11. GfM Marketing-Trend-Tagung 25. April 2001 im Kongresshaus Zürich Mit Marketinginnovationen überdurchschnittliche Unternehmenserfolge erzielen Medien – Schrittmacher der Innovation? Roger de Weck 1 Neulich ist ein McKinsey Berater gestorben. Er kommt in den Himmel, klopft an die Tür, Petrus macht auf, verzieht das Gesicht. „Tut mir leid“, sagt er, „McKinsey-Leute gehören nicht ins Paradies.“ „Nein, nein“, erwidert der McKinsey-Mann, „ich will nicht rein, aber 1000 müssen raus!“ Nicht nur bei McKinsey finden sich Schrittmacher der Innovation, die den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Dann stolpern sie, es tut weh. Während wir über die Zukunft sprechen, muss die Generalversammlung der Swissair Vergangenheit aufarbeiten. Aber auch meine Branche: Auch die Medien haben durchaus Grund, sich selbstkritisch über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte zu beugen. Waren sie wirklich ein Ort und ein Hort der Innovationsfreude? Ich führe drei Fallbeispiele an: drei grosse Innovationen in Politik und Wirtschaft – das New Public Management, die Globalisierung, den Euro. 1. New Public Management Das neue Selbstverständnis des Staates - nicht nur Obrigkeit, sondern vor allem Dienstleister für die Bürgerinnen und die Bürger – dieses neue Selbstverständnis müsste gar nicht so neu sein. Das wegweisende Buch „Reinventing Government“ erschien vor bald 20 Jahren in den Vereinigten Staaten. Doch in Europa, auch in der Schweiz, verstrich ein ganzes Jahrzehnt, ohne dass etwas geschah, ohne dass der neue Gedanke wahrgenommen wurde. Er wurde nirgends aufgegriffen, oder wenn, dann wurde die Idee gleich verworfen. Bis die überfällige Verwaltungsreform von einzelnen Politikern in Angriff genommen wurde, im Kanton Zürich etwa von Regierungsrat Buschor, in Deutschland vom damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder. Erst danach begannen die Medien zu debattieren. Sie haben die Idee aufgegriffen, als sie sich bereits durchgesetzt hatte. In diesem Punkt haben die meisten Medien versagt. 2. Die Globalisierung Zum ersten Mal sieht der Mensch die Erde als ein Ganzes, eine Gesamtheit, für die wir alle gemeinsam - in diesem Raum und draussen - Verantwortung tragen. Globalisierung und Ölkologie sind gedanklich nicht voneinander zu trennen. Beide weisen darauf hin, dass globale Probleme nur global, jedenfalls transnational zu lösen sind. Von den Medien wäre zu erwarten, dass sich ihr Sinn fürs Internationale schärft, dass sie das Ganzheitliche in unserer Wahrnehmung der Welt betonen. Aber was beobachten Sie in weiten Teilen der Medienlandschaft? Den Rückzug auf die Politik des Kirchturms nach dem Motto „There is no news than local news“ (oder „national news“). In dem Masse, in dem Politik und Wirtschaft sich internationalisierten, hat sich die Berichterstattung vieler Medien regionalisiert und im schlechtesten Sinne provinzialisiert. Vergleichen Sie zum Beispiel den Anteil der ausländischen Aktualität in irgendeiner europäischen Tagesschau irgendeines Kanals vor zehn Jahren und jetzt. Sie erfahren heute viel mehr Kirchturmhaftes und recht wenig Internationales, oder nur, wenn es spektakulär ist. In der Zeit, in der die Globalisierung zu greifen begann, verbannten die zwei Nachrichtenmagazine der Bundesrepublik, Focus und Spiegel, den Auslandteil weit nach hinten im Blatt. Oder schauen Sie sich die Sonntagszeitungen an in Europa. Ausländische Aktualität mit Ausnahme grosser internationaler Krisen oder des Glamours made in Hollywood ist an den Rand verwiesen worden. Das sind keine guten Voraussetzungen, um die internationalen Rahmenbedingungen, die der Wirtschaft gegeben sind, mit denen Sie täglich zu tun haben, besser zu verstehen. Die Medien sind zwar allgegenwärtig, aber ihr Horizont wird nicht breiter. Schrittmacher der Innovation? 