I. Einführung

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I. Einführung
I.i. Allgemeine Einleitung
Die herrschende Hungersnot 1932/33 galt für lange Zeit als ein tabuisiertes
Thema in der ehemaligen Sowjetunion, und wurde fast nie in der
Geschichtsschreibung erwähnt. Deshalb wurde am meisten im Westen darüber
geschrieben und diskutiert, vor allem von ukrainischen Exil-historikern, die häufig
nur den ukrainischen Standpunkt betrachten.
Andere Gebiete der Hungersnot
1932/33 wurden nur oberflächlich erwähnt und die Darstellung bezog sich
hauptsächlich auf die Ukraine.
Demzufolge ist die Hungersnot 1932/33 auf
ukrainischen Gebieten ganz gut bekannt, während das der Fall bezüglich anderen
betroffenen Hungergebiete nicht ist. Da fehlen uns Informationen, die im Laufe
der Zeit auftauchen werden.1
Die Hungersnot 1932/33 in der Ukraine wird oft von ukrainischen Exilhistorikern als Genozid der ukrainischen Bevölkerung betrachtet. Das Leiden der
ukrainischen Nation während der Hungerkatastrophe wird damit im Rahmen von
Stalins Nationalitätenpolitik gestellt, die das Ziel der Vernichtung des
ukrainischen Nationalgefühls haben sollte. Indirekt wird damit ein Vergleich zu
dem Schicksal der Juden während des Nazi-Holocaust gemacht und es wird
betont, daß „Stalins“ Holocaust gegen die ukrainische Bevölkerung während der
Hungersnot 1932/33 genauso ein Verbrechen gegen die Menschheit war, wie
dasjenige gegen die Juden.
In folgender Arbeit werde ich mich deshalb mit der Frage der „Genozid“These und die herrschende Hungersnot 1932/33 in der Ukraine auseinandersetzen.
In diesem Zusammenhang werden dann zwei Perspektiven behandelt - auf der
einen Seite die Erklärung und Interpretation von Douglas Tottle und auf der
andern Seite wird die geführte Diskussion der sogenannten „Genozid“-Schule
erörtet. Diese zwei Perspektiven haben es gemeinsam, daß sie sich beide auf die
Hungersnot 1932/33 und zudem auf die „Genozid“-Diskussion beziehen. Ihre
1
Stephan Merl, War die Hungersnot von 1932-1933 eine Folge der Zwangskollektivierung der
Landwirtschaft oder wurde sie bewußt im Rahmen der Nationalitätenpolitik herbeigeführt? In:
2
Interpretation und Erklärungen dieses Ereignisses sind jedoch unterschiedlich und
weichen voneinander verhältnismäßig stark ab. Während Tottle die Thesen der
„Genozid“-Schule ablehnt und ihre ideologische Identität mit der faschistischen
Diskussion der 30-er Jahre darstellt, wird seitens der „Genozid“-Schule Tottles
Darstellung als kommunistische Propaganda verworfen und ihre eigenen Thesen
von ihnen als eine heilige Wahrheit betrachtet.
Die Arbeit ist so aufgebaut, daß am Anfang ein kurzer Überblick der
Hungersnot 1932/33 gegeben wird, indem einige Faktoren ans Licht gebracht
werden. Demnächst wird Licht auf Tottles Interpretationen und Erklärung der
Hungerkatastrophe geworfen. Schließlich wird dann die „Genozid“-Schule in
Nordamerika zur Diskussion gebracht, indem der Anfang der ukrainischen
Siedlung und die Gründung einer historischen Schule der ukrainischen Geschichte
dort erörtert wird. Dazu werden wir ein Beispiel dieser historischen Richtung
geben, nämlich Robert Conquest und sein neues Buch, „Ernte des Todes“. Am
Ende kommt es dann zu der zusammenfassenden Schlußbetrachtung.
Was die Literatur betrifft, wurden viele verschiedene Darstellungen und
Aufsätze benutzt, um ein klares Bild dieser Diskussion zu bekommen.
Sie
vertreten am meisten unterschiedlichen Meinungen, die man meines Wissens in
drei groben Argumentationslinien - nach vertretenden Positionen zu der
Hungersnot 1932/33 - einstufen kann: 1.) Mehr eine Position in die Richtung des
Marxismus, vertritt Tottle in seinem Buch, „Fraud, Famine and Fascism (...)“ eine
orthodoxe/sowjetische Position zu der Hungersnot, 2.) die Position von Stephan
Merl, Barbara Stein, Mark B. Tauger und Kondrashin, die die Hungersnot 1932/33
u.a. als eine Folge der verfehlten Kollektivierung sehen, und 3.) läßt sich die
Position der Anhänger der „Genozid“-Schule, um Robert Conquest und James
Mace erwähnen.
Natürlich gibt es dann einige Unterschiede innerhalb jeder
Argumentationslinie u.a., was Schwerpunkte und Argumentation betrifft, aber wie
schon gesagt, handelt es sich hier nur um eine grobe Einstufung, um einen
Überblick über die verschiedenen Positionen zu der Hungersnot 1932/33 in der
Guido Hausmann/Andreas Kappeler (Hg.), Ukraine:
Staates. Baden Baden 1993, S. 145-166, S. 148.
Gegenwart und Geschichte eines neuen
3
hier verwandten Literatur zu geben.
Die restlichen benutzen Darstellungen
werden dann z.T. im Laufe der Arbeit erörtert.
I.ii. Ablauf und Hintergrund der Hungersnot 1932/33: Ein kurzer Überblick
Im Jahre 1929 erschien der erste Industrialisierungsplan für das Jahrfünft
von 1928/29 bis 1932/33.2
Als Folge wurde jetzt der Weg der forcierten
Industrialisierung und damit verbundenen Kollektivierung eingeschlagen, aber
auch wurden im Laufe des Jahres die Überreste der sogenannten Neuen
Ökonomischen Politik (NEP) endlich beseitigt.3 Die Sowjetunion sollte in kurzer
Zeit auf das Niveau der fortschrittlichen Industrienationen im Westen gestellt
werden und ihre dauerhafte Rückständigkeit sollte jetzt schließlich beendet
werden. Als eine Säule dieser Umwandlung sollte die Landwirtschaft dienen und
mittels der Kollektivierungspolitik sollte ihre Produktivität gesteigert werden.4
Ab Sommer 1929, als die Kollektivierung in Gang gesetzt wurde, wurden
demzufolge Hunderte von Bauernhöfen in der Sowjetunion in Kolchosen
zusammengefaßt. Von Oktober bis Dezember 1929 schließen sich z.B. 2,4
Millionen Bauernhöfe zu Kolchosen zusammen - ungefähr 30.000 pro Tag, laut
Lorenz.5
Dies
zeigt uns die Geschwindigkeit dieses Prozesses der
Kollektivierung, die nicht mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Einklang zu
bringen war. Mithilfe der Peitsche wurden die Ziele der Kollektivierung erreicht
und man spricht in diesem Zusammenhang von einer Zwangskollektivierung. Die
Bauern hatten in meisten Fällen keine Wahl und sich dieser Zielsetzung der
Regierung entgegenzusetzten, konnte als „Kulakensabotage“ verstanden werden,
2
Richard Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion I, 1917-1945. Frankfurt am Main 1976, S.
168.
3
Ebenda. S. 176.
4
Dieser Punkt ist jedoch umstritten, in dem Sinne, daß kein Konsens über die Landwirtschaft als
eine Kapitalquelle für die Industrialisierung besteht. Vgl hier. Stephan Merl, Bauern unter Stalin.
Die Formierung des sowjetischen Kolchossystems, 1930-1941. Berlin 1990, S. 22-25.
5
Richard Lorenz, Sozialgeschichte, S. 194.
4
die eine schwere Strafe nach sich ziehen konnte. Die Vernichtung der Kulaken6
als Klasse - die Entkulakisierung auf dem Lande - war nämlich die andere Seite
der Kollektivierung, die am Ende des Jahres 1929 begann. Als Folge wurden
Hunderte von Bauernwirtschaften, die als Kulakenwirtschaften katagorisiert
wurden, enteignet und die Angehöriger dieser Höfe wurden entweder erschossen,
in Konzentrationsläger zusammengefaßt, oder umgesiedelt. 7
In der Ukraine wurden diese zwei Prozesse - die Kollektivierung und die
Entkulakisierung - ziemlich schnell durchgeführt. Der humusreiche Boden der
Ukraine und ihr gemäßigtes Klima, vor allem in den zentralen Gebieten, stellten
günstige Bedingungen für die Getreidebestellung her, dementsprechend wurde
dort auf die Durchführung der Kollektivierungspolitik besonderer Wert gelegt.8
Mit
der
Kollektivierung
verknüpft
waren
die
sogenannten
Getreideablieferungsquoten - d.h. jedes Kolchos mußte eine bestimmte Menge
seiner Getreideernte an den Staat abgeben. Diese Abelieferungsquoten wurden in
fast allen Fällen zu hoch gestellt und entsprachen oft nicht der Realität und der
Produktivität der Kolchosen.9 Als Folge konnten die Quoten fast nie voll erfüllt
werden und im Jahre 1931 kam es zu harten Repressionsmaßnahmen u.a. in der
Ukraine, um den Getreideplan für dieses Jahr zu erreichen.
