Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Dr. Regina Oehler WISSENSWERT Wo die Fichte an ihre Grenzen stößt Ein Streifzug durch den Harz Von Diemut Klärner Sendung: 27.04.2007, 8:30 bis 8:45 Uhr, hr2 07-032 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. –1– Atmo Bach Zitat: "Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit, Naivetät und Anmut die Ilse sich hinunter stürzt über die abenteuerlich gebildeten Felsstücke, die sie in ihrem Laufe findet, so daß das Wasser hier wild empor zischt oder schäumend überläuft, dort aus allerlei Steinspalten, wie aus tollen Gießkannen, in reinen Bögen sich ergießt, und unten wieder über die kleinen Steine hintrippelt, wie ein munteres Mädchen. Ja, die Sage ist wahr, die Ilse ist eine Prinzessin, die lachend und blühend den Berg hinab läuft. Wie blinkt im Sonnenschein ihr weißes Schaumgewand! Wie flattern im Winde ihre silbernen Busenbänder! Wie funkeln und blitzen ihre Diamanten!" Atmo Bach So überschwänglich schildert Heinrich Heine das Flüsschen Ilse, das am Nordhang des Brockens entspringt. Eine Wanderung quer durch den Harz hatte Heine schließlich ins Ilsetal geführt, Zitat: "an dessen beiden Seiten sich die Berge allmählig höher erheben, und diese sind, bis zu ihrem Fuße, meistens mit Buchen, Eichen und gewöhnlichem Blattgesträuch bewachsen, nicht mehr mit Tannen und anderem Nadelholz." Was Heinrich Heine als Tannen bezeichnet, sind eigentlich Fichten, leicht zu erkennen an den herabhängenden Zapfen. Ursprünglich wuchsen die Fichten nur in den höheren Lagen des Harzes. Heutzutage sind sie dagegen auch am Fuß der Berge anzutreffen. So wachsen sie zum Beispiel auch unweit von Ilsenburg. Von selbst sind sie freilich nicht dorthin gelangt. Dr. Dietrich Hertel von der Universität Göttingen erzählt: O-Ton 01 Die Fichte hier in dieser Höhenlage ist immer von den Menschen gepflanzt. Das hat damit etwas zu tun, dass in allen Teilen des Harzes vor 150 bis 250 Jahren die Wälder weitgehend abgeholzt wurden. Man hat das Holz benötigt – der Harz ist ja bekannt durch seine Erzvorkommen, und es gab hier sehr viele Erzhütten und Bergwerke – und man hat das Holz für die Verhüttung benötigt, hat den Harz in den Zeiten, was den Wald angeht, nicht besonders geschont, hat die Bäume abgeschlagen. –2– Als Heinrich Heine durch den Harz wanderte, war der Bergbau dort noch in vollem Gang. Holz wurde langsam knapp. Deshalb begannen die Forstleute, auf den abgeholzten Hängen fleißig wieder neue Bäume anzupflanzen. Sie pflanzten hauptsächlich Fichten, weil die erfreulich schnell wachsen, und das auch in tieferen Lagen, wo ursprünglich Buchen standen. Hier bei Ilsenburg, am Nordrand des Nationalparks, wächst nun bereits die zweite Fichtengeneration. Und auch diese Bäume sind schon recht groß, O-Ton 02 etwa 90 Jahre alt nach Angaben der Förster, sind also doch relativ alte Fichten. Man sieht aber schon, wenn man sich umguckt, dass die Durchmesser hier gar nicht so sehr stark sind von den Fichten. Die Baumhöhe ist relativ hoch noch, aber nicht ganz so hoch, wie wir sie in höheren Lagen finden. Das heißt, hier ist die Fichte eigentlich schon außerhalb ihres optimalen Wuchbereiches. Hier bei Ilsenburg, nur 390 Meter über dem Meeresspiegel sind die Sommer oft ziemlich warm und trocken. Ein solches Klima behagt der Fichte nicht. Doch auch in höheren Lagen ist es den Fichten mancherorts schlecht ergangen. O-Ton 03 Ja, der Harz ist ja unter anderem auch berühmt geworden leider dafür, dass er sehr stark betroffen war von den Waldschäden Mitte des 20. Jahrhunderts, also von 1960, 1970 an. Und gerade weiter oben in den höheren Lagen des Harzes haben wir ja Flächen, die komplett kahl sind, wo die Skelette der Fichten stehen als Auswirkung der Waldschäden durch die Schadstoffeinträge aus der Atmosphäre, die hier gerade in den Hochlagen des Harzes mit dem Regen niedergingen. Gespenstisch ragen die bleichen Fichtenstämme gen Himmel, ein Andenken an Zeiten übelster Luftverschmutzung. Große Mengen