3. Beispiel: Der Euro Gestatten Sie, dass ich hier persönliche Erinnerungen wachrufe. Vor gut zehn Jahren war ich Chef des Wirtschaftressorts der Zeit und in Deutschland der einzige Wirtschaftsjournalist überhaupt, der sich für den Euro einsetzte: für die gemeinsame Währung der Europäer. Ich vertrat damals eine Meinung, die nicht gefragt war, eine Minderheitsmeinung. Jede Innovation ist zunächst in der Minderheit: in der Firma, in der Gesellschaft, im eigenen Umfeld, manchmal sogar in der eigenen Familie. Ich erlebte damals (daraus lernte ich viel) alle Abgrenzungs- und Ausgrenzungsstrategien, 2 wenn eine Neuerung ansteht, aber stört, wenn eine neue Meinung nicht gelten darf. Zum Beispiel: „Die neue Meinung ist dumm; wer sie vertritt, ist eitel. Oder: Er will sich bloss profilieren; er ist der Handlanger von jemandem im Hintergrund; er ist inkompetent; er ist nicht auf dem Stand der Wissenschaft; er verfolgt eine andere Absicht als die, die er zu vertreten vorgibt.“ Lauter Argumente nicht gegen die Idee, sondern gegen ihren Verfechter; Sie alle kennen das wohl aus Ihrer Firma. Indessen: „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.“ Das Zitat ist von Goethe. Allerdings gibt es wohl grosse Ideen, die nie bekannt wurden, weil ihre Urheber fürchteten, ausgelacht zu werden. Und gerade die auf Originalität bedachten Medien können in dieser Hinsicht Lämmer sein. Französisch spricht man von der „pensée unique“, auf Englisch von der „conventional wisdom“. Die Einheitsmeinung. Journalismus aber, und das gilt gewiss auch fürs Marketing, ist wie ein Fallschirm – der funktioniert nur, wenn er offen ist. Ich stelle aber fest, dass mehr und mehr Medien denselben Filter haben, was ein Thema ist und was nicht; sie gleichen sich an. Das Börsenfieber Ein Fieber, eine Euphorie haben wir in den vergangenen Jahren erlebt an der Börse. Die Medienwelt war davon in keiner Weise ausgenommen. So sehr sich Teile der Finanzwelt vom Fieber anstecken liessen, so sehr wurde auch der grössere Teil der Medienwelt vom Fieber der Absurdität gepackt. Es ging das verloren, was guten Journalismus ausmacht, nämlich das Nüchterne, die kritische Distanz. Ein Rückblick auf frühere Fälle von Medienversagen lohnt sich, denn wie sich in jüngster Zeit die Medien verhielten, hat Tradition. Die Aelteren unter uns dürften sich noch an den Fall IOS erinnern, an den Hochstapler und IOS-Chef Bernie Cornfeld. Sie wissen, wie damals etliche Medien gänzlich ohne Distanz über die Luftblase berichteten, die Cornfeld vollgepumpt hatte. Spät genug ging Cornfeld und mit ihm vielen Journalisten die Luft aus. Oder erinnern Sie sich, 15 Jahre ist es her, wie ein nicht geringer Teil der Medien uns Europäer lehrte, wir sollten die Japaner nachahmen? Zum Glück haben wir das nicht getan, zum Glück ist unsere Wirtschaft nicht die japanische! In Europa steckt nach wie vor eine grosse Kraft, die sich nun entfalten könnte, in dem Augenblick, in dem Japan ohnehin darbt und die Vereinigten Staaten nachlassen. Europa hat seine Chance. In besonderer Erinnerung bleibt auch der Fall Rey mit Lichtblicken, aber auch langen Schatten, die sich über die Medienlandschaft legten. Medienleute haben diesen Fall über Jahre hinweg unkritisch begleitet. Es gab löbliche Ausnahmen, Redaktorinnen und Redaktoren, die sich nicht blenden liessen. Allen voran muss genannt werden der damalige Kollege von der NZZ: Hansjörg Abt. Insgesamt jedoch zeugte der Umgang der Presse mit dem Fall Rey nicht von einer äusserst weit verbreiteten Fähigkeit zur Einordnung und zum nüchternen Urteil. Dasselbe gilt nun für den Umgang mit der so genannten New Economy, die sich zum Glück in eine „True Economy“ verwandelt hat. Der grössere Teil der Medien (und das ist eine neue Qualität, leider eine schlechte) hat sich nicht nur vom