Nach der
Beschaffungskampagne des Jahres 1931 blieb deshalb nur wenig Getreide in der
Kolchosen übrig und für die Frühjahrsaussaat 1932 fehlten 5% des benötigten
Saatguts.10 Trotz dieser Tatsache des Mangels an Saatgut für die Frühjahrsaussaat
1932 und demzufolge niedriger Ernte am Ende des Jahres, wurde die
Beschaffungskampagne in der Ukraine weitergeführt, um die nun etwas
verringerten Ablieferungsquoten zu erreichen.11 Durch diese Kampagne mußten
viele Bauern den Hungertod sterben, nicht nur in der Ukraine, obwohl sie dort
verhältnismäßig viel erleiden mußten, sondern auch z.B. im Schwarzerdegebiet, in
Der Begriff „Kulak“ ist in der Historiographie ein bißchen schwammig und besteht eigentlich
kein Konsens darüber, was dieser Begriff wirklich zum Inhalt hat. Hier wird der Begriff zur
Bezeichnung eines wohlhabenden Bauers verwendet. Vgl hier. Stephan Merl, Bauern unter Stalin,
S. 61-71.
7
Richard Lorenz, Sozialgeschichte, S. 192-194.
8
Barbara Stein, Die Hungersnot in der Ukraine 1932/33. Magisterarbeit an der Universität
Hamburg. Hamburg 1993, S. 19.
9
Ebenda. S. 55.
10
Ebenda. S. 63.
11
Ebenda. S. 73-74, 81-82.
6
5
dem Ural und an der Wolga, wo die Politik der Beschaffungskampagne ebenfalls
durchgeführt wurde. Eine der schlimmsten Hungersnöte in der Geschichte des
Russischen Reiches bzw. der Sowjetunion war die 1932/33 herrschende
Hungersnot und wurde sie u.a. durch den hohen Getreideabzug von den Bauern
verursacht - ein Faktor, um den in der Historiographie ein weitreichender Konsens
besteht, laut Barbara Stein.
Um die genaue Zahl der Opfer und die
Interpretationen der Entstehung und Ziele der Hungerkatastrophe 1932/33, die
Absicht und Rolle der Führung um Stalin während dieser Zeit u.s.w. besteht
demgegenüber keine Übereinstimmung.12 Da kommen verschiedene Perspektiven
vor, wie schon oben erwähnt. Fest steht jedoch, daß während der Hungerjahre
1932/33 viele Menschen Hunger erleiden mußten - Hunger, den keine Darstellung
der Hungersnot 1932/33 wiederspiegeln kann.
12
Ebenda. S. 1.
6
II.
Tottles Erklärung für die Hungersnot 1932/33 und seine
Interpretation für die Entstehung der „Genozid“-These
II.i. Die Geburt eines Mythos
Douglas Tottle, der eng mit der kanadischen Gewerkschaftsbewegung
verbunden ist, stellt die Geschichtsschreibung über die Hungersnot 1932/33 in
einen breiten Kontext. Von Hitlers Drittem Reich bis zur Harvard der 90-er Jahre
kann die Diskussion über die Hungersnot 1932/33 in der Ukraine und damit die
verknüpfte Entstehung der „Genozid“-These verfolgt werden - worauf der Titel
seines Buches hindeutet.13
Die lange Kette dieser Diskussion muß laut ihm
deshalb im Zusammenhang mit dem politischen Klima jeder Zeit eng betrachtet
werden.
Dementsprechend hat das politische Klima der Reagan-Ära eine
„Renaissance“ dieser Diskussion in Nordamerika verursacht - die seit einer langen
Zeit im Schatten gelegen hatte - und wurde das Thema der Hungersnot 1932/33 in
den 80-er Jahren erneut diskutiert, so Tottle. Den Anlaß seines Buches war diese
erneute „famine-genocide campaign“der Reagan-Ära , die man folgendermaßen
laut ihm kennzeichen kann:
„While movies like Rambo and Red Dawn occupy the fantasy phase of this political
assault on the Western cultural intellect, the exhumation of the „Ukrainian faminegenocide“ attempts to carry the assault into the pseudo-historical realm. The campaign
further serves to distract attention from recent investigations of war crimes committed by
Nationalist
collaborators
[d.h.
diejenigen
Exil-Ukrainer,
die
den
deutschen
Besatzungstruppen während ihrer Okkupation der Ukraine 1941-1944 halfen. JIK] now
resident in the West. (...) Cold War confrontation, rahter than historical truth and
understanding, has characterized the famine-genocide campaign.“14
Tottle betrachtet deshalb die erneute „Genozid“-Diskussion als einen Teil einer
größeren politischen Zielsetzung, die als eine „Kampagne“ ihren Zweck in der
Vertuschung der Verbrechen der Exil-Ukrainer während der Nazi-Besatzung hat.
Die Reagan-Ära als eine politische Wende und eine tiefe Abweichung von
der Carter-Ära, die den Anfang für härtere Maßnahmen gegen die Sowjetunion
13
Douglas Tottle, Fraud, Famine and Fascism. The Ukrainian Genocide Myth from Hitler to
Harvard. Toronto 1987.
14
Ebenda. S. 3.
7
und das Ende des politischen Tauwetters bedeuten soll, schätzt Tottle als die
Hinwendung zur sogenannten „Revisionistischen“ Schule ein - zu der vor allem
ein Teil der amerikanischen Historiker „des Kalten Krieges“ gehört. Laut dieser
Schule - im Gegenteil zu der „Orthodoxen Schule“ - bedeutete nämlich der
Anfang der Reagan-Ära eine erneute Verschärfung „des Kalten Krieges“ und das
Ende der vorherigen Dètente.15
Der Anspruch auf eine „objektive“
Geschichtsschreibung, die von dem Standpunkt der beiden Großmächte während
„des Kalten Krieges“ gehalten werden konnte, hat auch die „Revisionistische“
Schule geprägt.
Diese Zielsetzung oder Richtung der Geschichtsschreibung
befinden wir auch bei Tottle, die manschmal über die Grenze der Objektivität
betrieben ist, wie folgendes Zitat von Tottles Buch es deutlich macht - womit er
die „Orthodoxe“ Einsicht kritisiert:
„Those in positions of power in capitalist countries see socialism as a threat to their
continued profit and privilege. Both to undermine support of a socialist alternative at
home, and to maintain a dominant position in international economic and political
relationship, all manner of lies and distortions are employed to cast the USSR in as
negative a light as possible. Stereotypes and caricatures have come to dominate many
people’s understanding of Soviet History and current reality.“16
Diese starke pro-sowjetische Sympathie und sozialistische Haltung, die hindurch
sein ganzes Buch spürbar ist, hat der Exil-Historiker und Hauptvertreter der
„Genozid“-These, James E. Mace, als eine kommunistische Propaganda
beschrieben, die durch die Sichtweise der Kommunistischen Partei Kanadas
beeinflußt ist. Mace betrachtet Tottle selbst als „einen bewußten Stahlarbeiter“
und sein Buch „Fraud, Famine and Fascism (...)“ wird als eine Propaganda-Artikel
bezeichnet.17
In dieser Hinsicht übertreibt Mace ein bißchen und als eine
Schlüsselrolle in dieser Diskussion fehlt ihm ein neutraler Überblick. Tatsächlich
wird von Tottle eine bestimmte politische Richtung vertreten, wie z.B. schon oben
15
Vgl. Walter LaFeber, America, Russia, and the Cold War, 1945-1992. New York 1993, S. 286328 (das Kapitel über die Reagan-Ära). Dieses Buch von LaFeber steht als ein gutes Beispiel für
diese oben erwähnte historische Richtung -„Revisionismus“- da, die auch bei Tottle spürbar ist.
16
Douglas Tottle, Fraud, Famine and Fascism, S. 1.
17
James E. Mace, Zur Aktuellen Diskussion über die ukrainische Hungersnot von 1932/33. In:
Guido Hausmann/Andreas Kappeler (Hg.), Ukraine: Gegenwart und Geschichte eines neuen
Staates. Baden Baden 1993, S. 126-144, S. 126.
8
erwähntes Zitat beweist, aber sein Buch als eine kommunistische Propaganda zu
verstehen, ist meines Erachtens falsch, die mehr auf Maces eigene politische
Richtung und Subjektivität deutet.
Auch wird damit die ideologische
Unterwerfung dieser Diskussion klar, indem Vorwürfe über Subjektivität gemacht
werden - u.a. von Tottle selbst gegen Mace18 - und bestimmte politische Richtung
von beiden Seiten eingeschlagen wird.
Jedoch muß betont werden, daß Tottles
Buch keine „objektive“ Darstellung anbietet, aber einige neue Perspektiven ans
Licht bringt und somit als eine harte Antwort gegen die Vertreter der „Genozid“These zu sehen ist.
Was die wissenschaftliche Qualität dieser Darstellung von Tottle betrifft,
ist vieles da mangelhaft, wie der Fall ebenso mit den Darstellungen von den
Vertretern der „Genozid“-These ist.
