Hochgeladen von Nutzer10273

19 Laplace-Transformation

Werbung
647
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
19 Laplace-Transformation
In der Mathematik verwendet man die Laplace-Transformation zur Lösung von Differenzialgleichungen. Sie ist nach dem französischen Mathematiker Pierre-Simon Marquis de
Laplace benannt. Insbesondere Anfangs- und Randwertprobleme, die durch lineare Differenzialgleichungen und Differenzialgleichungssysteme beschrieben werden, lassen sich
mithilfe der Laplace-Transformation lösen. Auch zur Lösung von partiellen Differenzialgleichungen wird die Laplace-Transformation verwendet.
In der Mechanik und in der Elektrotechnik, speziell in der Regelungstechnik, werden Systeme durch sogenannte Übertragungsfunktionen beschrieben. Eine Übertragungsfunktion
beschreibt den Zusammenhang zwischen den Eingangsgrößen und den Ausgangsgrößen.
Somit charakterisiert die Übertragungsfunktion ein System. Die Laplace-Transformation
stellt ein mathematisches Instrument dar, mit dem man die Eigenschaften der Übertragungsfunktion elegant bestimmen kann.
Eine mathematisch korrekte und vollständige Darstellung der Laplace-Transformation erfordert ein tiefergehendes Verständnis. Wir konzentrieren uns in diesem Kapitel auf anwendungsnahe Aspekte und verzichten an einigen Stellen auf mathematische Feinheiten.
19.1 Bildbereich
Bei der Laplace-Transformation wird einer Funktion im Zeitbereich eine Funktion im sogenannten Bildbereich zugeordnet. Synonym für den Bildbereich wird in der Literatur
auch vom Frequenzbereich oder Spektralbereich gesprochen. Da die Anwendungen der
Laplace-Transformation jedoch sehr vielseitig sind, verwenden wir hier etwas neutraler
den Begriff Bildbereich. Die Funktion im Zeitbereich hängt von einer reellen Veränderlichen ab, die Funktion im Bildbereich von einer komplexen Veränderlichen. Dabei handelt
es sich um eine eins-zu-eins-Zuordnung. Alle Eigenschaften der Zeitfunktion spiegeln sich
in der Spektralfunktion wieder und umgekehrt.
19.1.1 Definition
Die Laplace-Transformation ist genau wie die Fourier-Transformation eine Integraltransformation, siehe Abschnitt 18.1. Die Unterschiede zwischen der Laplace-Transformation und
der Fourier-Transformation betrachten wir in Abschnitt 19.1.2 genauer. Für das Verständnis der Laplace-Transformation setzen wir in diesem Kapitel jedoch keinerlei Kenntnisse
über die Fourier-Transformation voraus.
648
19 Laplace-Transformation
Definition 19.1 (Laplace-Transformation)
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Die Laplace-Transformation ordnet einer Funktion f im Zeitbereich eine Funktion
F im Bildbereich zu. Die Laplace-Transformation der Funktion f ist definiert durch
❝
f (t)
∞
! F (s) =
∫
0
f (t) e−s t dt.
Die Variable t im Zeitbereich ist reell und die Variable s im Bildbereich ist komplex.
Man verwendet das Korrespondenzsymbol ❝ ! für die Laplace-Transformation.
Bei der Laplace-Transformation spielen negative Parameterwerte der Zeitfunktion keine
Rolle. Man nennt die Laplace-Transformation deshalb auch eine einseitige Integraltransformation. Es genügt, wenn die Zeitfunktion im Intervall [0, ∞) definiert ist. Einschaltvorgänge bei technischen Anwendungen lassen sich durch solche Zeitfunktionen beschreiben.
Die Laplace-Transformation ist über ein uneigentliches Integral definiert. Für jeden einzelnen t-Wert einer Zeitfunktion muss man deshalb prüfen, ob das uneigentliche Integral
existiert. Typischerweise ergeben sich bei der Transformation einer Zeitfunktion gewisse
Einschränkungen an den Gültigkeitsbereich des Parameters s im Bildbereich, siehe Beispiel 19.1 und Beispiel 19.2.
Beispiel 19.1 (Laplace-Transformation von Potenzfunktionen)
a) Die Laplace-Transformation der konstanten Zeitfunktion f (t) = 1 ergibt sich aus
f (t) = 1
❝
! F (s) = ∫
∞
0
1 ⋅ e−s t d t =
∞
e−s t
e−s t 1
∣ = lim
+ .
−s t=0 t→∞ −s
s
Unter der Voraussetzung, dass der Realteil von s positiv ist, geht der Grenzwert gegen null
und es gilt
f (t) = 1
! F (s) = 1 ,
❝
Re(s) > 0.
s
b) Zur Berechnung der Laplace-Transformation von f (t) = t verwenden wir die Regel der partiellen Integration, siehe Satz 9.14:
f (t) = t
❝
! F (s) = ∫
∞
0
∞
∞
e−s t
e−s t
t ⋅ e−s t d t = t ⋅
∣ −∫
1⋅
d t.
−s
−s
0
@ d
@ d t=0
@ d
f g′
f
f′ g
g
Unter der Voraussetzung, dass der Realteil von s positiv ist, gilt für den Grenzwert
lim t
t→∞
e−s t
= 0,
−s
denn die e-Funktion mit negativem Exponenten geht schneller gegen null als t gegen unendlich geht, siehe Beispiel 8.19. Zusammen mit dem Ergebnis aus Aufgabenteil a) ergibt
sich
f (t) = t
❝
! F (s) = 1 ,
2
s
Re(s) > 0.
19.1 Bildbereich
649
c) Das Ergebnis aus Aufgabenteil b) lässt sich auf Potenzen f (t) = tn mit beliebiger natürlicher
Hochzahl n verallgemeinern. Dazu verwenden wir wieder die Regel der partiellen Integration,
siehe Satz 9.14:
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
fn (t) = tn
❝
! Fn (s) = ∫
∞
0
∞
∞
e−s t
e−s t
tn ⋅ e−s t d t = tn
∣ −∫
n tn−1 ⋅
d t.
−s
−s
0
@ d
@ d t=0
9NN N kNN NI d
f g′
f g
g
f′
Wenn der Realteil von s positiv ist, dann gilt
tn
∞
e−s t
e−s t
∣ = lim tn
= 0,
−s t=0 t→∞
−s
denn das Wachstum vom tn wird durch die e-Funktion mit negativem Exponenten dominiert,
siehe Beispiel 8.19. Somit ergibt sich das Zwischenergebnis
fn (t) = tn
❝
∞
! Fn (s) = n ∫ tn−1 e−s t d t = n Fn−1 (s).
s 0
s
Dieses Zwischenergebnis stellt eine rekursive Beziehung zwischen der Laplace-Transformation
von tn und der Laplace-Transformation von tn−1 dar. Dadurch können wir Schritt für Schritt
die Hochzahl erniedrigen
Fn (s) =
n
n n−1
n n−1
3
n n−1
32
Fn−1 (s) =
Fn−2 (s) = . . . =
. . . F2 (s) =
...
F1 (s)
s
s s
s s
s
s s
ss
und das Problem auf das Ergebnis F1 (s) =
erhalten wir die Formel
fn (t) = tn
❝
! F (s) = n! ,
n+1
s
1
aus Aufgabenteil b) zurückführen. Insgesamt
s2
Re(s) > 0.
Diese Formel werden wir später zur Transformation von Polynomen verwenden.
∎
Beispiel 19.2 (Laplace-Transformation von Exponentialfunktionen)
Wir betrachten Exponentialfunktionen der Form eat mit komplexem Parameter a. Die LaplaceTransformation dieser Zeitfunktion ergibt sich aus
f (t) = eat
❝
! F (s) = ∫
0
∞
eat e−s t d t = ∫
0
∞
e(a−s)t d t =
∞
e(a−s)t
∣ .
a − s t=0
Damit der Grenzwert
lim
t→∞
e(a−s)t
=0
a−s
existiert, müssen wir fordern, dass der Realteil im Exponent negativ ist. Dies ist der Fall, falls der
Realteil von s größer als der Realteil von a ist. Dann erhalten wir
f (t) = ea t
❝
! F (s) =
1
,
s−a
Re(s) > Re(a).
Durch die Bedingung Re(s) > Re(a) liegt die Polstelle s = a nicht in der Definitionsmenge der
Bildfunktion F .
