Entdecker Arthur Evans Linear B genannt wird“,4 haben die Hieroglyphen im 2. Jahrtausend v. Chr. der phönizischen Silbenschrift als Anregung gedient, besagte entfaltete sich bis Mitte des 9. Jahrhunderts v. Chr. zur Alphabetschrift weiter. Wie alle semitischen Buchstabenschriften bezeichnete sie nur die Konsonanten. Die Phönizier, das beherrschende See- und Handelsvolk im Mittelmeer zur damaligen Zeit, gaben ihre Schrift infolge ihrer Handelsbeziehungen in alle Himmelsrichtungen weiter und sie wurde dadurch zum Ausgangspunkt fast aller bekannten Schriftsysteme. Die FRPPXQLV RSLQLR in der historischen Forschung tendiert inzwischen dahin, daß die Griechen während der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. die phönizischen Graphien für die Aufzeichnung ihrer Dialekte umgestalteten, d.h. die überzähligen Lettern schlicht zu Vokalzeichen umwandelten – allerdings handelt es sich hierbei lediglich um ein DUJXPHQWXP H VLOHQWLR. Im 8. Jahrhundert v. Chr. wurde Phönizien indessen eine assyrische Provinz; die Griechen übernahmen ihre führende Stellung zur See und „in den Regionen, in die sich ihr Einfluss erstreckte, machten sie auch ihr Alphabet heimisch.“5 Die Etrusker, welche bereits um 850 v. Chr. Handel mit den Griechen trieben, gaben besagte Buchstabenmenge an die Römer weiter, welche ihrerseits die Versalien einflochten: Die lateinische Schrift war geboren. Aus der griechischen Majuskel wurde unter anderem das kyrillische Alphabet gestaltet, auf den griechischen Unterbau stützt sich aber auch die letzte Entfaltungsstufe der ägyptisch-hamitischen Sprache, das Koptische. Aramäisch, eine nordsemitische Schriftsprache, die ebenfalls auf dem phönizischen Konsonantenverschriftungssystem fußte, entstand in Nordsyrien und war bis zur römischen Zeit die Lingua Franca des Vorderen Orient, sogar bis nach Indien. „Rund 250 Schriftsysteme gehen auf das aramäische Alphabet zurück“,6 darunter Hebräisch, Syrisch, Äthiopisch, Arabisch, die indischen Brahmi- sowie die davon abgeleiteten südostasiatischen Pali-Schriften. Die chinesische Logographie, jedes Zeichen entspricht demgemäß einem Wort bzw. Begriff, pocht noch heute auf ihre entwicklungsgeschichtliche Autonomie gegenüber der abendländischen Tradition, selbst nach der Einführung des Lateinschrift-Hilfssystems Pinyin. Die Autarkie der Schriftcodierung von der Lautentwicklung verleiht der chinesischen Notationsart eine enorme literarische Geschlossenheit in Raum und Zeit: Selbst Angehörige fremder Sprachen, wie z.B. Vietnamesen, Thailänder, Japaner und Koreaner, die lediglich die chinesischen Graphen adaptiert haben, aber auch die innerchinesischen Dialektgruppen, die sich ansonsten verbal nicht verständigen können, haben hierdurch eine gemeinsame Kommunikationsbasis. 4 Ludolf Kuchenbuch, $OWHXURSlLVFKH6FKULIWNXOWXU.XUVHLQKHLW6, Originalausgabe 2004. 5 Reinhard Wendt, (XURSlLVFKH([SDQVLRQXQGDXHUHXURSlLVFKH6FKULIWNXOWXUHQ6, Originalausgabe 2004. 6 Ebd. 5HJLRQDOVFKULIWNXOWXUHOOHU6FKZHUSXQNW6GDPHULND Beweis einer unabhängigen Schrifterfindung illuminiert die Maya-Schrift, als die einzige voll entwickelte Schrift der präkolumbischen Kulturen des amerikanischen Doppelkontinentes, das Sprache nicht nur mnemotechnisch oder über das Rebusprinzip, sondern bereits phonemisch abzubilden vermochte und dabei die morphosyntaktischen Strukturen der zugrunde liegenden Sprache unterstützte. Bei dem Schriftsystem der Azteken und den Quipu (oder Khipu) der Inka (ca. 1400 bis 1532) handelt es sich hingegen eher nicht um eine Vollschrift. Diese außerordentliche altperuanische Knotenschrift entwickelte sich vermutlich, schon vor der Eroberung ihres Reichs durch die Spanier, aus einer Methode zur numerischen