Die Quellen für einige wichtige
Behauptungen sind z.B. oft Zeitungsaufsätze, die nicht objektive und Intressenlose
Darstellungen bieten.
So ist es der Fall z.B. mit dem Arbeiterblatt, „Daily
Worker“, wovon Tottle 12mal Belege für seine Behauptungen benutzt. Andere
„subjektive“ Zeitungen werden auch von Tottle häufig zitiert z.B. „The Nation“ ohne alle kritische Überlegungen. Aber wo liegen die Wurzeln dieser schon
erwähnten „Genozid“-These laut Tottle?
Wie schon erwähnt führt Tottle die Wurzeln der „Genozid-Kampagne“ auf
der 30-er Jahre zurück.
In diesem Zusammenhang spielt ein Mann, namens
Thomas Walker eine zentrale Rolle, der in Verbindung mit der Zeitungsfirma
Hearst Press für die Grundlage dieser These verantwortlich sein soll. Dieser
Mann reiste in die Sowjetunion im Jahre 1934 und kurz nachher erschienen einige
Aufsätze von ihm über die „ukrainische“ Hungersnot 1932/33 - in den Zeitungen
der Hearst-Press-Firma - die eine sehr schlimme Lage in der Ukraine während der
Hungersjahre 1932/33 beschrieben.19 Jedoch sind Walkers Aufsätze per se nicht
der schlimmste Beitrag zu der heutigen „Genozid“-Diskussion, sondern die damit
verknüpften Photographien, die die schreckliche Lage während der Hungerjahre
1932/33 in der Ukraine abbilden sollen, so Tottle. Diese Photographien haben im
18
Douglas Tottle, Fraud, Famine and Fascism, S. 57.
Ebenda. S. 5.
19
9
Laufe der Zeit für die Vertreter der „Genozid“-These einen großen Stellenwert
gewonnen, da sie ihnen als eine viel zitierte Quelle für ihre Thesen und
Behauptungen gedient haben.20 Jedoch handelt es sich in vielen Fällen, was die
Photographien betrifft, um Fälschungen, die noch heutzutage, wie damals, benutzt
werden. Zum Beispiel wies Tottle darauf hin, daß einige von ihnen sich nicht auf
die Ereignisse der herrschenden Hungersnot 1932/33 in der Ukraine beziehen,
sondern auf frühere Ereignisse, u.a. auf die Hungersnot in der Sowjetunion
1921/22. Trotzdem werden diese Photographien noch heute in Verbindung mit
Darstellungen über die Hungersnot 1932/33 in der Ukraine benutzt. Außerdem
wird in diesem Zusammenhang das Buch von Dr. Ewald Ammende „Muß
Rußland Hungern?“ (1935) - auf englisch, „Human Life in Russia“ - erwähnt,
worin die Hungersnot 1932/33 in der Sowjetunion bezeichnet wird. Laut Tottle
kommen da auch einige Photofälschungen vor und vor allem befinden sich in der
englischen Fassung viele Photographien, die mit denen, die von Walker benutzt
wurden, identisch sind.21 Diese Identität der Photographien läßt sich auf einen
gemeinsamen Ursprung zurückführen, so Tottle; die Spur führt zu einem Dr.
Ditloff, der für die Verbreitung dieser Photographien verantwortlich gemacht
wird; nicht nur Walker und Ammende sollen diese Photographien erhalten haben,
sondern auch das „Nazi“-Parteiorgan, der Voelkischer Beobachter.22 Ditloff steht
dann im Zentrum dieser „Photo-Fälschungs-Kampagne“ und von ihm laufen die
Fäden zu den anderen, die zu einem gemeinsamen „anti-sowjetischen“
Intressenkreis gehörten.
In dieser Hinsicht führt Tottle seine Argumentation
weiter und er stellt enge persönliche Beziehungen zwischen den Photobenutzern
her. So sollte der Arbeitgeber von Thomas Walker, William Randolph Hearst damaliger „Americas NO. One Fascist“ laut Tottle - eng mit dem Dritten Reich
verknüpft sein. Er besuchte Deutschland im Jahre 1934 und traf dort u.a. Ernst
Hanfstaengel - Leiter des Auslandspresseamtes - und Adolf Hitler selbst. Als
Resultat seines Besuches wurden einige Verträge unterschrieben und nach Tottles
Hauptquelle, „The Daily Worker“ (Februar 1935), waren einige von diesen
Verträgen Millionen Reichsmark wert. Dann, kurz nach seiner Deutschlandsreise
20
Ebenda. S. 7.
Ebenda. S. 25.
22
Ebenda. S. 34-35.
21
10
begannen Aufsätze in der Hearst-Presse über die „ukrainische“ Hungersnot
1932/33 zu erscheinen, die sich im Zusammenhang mit seinem Besuch nach
Deutschland erklären lassen, so Tottle.23 Hearst „Kampagne“ in Amerika und
damit das verknüpfte Buch von Ammende wird deshalb im Rahmen einer
politischen Zielsetzung gestellt, die sich folgendermaßen gegen die Sowjetunion
richtete: „(...) to isolate and bring pressure on the Soviet union, to discredit and
reverse socialist development.“24
Tottles Diskussion über die Beziehungen der Amerikaner Hearst zu dem
Dritten Reich wird jedoch ziemlich eindeutig geführt. Sie dient hauptsächlich
dem Zweck die Intentionen der „Genozid“-Schule zu entdecken - Propaganda
gegen die Sowjetunion - und ihre damit verknüpfte ideologische Richtung Nazismus/Faschismus - zu zeigen.
Damit wird die größte Schwäche dieser
Theorie ans Licht gebracht und darauf hingedeutet, daß die heutige „Genozid“Schule ihre Ahnen zu dem Milieu des Nazismus/Faschismus der 30-er Jahre
zurrückführen kann. Jedoch vereinfacht Tottle die Realität damit ein bißchen.
Wenn man z.B. nur daran berücksichtigt, daß während der 30-er Jahre viele
Staats- und Geschäftsmänner Deutschland besuchten und sogar Gespräche mit
Personen des innersten Kreises um Hitler führten - ohne gleichzeitig als
Kollaborateur des Nazismus gestempelt zu werden - dann kommt Hearsts Besuch
nach Deutschland und sein Gespräch mit Hanfstaengel und Hitler nicht
befremdlich vor. Dazu kommt, daß Hearst selbst als Geschäftsmann und Besitzer
eines Presseimperiums in Amerika natürlich von obersten Staatsmänner des
Dritten Reiches emfangen wurde, die versuchten, auf ihn Einfuß auszuüben.
Außerdem entsprechen Tottles Belege für seine oben erwähnten Behauptungen
gegen Hearst auch nicht höherem Objektivitätsniveau und stammen größtenteils
aus der geführten sozialistischen Diskussion der 30-er Jahre, die ohne Kritik und
Bewertung von Tottle benutzt werden.
Zum Beispiel werden noch einmal
Aufsätze aus dem „Daily Worker“ zitiert und das Buch von John Gunther, „Inside
23
Ebenda. S. 14-15.
Ebenda. S. 35.
24
11
Europe“25 (1936³) wird z.B. als Beweis für Hearsts Unterstützung Mussolinis
verwendet, um u.a, auf seine faschistische Vergangenheit hinzuweisen.26
Tottles Argumentation über die „Genozid“-Diskussion der 30-er Jahre
wird im Rahmen der sozialistischen Interpretation geführt und spiegelt meines
Erachtens die ideologischen Konflikte der 30-er Jahre - Faschismus/Nazismus vs.
Sozialismus - wieder, die sich besonders nach der ankündigten ideologischen
Richtung der Kollektiven Sicherheit von der „Komintern“ im Juli 1935
verschärften.27 Ein Vergleich dieser Diskussion der 30-er Jahre zu der heutigen
„Genozid“-Schule ist meiner Meinung nach falsch. Hier handelt es sich um zwei
verschiedene Epochen und dementsprechend ist das verschärfte politische Klima
der 30-er Jahre nicht vergleichbar zu den 80-er Jahren der Reagan-Ära. Außerdem
kann man nicht heutige Historiker der „Genozid“-Schule direkt - d.h. im
ideologischen Sinne - mit dem Milieu des Faschismus/Nazismus verknüpfen.