∎
650
19 Laplace-Transformation
19.1.2 Laplace- und Fourier-Transformation
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Die Laplace- und die Fourier-Transformation sind formal sehr ähnlich definiert. In diesem
Abschnitt beleuchten wir die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten beider Integraltransformationen.
Formal erkennt man sofort, dass die Integrationsintervalle bei der Laplace-Transformation
und der Fourier-Transformation unterschiedlich sind. Die Laplace-Transformation bezeichnet man als einseitige Transformation, da der Integrationsbereich bei null startet. Bei der
Fourier-Transformation wird über den gesamten Bereich der reellen Zahlen integriert. Man
bezeichnet die Fourier-Transformation als zweiseitige Transformation.
Der zweite Unterschied entsteht durch die Exponenten der e-Funktionen. Bei der LaplaceTransformation wird die Funktion mit e−s t multipliziert, bei der Fourier-Transformation
mit e−i 2 π f t . Da s bei der Laplace-Transformation komplexe Werte annehmen darf, aber f
bei der Fourier-Transformation rein reell ist, ist die Fourier-Transformation gewissermaßen
ein Spezialfall der Laplace-Transformation.
Laplace- und Fourier-Transformation
Bei einer Funktion f mit f (t) = 0 für t < 0 ist die Fourier-Transformation ein Spezialfall
der Laplace-Transformation. Man kann die Fourier-Transformierte dadurch berechnen,
dass man in der Laplace-Transformierten s durch i 2 π f ersetzt.
Beispiel 19.3 (Laplace- und Fourier-Transformation)
Die Laplace-Transformation der e-Funktion
f (t) = ea t
❝
! F (s) =
1
,
s−a
Re(s) > Re(a)
kennen wir aus Beispiel 19.2. Die Funktion f˜(t) = ea t σ(t) hat wegen der Einheitssprungfunktion
für alle negativen t-Werte den Wert null. Die Fourier-Transformation von f˜ erhalten wir aus der
Laplace-Transformation von f , indem wir s = i 2 π f setzen:
f˜(t) = ea t σ(t)
❝
! F (i 2 π f ) =
1
.
i2πf − a
Um die Bedingung Re(s) > Re(a) zu erfüllen, müssen wir a < 0 fordern. Das Ergebnis stimmt
mit dem Ergebnis aus Beispiel 18.3 überein.
∎
Die Laplace-Transformation besitzt einen sogenannten konvergenzerzeugenden Faktor.
Dieser Faktor ist der Realteil von s. Bereits in Beispiel 19.1 und Beispiel 19.2 haben wir
gesehen, dass die Laplace-Transformation nicht für alle komplexen Zahlen s, sondern nur
für diejenigen komplexen Zahlen s definiert ist, deren Realteil größer als eine bestimmte Schranke ist. Das Konvergenzgebiet der Laplace-Transformation besteht also aus einer
nach rechts unbeschränkten Halbebene in der Gaußschen Zahlenebene. Durch den konvergenzerzeugenden Faktor können mit der Laplace-Transformation Funktionen transformiert
werden, für die die Fourier-Transformation nicht definiert ist.
19.2 Eigenschaften
651
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
19.2 Eigenschaften
In diesem Abschnitt analysieren wir die Eigenschaften der Laplace-Transformation. Die
Rechenregeln der Laplace-Transformation ersparen uns viel Arbeit. Letztendlich genügt
es, die Laplace-Transformation von ein paar wichtigen Funktionen zu kennen. Diese Korrespondenzen sind in Tabellen, siehe etwa Anhang A.11, festgehalten. Die Laplace-Transformationen weiterer Funktionen versuchen wir dann, auf die tabellierten Korrespondenzen
zurückzuführen.
Die Rechenregeln der Laplace-Transformation sind alle ähnlich aufgebaut. Sie besagen,
wie sich Veränderungen an der Zeitfunktion auf die Funktion im Bildbereich auswirken,
oder umgekehrt, wie sich Veränderungen der Funktion im Bildbereich auf die Zeitfunktion auswirken. Die Rechenregeln erlauben also Rückschlüsse zwischen Zeitbereich und
Bildbereich.
19.2.1 Linearität
Integrale sind linear. Konstante Faktoren darf man aus dem Integral herausziehen, siehe
Satz 9.4. Die Integration der Summe zweier Funktionen ergibt dasselbe wie die Summe
der beiden einzelnen Integrale, siehe Satz 9.5. Diese beiden Eigenschaften übertragen sich
direkt auf jede Integraltransformation, also auch auf die Laplace-Transformation.
Satz 19.1 (Linearität)
Die Addition von Funktionen im Zeitbereich entspricht der Addition der entsprechenden
Laplace-Transformierten im Bildbereich. Die Multiplikation mit einem konstanten Faktor im Zeitbereich entspricht der Multiplikation mit demselben Faktor im Bildbereich.
f1 (t), f2 (t)
6
6
6
‚
C1 f1 (t) + C2 f2 (t)
❝
❝
!
F1 (s), F2 (s)
6
6
6
‚
! C1 F1 (s) + C2 F2 (s)
Dabei sind C1 und C2 beliebige Konstanten.
Beispiel 19.4 (Linearität)
Aus Beispiel 19.1 kennen wir die Laplace-Transformation der Zeitfunktion tn für beliebige natürliche Hochzahlen n. Aufgrund der Linearität ergibt sich daraus:
tn
❝
!
n!
sn+1
3⇒
tn
n!
❝
!
1
,
sn+1
Re(s) > 0.
Dabei haben wir die Funktionen im Zeitbereich und im Bildbereich durch denselben konstanten
Faktor n! geteilt.
∎
652
19 Laplace-Transformation
Beispiel 19.5 (Laplace-Transformation des Kosinus)
Wir wollen die Laplace-Transformation der Funktion f (t) = cos t berechnen. Nach dem Satz von
Euler, siehe Satz 13.1, stellen wir den Kosinus durch Exponentialfunktionen dar:
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
f (t) = cos t =
1 i t 1 −i t
e + e .
2
2
Die Laplace-Transformation der Exponentialfunktionen kennen wir bereits aus Beispiel 19.2. Damit erhalten wir
ei t
❝
1
,
s−i
!
e−i t
❝
!
1
s+i
unter der Voraussetzung, dass der Realteil von s größer als null ist. Die Linearität besagt nun,
dass wir dieselbe Mittelung wie im Zeitbereich auch im Bildbereich durchführen können:
1 i t 1 −i t
e + e
2
2
! 1 1 + 1 1 = 1 s+i + 1 s−i =
2
2
❝
2 s−i
2 s+i
2 s +1
2 s +1
s
.
s2 + 1
Insgesamt ergibt sich
❝
f (t) = cos t
! F (s) =
s
,
s2 + 1
Re(s) > 0.
Eine ähnliche Formel werden wir in Beispiel 19.9 für den Sinus herleiten.
∎
19.2.2 Ähnlichkeit
Ersetzt man im Zeitbereich t durch a t, so spricht man bei der Laplace-Transformation von
einer Ähnlichkeit. Wir klären nun, wie sich eine Ähnlichkeit auf den Bildbereich auswirkt.
Die Transformation von f˜(t) = f (a t) kann man mit der Integralformel aus Definition 19.1
F̃ (s) = ∫
∞
0
f (a t) e−s t dt
berechnen. Mithilfe der Substitution u = a t und du = a dt ergibt sich
∞
s
du 1
= ∫ f (u) e− a u du.
a
a 0
0
An den Grenzen verändert die Substitution nichts, sofern a positiv ist. Wenn wir diese
Beziehung mit Definition 19.1 vergleichen, erkennen wir
1
s
F̃ (s) = F ( ) .
a
a
F̃ (s) = ∫
∞
u
f (u) e−s a
Satz 19.2 (Ähnlichkeitssatz)
Ersetzt man bei der Funktion f im Zeitbereich
t durch a t, dann wird bei der Laplace-Transfors
mierten F im Bildbereich s durch ersetzt und
a
die Laplace-Transformierte durch a dividiert. Dabei muss die reelle Konstante a positiv sein.
f (t)
6
6
6
‚
❝
f (a t)
❝
!
F (s)
6
6
6
‚
1
s
!
F( )
a
a
19.2 Eigenschaften
653
Die Forderung a > 0 ist bei der Laplace-Transformation keine wirkliche Einschränkung,
denn die Laplace-Transformation ist eine einseitige Transformation. Ein Funktionsteil für
negative t-Werte wird nicht berücksichtigt.