Virus anstecken lassen, nicht bloss mitgemacht, sondern hat dieses Fieber regelrecht angeheizt. In Deutschland etwa – Schrittmacher der Innovation? - schnellten Magazine empor, die in keiner Weise das taten, was angesichts der Oeffnung breiter Kreise der Bevölkerung zur Aktienkultur nötig gewesen wäre: viel Wissen vermitteln und darüber hinaus für Nüchternheit sorgen. Im Gegenteil, sie haben das Fieber über Monate angefacht. Die Auflage manchen Börsenblattes stieg mit dem Börsenkurs und fiel, als die Kurse einbrachen. Solche Zeitungen waren nicht kritisch-distanziert, sondern affirmativ; sie hatten mehr Unterhaltungs- als Informationswert; sie haben manchen Neuanleger irregeführt. Das wird deutlich heute, wo die Kurse tendenziell (noch immer) fallen. Eigentlich müsste die Auflage der aufs Börsengeschehen spezialisierten Blätter zulegen, weil Anleger in Krisenzeiten erst recht auf fundierte Infor3 mation und kompetenten Rat angewiesen sind. Das Gegenteil ist der Fall. Mit der Stimmung verschlechtert sich die Auflage: weil die Blätter eben nur Stimmungsmacher waren, nicht Schrittmacher der Innovation. (Bedenken Sie übrigens, dass fast die Hälfte der von der deutschen Presse gekürten „Manager des Jahres“ inzwischen gescheitert ist, bankrott ging oder gar im Gefängnis sass.) Die Glaubwürdigkeit hat gelitten. Die Fähigkeit der Medien, Tempomacher zu sein für wirkliche Neuerungen, bleibt gering. In der Europafrage, wenn sich die Medien fast einhellig für einen Beitritt zur EU einsetzen, während das Volk davon (noch) nichts wissen will, sehen wir die Grenzen. Mehr Medien, aber weniger Einfluss: Dafür möchte ich, unter anderen, vier Gründe anführen. Dabei werde ich auch kurz anknüpfen an mein Referat im Oktober 1995 vor der GfM – wir unterhielten uns damals über Infotainment mit seinen drei Elementen. Infotainment 1) Die Personalisierung: Alles und jedes wird auf Personen verkürzt, weil die Medien nicht mehr in der Lage sind, die hinter den Personen stehenden Strukturen und die innerhalb dieser Strukturen wirkenden Mechanismen genau nachzuvollziehen. Mangels Kompetenz konzentrieren sie sich auf das, was man journalistisch halbwegs im Griff hat – auf die Personen. 2) Das wunderschöne Verpacken anstelle des seriösen Verarbeitens des Stoffes. 3) Das Ausblenden weiter, relevanter Teile der Wirklichkeit, die als angeblich zu schwierig für Zuschauer und Leser gelten. Doch gerade das Innovative ist schwierig, weil es eben neu ist, ungewohnt. Und da es neu ist, hat es nicht seine endgültige Form, ist es auf der Suche nach einer festen Form. Was aber keine Form hat, wird von den visuellen Medien am liebsten ignoriert. Deshalb kommt das wirklich Innovative in manchem Medium, das zwar innovativ tut, zu kurz. Content Provider Neben dem Infotainment sind aber auch jüngere Entwicklungen zu erwähnen: Die Branche sucht weniger nach Medien für die Inhalte als vielmehr nach Inhalten für die Medien. Sie braucht Content Provider - auf Deutsch übersetzt wird es deutlicher, sie braucht „Inhaltbesorger“. Früher hatten wir das Wort Nachricht: etwas, wonach ich mich richte; es folgte das Wort „News“, ein Rohstoff, der in der Medienmaschine verarbeitet wird; heute schliesslich sind wir beim Content: „Inhalt für die Leute“ zeugt nicht von einem starken Willen zur „Nach-richt“, nach der sich Menschen richten. Im üblich gewordenen Wort „Content“ äussert sich letztlich eine wohl unbewusste Geringschätzung des Medienbetriebes für die Leserin oder den Zuschauer. Content bieten, irgendeinen Inhalt – ist das nicht eine Zurückstufung des Journalismus? Seine ursprüngliche Aufgabe war es, Nachricht und mithin Richtung zu bieten, Orientierung statt Content. Übertragen auf andere Branchen, müsste man sagen: Die Winzer, die Brauer, Coca Cola, Red Bull und natürlich Emmi sind Content