Jedoch, was einen Teil des Quellenmaterials - z.B. die oben erwähnten
Photographien - betrifft, kann man eine indirekte Verknüpfung feststellen, da
diese Photographien noch heutzutage benutzt werden - z.B. in dem 1986
25
John Gunther, Inside Europe. New York/London 1936. In diesem Buch wird eine Rundreise
durch das politische Spektrum Europas vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gemacht. Die
Reise beginnt in dem Dritten Reich und wird davon u.a durch Spanien und Italien bis zum dem
roten Imperium im Osten geführt. In jedem bescuchten Land wird die politische/wirtschaftliche
Lage geschildert und das Licht wird insbesonderes auf die Führungsspitze geworfen, indem einige
Persönlichkeiten behandelt werden. Zum Beispiel wird Hitlers Einstellung zu Frauen oder Stalins
persönliches Leben zum Thema gebracht. Dieses Buch ist in einem journalistischen Stil
geschriben, wie allein schon die genannten Themen zeigen und meine Erachtens nicht besonderes
gehaltvoll. Wie Gunther selbst erwähnt, werden nur wenige Quellen/Darstellungen verwendet, er
verläßt sich mehr auf Zeugenberichte oder eigene Erfahrung (Vgl dazu. S. 457). Auch wird
meines Erachtens eine bestimmte politische Richtung - sozialistische Einsicht - vertreten, die
natürlich die Objektivität dieser Darstellung zunichte macht. Dies wird besonders klar durch
folgendes Zitat von Gunthers Buch: „The chief point about the famine [1932/33] is not - it might
be said - that several million people died. (...) The point is that the Soviet Government was
engaged in a tremendous, epochal struggle to socialize the land, for the eventual good of the
peasants; the peasants, however, resisted and - terribly enough - suffered. To balk the government,
they refused to harvest grain. Therefore they did not have enough to eat. And died.“ (Siehe S.
415.). Hier wird die sowjetische orthodoxe Geschichtsbetrachtung der Hungersnot 1932/33
vertreten - worin die Schuld für die Hungersnot 1932/33 bei den Bauern lag. Zudem kommt eine
große Begeisterung für die damalige sowjetische Industrialisierung vor - ohne die Opfer dieser
Umwandlung zu berücksichtigen. Das Buch von Gunther wies dann meines Erachtens deshalb
mehr auf das sozialistische Milieu der 30-er Jahre hin - eine Schutzmaßnahme gegen die Gefahr
des Faschismus/Nazismus in Europa - und als solches kann man es nicht für wichtige
Behauptungen benutzen, wie es der Fall bei Tottle ist.
26
Douglas Tottle, Fraud, Famine and Fascism, S. 13-15.
27
Geoffrey Roberts, The Soviet Union and the Origins of the Second World War. Russo-German
Relations and the Road to War, 1933-1941. London 1995, S. 20.
12
erschienen Buch von Robert Conquest, „Ernte des Todes“. Im Laufe der Zeit
haben
sie
dann
ihre
Wurzeln
verloren
und
durch
einen
gewissen
Säuberungsprozeß der Zeit von heutigen Historikern als ganz authentisch
betrachtet - ohne ihren Ursprung zu berücksichtigen oder ihre Richtigkeit
auszuwerten.28
Aber wie betrachtet Tottle die Hungersnot von 1932/33 und
welche alternative Erklärung zu der „Genozid“-Schule bietet er?
II.ii. Die Erklärung der Hungersnot 1932/33
In seiner Erklärungsmodell zu der Hungersnot 1932/33 werden von Tottle
drei
entscheidende
Faktoren
in
den
Vordergrund
gezogen,
die
sich
folgendermaßen beschreiben lassen: „Soviet mistakes and excesses, drought and
the organized campaign of sabotage and resistance resulted in the famine of 19321933.“29 Damit werden alle These betreffend der absichtlichen Vernichtung der
ukrainischen Nation abgelehnt und es wird mehr Gewicht auf natürliche und
unkontrollierbare Faktoren, die die Hungersnot 1932/33 auslösten, gelegt.
Dementsprechend werden auch z.B. von den Historikern Stephan Merl30 und
Mark B. Tauger31 oben erwähnte Faktoren betont - obwohl sie im wesentlichen
von Tottles Interpretationen abweichen - die die Ernte des Jahres 1932
verringerten und demzufolge den Ausbruch der Hungersnot 1932/33 u.a.
verursachten. Außerdem wird von Tauger und Merl die Ansicht vertreten, daß
eine
verfehlte
Kollektivierung,
die
in
Verbindung mit
der forcierten
Industrialisierung in Gang gesetzt wurde, der Hauptfaktor für den Ausbruch der
Hungersnot 1932/33 ist und ihre Verantwortung bei der Führungsspitze um Stalin
liegt.32 Diese Interpretation ist nicht spürbar bei Tottle, obwohl er einige Fehler
28
Vgl. John A. Getty, Origins of the Great Purges. The Soviet Communist Party Reconsidered,
1933-1938. London 1985, S. 211-220.
29
Douglas Tottle, Fraud, Famine and Fascism, S. 96.
30
Vgl. Stephan Merl, War die Hungersnot von 1932-1933 eine Folge der Zwangskollektivierung
der Landwirtschaft oder wurde sie bewußt im Rahmen der Nationalitätenpolitik herbeigeführt?, S.
149-152.
31
Vgl. Mark B. Tauger, The 1932 Harvest and the Famine of 1933. In: Slavic Review, 50 (1991),
S. 70-90, S. 84. Tauger vertritt die Position, daß die Ernte des Jahres 1932 viel weniger war, als
früher geschätzt wurde, die sich u.a. auf ökonomische und politische Faktoren erklären läßt (Vgl
hier Tauger, S. 84).
32
Vgl. Mark B. Tauger, The 1932 Harvest and the Famine of 1933, S. 89. Stephan Merl, War die
Hungersnot von 1932-1933 eine Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft oder wurde
sie bewußt im Rahmen der Nationalitätenpolitik herbeigeführt?, S. 146-147.
13
während des Kollektivierungprozesses nicht ausschließt.33 Die Kollektivierung
und
die
verknüpfte
Industrialisierung
wird
als
„eine
Revolution
der
Landwirtschaft“ bezeichnet, indem sie die dauerhafte Rückständigkeit der
sowjetischen Agrargesellschaft überwindete und den Weg der Modernisierung
ebnete.34
Angesichts des „Erfolges“ dieser Umwandlung der sowjetischen
Gesellschaft in der 30-er Jahre - Aufbau einer modernen Industriegesellschaft und
eine starke „Verwurzelung des Sozialismus“ - sind dann - laut Tottle - die
Bevölkerungsverluste zu verstehen. Ohne diese zwei Prozesse - Kollektivierung
und Industrialisierung - wäre die sozialistische Entwicklung gescheitert, besonders
angesichts der damaligen Lage der Sowjetunion - Nationalsozialismus im Westen
und japanischer „Imperialismus“ im Osten, zwei Systeme, die nur auf die richtige
Gelegenheit warteten, die Sowjetunion überzufallen.35 Dennoch wird von Tottle
betont, daß der Krieg gegen das Dritte Reich nie hätte gewonnen werden können,
ohne die Überwindung der Rückständigkeit der sowjetischen Gesellschaft wie
folgendes Zitat uns zeigt:
„The social reorganization of Soviet industry and
agriculture, so despised by right-wing emigres and capitalists alike, proved to be
Europe’s sucessful bulwark against Hitler’s war machine.“36
In dieser Hinsicht entspricht dann Tottles Interpretation der Hungersnot
1932/33 meines Erachtens der orthodoxen Sehweise, die am meisten von
sowjetischen Historikern vertreten wurde/wird.
Da spielen Begriffe wie
„feindliche Einkreisung“, „Rückständigkeit der Gesellschaft“ und „Aufbau des
Sozialismus“ eine große Rolle - die sich, wie wir gesehen haben in Tottles
Darstellung wiederspiegeln.37
Diese Einsicht kommt auch deutlich in seiner
Behandlung über die Rolle der „Kulaken“ für den Ausbruch der Hungersnot
1932/33 vor.
Es wird darauf gedeutet, daß die „Sabotage“ der Kulaken -
Vernichtung ihrer eigenen Zugtiere und des Inventars - die Ernte des Jahres 1932
verringerte und als Folge die Hungersnot 1932/33 verursachte.
Dies ist im
gewissen Sinne richtig, aber damit wird von Tottle nur die Hälfte erwähnt. Die
33
Douglas Tottle, Fraud, Famine and Fascism, S. 95-96.
Ebenda. S. 92-93.
35
Ebenda. S. 98.
36
Ebenda. S. 99.
37
Vgl. Stephan Merl, Kollektivierung und Bauernvernichtung. In: D. Geyer (Hg.), Die
Umwertung der sowjetischen Geschichte. Göttingen 1991, S. 103-131, S. 103-131.
34
14
sogenannte „Selbstvernichtungswelle“ der Kulakenwirtschaften und anderen
mittleren Bauernwirtschaften wurde nämlich als Folge der Kollektivierung bzw
die Entkulakisierung durchgeführt. Aus Angst als Kulak kategorisiert zu werden,
versuchten die mittleren Bauern durch „Selbstvernichtung“ ihrer Zugtiere und des
Inventars ihre Wirtschaften zu verringern. Demgegenüber führten diejenigen, die
als Kulaken kategorisiert wurden, als Protest gegen die Verstaatlichung ihres
Eigentums durch die Kollektivierung die „Selbstvernichtung“ ihres Inventars
durch.
Die Hungersnot 1932/33 läßt sich deshalb auf eine verfehlte
Kollektivierung zurückführen, die eine Kette von Faktoren auslöste.38
Die
„Sabotage“ der Kulaken wird weiterhin als Straftat betrachtet und Tottle vermutet,
daß die Kulaken damals keine Sympathie ihrer Mitmenschen erwarten konnten.