Beispiel 19.6 (Ähnlichkeitssatz)
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Aus Beispiel 19.5 kennen wir die Laplace-Transformierte des Kosinus:
f (t) = cos t
❝
! F (s) =
s
,
s2 + 1
Re(s) > 0.
Mit dem Ähnlichkeitssatz lässt sich daraus die Laplace-Transformierte der Funktion
f (ω t) = cos (ω t)
! 1 F(s)= 1
❝
ω
ω
ω
s2
ω2
s
ω
+1
=
s2
s
,
+ ω2
Re(s) > 0
berechnen.
∎
Beispiel 19.7 (Laplace-Transformation der Rechteckfunktion und Dirac-Distribution)
a) Die Laplace-Transformierte der Rechteckfunktion r aus dem Schaubild berechnen wir mit der
Formel aus Definition 19.1:
r(t)
❝
! R(s) = ∫
0
1
1 ⋅ e−s t d t.
" #
1
t
εr ε
1
ε
r(t)
1
Es ergibt sich:
1
1
1 − e−s
R(s) = − e−s t ∣ =
.
s
s
0
ε
1
t
b) Zur Bestimmung der Laplace-Transformation der Dirac-Distribution δ verwenden wir die Darstellung der Dirac-Distribution als Grenzwert aus Definition 17.3. Aufgrund der Ähnlichkeit,
siehe Satz 19.2, und der Linearität gilt
1
t
r( )
ε→0 ε
ε
δ(t) = lim
❝
! lim 1 ε R(ε s) = lim 1 − e
ε→0
ε
ε→0
−s ε
εs
= 1.
Der Grenzwert wird mit der Regel von Bernoulli-de l’Hospital aus Satz 8.11 bestimmt:
1 − e−s ε
s e−s ε
= lim
= 1.
ε→0
ε→0
εs
s
lim
Dabei haben wir im Zähler und im Nenner nach der Variablen ε differenziert.
∎
19.2.3 Zeitverschiebung
Die meisten Systeme benötigen eine gewisse Zeit, bis sich veränderte Eingaben am Ausgang bemerkbar machen. Die Zeitspanne zwischen Anforderung am Systemeingang und
Antwort am Systemausgang bezeichnet man in der Regelungstechnik als Totzeit. Der
Zeitverschiebungssatz beantwortet die Frage, wie sich solche Totzeiten auf die LaplaceTransformation auswirken.
654
19 Laplace-Transformation
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Beim Verschieben von Zeitfunktionen muss man bei der Laplace-Transformation sehr sorgfältig vorgehen. Funktionswerte für negative Zeiten werden durch die Integration, die erst
bei t = 0 startet, ausgeblendet. Wenn wir eine Funktion um den Wert t0 > 0 nach rechts
verschieben, dann müssen wir den Funktionsabschnitt für Zeiten kleiner als t0 ausblenden.
Dies geschieht durch Multiplikation mit der Heaviside-Funktion, siehe Definition 17.1.
Satz 19.3 (Zeitverschiebungssatz)
Die Verschiebung der Funktion f um t0 > 0
nach rechts im Zeitbereich entspricht der Multiplikation der Laplace-Transformierten F mit
dem Faktor e−t0 s im Bildbereich.
f (t)
❝
!
t
F (s)
6
6
6
‚
σ(t − t0 ) f (t − t0 )
f (t)
σ(t−t0 )f (t−t0 )
6
6
6
‚
❝
t0
t
! e−t0 s F (s)
Satz 19.3 lässt sich aus Definition 19.1 herleiten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine
um t0 > 0 nach rechts verschobene Funktion im Bereich zwischen 0 und t0 null ist. Mithilfe
der Substitution u = t − t0 und du = dt ergibt sich
σ(t − t0 )f (t − t0 )
❝
!
∫
∞
t0
f (t − t0 )e−s t dt = ∫
0
∞
f (u)e−s (u+t0 ) du.
Da der Faktor e−s t0 nicht von der Integrationsvariable u abhängt, können wir diesen
Faktor vor das Integral ziehen:
σ(t − t0 )f (t − t0 )
❝
! e−s t0
∫
0
∞
f (u)e−s u du = e−s t0 F (s) .
Bisher haben wir nur Zeitverschiebungen mit t0 > 0 nach rechts betrachtet. Aus theoretischer Sicht kann man auch Formeln für Zeitverschiebungen mit t0 < 0 herleiten. Diese
Formeln sind jedoch für praktische Problemstellungen kaum von Bedeutung.
19.2.4 Dämpfung
Multipliziert man eine Funktion f mit dem Faktor e−s0 t , dann bezeichnet man die neue
Funktion e−s0 t f (t) als gedämpfte Funktion. Typische Beispiele sind gedämpfte harmonische Schwingungen, wie sie bei der Lösung von Schwingungsdifferenzialgleichungen vorkommen, siehe Abschnitt 14.4. Der Dämpfungssatz gibt Auskunft darüber, welche Laplace-Transformierte gedämpfte Funktionen besitzen. Die Herleitung erfolgt analog zum
Zeitverschiebungssatz, auf Einzelheiten verzichten wir.
19.3 Differenziation, Integration und Faltung
655
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Satz 19.4 (Dämpfungssatz)
Die Verschiebung der Laplace-Transformierten F
um s0 im Bildbereich entspricht der Multiplikation der Funktion f mit dem Faktor e−s0 t im
Zeitbereich.
F (s)
6
6
6
‚
F (s + s0 )
!
!
❝
f (t)
6
6
6
‚
❝ e−s0 t f (t)
Beispiel 19.8 (Dämpfungssatz)
Aus Beispiel 19.6 kennen wir die Laplace-Transformierte des Kosinus:
❝
cos (ω t)
s
,
s2 + ω 2
!
Re(s) > 0.
Mit dem Dämpfungssatz, siehe Satz 19.4, lässt sich daraus die Laplace-Transformation der Funktion
e−s0 t cos (ω t)
❝
!
s + s0
,
(s + s0 )2 + ω 2
Re(s) > 0
berechnen.
∎
19.3 Differenziation, Integration und Faltung
Die Laplace-Transformation wird vor allem im Zusammenhang mit Differenzialgleichungen
eingesetzt. Mit der Laplace-Transformation kann man das Lösen von Differenzialgleichungen im Zeitbereich umgehen, indem man das Problem in den Bildbereich transformiert
und dort stattdessen einfache algebraische Umformungen durchführt. Die Grundlage für
diese Methode liefert die Regel zur Differenziation, die wir in diesem Abschnitt vorstellen.
19.3.1 Differenziation
Wir klären nun die Frage, wie die Laplace-Transformierte F einer Zeitfunktion f mit der
Laplace-Transformierten ihrer Ableitung f ′ zusammenhängt. Für die Laplace-Transformation der Ableitung gilt nach Definition 19.1 die Beziehung:
f ′ (t)
❝
!
∫
0
∞
∞
f ′ (t) e−s t dt = f (t) e−s t ∣t=0 − ∫
0
ss
rs
u
u
v
v′
∞
f (t) (−s)e−s t dt.
s =TT T T T T T T z T T T T T T T R
v
u′
Die Umformungen ergeben sich durch partielle Integration. Wir setzen nun voraus, dass
der Realteil von s so groß ist, dass die e-Funktion für große t-Werte schneller abklingt als
die Funktion f anwächst, also:
lim f (t) e−s t = 0.
t→∞
Diese Bedingung müssen wir streng genommen für jede einzelne Funktion überprüfen.
656
19 Laplace-Transformation
Für die meisten Funktionen von praktischer Bedeutung ist diese Grenzwertbedingung jedoch erfüllt, sodass wir uns in Zukunft mit diesen Details nicht weiter beschäftigen. Unter
dieser Voraussetzung ergibt sich
∞
f (t) e−s t ∣t=0 = lim f (t) e−s t − f (0) = −f (0)
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
t→∞
und insgesamt erhalten wir
❝
f ′ (t)
! − f (0) + s
∫
0
∞
f (t) e−s t dt = −f (0) + s F (s).
In der Formel für die Transformation der Ableitung taucht der Funktionswert an der Stelle
t = 0 auf. Die Laplace-Transformation ist aber über ein Integral definiert. Integrale haben
die Eigenschaft, dass ein einziger Funktionswert keinen wesentlichen Beitrag liefert. Ist
die Funktion f an der Stelle t = 0 unstetig, so müssen wir für f (0) den rechtsseitigen
Grenzwert ansetzen, siehe Definition 7.13.