Provider für Flaschen. Aber nein, das ist nicht ihr Selbstverständnis! Auch die Medien sollten sich nicht als blosse Content Provider verstehen. Wo Bataillard und andere Weinhäuser an dieser Tagung vertreten sind, sollten wir uns ein Beispiel nehmen am Weinmarkt. Ein Markt, der es über zwei, drei Jahrzehnte geschafft hat, die Qualität zu heben. Mit der Qualität der Produkte stiegen auch die Ansprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher. Man hat einander befruchtet, mit der Folge einer allgemeinen Qualitätssteigerung in der Schweiz und im europäischen Ausland. Querbeet beobachten wir, inzwischen bis weit hinein nach Osteuropa, wie der Wein besser wird. Ich glaube, man kann das leider von der allgemeinen Entwicklung im Medienbetrieb nicht sagen. Mehr Medien als Stoff Das mag – dritter Grund – damit zusammenhängen, dass es inzwischen viel mehr Medien gibt, als Stoff vorhanden ist. Forscher der Berkeley-Universität in Kalifornien haben ermittelt: Vergangenes Jahr wurden 80 Milliarden Fotos geschossen, im Jahr 2000 wurden 4250 Kinofilme gedreht, er- 4 schienen 968743 neue Bücher, 22643 neue Zeitungen und Zeitschriften wurden gegründet, 90000 neue CDs kamen auf den Markt und 2,1 Milliarden neue Seiten im Web. Der Kampf um Aufmerksamkeit ist härter geworden. Kaum ist die Nachricht da, muss sie vermittelt werden. Deshalb kommt das zu kurz - wir haben es in den Boomjahren der New Economy aufs deutlichste gesehen: Es kommt das eigentliche journalistische Handwerk zu kurz, nämlich die Information prüfen, einordnen, gewichten – ist sie wichtig oder nicht? - und die Information erläutern. Wir beobachten eine Entwicklung zum Journalismus des Halbgaren: Wenn Medien nicht mehr warten können! Oft genug wird in der so genannten Wissensgesellschaft unüberprüfte Information in Gefässe gegossen, ohne dass sie zuvor kompetent verarbeitet worden wäre. Die Medienmaschine will die Wirklichkeit inszenieren Da ist eine Medienmaschine, die nicht mehr die Wirklichkeit abbilden möchte. Nein, sie will die Wirklichkeit inszenieren, mehr Schaum schlagen aus dem Stoff – der Schaum ist oft wichtiger als Substanz. Die Wissensgesellschaft ist derzeit vor allem Unterhaltungsgesellschaft. Nichts hat weniger mit echter Kommunikation zu tun als der heutige Medienbetrieb. Nichts hat weniger mit der Wirklichkeit zu tun als das Reality TV. Nichts ist realitätsfremder als Content-Denken. Viele Journalisten, die berufshalber Wirklichkeit vermitteln, haben weniger Kontakt zur Wirklichkeit als ihre Leser oder ihre Zuschauer. Der Wechsel von Eva Wannenmacher von „10 vor 10“ zu „Big Brother“ ist Sinnbild für die Uebermacht der Scheinwelt über die Realität. Das ist die Stunde des Kunststoffjournalismus, des Journalismus der Nullinformation, selbstreferenziell, selbstbezogen. Dreh- und Angelpunkt des Medienhauses ist nicht mehr die Realität, sondern die Kantine. In dem Masse, in dem Shareholder Value in Medienhäuser eingezogen ist, in dem Masse wird das Qualitätsurteil, was wichtig ist und eines grossen Auftrittes bedarf, und was im Grunde unter „Ferner liefen“ veröffentlicht werden könnte, in manchen angeblich seriösen Medien unzureichend vorgenommen. Der Spar-, Verkaufs- und Ouotendruck ist oft zu stark, als dass man durchwegs seriös arbeiten könnte. Die Regel lautet vielerorts: Es gilt nicht mehr das Wichtige, sondern vornehmlich das, was zieht. Das ist keine neue Regel, die Boulevardpresse hat seit jeher danach funktioniert. Aber Einbrüche des Boulevards gibt es bei den ernsten Medien: Der Spiegel veröffentlicht ein PRInterview mit Boris Becker; er hebt die Geschichte aufs Titelblatt just in einer Woche, in der brisante politische Aktualität herrscht. Vor Monaten geschah ein anderer Dammbruch, als der Mord an einem Mädchen in Deutschland die Oeffentlichkeit erschütterte, sie