Schwefelsäure und andere Schadstoffe kamen vor allem aus den nahe gelegenen Industriegebieten der ehemaligen DDR. Auf diesen Sauren Regen reagierten angepflanzte Fichten besonders empfindlich. Denn häufig wurden Varianten gepflanzt, die aus ganz anderen Regionen stammten und sich im Harz deshalb ohnehin schwer taten. Die hier heimische Version der Fichte ist durch jahrhundertelangen Raubbau arg dezimiert. Mancherorts wächst sie allerdings noch, unter anderem auf einer Forschungsfläche der Göttinger Botaniker am Nordhang des Brockens. –3– O-Ton 04 Das ist die Fläche, die von unseren fünf Untersuchungsflächen in der Mitte gelegen ist hier auf 790 Meter überm Meer. Das ist die Stelle, an der der Naturfichtenwald, also die wirklich im Harz vorkommenden ursprünglichen Fichten am besten ausgebildet sind. Man sieht das, die Bäume sind da fast 30 Meter hoch, relativ dicke Stämme, wir sind hier ja nur etwa 250 Meter unterhalb der Waldgrenze, also nicht mehr allzu weit entfernt vom Gipfel des Brockens. Als Heinrich Heine einst diesen Berg hinaufstieg, war er von den stattlichen Bäumen in dieser Höhenlage ebenfalls beeindruckt. Zitat: "Bald empfing mich eine Waldung himmelhoher Tannen, für die ich, in jeder Hinsicht, Respekt habe. Diesen Bäumen ist nämlich das Wachsen nicht so ganz leicht gemacht worden, und sie haben es sich in der Jugend sauer werden lassen. Der Berg ist hier mit vielen großen Granitblöcken übersät, und die meisten Bäume mußten mit ihren Wurzeln diese Steine umranken oder sprengen, und mühsam den Boden suchen, woraus sie Nahrung schöpfen können. Hier und da liegen die Steine, gleichsam ein Tor bildend, über einander, und oben darauf stehen die Bäume, die nackten Wurzeln über jene Steinpforte hinziehend, und erst am Fuße derselben den Boden erfassend, so daß sie in der freien Luft zu wachsen scheinen. Und doch haben sie sich zu jener gewaltigen Höhe emporgeschwungen, und mit den umklammerten Steinen wie zusammengewachsen, stehen sie fester als ihre bequemen Kollegen im zahmen Forstboden des flachen Landes." Noch größere Standfestigkeit und Widerstandsfähigkeit wird den Bäumen in Gipfelnähe abverlangt. Zitat: "Je höher man den Berg hinauf steigt, desto kürzer, zwerghafter werden die Tannen, sie scheinen immer mehr und mehr zusammen zu schrumpfen, bis nur Heidelbeer- und Rotbeersträuche und Bergkräuter übrig bleiben." Nahe am Gipfel bilden die Bäume auch keinen geschlossenen Wald mehr, sie wachsen nur noch einzeln oder in kleinen Gruppen. Einen dieser Fichtentrupps wählte Dietrich Hertel als höchstgelegene Untersuchungsfläche. –4– O-Ton 05 Wir stehen jetzt hier in der Schutzzone 1 des Nationalparks in den letzten Resten der hier vorkommenden Fichtenwälder. Man kann hier rübersehen, man sieht den Brockengipfel mit seinen vielen Touristen, die da jetzt unterwegs sind, so einen Steinwurf von hier entfernt. Wir sind hier auf 1100 Meter über dem Meer. Und das sind hier die letzten Vorkommen der Fichten. Wir sind hier an einer natürlichen Waldgrenze. Man sieht das auch schon, wenn man sich hier umguckt, die Fichten sind ganz klein, gedrungen, die Spitze oft abgebrochen, die Äste vom Wind zerzaust, denn das Wetter hier oben spielt den Bäumen übel mit. Als nördlichstes deutsches Mittelgebirge fängt der Harz all die Regenwolken ab, die von Nordwesten heranziehen. O-Ton 06 Wir haben über 1600 Millimeter Niederschlag im Jahr, und die Durchschnittstemperatur auf dem Brockengipfel oben beträgt weniger als 3 Grad, 2,5 Grad, also sehr, sehr wenig. Es ist eine unserer kältesten Regionen überhaupt in Deutschland, und das bekommt dem Baumwachstum überhaupt nicht. Die Fichten wachsen also sehr langsam. Auch im Alter von zweihundert Jahren sind sie nur wenige Meter hoch, und so mancher Stamm lässt sich noch mit zwei Händen umfassen. Als die Wissenschaftler das Wurzelwerk solcher Bäumchen unter die Lupe nahmen, machten sie allerdings eine erstaunliche Entdeckung. Sie stellten fest, dass O-Ton 07 das Wurzelsystem umgekehrt sehr, sehr groß