Satz 19.5 (Differenziation im Zeitbereich)
Die Ableitung der Funktion f im Zeitbereich entspricht der Multiplikation mit dem Faktor s der
Laplace-Transformierten F im Bildbereich. Außerdem muss man noch den Anfangswert der
Funktion f zur Zeit t = 0 subtrahieren.
f (t)
6
6
6
‚
f ′ (t)
❝
❝
!
F (s)
6
6
6
‚
! s F (s) − f (0)
Beispiel 19.9 (Laplace-Transformation des Sinus)
Wir berechnen die Laplace-Transformierte der Funktion f (t) = sin t. Dazu verwenden wir die
Korrespondenz für den Kosinus aus Beispiel 19.5:
f (t) = cos t
❝
! F (s) =
s
,
s2 + 1
Re(s) > 0.
Aus Satz 19.5 zur Differenziation folgt
f ′ (t) = − sin t
❝
! s F (s) − f (0) =
s2
−1
−1= 2
,
+1
s +1
s2
Re(s) > 0.
Aufgrund der Linearität ergibt sich
sin t
❝
!
1
,
s2 + 1
Re(s) > 0.
Die Formeln für Sinus und Kosinus unterscheiden sich nur durch den Faktor s im Zähler.
∎
Sofern auch die Ableitung die Voraussetzungen für die Differenziation im Zeitbereich erfüllt, können wir die Laplace-Transformierte der zweiten Ableitung durch zweifaches Anwenden von Satz 19.5 berechnen. Durch mehrfaches Anwenden ergeben sich die LaplaceTransformierten der höheren Ableitungen.
Die Transformation von Ableitungen ist das zentrale Hilfsmittel zur Lösung von Differenzialgleichungen. Die Werte der Funktion und der Ableitungen an der Stelle t = 0 entsprechen
dabei den Anfangswerten, siehe Abschnitt 19.6.
19.3 Differenziation, Integration und Faltung
657
Höhere Ableitungen im Zeitbereich
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Wenn F (s) die Laplace-Transformierte von f (t) ist, dann gilt für die Ableitungen:
▸ f ′ (t)
❝
! s F (s) − f (0)
▸ f ′′ (t)
❝
! s2 F (s) − s f (0) − f ′ (0)
▸ ...
▸ f (n) (t)
❝
! sn F (s) − sn−1 f (0) − sn−2 f ′ (0) − . . . − s f (n−2) (0) − f (n−1) (0)
Für die Ableitung der Laplace-Transformierten im Bildbereich gilt nach Definition 19.1
F ′ (s) =
∞
∞
∞ d
d
−s t
(f (t) e−s t ) dt = ∫ (−t) f (t) e−s t dt.
∫ f (t) e dt = ∫
ds 0
ds
0
0
Somit korrespondiert die Laplace-Transformation der Zeitfunktion −t f (t) mit der Ableitung im Bildbereich. Die Formel für die Ableitung im Bildbereich kann auch als Formel
zur Multiplikation mit t im Zeitbereich interpretiert werden.
Satz 19.6 (Differenziation im Bildbereich)
Die Ableitung der Laplace-Transformierten F
im Bildbereich entspricht der Multiplikation der
Funktion f mit dem Faktor −t im Zeitbereich.
F (s)
6
6
6
‚
F ′ (s)
!
!
❝
f (t)
6
6
6
‚
❝ −t f (t)
Beispiel 19.10 (Multiplikation im Zeitbereich)
Aus Beispiel 19.6 kennen wir die Laplace-Transformierte des Kosinus:
cos (ω t)
❝
! F (s) =
s
,
s2 + ω 2
Re(s) > 0.
Wenn wir die Funktion im Zeitbereich mit t multiplizieren, dann korrespondiert diese Funktion
mit der negativen Ableitung der Laplace-Transformierten F :
t cos (ω t)
❝
2
2
2
2
2
! − F ′ (s) = − s + ω − 2 s = s − ω ,
2
2 2
2
2 2
(s + ω )
(s + ω )
Re(s) > 0.
Die Multiplikation in der Zeit mit t hat im Bildbereich eine relativ komplexe gebrochenrationale
Funktion ergeben.
∎
19.3.2 Integration
Die Differenziation in der Zeit bewirkt eine Multiplikation mit s im Bildbereich. Umgekehrt
bewirkt die Integration in der Zeit eine Division durch s.
658
19 Laplace-Transformation
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Satz 19.7 (Integration im Zeitbereich)
Die Integration der Funktion f im Zeitbereich
entspricht der Division der Laplace-Transformierten F durch s im Bildbereich.
∫
t
0
f (t)
6
6
6
‚
❝
f (τ ) d τ
❝
!
F (s)
6
6
6
‚
1
!
F (s)
s
Bei der Formel in Satz 19.7 startet die Integration bei null. Der Integrationssatz im Zeitbereich lässt sich auf eine beliebige untere Integrationsgrenze verallgemeinern, was wir
hier aber nicht tun.
Satz 19.8 (Integration im Bildbereich)
Die Integration der Laplace-Transformierten F
im Bildbereich entspricht der Division der Funktion f durch t im Zeitbereich.
∫
s
F (s)
6
6
6
‚
!
F (u) d u
!
∞
❝
f (t)
6
6
6
‚
1
❝
f (t)
t
Beim Vergleich mit der Formel zur Differenziation im Bildbereich aus Satz 19.6 fragt man
sich vermutlich, warum der Faktor −1 bei der Formel in Satz 19.8 nicht vorkommt. Beim
Integral befindet sich die Variable s in der Untergrenze. Dies entspricht einem Faktor −1.
19.3.3 Faltung
Angenommen, wir kennen die Laplace-Transformierten F1 und F2 zweier Zeitfunktionen
f1 und f2 . Im ersten Moment könnte man vermuten, dass das Produkt der beiden Funktionen f1 und f2 im Zeitbereich dem Produkt der zugehörigen Funktionen F1 und F2 im
Bildbereich entspricht. Diesbezüglich unterscheiden sich jedoch Addition und Multiplikation grundsätzlich. Mit der Multiplikation im Bildbereich korrespondiert eine Faltung im
Zeitbereich.
Satz 19.9 (Faltung im Zeitbereich)
Die Faltung der beiden Funktionen f1 und f2 im
Zeitbereich entspricht dem Produkt der beiden
Laplace-Transformierten F1 und F2 im Bildbereich.
f1 (t), f2 (t)
6
6
6
‚
f1 (t) ⋆ f2 (t)
❝
❝
! F1 (s), F2 (s)
6
6
6
‚
! F1 (s) ⋅ F2 (s)
Die Laplace-Transformation ist eine einseitige Integraltransformation. Funktionen im Zeitbereich werden für negative Zeitwerte nicht betrachtet. Entsprechend sind alle Faltungen
bei der Laplace-Transformation einseitige Faltungen, siehe Satz 17.7. Auf einen expliziten
19.4 Transformation periodischer Funktionen
659
Nachweis des Faltungssatzes verzichten wir. Die Faltung ist ein wichtiges Hilfsmittel zur
Lösung von Differenzialgleichungen mit der Laplace-Transformation, siehe Beispiel 19.16.
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
19.3.4 Grenzwerte
Das Verhalten einer Funktion f (t) im Zeitbereich für t → ∞ steht im Zusammenhang
mit dem Verhalten ihrer Laplace-Transformierten F (s) für s → 0. Umgekehrt hängt das
Verhalten von f (t) für t → 0 mit dem Verhalten von F (s) für s → ∞ zusammen. Auf
einen Nachweis dieser sogenannten Grenzwertsätze verzichten wir.
Satz 19.10 (Grenzwertsätze)
Zwischen der Funktion f im Zeitbereich und ihrer Laplace-Transformierten F im Bildbereich bestehen die Zusammenhänge
▸ lim f (t) = lim (s F (s))
t→∞
▸ lim f (t) = lim (s F (s))
s→0
s→∞
t→0
Der Grenzwertsatz für t → ∞ gilt nur, wenn F (s) außer einem einfachen Pol bei s = 0
keine weiteren Singularitäten in der Halbebene Re(s) ≥ 0 besitzt.
19.4 Transformation periodischer Funktionen
Das typische Werkzeug für periodische Funktionen sind Fourier-Reihen und die FourierTransformation. Insbesondere im Zusammenhang mit Differenzialgleichungen betrachtet
man jedoch auch die Laplace-Transformation periodischer Funktionen. Genau genommen
muss man bei der Laplace-Transformation von einer einseitig periodischen Funktion sprechen. Denn nach wie vor spielen die Funktionswerte für negative Zeiten bei der LaplaceTransformation keine Rolle.