Dementsprechend wird bei Tottle ihr Schicksal - als Folge der Entkulakisierung nur oberflächlich erwähnt; in seinem Text ist nur zu entnehmen, daß einige
Kulakenfamilien evakuiert wurden - aber die massenhafte Vernichtung der
Kulaken wird verschwiegen.39 Durch diese Beispiele wird deshalb die von Tottle
vertretende Position klar, die eine alternative Perspektive betreffend der Erklärung
der Hungersnot 1932/33 zu der „Genozid“-Schule anbietet.
38
Vgl. Richard Lorenz, Sozialgeschichte, S. 190-191, 200-201.
Douglas Tottle, Fraud, Famine and Fascism, S. 92-94.
39
15
III. Die Historiographie der „Genozid“- Schule in Nordamerika
über die herrschende Hungersnot 1932/33 in der Ukraine
III.i.
Die
Gründung
einer
historischen
Schule
in
Nordamerika:
Entwicklungsphasen und Gestalt
Mit der ersten Auswanderungswelle aus der West-Ukraine am Anfang
dieses Jahrhunderts in die neuen Welt - vor allem nach Nordamerika - begann die
Siedlung der Ukrainer ihre Wurzeln in Amerika zu schlagen.
Die ersten
Emmigranten in Amerika stammten größtenteils aus dem Bauerntum der WestUkraine, die auf Suche nach besseren Lebensbedingungen in der neuen Welt ihre
Heimat verließen.
Bis zu dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wanderten
deshalb 420-500.000 Ukrainer nach Nordamerika ein.
Außerdem wanderten
einige nach Brasilien ein, aber wegen schlechteren Rahmenbedingungen dort
wurde ihre Anzahl verhältnismäßig klein im Vergleich zu Nordamerika.40
Während die erste Auswanderungswelle, die bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkrieges andauerte, mehr wegen sozio-ökonomischen Gründen und am
stärksten von West-Ukrainer betrieben wurde, wurde die zweite Welle während
der Zeit zwischen den Weltkriegen mehr von politischen Faktoren und geringeren
Anzahl
von
Emmigranten
geprägt;
die
große
Depression,
die
die
Emmigrantquoten nach Nordamerika verringerte, und das Scheitern der
ukrainischen Volksrepublik im Jahre 1920 trugen hauptsächlich dabei. Die zweite
Einwanderungswelle wurde auch durch die Politisierung des Klimas unter den
früheren Emmigranten geprägt, die u.a. von den neuen nationalorientierten
Einwandern ausgelöst wurde.
Als Folge wurden zum Beispiel ukrainische
Gesellschaften gegründet. In den Vereinigten Staaten wurde die „Organization for
the Rebirth of Ukrainian Statehood“ (ODWU) und in Kanada die „Ukrainian
National Union „(UNO) ins Leben gerufen.41
Die letzte Auswanderungswelle der Ukrainer löste dann der Umbruch nach
dem Zweiten Weltkrieg aus. Hier handelte es sich am meisten um sogenannte
„Displaced persons“ - d.h. Menschen, die infolge des Krieges aus ihrer Heimat
40
Oerst Subtelny, Ukraine: A History. Toronto 1991, S. 538-550.
Ebenda. S. 553.
41
16
vertrieben wurden. Den meisten wurden dann im Laufe der Zeit eine neue Heimat
gegeben; eine verhältnismäßige große Anzahl der Emmigranten ließ sich
in
Nordamerika nieder.42
Im Zuge dieser dreiphasigen Einwanderungswellen der Ukrainer nach
Nordamerika, die durch verschiedene Umständen ausgelöst wurden, hat die
Anzahl von Menschen ukrainischer Herkunft dort zugenommen. Heutzutage
wohnen deshalb fast 1.5 Million von Menschen ukrainischer Herkunft in
Nordamerika, die den größten Anteil der Ukrainer außerhalb der Ukraine
ausmachen.43 In Nordamerika werden deshalb mit Hinblick auf die Anzahl dort
lebenende Ukrainer ein großer Teil der kulturellen Eigenschaften der Ukraine
bewahrt und es werden Forschungen betrieben, die u.a. durch Spenden finanziert
werden. In diesem Zusammenhang hat dann die Geschichtsschreibung vor allem
viel Aufmerksamkeit bekommen und man kann sagen, daß in Nordamerika die
Geschichte der Ukraine sogar mehr betrieben wurde als in der Ukraine selbst, hinsichtlich einigen Themen und Ereignissen der ukrainischen Geschichte, die bis
zur jüngsten Zeit in der sowjetischen Ukraine tabuisiert blieben.
Mit der Einrichtung in den 70-er Jahren von drei Lehrstühlen an der
Harvard-Universität für ukrainische Geschichte und demzufolge die Entstehung
der bedeutenden Forschungszentren, wie das „Ukrainian Research Institute“ an
der Harvard-Universität (HURI) und das „Canadian Institute of Ukrainian
Studies“ (CIUS) in Edmonton, wurde der Grund für die ukrainische
Historiographie in Nordamerika gelegt.44 Die Historiker Omeljan Pritsak und
Ivan L. Rudnytsky spielten während dises Anfangsprozesses der Gründung einer
historischen Schule für ukrainische Geschichte in Nordamerika eine wichtige
Rolle und der erstgenannte hatte als erster den Hrusevskyi-Lehrstuhl für
ukrainische Geschichte an der Harvard-Universität inne.
Mit ihrer Initiative
wurde dann der Weg für die späteren Generationen von Historikern der
ukrainischen Geschichte geebnetet und die Entwicklung einer ukrainischen
42
Ebenda. S. 557.
Ebenda. S. 562-563.
44
Vgl. Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine.
Subtelny, Ukraine: A History, S. 562, 564.
43
München 1994.
S. 12. Oerst
17
Historiographie in Nordamerika in Gang gesetzt.45 Zudem hat dann im Laufe der
Zeit die Geschichte der Ukraine viel Raum an den Universitäten in Kanada
bekommen u.a. in Toronto und Winnipeg, die von dem Staat - anderes als es der
Fall in den Vereinigten Staaten ist - finanziert werden.46 Außerdem werden in
Nordamerika einige Zeitungen, die sich mit der Geschichte der Ukraine
beschäftigen, herausgegeben. In erster Linie ist die ukrainischsprachige Zeitung,
Ukrajinskyi Istoryk (UI) zu benennen. Dazu werden von HURI der „Harvard
Ukrainian Studies“ und von CIUS „Journal of Ukrainian Studies“ herausgegeben,
in denen häufig Beiträge mit historischen Themen erschienen.47 Aber welche
Gestalt hat die betriebene Historiographie für die Geschichte der Ukraine in
Nordamerika genommen?
Die Tatsache der Staatenlosigkeit - bis zum Jahre 1991 existierte der
ukrainische Nationalstaat per se nicht, sondern gehörte zu einem Teil der
Sowjetunion - und der getrennten Geschichtsschreibung der ukrainischen
Geschichte - auf der einen Seite in der Ukraine und auf der anderen Seite in
Nordamerika betrieben - hat sich besonderes bei ukrainischen Historikern in der
Diaspora wiedergespiegelt.
Dort beschäftigten sich die meisten mit der
traditionellen Geschichte „von oben“ und die Geschichte „von unten“ trat in den
Hintergrund. Diese Betonung auf politische Geschichte hing - laut Subtelny damit
zusammen,
Selbstbestimmung
eine
historische
zu
finden,
Begründung
und
für
dennoch
geschichtwissenschaftliche Interpretationen anzufechten.48
die
die
ukrainische
sowjetische
Zudem wurde auch
„ein Heimatfrontkrieg“ in Nordamerika geführt, in dem Sinne, daß die Exilhistoriker auf die „russozentrische“ westliche Historiographie - d.h. eine
unteilbare Sicht ostslawischer Geschichte - reagieren mußten, so Subtelny.49
Jedoch werden jetzt mit der Entstehung eines unabhäniges Staates in der Diaspora
Themen der Sozialgeschichte ans Licht gebracht, insbesondere von der jüngeren
Generation von Historikern. Der wissenschaftliche „Krieg“ zwischen den zwei
45
Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, S. 12.
Oerst Subtelny, Ukraine: A History, S. 564.
47
Ebenda. S. 364.
48
Orest Subtelny, Die gegenwärtige Situation der ukrainischen Historiographie: Ein Überblick. In:
Guido Hausmann/Andreas Kappeler (Hg.), Ukraine: Gegenwart und Geschichte eines neuen
Staates. Baden Baden 1993, S. 357-369, S. 361, 352.
46
18
Schulen in der neuen und in der alten Welt hat sich dann auch zu einer
Kooperation verwandelt.50
Was einige Themen betrifft, so hat die herrschende Hungersnot 1932/33 in
der Ukraine von ukrainischen Historikern in Nordamerika im Laufe der Zeit viel
Aufmerksamkeit erhalten. Viele damit verknüpften Darstellungen und Quellen am meisten Zeugenberichte der Überlebenden der Hungersnot - wurden
veröffentlicht.