Buchhaltung im Distributionssystem, zu einer umfassenderen mnemonisch-symbolischen Notationsform weiter. Die Quipu sollen auf jeden Fall für die Steuerrechnung im Inka-Reich benutzt worden sein. Jede Ebene entspricht demgemäß dem darüber geordneten Verwaltungsbezirk. Man kann folglich auf diese Art und Weise leicht die Steuersumme der darunter liegenden Bezirke ablesen. Es soll auch Quipu aus dem Mittleren Horizont (ca. 800) geben, die sich insofern unterscheiden, als keine Knoten geknüpft, sondern mit bunten Fäden farbige Umwicklungen vorgenommen wurden. Die Vermutung besteht, daß es sich um die Vorläufer der Inka-Quipu handelt, womit diese ursprünglich nicht von den Inka stammen würden. Im Ethnologischen Museum in Berlin sind allerdings davon keine vorhanden. Die logosyllabische Maya-Schrift, deren Schriftzeichen sich aus Logogrammen und Silbenzeichen zusammensetzt, wurde dagegen bereits schon in der Präklassik verwendet, wie Funde im guatemaltekischen Pyramidenkomplex von Las Pinturas belegen. Es fand sich dort auch eine Schrifttafel, die sich nach mehrfach abgesicherten Radiokarbon-Datierungen, laut Wissenschaftsjournal 6FLHQFH, als erstaunlich alt erwies: zwischen 200 und 300 vor Christus. Die Schriftzeichen von San Bartolo widerstanden allerdings bisher allen Entzifferungsversuchen. Sie sind hauptsächlich zu verschieden von den bereits bekannten, viel späteren Hieroglyphen, welche durch den phonetischen Ansatz von Juri Walentinowitsch Knorosow bereits 1952 prinzipiell entziffert wurden, die sich aber erst nach dem Tod von John Eric Sidney Thompson 1975 allmählich durchsetzte, der seine Publikation als marxistische Propaganda abtat. Die Rongorongo, die VSUHFKHQGHQ +|O]HU der Osterinsel (Rapanui), sind bis heute ebenfalls noch nicht entziffert und sollen nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. 'LHVFKULIWNXOWXUHOOH.RORQLVDWLRQ Da komplexe Reflexionsleistungen sinnbildlich nur im Geiste stattfinden und definitiv nicht im symbolischen Notationssystem ist obige These die Ausgangsbedingung eines dialektischen Dreiklanges. Da die syntaktisch-semantische Codeinterpretation die zyklisch-funktionale Ausgangsbedingung der Schriftkultur ist, impliziert sie dadurch einen hohen Prägungsfaktor. Sie ist also Ausdruck einer schriftkulturellen Kolonisation. Jedoch infolge des einseitigen und nichtkooperativen Kopplungscharakters der Schriftkommunikation und ihre formal offene Codestruktur ergibt sich eine prinzipiell unendliche algorithmische Tiefe. Somit ist jede mnemonisch-symbolische Notationsform für uns neuzeitliche Bewußtseinssubjekte immer auch ein kognitiv-transzendentaler Gliederungshort mit revolutionärem Charakter. Ergo dito ein Objekt der Befreiung. 4XHOOHQ ,QWHUQHW$EJHUXIHQ *URQHPH\HU, Sven: 'DV6FKULIWV\VWHPGHU0D\D URL: http://www.svengronemeyer.de/research/schrift.html Bearbeitungsstand: 05.07.2006. +XQULFKVH/DUD, Fidel-Sebastián: =XU2QWRORJLHGHU6FKULIWNXOWXU URL: http://www.stud.fernuni-hagen.de/q6820379/Schriftkultur.pdf Bearbeitungsstand: 03.09.2004. 0DDV, Utz, 0HKOHP, Ulrich: 6FKULIWNXOWXUHOOH$XVGUXFNVIRUPHQGHU,GHQWLWlWVELOGXQJEHL PDURNNDQLVFKHQ.LQGHUQXQG-XJHQGOLFKHQLQ0DURNNR URL: http://www.imis.uniosnabrueck.de/pdffiles/SRB%202%20Teil%201.pdf Bearbeitungsstand: 04.2005. 5RDFK, John: 2OGHVW.QRZQ0D\D0XUDO7RPE5HYHDO6WRU\RI$QFLHQW.LQJ URL: http://news.nationalgeographic.com/news/2005/12/1213_051213_maya_mural.html Bearbeitungsstand: 13.12.2005. &RGH['UHVGHQVLV URL: http://www.tu-dresden.de/slub/proj/maya/maya.html Bearbeitungsstand: 14.08.2006. /LWHUDWXU %|KPH, Hartmut: 9RP&XOWXV]XU.XOWXUZLVVHQVFKDIW=XUKLVWRULVFKHQ6HPDQWLNGHV .XOWXUEHJULIIV. In: %HFNPDQQ, Jan P. 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