Die komplette Information einer Zeitfunktion f mit Periode T ist in einem endlichen
Intervall der Länge T enthalten. Dadurch kann man bei der Laplace-Transformation einer
Funktion mit Periode T die Integration auf das Intervall zwischen 0 und T beschränken.
Wir verwenden die Formel aus Definition 19.1 und zerlegen das Integrationsintervall in
Einzelintervalle der Länge T :
f (t)
❝
!
T
2T
3T
−s t
f (t) e−s t dt + ∫
f (t) e−s t dt + . . .
∫ f (t) e dt + ∫
0
T
2T
=TT T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T Tz T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T TR =TT T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T zT T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T R =TT T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T zT T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T R
u=t
u=t−T
u = t − 2T
Auf jedes einzelne Integral wenden wir eine Substitution der Form u = t − n T an, wobei
die natürliche Zahl n so gewählt ist, dass alle Integrale auf das Intervall zwischen 0 und
T transformiert werden:
∫
0
T
f (u) e−s u du +∫
0
T
T
f (u + T ) e−s (u+T ) du +∫ f (u + 2 T ) e−s (u+2 T ) du + . . .
0 =TT T T T T T T T T T zTT T T T T T T T T T R
=TT T T T T T T Tz T T T T T T T TR
f (u)
f (u)
660
19 Laplace-Transformation
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Wegen der Periodizität von f können wir für alle natürlichen Zahlen n den Ausdruck
f (u + n T ) durch f (u) ersetzen. Außerdem lässt sich der von u unabhängige Faktor e−n T s
jeweils vor das Integral ziehen:
⎛
⎞
⎜
⎟ T
−T s
−2 T s
−3 T s
⎜1 + e
+e
+e
+ . . .⎟ ∫ f (u) e−s u du.
⎜ s r r
⎟ 0
⎝
⎠
q
q2
q3
Die Summe der Vorfaktoren hat die Form einer geometrischen Reihe mit q = e−T s . Somit
gilt
f (t)
❝
T
1
f (u) e−s u du.
∫
1 − e−T s 0
!
Dabei müssen wir natürlich voraussetzen, dass die Reihe konvergiert. Das ist für ∣q∣ < 1,
also für Re(s) > 0, sichergestellt.
Satz 19.11 (Laplace-Transformation einseitig periodischer Funktionen)
Die Laplace-Transformation einer zumindest einseitig periodischen Funktion f mit der
Eigenschaft f (t + T ) = f (t) kann man durch folgende Formel berechnen:
f (t)
❝
T
1
−s t
∫ f (t) e dt,
−T
s
1−e
0
!
Re(s) > 0.
Beispiel 19.11 (Laplace-Transformation einer periodischen Funktion)
Die Laplace-Transformierte der abgebildeten Funktion f mit Periode T = 2 berechnen wir mit der Formel
1
f (t)
aus Satz 19.11:
f (t)
❝
!
2
1
f (t) e−s t d t.
1 − e−2 s ∫0
1
2
3
4
5
6
t
−1
Im Bereich zwischen 0 und 1 gilt f (t) = t, zwischen 1
und 2 hat die Funktion den Wert null. Das Integral
∫
0
1
t e−s t d t =
1
−s t e−s t − e−s t
−s e−s − e−s + 1
∣ =
2
s
s2
t=0
berechnen wir mit einer Stammfunktion, siehe Anhang A.5:
−a x
dx =
∫ xe
a x ea x − ea x
.
a2
Insgesamt erhalten wir
f (t)
❝
−s
−s
! −s e − e + 1 .
s2 (1 − e−2 s )
∎
19.5 Rücktransformation
661
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
19.5 Rücktransformation
Die typische Vorgehensweise bei der Laplace-Transformation besteht darin, ein Problem
in den Bildbereich zu transformieren und dort zu lösen, siehe Abschnitt 19.6. Allerdings
benötigt man dazu die Rücktransformation der Lösungsfunktion vom Bildbereich in den
Zeitbereich. Es gibt zwar eine Integralformel, mit der sich die Funktion im Zeitbereich aus
der Funktion im Bildbereich berechnen lässt. Diese Art der Rücktransformation erfordert
jedoch ein tieferes Verständnis für die Integration in der komplexen Ebene. In der Anwendungspraxis verwendet man Korrespondenztabellen, in denen die wichtigsten Zuordnungen
zwischen Zeitfunktionen und Spektralfunktionen enthalten sind, siehe Anhang A.11.
Bei vielen Anwendungen treten im Bildbereich gebrochenrationale Funktionen auf. Bei
Nenner- und Zählerpolynomen von höherem Grad sind diese Funktionen nicht tabelliert.
Sie lassen sich jedoch durch Partialbruchzerlegung in eine Summe aus einfacheren Brüchen
zerlegen, siehe Abschnitt 6.2.2, und dann aufgrund der Linearität zurück transformieren.
Ein weiteres wichtiges Hilfsmittel zur Rücktransformation ist die Faltung, siehe Satz 19.9.
Rücktransformation vom Bildbereich in den Zeitbereich
Die wichtigsten Hilfsmittel zur Rücktransformation einer Funktion aus dem Bildbereich
in den Zeitbereich sind bei der Laplace-Transformation
▸ Korrespondenztabellen,
▸ Partialbruchzerlegung und
▸ Faltung.
Beispiel 19.12 (Rücktransformation durch Partialbruchzerlegung)
Wir suchen eine Zeitfunktion f , sodass die Laplace-Transformation von f die Spektralfunktion
F (s) =
s
s 3 − 4 s2 + 5 s − 2
ergibt. Der erste Schritt bei der Partialbruchzerlegung ist die Bestimmung aller Nennernullstellen,
siehe Abschnitt 6.2.2.
(1) Die Nullstelle s1 = 1 kann man beispielsweise durch Raten finden:
s3 − 4 s 2 + 5 s − 2 = 0
3⇒
13 − 4 ⋅ 12 + 5 ⋅ 1 − 2 = 0
Die weiteren Nullstellen findet man durch Polynomdivision
(
s3 − 4s2 + 5s − 2 ) ∶ (s − 1) = s2 − 3s + 2
− s3 + s2
− 3s2 + 5s
3s2 − 3s
2s − 2
− 2s + 2
0
3⇒
s1 = 1.
662
19 Laplace-Transformation
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
und durch Lösen der quadratischen Gleichung
√
3± 9−8
s2 − 3 s + 2 = 0 3⇒ s2,3 =
= 1, 2.
2
(2) Bei s1,2 = 1 handelt es sich um eine doppelte Nullstelle, s3 = 2 ist eine einfache Nullstelle.
Deshalb verwenden wir den Ansatz
F (s) =
A(s − 1)2 + B(s − 1)(s − 2) + C(s − 2)
A
B
C
+
+
=
.
2
s − 2 s − 1 (s − 1)
(s − 2)(s − 1)2
(3) Durch Ausmultiplizieren des Zählers erhalten wir
s = A s2 − 2 A s + A + B s2 − 3 B s + 2 B + C s − 2 C.
Ein Koeffizientenvergleich ergibt das lineare Gleichungssystem
A + B
= 0
−2 A − 3 B + C = 1
A + 2B − 2C = 0
mit der eindeutigen Lösung A = 2, B = −2 und C = −1. Die Korrespondenzen aus Beispiel 19.1 zusammen mit Verschiebungen im Bildbereich, siehe Satz 19.4, ergeben die Rücktransformation:
1
❝
! 1,
s
t
❝
!
1
s2
F (s) =
3⇒
✄
2
2
1
−
−
s−2
s−1
(s − 1)2
✄
2t
f (t) = 2 e
✄
−
2e
t
✄
−
t et
∎
19.6 Lösung gewöhnlicher Differenzialgleichungen
Bei praktischen Problemen wird die Laplace-Transformation hauptsächlich zur Lösung
von Differenzialgleichungen eingesetzt. Wir betrachten in diesem Abschnitt lineare Differenzialgleichungen mit konstanten Koeffizienten, siehe Definition 14.16 und lineare Differenzialgleichungssysteme mit konstanten Koeffizienten, siehe Definition 14.30. Für das
Verständnis der in diesem Abschnitt präsentierten Methoden ist ein Grundverständnis
für Differenzialgleichungen erforderlich. Die Lösungsmethoden unterscheiden sich jedoch
grundsätzlich von den Verfahren aus Kapitel 14.