Hier
läßt
sich
vor
allem
die
zweibändige
Zeugenberichtssammlung, „The Black Deeds of the Kremlin“, erwähnen, die im
Jahre 1953 und 1955 erschien. Diese Zeugenberichtssammlung wird häufig von
den Vertretern der „Genozid“-Schule verwendet als Beleg für ihre Behauptungen.
Jedoch entspricht diese Quelle nicht wissenschaftlichen Maßstäben, indem die
Grenzen der Objektivität mehrmals überschritten werden.51 Zudem handelt es
sich hier um Zeugenberichte, die eine persönliche Erfahrung beschreiben, und
damit von einer persönlichen Meinung/Interpretation des Zeugen gefärbt sind. Als
solche ist deshalb ihre Verwendbarkeit für eine historische Darstellung begrenzt,
und nur wenig kann davon verallgemeint werden.52 Dieses ist auch der Fall mit
mehreren verwandten Quellen der „Genozid“-Schule, die die wissenschaftliche
Qualität
ihrer
Historiographie
Darstellungen
der
zunichte
„Genozid“-Schule
macht.
nicht
Allerdings
immer
die
nimmt
Gestalt
die
einer
wissenschaftlichen und neutralen Forschung an. Hier spielen meines Erachtens
emotionelle und vor allem politische Faktoren eine große Rolle, indem eine
Rechtfertigung für die Forderungen nach Autonomie des ukrainischen Volkes
gemacht wurde. Die Hungersnot 1932/33 als einen „Holocaust“ oder „Genozid“
an der ukrainischen Bevölkerung zu bezeichnen hat dann in diesem
Zusammenhang den Zweck eine Sympathie der Welt für diese Anstrengungen für
einen selbständigen Staat der Ukraine zu erwecken, die vergleichbar zu der
Gründung des jüdischen Staates nach dem begangenen Holocaust des Dritten
Reiches an den Juden Europas sein soll. Im nächsten Abschnitt wird deshalb die
49
Ebenda. S. 356.
Ebenda. S. 353, 361.
51
Vgl. Douglas Tottle, Fraud, Famine and Fascism, S. 36-44.
52
Vgl. John A. Getty, Origins of the Great Purges, S. 219-220.
50
19
„Genozid“ oder „Holocaust“- These in den Vordergrund gestellt, indem ein
Vertreter dieser Ansicht behandelt wird.
20
III.ii. Ein Beispiel: Die Ansicht von Robert Conquest in seinem Buch, „Ernte des
Todes“, hinsichtlich der herrschenden Hungersnot 1932/33 in der Ukraine
Robert Conquest fängt sein Buch mit folgenden Worten an: „Vor rund 50
Jahren glichen die Ukraine und die weiter östlich liegenden ukrainischen und
kosakischen Territorien der Sowjetunion (...) einem einzigen riesigen BergenBelsen.“53 Damit wird seine Sellungnahme klar: Die Hungersnot 1932/33 in der
Ukraine ist als Ausrottung der ukrainischen Nation zu sehen, die mit dem Leiden
der europäischen Juden während des Dritten Reiches vergleichbar ist. Der einzige
Unterschied, der sich erklären läßt, ist, daß während die Juden durch Vergasung
vernichtet wurden, mußten die Ukrainer den Hungertod sterben. Aber auf Grund
welcher Motive wurde Stalins „Holocaust“ gegen die ukrainische Bevölkerung
durchgeführt, laut Conquest?
Als ein bedeutsames Agrarland war ein großer Anteil der Bevölkerung in
dem Landwirtschaftsektor beschäftigt. Der Industriesektor war - auf jeden Fall
vor 1929 - wenig entwickelt geworden und am meisten in städtischen Umgebung
um u.a. Kiew, Charkow oder im Donezbecken konzentriert. Im Zuge dieser
Konzentration wurde dann das städtische Milieu - im Unterschied zu dem Lande mehr von russischen Einflüssen geprägt und es wohnte dort eine Durchmischung
verschiedener ethnischer Gruppen, deren die größte Gruppe die Russen bildeten.54
Jedoch mit dem Aufkommen des Nationalismus in der späteren Hälfte des 19.
Jahrhunderts
versuchte
die
ukrainische
Intelligenzija
sich
gegen diese
Entwicklung der Russifizierung der Städten zu stellen. Ihr Anteil war allerdings
gering und dementsprechend ihre Einflüsse. Jedoch wurde der Grundstein für die
Zukunft gelegt, worauf man später etwas bauen konnte. Es blieb dann weiter, wie
früher, die Rolle der Landbevölkerung, die kulturellen Eigenschaften der Ukraine
- in ersten Linie die Sprache - zu bewahren, die dann im Laufe der Zeit das
Vorbild für die städtische Intelligenzija war und sie stark unterstützte.55 Kurz
nach dem Zerfall des russischen Imperiums im Jahre 1917 kam es dann endlich zu
dem Aufbau eines selbständigen Nationalstaates.
53
Die Volksrepublik Ukraine
Robert Conquest, Ernte des Todes.
Stalins Holocaust in der Ukraine 1929-1933.
Hutchinson/London 1986, S. 9.
54
Oerst Subtelny, Ukraine: A History, S. 265-272.
55
Ebenda. S. 223-230.
21
wurde ins Leben gerufen und die Kette der jahrhundertealten zaristischen
Unterdrückung abgeworfen. Aber der Traum der Selbstständigkeit verwandelte
sich bald zu einem Alptraum, indem ein blutiger Bürgerkrieg auf Gebieten der
Ukraine geführt wurde, der am Ende das Scheitern der Ukrainischen
Volksrepublik und ihren Anschluß an die neugründete Sowjetunion verursachte.56
In diesem historischen Zusammenhang lassen sich dann - laut Conquest Stalins Motive für seinen geführten „Holocaust“ gegen die ukrainischen Nation zu
erklären. Der „Holocaust“ soll sich nämlich an den verbliebenden Nationalismus,
der während des Umbruchs nach dem Zerfall des Zarentums ihren Höhepunkt in
Gestalt der gegründeten Volksrepublik der Ukraine erreichte, gerichtet haben. Der
Nationalismus - nicht nur in der Ukraine sondern in allen Gebieten des roten
Imperiums - mußte deshalb für immer vernichtet werden. Um diese Ziele zu
erreichen, mußten - laut Conquest - die Wurzeln des ukrainischen Nationalgefühls
- d.h. die Landbevölkerung - ausgerottet werden; Conquest belegt diese These mit
folgendem Zitat von Stalin: „Das Nationalitätenproblem ist in seinem innersten
Wesen ein Problem der Bauernschaft.“57 Dieses erwähnte Zitat von einer Rede
Stalins bildet dann sozusagen den Rahmen seiner These, daß die Kollektivierung
und damit die verknüpfte Hungersnot 1932/33, die als „Völkermord“ der
ukrainischen Nation betrachtet wird, von der Führungsspitze um Stalin im
Rahmen der Nationalitätenpolitik absichtlich herbeigeführt wurde.58
wichtige Faktoren für seine These tauchen auch auf:
Andere
Die Begrenzung des
massenhaften Hungersterbens auf die Ukraine u.a. mittels Grenzenkontrolle und
56
Roland Götz/Uwe Halbach, Politisches Lexikon Gus. München 1993², S. 259-260.
Robert Conquest, Ernte des Todes, S. 267. Dieses Zitat, das auf Stalin zurückgeführt werden
kann (Anmerkung von Conquest: Stalin, Band 7, S. 71) wird häufig von den Vertretern der
„Genozid“- Schule für ihre Thesen benutzt. Vgl. James E. Mace, Famine and Nationalism in
Soviet Ukraine. In: Problems of Communism, 33 (1984), S. 37-50, S. 41. Meines Erachtens
gibt es hier gewisse Argumentationsähnlichkeiten zu der heutigen Thesen bezüglich, welche
Motive Stalin hatte, einen Nichtangriffspakt mit dem Dritten Reich im August 1939 zu schließen,
da Kriegsmemorien und vor allem Stalinrede als Beweis für diese Thesen verwendet werden. Laut
Bernd Bonwetsch ist folgendes, was diese Thesen und dementsprechend ihre Beweismaterial
betrifft, festzustellen: „Ihre Argumentation lebt davon, daß Stalin tatsächlich alles zuzutrauen und
das Gegenteil auch nicht zu beweisen ist, selbst wenn andere Erklärungen plausibler sind. Denn
niemand kann heute mit Sicherheit sagen, was Stalin für 1941 oder 1942 geplant hat.“ Siehe.
Bernd Bonwetsch, Der „Große Vaterländische Krieg“ und seine Geschichte. In: D. Geyer (Hg.),
Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Göttingen 1991, S. 167-187, S. 180. Im gewissen
Sinne, gilt dies auch für die Hungersnot 1932/33, da man fast nichts mit Sicherheit von
gelegentlichen Reden oder Gedanken Stalins, die öfters nicht die endgültige Meinung entsprachen,
ableiten kann.
57
22
der Einführung von einem Paßsystem. Dieses System sollte dann das Betreten
von der Ukraine nach Rußland von verhungerten Bauern verhindern, wo - laut
Conquest - genug zum Essen vorhanden war.59 Dieses wird jedoch von Merl
bezweifelt, der die Hungersnot 1932/33 als eine Folge einer verfehlten
Kollektivierung interpretiert. Er vertritt der Meinung, daß die Maßnahmen der
Grenzenkontrollen nicht nur die Ukraine, sondern alle Hungergebiete betrafen.