hiess Ulrike. Auf Seite 1 grosser Blätter, selbst Qualitätsblätter, lautete die Schlagzeile: „Ulrike ermordet“. Undenkbar vor wenigen Jahren. Es fehlt, was heute schon angesprochen wurde – der Respekt. Das Medienangebot richtet sich nicht mehr an eigenständige Bürger, sondern an übersättigte Medienkonsumenten; die Bürgertugenden sind nicht unbedingt die Verbrauchertugenden. Ablenkung vom Wesentlichen statt Hinführen zu der Verantwortung, ohne die kein Gemeinwesen auskommt. In meinem Heimatkanton Freiburg waren vor kurzem Gemeindewahlen. In der Hälfte der Gemeinden wurde nicht abgestimmt, weil gerade so viele Leute für den Gemeinderat kandidierten, wie man brauchte. In einzelnen Gemeinden waren es sogar weniger, als Plätze zu vergeben waren. Ein Medienbetrieb, der vom Wesentlichen ablenkt, trägt zu solchen Entwicklungen bei. Journalismus, mein Beruf war immer, wie der Name sagt, ein schneller. Wuchert die Mediendemokratie, wird sie noch kurzatmiger als ohnehin bei vier- oder fünfjährigen Legislaturperioden. Reflexe statt Reflektion, jedenfalls auch da keine Schrittmacher der Innovation. Zudem verliert die Wirtschaft in ihrem Sog nach Gewinnmaximierung oft den Atem. Es reicht knapp bis zum nächsten Börsenbericht, der im Fernsehen einer Lottoshow ähnelt. Dem Populismus der Medien entspricht der Populismus der Politiker und auf dem Höhepunkt des Hightech/Newtech Börsenbooms – Hand aufs Herz – auch ein Populismus von Teilbereichen der Wirtschaft. Die Bretter, die mancher Manager vor dem Kopf hat, bedeuten für ihn die Welt. Die Art und 5 Weise, wie Unternehmen dem Publikum begegneten, war nicht mehr die alte nüchterne traditionsreiche. Wie so manche Roadshow gestaltet wurde vor einem Börsengang – mit Tamtam und Trara -, das war Boulevard pur. Manager verwandelten sich, auch sie, in Schaumschläger. Darf ich in diesem Zusammenhang eine Klammer öffnen. Mir scheint, dass sich eine Fehlentwicklung abzeichnet in der Marktwirtschaft. Der Aktionär kam während Jahrzehnten zu kurz; es ist gut, dass er wieder mehr bedeutet. Aber der Pendelausschlag ist zu stark. So manches Management richtet sich nur noch nach dem Aktionär aus, nicht mehr nach dem Kunden. Der Manager weiss: Mein Kunde ist eher etwas treuer als mein Aktionär. Er sagt sich: „Ich orientiere mich nach dem Dringlichsten (dem Aktionär) und nicht nach dem Wichtigsten (dem Kunden).“ Indessen haben diejenigen Blätter und Internetanbieter, die nach wie vor auf Qualität setzen, nichts zu verlieren, während einfältige Boulevardanbieter tendenziell an Auflage oder Quote verlieren. Journalismus trotz der Medien Die ureigene Aufgabe des Journalisten besteht nun darin, Journalismus zu machen trotz der Medien. Man hat früher Journalismus und Medien gleichgesetzt, doch die Mediengesetze und die Gesetze des guten Journalismus driften auseinander. Der Journalismus, wie wir ihn verstehen, ist Schrittmacher der Innovation; der Medienbetrieb ist Entdecker uralter „Neuheiten“. Der Journalismus ist neugierig; der Medienbetrieb ist kalt. Der Journalismus sucht die Wahrheit, eine Annäherung an die Wahrheit; die Medien verkaufen bestehende Wahrheiten, Conventional Wisdom. Der Journalismus betrachtet Information auch als Frage der Verantwortung; für die Medien ist Information einfach eine Ware. Der Journalismus, wenn er von Qualität ist, versucht das menschliche Wesen zu verstehen, zu ergründen; der Medienbetrieb nutzt die menschliche Natur, beutet menschliche Schwächen aus. Der Journalismus ist kritisch; die Medien sind affirmativ. Der Journalismus liebt den Inhalt; der Medienbetrieb interessiert sich vor allem für die Form. Der Journalismus will informieren; der Medienbetrieb will unterhalten. Der Journalismus ist auf der Suche nach der Wirklichkeit; der Medienbetrieb ist Inszenierung der Wirklichkeit. Der