Die wesentliche Idee besteht darin, die Differenzialgleichung in den Bildbereich zu transformieren und dort zu lösen. Durch die Transformation einer linearen Differenzialgleichung
oder eines linearen Differenzialgleichungssystems mit konstanten Koeffizienten in den Bildbereich ergibt sich eine algebraische Gleichung. Gelingt es, diese algebraische Gleichung
zu lösen, dann kann man die Lösung im Zeitbereich durch Rücktransformation der Lösung
im Bildbereich berechnen.
19.6 Lösung gewöhnlicher Differenzialgleichungen
663
Lösung einer Differenzialgleichung mit der Laplace-Transformation
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Folgende Schritte führen auf eine Lösung:
(1) Transformiere die Differenzialgleichung in
den Bildbereich.
Differenzial❝
gleichung
(2) Berechne die Lösung der algebraischen Gleichung im Bildbereich.
6
6
6
‚
(3) Transformiere die Lösung der algebraischen
Gleichung zurück in den Zeitbereich.
Lösung
❝
Zeitbereich
!
Algebraische
Gleichung
6
6
6
‚
!
Lösung
Bildbereich
Bei der Laplace-Transformation der Differenzialgleichung arbeitet man mit Platzhalter für
die zu berechnende Lösungsfunktion. Wenn x die gesuchte Lösung der Differenzialgleichung ist, dann verwendet man die Korrespondenz
x(t)
❝
! X(s)
7⇒
❝
x
! X.
Dabei ist es üblich, sowohl im Zeitbereich als auch im Bildbereich auf die explizite Angabe
der Variablen t und s zu verzichten.
Das Hauptproblem bei der Lösung von Differenzialgleichungen mit der Laplace-Transformation liegt typischerweise in der Rücktransformation der Lösung aus dem Bildbereich in
den Zeitbereich. Dabei sind unterschiedliche Strategien erforderlich, siehe Abschnitt 19.5.
Beispiel 19.13 (Anfangswertproblem mit Differenzialgleichung erster Ordnung)
Zur Lösung des Anfangswertproblems transformieren wir die Differenzialgleichung unter Berücksichtigung des Anfangswerts in den Bildbereich:
ẋ
+ 2 x = 2 − 4 t, x(0) = 1
✂
✂
✂
✂
2
4
sX − 1 + 2X =
− 2
s
s
Bei der Transformation der Ableitung haben wir Satz 19.5 zur Differenziation im Zeitbereich
verwendet. Die restlichen Korrespondenzen ergeben sich aus der Tabelle im Anhang A.11. Die
Gleichung im Bildbereich lässt sich nach unserer gesuchten Spektralfunktion X auflösen:
sX + 2X = 1 +
2
4
−
s s2
3⇒
X=
1
2
4
+
−
.
s + 2 s(s + 2) s2 (s + 2)
Die Rücktransformation erfolgt mithilfe der Korrespondenztabelle aus Anhang A.11:
X =
✄
1
+
s+2
✄
2
s(s + 2)
x = e−2 t + 2
✄
e
−2 t
−
4
s2 (s + 2)
−1
e
− 4
−2
✄
−2 t
+ 2t − 1
4
Die Lösung des Anfangswertproblems ist x(t) = 2 − 2 t − e−2 t .
∎
664
19 Laplace-Transformation
Vorteile der Laplace-Transformation
Die Lösung einer linearen Differenzialgleichung mit der Laplace-Transformation bietet
folgende Vorteile:
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
▸ Anfangswerte werden bei der Transformation in den Bildbereich berücksichtigt.
▸ Eine separate Betrachtung der homogenen und der inhomogenen Differenzialgleichung ist nicht erforderlich.
Beispiel 19.14 (Randwertproblem mit Differenzialgleichung zweiter Ordnung)
Wir betrachten das Randwertproblem
x ( π2 ) = 1,
ẍ + 9 x = 0,
x(π) = −1.
Zur Transformation der Differenzialgleichung benötigen wir Anfangswerte zum Zeitpunkt t = 0.
Da wir diese Werte nicht kennen, arbeiten wir mit Parametern:
x(0) = C1 ,
ẋ(0) = C2 .
Damit ergibt die Transformation in den Bildbereich
ẍ
+ 9x = 0
✂
✂
✂
2
s X − s C1 − C2 + 9 X = 0
Die Lösung der Gleichung im Bildbereich ergibt
X(s2 + 9) = C1 s + C2
3⇒
X=
C1 s
C2
+
.
s2 + 9 s2 + 9
Aus der Korrespondenztabelle im Anhang A.11 bestimmen wir die Rücktransformation:
X =
C1
✄
s
s2 + 9
+
✄
C2 3
3 s2 + 9
✄
x = C1 cos (3 t) +
C2
sin (3 t)
3
Somit haben wir die allgemeine Lösung der Differenzialgleichung
x(t) = C1 cos (3 t) +
C2
sin (3 t)
3
bestimmt. Die Lösung des Randwertproblems ergibt sich aus den Randwerten:
x ( π2 ) = 1
3⇒
C2 = −3,
x(π) = −1
3⇒
C1 = 1.
Die Lösung des Randwertproblems lautet x(t) = cos (3 t) − sin (3 t).
∎
19.6 Lösung gewöhnlicher Differenzialgleichungen
665
Allgemeine Lösung einer Differenzialgleichung mit Laplace-Transformation
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Zur Bestimmung der allgemeinen Lösung einer linearen Differenzialgleichung mit der
Laplace-Transformation kann man für die Anfangswerte zum Zeitpunkt t = 0 Parameter
einführen:
x(0) = C1 ,
ẋ(0) = C2 ,
ẍ(0) = C3 ,
...
Dadurch kann man auch Anfangswertprobleme, bei denen die Anfangswerte nicht zum
Zeitpunkt t = 0 gegeben sind, und Randwertprobleme lösen.
Beispiel 19.15 (Differenzialgleichung zweiter Ordnung mit Resonanz)
Zur Lösung des Anfangswertproblems
ẍ − 3 ẋ + 2 x = et ,
x(0) = 0,
ẋ(0) = 1
transformieren wir die Differenzialgleichung mit den Anfangswerten in den Bildbereich:
ẍ
−
✂
3 ẋ
+ 2x =
et
✂
✂
✂
2
s X − 1 − 3sX + 2X =
1
s−1
Die Lösung der Gleichung im Bildbereich ergibt
s2 X − 3 s X + 2 X = 1 +
1
s−1
3⇒
X=
s
.
(s − 1)(s2 − 3 s + 2)
Die Rücktransformation ergibt x(t) = 2 e2 t − 2 et − t et , siehe Beispiel 19.12.
∎
Bei der Differenzialgleichung in Beispiel 19.15 liegt Resonanz vor, siehe Abschnitt 14.3.4.
Bei der Lösung des Problems mit der Laplace-Transformation wird dieser Aspekt quasi
automatisch berücksichtigt.
Laplace-Transformation bei Differenzialgleichung mit Resonanz
Die Laplace-Transformation kann auch im Resonanzfall zur Lösung einer linearen Differenzialgleichung mit konstanten Koeffizienten verwendet werden.
In Beispiel 19.15 taucht bei der Lösung des Problems das charakteristische Polynom,
siehe Definition 14.17, auf. Das ist kein Zufall. Transformiert man eine lineare homogene
Differenzialgleichung mit konstanten Koeffizienten mit Nullanfangsbedingungen
x(0) = 0,
ẋ(0) = 0,
ẍ(0) = 0,
...
in den Bildbereich
an x(n) + an−1 x(n−1) + . . . +
✂
n
✂
an s X + an−1 s
n−1
a2 ẍ
✂
2
+
a1 ẋ
✂
+ a0 x = 0
✂
✂
X + . . . + a2 s X + a 1 s X + a 0 X = 0
666
19 Laplace-Transformation
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
dann entsteht die charakteristische Gleichung mit der Variablen s anstelle von λ. Das
homogene Problem mit Nullanfangsbedingungen hat natürlich die triviale Lösung. Wenn
die Differenzialgleichung jedoch inhomogen oder eine Anfangsbedingung ungleich null ist,
dann taucht das charakteristische Polynom im Nenner auf.