Dazu kommt, daß die Führung aller regionalen Partei- und Sowjetorgane
persönlich für die Erfüllung ihrer Getreidetransporte dem Staat gegenüber
verantwortlich waren und sie versuchten deshalb alle unkontrollierten
Getreidetransporte über ihre Verwaltungsgrenzen zu verhindern.
Außerdem
herrschte auch in den sogenannten Getreidezufuhrgebieten - u.a. Rußland Hunger und es wurde sogar das Brot - im Unterschied zu Conquests
Behauptungen - in Großstädten Rußlands rationiert.60 Ein Massensterben durch
Hunger außerhalb der Ukraine wird auch von Kondrashin erwähnt. Er berichtet in
seinem Aufsatz über die Hungersnot 1932/33, daß sie sich entlang der Wolga
entwickelte und laut ihm kann man die herrschende Hungersnot dort auf die
verfehlte
Kollektivierung
und
zu
hohe
Getreideablieferungsquoten
zurückführen.61 Allerdings wird das Hungersterben 1932/33 entlang der Wolga
auch von Conquest erwähnt, aber nur oberflächlich. Die herrschende Hungersnot
soll - laut seiner Meinung - am stärksten die dortwohnenten Rußlanddeutschen
betroffen haben und somit wird das Hungersterben entlang der Wolga - wie es der
Fall mit der Ukraine war - im Rahmen von Stalins Nationalitätenpolitik gestellt.62
Diese Behauptung wird jedoch von Kondrashin abgewiesen, indem er darauf
hinwies, daß die Hungersnot 1932/33 viele Opfer außerhalb der deutschen
Siedlung entlang der Wolga forderte, u.a. auch russische Siedlungen.63
Die These der absichtlichen geführten Hungersnot im Rahmen der
Nationalitätenpolitik der Führungsspitze um Stalin - d.h. die „Genozid“ These - ist
58
Robert Conquest, Ernte des Todes, S. 267-269.
Ebenda. S. 289, 399.
60
Stephan Merl, War die Hungersnot von 1932-1933 eine Folge der Zwangskollektivierung der
Landwirtschaft oder wurde sie bewußt im Rahmen der Nationalitätenpolitik herbeigeführt?, S.
158-159.
61
Vgl. Viktor Viktorovich Kondrashin, The 1932-33 Famine in the Villages Along the Volga. In:
Soviet Studies in History, 31 (1992), S. 19-30, S. 22-25.
62
Robert Conquest, Ernte des Todes, S. 343-344.
59
23
deshalb schwer nachzuweisen, indem sich vieles dagegen widerspricht, wie z.B.
obenerwähnte Beiträge von Merl und Kondrashin uns gezeigt haben. Zudem sind
noch der Quellenbestand der Hungersnot 1932/33 lückenhaft und begrenzt, der
fast keine genaue Aussage darüber gibt, was durch die Köpfe der Führungsspitze
im Kreml während der Hungerkatastrophe gegangen ist.64
Die verwandten
Quellen von Conquest sind meistens Zeugenberichte - z.B. die schon erwähnte
Zeugenberichtssammlung, „The Black Deeds of Kremlin“ -, Briefe oder
Schilderungen der Betroffenen, Gespräche - z.B. von dem Harvard Research
Interview Project - und sogar Fiktionen.65
Während man mit diesem
Quellenmaterial ein klares Bild von der Hungersnot 1932/33 bekommen kann,
worauf z.B. Stein hingedeutet hat, ist es noch schwieriger davon eine These, die
sich im wesentlichen auf den Entscheidungsprozeß der Führungsspitze im Kreml
bezieht, abzuleiten. Solche Methodologie könnte man mit der Benützung von
Zeugenberichten der Soldaten in den Schützengraben während des Ersten
Weltkrieges, um ein klares Bild von dem Ablauf und Entscheidungsprozeß des
Ersten Weltkrieges zu bekommen, vergleichen, so Getty, die natürlich die
wissenschaftliche Qualität solcher Darstellung nicht garantieren könnte.66 Aber
andere verwandte methodische Ansätze von Conquest tauchen auf, die die
wissenschaftliche
Qualität
seiner
Arbeit
und
dementsprechend
die
Überzeugungskraft seiner „Genozid“ These zunichte macht. Hier lassen sich in
erster Linie seine Spekulationen und Berechnungen der Opferziffern erwähnen.
Conquest kommt zu dem Ergebnis, daß rund 5 Millionen Opfer während der
Hungersnot 1932/33 in der Ukraine und 6.5 Millionen als Opfer der
Entkulakisierung in der Sowjetunion ums Leben gekommen sind. Diese Zahlen
sind jedoch zurückhaltende Schätzungen, die keinesfalls hinter den wahren Zahlen
zurückbleiben, so Conquest.67 Dies wird jedoch zurückwiesen von Merl, der eine
starke Kritik an Conquests Schätzungen der Opfer und Berechnungen übt. Laut
ihm sind die dargestellten Opferziffern der Entkulakisierung von Conquest einfach
zu hoch geschätzt und seine Arbeitsweise ist bedauerlich unwissenschaftlich, da
63
Viktor Viktorovich Kondrashin, The 1932-33 Famine in the Villages Along the Volga, S. 24.
Vgl. Barbara Stein, Die Hungersnot in der Ukraine 1932/33, S. 135.
65
Robert Conqeust, Ernte des Todes, S. 14-16.
66
John A. Getty, Origins of the Great Purges, S. 219-220.
64
24
keine Mühe seitens Conquest darauf verwandet wird, um die Glaubwürdigkeit der
verwandten Informationen zu überprüfen.
Zudem werden oft von Conquest
sogenannte „Fakten“ nur mit einzigen fragwürdigen Quellen belegt, so Merl.68
Über die damaligen Motive der Führung im Kreml und die Position, die
Hungersnot 1932/33 als einen „Völkermord“ zu betrachten, läßt sich deshalb
nichts feststellen und kann man nur Spekulationen darüber äußern, wie es der Fall
mit der These von Conquest ist - insbesondere hinsichtlich der Mangelhaftigkeit
der Quellen. Die wahrscheinlichste Erklärung der Hungersnot 1932/33 bietet
dann, meines Erachtens, die vertretenen Thesen u.a. von Merl und Stein an. Laut
ihnen wird die Hungersnot 1932/33 durch eine verfehlte Kollektivierung erklärt.
Im Zuge dieses Umwandlungsprozesses der 30-er Jahre verringerte sich nämlich
die Produktivität des gesamten Landwirtschaftssektors vehement. Zufolgedessen
starb die Landbevölkerung den Hungertod. Die Ukraine wurde besonderes hart
getroffen während dieses Umbruches, nicht weil eine Politik der Ausrottung ihrer
Angehörigkeiten durchgeführt wurde, sondern, weil von ihr - als „Kornkammer“
Rußlands - zu hohe Getreideablieferungsquoten verlangt wurden, für die nur die
Führungsspitze um Stalin verantwortlich gewesen sein kann. In dem Sinne war
deshalb die Hungersnot 1932/33 von menschlichen Faktoren ausgelöst, die man
vielleicht mit einer veränderten landwirtschaftlichen Politik der 30-er Jahre hätte
vermeiden können.69
67
Robert Conquest, Ernte des Todes, S. 373-374.
Vgl. Stephan Merl, Wie viele Opfer forderte die Liquidierung der Kulaken als Klasse? In:
Geschichte und Gesellschaft, 14 (1988), S. 534-540. In diesem Zusammenhang läßt sich
erwähnen, daß es viele verschiedene Interpretationen gibt, die fast alle unterschiedliche
Opferziffern angeben. Eine endgültige Zahl der Opfer gibt es deshalb nicht, was natürlich einen
Anlaß für Spekulationen und Schätzungen anbietet.
69
Vgl. Stephan Merl, War die Hungersnot von 1932-1933 eine Folge der Zwangskollektivierung
der Landwirtschaft oder wurde sie bewußt im Rahmen der Nationalitätenpolitik herbeigeführt?, S.
146-147. Vgl. Barbara Stein, Die Hungersnot in der Ukraine 1932/33, S. 133-137.
68
25
IV. Zusammenfassende Schlußbetrachtung
Die herrschende Hungersnot 1932/33 in der Ukraine und in anderen Teilen
der Sowjetunion hat den Anlaß zu verschiedenen Interpretationen und
Erklärungen gegeben.
Im Laufe dieser Arbeit wurden drei Perspektiven der
Hungersnot 1932/33 betrachtet, indem einige Vertreter von jeder Richtung
behandelt wurden. In dieser Hinsicht vertrat Douglas Tottle in seinem Buch
„Fraud, Famine and Fascism (...)“ den orthodoxen Standpunkt. Den „GenozidMythos“ führte er auf die 30-er Jahre zurück und die heutige Diskussion der
„Genozid“-Schule in Nordamerika sollte - laut ihm - eng mit dem politischen
Klima der Reagan-Ära verstanden werden, dadurch, daß in dieser Zeit die
„Genozid“-Diskussion in Nordamerika eine gewisse „Renaissance“ erlebte. Er
führte dennoch seine Argumentation weiter, indem Beziehungen zwischen der
heutigen „Genozid“-Diskussion der Reagan-Ära und derselben Diskussion der 30er Jahre festgestellt wurden.