Journalismus möchte die Dinge bewegen; der Medienbetrieb bestärkt den Status quo. Folgerungen für das Marketing Daraus ziehe ich für das Marketing zwei konkrete Folgerungen, vielleicht mit etwas Nutzwert. Erstens: Bei dem Überangebot an Medien und dem Verlust an Glaubwürdigkeit derselben wird es immer wichtiger, Informationen auch direkt bei den Menschen bekannt zu machen: sich direkt an die Verbraucher zu wenden, teils an Medien vorbei. Auf Französich gibt es das schöne Wort-und Wechselspiel: „les médias“ und „immédiat“ – sofort, unmittelbar. Auch in der Mediengesellschaft kann nichts den persönlichen Kontakt ersetzen. Gerade in der Mediengesellschaft ist der persönliche Kontakt noch nötiger. Sobald ein persönlicher Kontakt geknüpft worden ist, kann er zum Teil über die Medien gepflegt oder verstärkt werden. So plädiere ich für ein Präsenzmarketing, ein Direktmarketing in anderem Sinne, als man es sonst versteht. Präsenzmarketing, persönliche Beziehung: 1)Wann zum Beispiel – um nur vier Beispiele zu erwähnen –gibt es einen Manager, der nicht nur ein oder zwei Mal im Jahr eine Medienkonferenz abhält, sondern jeden Monat den Aktionären und noch besser den Kunden in grosser Versammlung Red und Antwort steht? 2) Wo gibt es das neue Massenprodukt, das nicht nur unpersönlich in der Bahnhofshalle verteilt wird an Pendler, sondern an jeden einzelnen Haushalt einer Gemeinde persönlich überbracht und überreicht wird? 6 3) Wo ist die Firma, die einen Strassenmusiker anstellt, der kein Geld in seinen Hut will, sondern nach dem Musikstück kurz dieses oder jenes Produkt anpreist? 4) Wann erhalte ich einen Rundbrief an potenzielle Kunden, der die persönlich von Hand und mit Füllfeder angebrachte Unterschrift eines Mitarbeiters trägt? Diese persönliche Unterschrift selbst eines untergeordneten Mitarbeiters wird tausend Mal wirksamer sein als die gedruckte Unterschrift des Firmenchefs oder des Verkaufsleiters. „If you automate a mess you get an automated mess.“ Wir brauchen ein Marketing, das die persönliche Beziehung stärkt. Ein Marketing, das manchmal gar nicht so kostspielig ist. Dafür gibt meine Branche ein gutes Beispiel ab: Wenn die persönliche Beziehung fehlt, also die Leserbindung, muss sie mit einem beträchtlichen Aufwand an Marketing kompensiert werden. Focus in Deutschland und Facts in der Schweiz haben verhältnismässig wenig Leserbindung geschaffen. Umso höher sind ihre Marketing-Kosten. Andere Blätter, die eine persönliche Leserbindung zu knüpfen wussten, haben geringere Ausgaben. Zweitens: Wir haben eine Inflation an Glamour, an Schrillem, an Schickimickihaftem, an Infotainment, an Boulevard. Ich glaube, das Event-Marketing, das auf all das setzt, stösst an seine Grenzen. So kann man sich heute fast nicht mehr unterscheiden, es sei denn in der Ungeheuerlichkeit des Aufwandes. Und diese kann wiederum kontraproduktiv wirken. Also plädiere ich neben dem Präsenzmarketing für ein Seriositätsmarketing. Die Menschen werden von überall her unterhalten, aber sie fühlen, dass sie nicht sonderlich ernst genommen werden, nach dem Motto: „Der Mensch steht bei uns im Mittelpunkt, aber da steht er uns im Wege.“ Gerade die Präsentation von Möbel Pfister hat uns gezeigt, was es bewirken kann, wenn man dem Kunden signalisiert „Ich nehme dich ernst“. Wer Substanz bietet, wird sich stärker abheben: Substanz statt Jargon in den Werbeunterlagen. Umfassende, auch technische Information. Hinweise darauf, wo das Produkt oder die Dienstleistung besonders geeignet ist und wo nicht. Understatement im persönlichen Gespräch: All das kann wirken. Wer die Menschen nicht nur als Verbraucher sieht, wird ihnen auf die Dauer mehr verkaufen. Anstelle des Medienbetriebs könnte hier das Marketing Schrittmacher der Innovation werden. © Roger de Weck, 2001, Zürich und Berlin 7