Beispiel 19.16 (Anfangswertproblem mit Rechteckfunktion als Störfunktion)
Beim Anfangswertproblem
r(t)
1
ẍ + 4 x = r(t), x(0) = 0, ẋ(0) = 0
ist die Störfunktion eine Rechteckfunktion
1
r(t) = {
0
für
sonst .
t
1
0≤t≤1
Wir transformieren die Differenzialgleichung in den Bildbereich:
ẍ
+ 4 x = r(t)
✂
✂
✂
2
s X + 4 X = R(s)
Für die Laplace-Transformation der Rechteckfunktion r verwenden wir den Platzhalter R. Wir
werden das Problem lösen, ohne R explizit zu bestimmen. Die Lösung der Gleichung im Bildbereich ergibt
s2 X + 4 X = R(s)
3⇒
X=
1
R(s).
s2 + 4
Nach dem Faltungssatz im Zeitbereich, siehe Satz 19.9, können wir die Lösung x durch eine
Faltung berechnen:
t
1 2
1
1
R(s) 3⇒ x(t) = sin (2 t) ⋆ r(t) = ∫ sin (2 τ ) r(t − τ ) d τ.
2
2 s +4
2
2 0
Falls t kleiner als 1 ist, verläuft der Integrationsber(t − τ)
reich zwischen 0 und t:
X(s) =
t
1
1
t
x(t) = ∫ sin (2 τ ) d τ = ( − cos (2 τ ))∣0
2 0
4
1
= (1 − cos (2 t)).
4
Wenn t größer als 1 ist, dann startet der Integrationsbereich bei t − 1 und endet bei t:
t
1
1
t
sin (2 τ ) d τ = (−cos (2 τ ))∣t−1
∫
2 t−1
4
1
= ( cos (2 t − 2) − cos (2 t)) .
4
1
t− 1
1
2
t
sin (2 τ)
τ
1
r(t − τ)
1
1
2
x(t) =
t− 1 1
t
sin (2 τ)
τ
19.6 Lösung gewöhnlicher Differenzialgleichungen
667
Insgesamt besteht die Lösung aus zwei Abschnitten:
1
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
⎧
1
⎪
⎪
(1 − cos (2t))
für 0 ≤ t ≤ 1
⎪
⎪
⎪4
x(t) = ⎨
⎪
1
⎪
⎪
⎪ ( cos (2t−2) − cos (2t)) für 1 < t .
⎪
⎩4
x(t)
t
1
∎
Die Differenzialgleichung aus Beispiel 19.16 ist mit klassischen Hilfsmitteln nur schwer in
den Griff zu bekommen. Für die abschnittsweise definierte Störfunktion, die sogar eine
Sprungstelle besitzt, fehlt uns bei der klassischen Lösungstheorie ein geeigneter Ansatz
zur Bestimmung einer partikulären Lösung, siehe Abschnitt 14.3.4. Mithilfe der LaplaceTransformation können wir elegant Probleme lösen, die mit den klassischen Methoden aus
Kapitel 14 nur schwer zu bewältigen sind.
Lineare Differenzialgleichungen mit abschnittsweise definierten Störfunktionen
Die Laplace-Transformation kann man auch zur Lösung linearer Differenzialgleichungen
verwenden, bei denen die Störfunktion eine abschnittsweise definierte Funktion ist und
sogar Sprungstellen haben darf. Zur Rücktransformation verwendet man dabei in der
Regel den Faltungssatz.
Beispiel 19.17 (Differenzialgleichungssystem)
Wir betrachten ein Anfangswertproblem, das aus einem linearen Differenzialgleichungssystem
zweiter Ordnung und vier Anfangswerten zum Zeitpunkt t = 0 besteht:
ẍ + 2 ÿ + ẋ − 2 y = 4 σ(t),
x(0) = 0, ẋ(0) = 3
ẍ +
y(0) = 0, ẏ(0) = 1
ẏ − x +
y =
σ(t),
Die Transformation der Gleichungen in den Bildbereich ergibt:
4
s
1
Y =
s
s2 X − 3 + 2(s2 Y − 1) + s X − 2 Y =
s2 X − 3 +
sY −
X +
Dabei bezeichnen X und Y die Transformationen unserer gesuchten Funktionen x und y. Im Bildbereich erhalten wir das lineare Gleichungssystem mit Parameter s, das sich durch Multiplikation
1
mit dem Faktor
vereinfachen lässt:
s+1
4 + 5s
s
1 + 3s
(s + 1) Y =
s
(s2 + s) X + 2(s2 − 1) Y =
(s2 − 1) X +
Die Lösung dieses Gleichungssystems lautet
X=
6s + 3
,
s(2 s2 + s − 1)
Y =
2
.
2 s2 − s
4 + 5s
s(s + 1)
1 + 3s
Y =
s(s + 1)
s X + 2(s − 1) Y =
3⇒
(s − 1) X +
668
19 Laplace-Transformation
Mit den Nennernullstellen s1 = 0, s2 = −1 und s3 =
Partialbruchzerlegung bestimmen:
X = −
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
✄
3
4
1
+
−
s
s+1
s − 12
✄
✄
x = −3 + 4 e
1
2
t
−
1
2
lässt sich die Rücktransformation durch eine
Y = −
2
2
+
s
s − 12
✄
✄
−t
y = −2 + 2 e 2 t
e
✄
✄
1
Die Grenzwertaussage für s → ∞ aus Satz 19.10 ermöglicht uns eine Plausibilitätsprüfung:
lim (s X(s)) = lim
s→∞
s→∞
6s + 3
= 0 = x(0),
2 s2 + s − 1
lim (s Y (s)) = lim
s→∞
s→∞
2
= 0 = y(0).
2s − 1
Aufgrund der Singularitäten bei s = 12 dürfen wir den Grenzwertsatz für s → 0 aus Satz 19.10
jedoch weder auf X(s) noch auf Y (s) anwenden.
∎
Lineare Differenzialgleichungssysteme mit konstanten Koeffizienten
Die Laplace-Transformation kann man zur Lösung linearer Differenzialgleichungssysteme mit konstanten Koeffizienten verwenden. Dabei ist im Bildbereich ein lineares
Gleichungssystem mit Parameter zu lösen.
Das Differenzialgleichungssystem aus Beispiel 19.17 lässt sich auch durch Einführen von
Zustandsgrößen mit den Methoden aus Abschnitt 14.5 lösen. Dabei entstehen jedoch
(4, 4)-Matrizen. Im Gegensatz dazu erzeugt die Laplace-Transformation lediglich ein Gleichungssystem, das sich mit einer (2, 2)-Matrix beschreiben lässt.
19.7 Anwendungen
Eine der wichtigsten Anwendungen der Laplace-Transformation ist die Regelungstechnik.
Die klassische Regelungstechnik kombiniert die Theorie linearer zeitinvarianter Systeme
mit der Laplace-Transformation. Wir beziehen uns in diesem Abschnitt auf die Begriffe
und Ergebnisse aus Abschnitt 18.6.1.
Regelungstechnik
Die Regelungstechnik ist ein Teil der Automatisierungstechnik, die sich mit dem Messen,
Steuern und Regeln technischer Systeme beschäftigt. Im Gegensatz zur reinen Steuerung
erfolgt beim Regeln ein Abgleich zwischen Soll- und Istwerten. Durch negative Rückkopplung entsteht dabei ein geschlossener Regelkreis. Wir betrachten ausschließlich lineare
Übertragungsglieder, die sich mathematisch als lineare zeitinvariante Systeme beschreiben lassen, siehe Abschnitt 18.6.1. Solche Übertragungsglieder lassen sich im Zeitbereich
durch lineare Differenzialgleichungen in der Form
(m)
an x(n)
o + . . . + a2 ẍo + a1 ẋo + a0 xo = bm xi
+ . . . + b2 ẍi + b1 ẋi + b0 xi
19.7 Anwendungen
669
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
darstellen. Es besteht also ein linearer Zusammenhang zwischen dem Eingangssignal xi
inklusive seiner Ableitungen bis zur Ordnung m und dem Ausgangssignal xo inklusive
seiner Ableitungen bis zur Ordnung n. Typischerweise sind zum Zeitpunkt t = 0 alle Funktionswerte und Werte der Ableitungen sowohl des Eingangs- als auch des Ausgangssignals
null. Wir transformieren die Differenzialgleichung deshalb mit Nullanfangsbedingungen
(m)
xi (0) = 0, ẋi (0) = 0, . . . , xi
(0) = 0,
xo (0) = 0, ẋo (0) = 0, . . . , x(n)
o (0) = 0
in den Bildbereich:
(an sn + . . . + a2 s2 + a1 s + a0 )Xo (s) = (bm sm + . . . + b2 s2 + b1 s + b0 )Xi (s).