In diesem Zusammenhang spielten einige
Photographien eine wichtige Rolle, von denen einige gefälscht waren. Diese
Photofälschungen, die aus dem Milieu der 30-er Jahre stammen, werden noch
heutzutage verwendet und kommen u.a. häufig in einigen Veröffentlichungen der
„Genozid“-Schule vor; sie werden öfters benutzt ohne ihre Glaubwürdigkeit zu
überprüfen und durch den Säuberungsprozeß der Zeit haben sie ihre fragwürdige
Wurzeln der Vergangenheit verloren. Aber Tottle geht dann weiter und stellt fest,
daß die „Genozid“-Diskussion der 80-er Jahre eine sozusagen Fortsetzung der
geführten Diskussion der 30-er Jahre wäre, wobei die Zielsetzung die gleiche
wäre, nämlich die Sowjetunion und den Sozialismus zu verleumden.
Diese
Argumentation ist jedoch zu bezweifeln, da es sich hier um zwei verschiedene
Epochen handelt, dementsprechend kann man die Ahnen der heutigen „Genozid“Schule nicht direkt auf das politische Milieu der 30-er Jahre zurückführen, obwohl
sich einige Ähnlichkeiten befinden lassen. Hier lassen sich vor allem die oben
erwähnten Photofälschungen benennen, die wie vorhergesagt, noch in
Darstellungen der „Genozid“-Schule über die Hungersnot 1932/33 auftauchen.
Jedoch kann man nur vermuten, daß sich eine bestimmte politische Zielsetzung
hinter der Argumentation der „Genozid“-Schule versteckt, nämlich das richtige
Gesicht der „Welt des Bösen“ in die Öffentlichkeit zu ziehen, wie Stephan Merl es
26
formuliert hat.70 Aber die heutige „Genozid“-Diskussion mit dem politischen
Milieu der 30-er Jahre - hier vor allem ihre Verknüpfung mit der nazistischen
Ideologie des Dritten Reiches - ist ,meines Erachtens, nicht zu vergleichen, die
sich eher auf die Fragwürdigkeit von Tottles Argumentation und eine gewisse
politische Richtung andeutet. Zudem entspricht Tottles Beweismaterial, wie wir
schon erörtet haben, nicht hohen Objektivitätsniveau, das für seine Behauptungen,
ohne die Glaubwürdigkeit dieses Materials zu überprüfen, verwendet wurde.
Außerdem konnte man manchmal den Ursprung dieser Quellen zu dem
sozialistischen Milieu der 30-er Jahre zurückfolgen, worauf z.B. das benutzte
Buch von Tottle, „Inside Europe“ von John Gunther hindeutete. Weiterhin wird
damit Tottles politische Orientierung klar - marxistische/sozialistische Einstellung
- die durch seine Erklärung für die Hungersnot 1932/33 noch deutlicher gemacht
wird, indem sie der betriebenen orthodoxen Geschichtsschreibung in der
ehemaligen Sowjetunion über die Hungersnot 1932/33 entspricht. Im Rahmen
dieser Schichtweise wird der Prozeß der Kollektivierung und der damit
verknüpften Industrialisierung für notwendig gehalten, um die damalige
Rückständigkeit
der
Gesellschaft
zu
überwinden.
Die
Opfer
dieses
Umwandlungsprozesses, die u.a. Hungersnot erleiden mußten, sollten dann, in
Anbetracht der Tatsache, daß die Modernisierung die damaligen Gesellschaft
schnell durchgezogen wurde, angesehen werden.
Während von Tottle die Hungersnot 1932/33 - im Einklang mit der
orthodoxen Geschichtsschreibung in der ehemaligen Sowjetunion - nur als eine
schlechte Nebenwirkung der damaligen Umwandlung der Gesellschaft auf dem
Weg zur Moderne betrachtet wurde, wurde die Hungersnot 1932/33 von der
schongenannten „Genozid“-Schule im Rahmen der Nationalitätenpolitik der 30-er
Jahre interpretiert. Hier wurde die These des „Völkermordes“ an das ukrainische
Volk vertreten und die Hungersnot 1932/33 ließ sich hauptsächlich durch
künstliche/menschliche Faktoren erklären. Weiterhin wird die „Genozid“-These
größtenteils von Historikern ukrainischer Herkunft in Nordamerika vertreten,
dadurch zu erklären, daß die größte Siedlung Ukrainer, außerhalb der Ukraine,
70
Stephan Merl, Entfachte Stalin die Hungersnot von 1932-1933 zur Auslöschung des ukrainischen
Nationalismus? In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 37 (1989), S. 569-590, S. 570.
27
ihre Wurzeln dort durch dreiphasigen Einwanderungswellen von Anfang unseres
Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriges geschlagen hatte. Diese große
Siedlung Ukrainer dort und die Gründung einer historischen Schule in der 70-er
Jahre für die Geschichte der Ukraine - an der Harvard-Universität in der USA und
an einigen Universitäten in Kanada - hat sich für die Erforschung der ukrainichen
Geschichte und kulturellen Eigenschaften förderlich gezeigt.
In diesem
Zusammenhang ist dann vieles im Laufe der Zeit veröffentlicht worden und hier
lassen sich beide Zeitungen und verschiedene Darstellungen über die ukrainische
Geschichte erwähnen.
Was die Themen und die historische Richtung betrifft, wurde bis zur
jüngsten Zeit politische Geschichte betrieben, die sich im Zusammenhang mit der
Tatsache der Staatenlosigkeit erklären läßt, indem es versucht wurde, historische
Argumente für die Selbstädnigkeit der Ukraine und die Trennung von der
Sowjetuninon zu finden. Jedoch hat sich mit der Gründung eines Nationalstaates
in der Ukraine und dem Ende der kommunistischen Herrschaft die betriebene
Geschichtsschreibung in Nordamerika verändert. So werden jetzt mehr Themen
der Sozialgeschichte erforscht und der frühere „wissenschaftliche“ Krieg zwischen
der neuen und der alten Welt hat sich zu einer Zusammenarbeit gewandelt.
Angesichts der erwähnten Tatsache der Staatenlosigkeit wurde weiterhin
auch im Laufe der Zeit die geführte Diskussion über die herrschende Hungersnot
1932/33 in der Ukraine einer Ideologie der ukrainischen Autonomie unterworfen.
Hier tritt die „Genozid“-These in den Vordergrund, die - meines Erachtens - den
Zweck hatte, eine Sympathie der Welt für die Anstrengungen der ukrainischen
Bevölkerung für einen selbständigen Staat zu erwecken, die vergleichbar mit der
Gründung des jüdischen Staates nach dem Holocaust des Dritten Reiches an den
Juden Europas sein könnte. In diesem Zusammenhang wurde das Buch von
Robert Conquest, „Ernte des Todes“ behandelt, in dem auf diese Gedanken
indirekt hingewiesen wurde. Am Anfang seines Buch kommt dieser Vergleich zu
dem Schicksal der Juden Europas ganz klar vor, indem das Gebiet der damaligen
Ukraine während der Hungerkatastrophe 1932/33 als ein riesiges Bergen-Belsen
bezeichnet wird.
Dieser Vergleich soll sich aus der Motiven Stalins für die
Durchführung des ukrainischen „Holocaustes“ erklären lassen. Dementsprechend
28
wird darauf hingedeutet, daß das Schicksal der ukrainischen Bevölkerung,
vergleichbar mit dem Schicksal der Juden Europas ist, wobei sie im Rahmen einer
Nationalitätenpolitik
durch
Hunger
vernichtet
wurde.
Seine
geführte
Argumentation in dieser Richtung ist jedoch im wesentlichen fragwürdig und es
sprechen sich - wie wir schon gesehen haben - sowohl Merl als auch Kondrashin
gegen eine solche Interpretation der Hungersnot 1932/33 als „Genozid“ aus.
Zudem wurden öfters von Conquest die Regeln der wissenschaftlichen
Methodologie zunichte gemacht, vor allem betreffend der Opferziffern der
Hungersnot 1932/33, worauf Merl hindeutete.
Außerdem geben die Quellen
wenig Spielraum für solche Spekulation und sind sie oft begrenzt und lückenhaft,
worauf z.B. Barbara Stein hingedeutet hat. Angesichts dieser Faktoren wirken die
Säulen der „Genozid“-These sowohl ungenugend als auch schwach, was ihre
Wahrscheinlichkeit verringert.
Die herrschende Hungersnot 1932/33 in der
Ukraine läßt sich doch lieber mit einer verfehlten Kollektivierung und einem zu
hohen Getreideplan für dieses Gebiet erklären, was man vielleicht mit einer
anderen landwirtschaftlichen Politik in den 30-er Jahren in der ehemaligen
Sowjetunion hätte vermeiden können.
29
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