ist hier oben. Es ist viel größer als in den tief gelegenen Fichtenwäldern, die wir vorher angesehen haben, es verdoppelt sich praktisch die Feinwurzelmasse entlang dieses Höhentransektes von unten, von Ilsenburg, wo wir noch auf 390 Meter über dem Meer waren, bis hier oben in 1100 über dem Meer um den Faktor 2. Mit zunehmender Höhe über dem Meeresspiegel scheint es den Bäumen immer schwerer zu fallen, dem Boden genügend Nährstoffe abzuringen. Doch die Lebensbedingungen an der Waldgrenze sind dabei, sich zu verändern. Auch dort wird das Klima allmählich wärmer. In den letzten hundert Jahren ist die Durchschnittstemperatur bereits merklich angestiegen. Den Fichten hat das vermutlich gut getan. –5– O-Ton 08 Es wird also, so kann man eine Prognose stellen, in Zukunft dann wahrscheinlich so sein, dass sich diese kleinen Fichten hier weiter noch ausbreiten. Sie könnten dann selbst bis auf den Brockengipfel wachsen. Und das sind Dinge, die wir hier untersuchen wollen. Dietrich Hertel und seine Mitarbeiter wollen prüfen, ob die Fichten an der Waldgrenze in letzter Zeit tatsächlich besser gedeihen als vor hundert Jahren. In der Gipfelregion des Brockens müssen die Bäume allerdings nicht nur frostige Temperaturen ertragen. O-Ton 09 Selbst jetzt, wo wir eigentlich einen sehr schönen Tag erwischt haben, der Brocken zeigt sich von seiner netten Seite heute, haben wir doch immer noch relativ hohe Windgeschwindigkeiten, man hört es hier ja auch in den Fichtenwipfeln rauschen. Und es ist gar nicht so einfach, ein windgeschütztes Fleckchen für ein Interview zu finden. Richtig ungemütlich wird es dann im Winter. O-Ton 10 Es ist nicht nur sehr, sehr stürmisch, wie ich es gerade sagte, im Winter, aber auch zu anderen Jahreszeiten, sondern wir haben auch extrem hohe Schneemengen. Es sind zum Teil zwei bis in manchen Jahren drei Meter Schnee, die hier oben liegen und natürlich hier die Fichten auch ordentlich zusammendrücken. Unter der dicken Schneedecke sind die Wurzeln zwar gut geschützt vor strengem Frost. Doch im Frühjahr dauert es lange, bis der Schnee geschmolzen ist und das Leben im Erdboden wieder erwachen kann. Auch oberirdisch trägt der Schnee dazu bei, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Mit Schnee beladen, werden die Wipfel um so leichter vom Sturm geknickt. Von Menschenhand haben die sturmzerzausten Fichtenzwerge dagegen wenig zu befürchten. Der Gipfel des Brockens zählt schließlich zur strengsten Schutzzone des Nationalparks. Abseits der Wege darf sich dort niemand bewegen. Allerdings gibt es Ausnahmen. –6– O-Ton 11 Wir haben eine Sondergenehmigung, dass wir das jetzt hier heute machen können, aber die Touristen dürfen hier eigentlich nicht rein. Wir hören im Hintergrund jetzt aber auch schon, da kommt die Brockenbahn gefahren. Und die Brockenbahn ist ja eine Dampflok, hier hört man sie gerade, und wird mit Kohle betrieben, und da gibt es ordentlich Funkenflug. Und es passiert immer wieder, dass entlang der Bahnstrecke, dann diese seltenen und auch schützenswerten Fichtenbestände leider abbrennen, gerade im letzten Jahr sind etliche Hektar abgebrannt. Schade um die skurrilen Baumgestalten, die so tapfer an der Waldgrenze ausharren. Atmo Brockenbahn Die Brockenbahn genießt das Privileg, mitten durch die Schutzzone bis hinauf zum Gipfel fahren zu dürfen. Eindrucksvoller ist der Brocken – der sagenumwobene Blocksberg – allerdings, wenn man ihn wie einst Heinrich Heine zu Fuß erklimmt. Zitat: "Wenn man die obere Hälfte des Brockens besteigt, kann man sich nicht erwehren, an die ergötzlichen Blocksbergsgeschichten zu denken, und besonders an die große, mystische, deutsche Nationaltragödie vom Doktor Faust. Mir war immer, als ob der Pferdefuß neben mir hinauf klettere, und jemand humoristisch Atem schöpfe. Und ich glaube, auch Mephisto muß mit Mühe Atem holen, wenn er seinen Lieblingsberg ersteigt; es ist ein äußerst erschöpfender Weg, und ich war froh, als ich endlich das langersehnte Brockenhaus zu Gesicht bekam."