Nach Definition 18.7 ist die Übertragungsfunktion G das Verhältnis von Ausgangssignal
im Bildbereich Xo zum Eingangssignal im Bildbereich Xi :
G(s) =
Xo (s) bm sm + . . . + b2 s2 + b1 s + b0
.
=
Xi (s) an sn + . . . + a2 s2 + a1 s + a0
Somit ist jedes lineare Übertragungsglied durch seine Übertragungsfunktion G charakterisiert. Wenn xo das Ausgangssignal zum Eingangssignal xi ist, dann gilt aufgrund der
Linearität und der Zeitinvarianz des Systems
xi (t)
S
n→
xo (t)
7⇒
Xo (s) = G(s) Xi (s).
Dabei sind Xi und Xo die Laplace-Transformierten des Einganssignals xi und des Ausgangssignals xo .
Bei der Reihenschaltung zweier Systeme wird das Ausgangssignal des ersten Systems als
Eingangssignal des zweiten Systems verwendet:
i1 (t)
S1
n→
o1 (t) = i2 (t)
S2
n→
o2 (t).
Entsprechend gilt im Bildbereich
O1 (s) = G1 (s) I1 (s)
7⇒
O2 (s) = G2 (s) O1 (s) = G2 (s) G1 (s) I1 (s).
Dabei sind I1 , I2 und O1 , O2 die Laplace-Transformierten der Einganssignale i1 , i2 und
der Ausgangssignale o1 , o2 . Mit G1 und G2 werden die Übertragungsfunktionen der beiden
Systeme S1 und S2 bezeichnet. Das Gesamtsystem mit der Eingabegröße i1 und der Ausgabegröße o2 wird im Bildbereich durch das Produkt der beiden Übertragungsfunktionen
beschrieben.
Übertragungsfunktion von Systemen in Reihenschaltung
Die Reihenschaltung der beiden Systeme mit
den Übertragungsfunktionen G1 und G2 ergibt
ein System mit der Übertragungsfunktion
G(s) = G1 (s) G2 (s).
Bei der Reihenschaltung werden die Übertragungsfunktionen multipliziert.
I(s)
G1 (s)
G2 (s)
O(s)
670
19 Laplace-Transformation
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Dieses Ergebnis klingt auf Anhieb nicht so spektakulär wie es in Wirklichkeit ist. Es ist natürlich wesentlich eleganter, die Übertragungsfunktionen im Bildbereich zu multiplizieren
anstatt im Zeitbereich Differenzialgleichungen ineinander einzusetzen.
Bei der Parallelschaltung zweier Systeme wird ein Signal i1 als Eingangssignal von zwei
Systemen verwendet. Die beiden Ausgangssignale o1 und o2 überlagern sich zu einem
gemeinsamen Ausgangssignal o1 + o2 . Entsprechend gilt im Bildbereich
O1 (s) + O2 (s) = (G1 (s) + G2 (s))I1 (s).
Übertragungsfunktion von Systemen in Parallelschaltung
Die Parallelschaltung der beiden Systeme mit
den Übertragungsfunktionen G1 und G2 ergibt
ein System mit der Übertragungsfunktion
G(s) = G1 (s) + G2 (s).
Bei der Parallelschaltung werden die Übertragungsfunktionen addiert.
G1 (s)
I(s)
O(s)
G2 (s)
Ein Prinzip bei der Regelung von Systemen ist die negative Rückkopplung. Ein Eingangssignal i durchläuft dabei ein System mit Übertragungsfunktion GR des Reglers sowie
Übertragungsfunktion GS der Regelstrecke und wird dann mit umgekehrtem Vorzeichen
wieder dem Eingangssignal überlagert. Für die Übertragungsfunktionen bedeutet das
O(s) = GR (s) GS (s) (I(s) − O(s))
oder anders formuliert
O(s) (1 + GR (s) GS (s)) = GR (s) GS (s) I(s).
In der Praxis bedeutet dies, dass die Regelgröße o mit der Führungsgröße i verglichen
wird. Der Regler beeinflusst die Regelstrecke dann so, dass die Regelabweichung i − o
möglichst klein wird.
Übertragungsfunktion von Systemen mit negativer Rückführung
Bildet man aus der Reihenschaltung der beiden Systeme mit den Übertragungsfunktionen
GR und GS ein System mit negativer Rückführung, dann entsteht ein System mit der ÜberI(s)
tragungsfunktion
GR (s)
−
GR (s) GS (s)
G(s) =
.
1 + GR (s) GS (s)
GS (s)
O(s)
19.8 Aufgaben
671
19.8 Aufgaben
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Verständnisaufgaben
Aufgabe 19.1
Verwenden Sie die Korrespondenz
sin t
❝
!
1
,
s2 + 1
Re(s) > 0
und bestimmen Sie durch Anwendung von Sätzen die Laplace-Transformationen der Funktionen
b) f2 (t) = e−s0 t sin (ω t)
a) f1 (t) = sin (ω t)
c) f3 (t) = t sin (ω t)
Aufgabe 19.2
Bestimmen Sie mithilfe geeigneter Sätze und der Korrespondenz
❝
r(t) = σ(t) − σ(t − 1)
−s
! R(s) = 1 − e
s
die Laplace-Transformationen der abgebildeten Funktionen:
a)
b)
d)
c)
2
2
2
1
1
1
−2 −1
1
t
2
t
2
e)
−2 −1
1
t
t2
2
1
2
f)
−2 −1
e −t
1
−2 −1
1
t
2
1
2
t
1
2
t
2
1
−2 −1
1
2
t
−2 −1
Aufgabe 19.3
Für Sinus und Kosinus gelten die Korrespondenzen
sin t
❝
!
s2
1
,
+1
cos t
❝
!
s2
s
,
+1
Re(s) > 0.
Andererseits lässt sich der Sinus als ein um π2 verschobener Kosinus darstellen: sin t = cos (t − π2 ).
Aufgrund des Zeitverschiebungssatzes müsste also gelten:
sin t = cos (t − π2 )
❝
! e− π2 s
s
.
s2 + 1
Erklären Sie, worin der Fehler bei dieser Argumentation liegt.
672
19 Laplace-Transformation
Mathematik für das Ingenieurstudium downloaded from www.hanser-elibrary.com by BFH Technik und Informatik (FH Bern) on March 9, 2021
For personal use only.
Rechenaufgaben
Aufgabe 19.4
Bestimmen Sie für die folgenden Funktionen F im Bildbereich die zugehörigen Funktionen f im
Zeitbereich:
1
1
1
a) F (s) =
b) F (s) = 3
c) F (s) = 2 2
s(s − 1)
s − s2
s (s + a2 )
s
s+1
a2
d) F (s) = 2
e) F (s) = 2
f) F (s) = 4
s − 4s + 3
s + 4s + 8
s − a4
Dabei ist a ≠ 0 eine reelle Konstante.
Aufgabe 19.5
Berechnen Sie die Lösung des Anfangswertproblems
ẋ + x = t (σ(t) − σ(t − 1)) ,
x(0) = 0.
Aufgabe 19.6
Berechnen Sie die Lösung des Anfangswertproblems
ẍ + ẋ = eT −t σ(t − T ),
x(0) = 1,
ẋ(0) = 0,
T > 0.
Aufgabe 19.7
Berechnen Sie die Lösung des Anfangswertproblems
ẍ
+
2 ẋ
ÿ
+
ẋ
−
ẏ
=
0,
x(0) = 0,
ẋ(0) = 1,
=
0,
y(0) = 0,
ẏ(0) = 0.
Anwendungsaufgaben
Aufgabe 19.8
Ein Einweggleichrichter blendet bei einer sinusförmigen Wechselspannung mit Kreisfrequenz ω > 0 die
negativen Halbwellen aus. Zeigen Sie, dass für die
abgebildete Funktion f die folgende Korrespondenz
gilt:
f (t)
❝
! F (s) =
1
f (t)
T
2T
3T
t
−1
1
ω
.
π s
−ω
2 + ω2
s
1−e
Aufgabe 19.9
Ein lineares, zeitinvariantes System besitzt die Übertragungsfunktion
G(s) =
e−T s
,
s2 + s
T > 0.
Berechnen und skizzieren Sie die Impulsantwort g des Systems und ermitteln Sie das Ausgangssignal o für das Eingangssignal i(t) = σ(t) − σ(t − T ).
Herunterladen