Paulo Coelho Globo 380 Seite 1 Ein Gewitter zieht auf Da ich weit sehen und erkennen kann, was am Horizont geschieht, weiß ich, daß ein Gewitter aufzieht. Die Lichtverhältnisse helfen ein wenig, denn die Sonne, die bald untergeht, läßt die Umrisse der Wolken stärker hervortreten. Zudem sehe ich sehe das Aufscheinen der Blitze. Kein Geräusch. Der Wind weht weder stärker noch schwächer als zuvor. Doch da ich oft den Horizont betrachte, weiß ich, daß ein Gewitter aufzieht. Mein erster Gedanke ist, einen Unterstand zu suchen Der Unterstand kann sich allerdings als Falle erweisen, denn der Wind wird zunehmen und kann stark genug werden, um Dächer abzudecken, Zweige zu zerbrechen, Stromleitungen zu zerreißen. Ich erinnere mich an einen alten Freund, der als Kind in der Normandie gelebt und die Landung der Alliierten im von den Nazis besetzten Frankreich miterlebt hat. Ich habe seine Worte nie vergessen: „Ich wachte auf, und der Horizont war voller Kriegsschiffe. Am Strand vor meinem Elternhaus betrachteten die Deutschen dieselbe Szene. Aber am meisten erschreckte mich die Stille. Die vollkommene Stille, die dem Kampf um Leben und Tod vorausgeht.“ Diese Stille umgibt mich jetzt. An ihre Stelle tritt ganz allmählich das leise Rascheln der mich umgebenden Maisfelder. Der Luftdruck verändert sich, während das Gewitter immer näher kommt, und das Rascheln wird lauter. Ich habe in meinem Leben schon viele Gewitter erlebt. Die meisten haben mich kalt erwischt, und daher mußte ich – sehr schnell – lernen, weiter zu schauen, zu Paulo Coelho Globo 380 Seite 2 begreifen, daß ich das Wetter hinnehmen, daß ich mich in Geduld üben und die Naturgewalten respektieren muß. Nicht immer entwickeln sich die Dinge so, wie man es sich wünscht, und man tut besser daran, sich daran zu gewöhnen. Vor vielen Jahren habe ich ein Lied komponiert, dessen Text lautete: ›Ich habe keine Angst mehr vorm Regen, bringt er doch, wenn er zur Erde fällt, Dinge aus der Luft mit‹. Besser ist es, die Angst zu beherrschen. Mich dessen, was ich geschrieben habe, würdig zu erweisen und zu begreifen, daß das Unwetter, so schlimm es auch sein mag, irgendwann wieder vorbei ist. Der Wind ist heftiger geworden. Ich befinde mich auf dem offenen Feld, am Horizont stehen Bäume, diezumindest theoretisch - die Blitze anziehen werden. Meine Kleider könnten klitschnass werden, aber ich bin ja nicht aus Zucker. Also besser diesen Anblick genießen, als auf der Suche nach Sicherheit herumzurennen. Eine weitere halbe Stunde vergeht. Mein Großvater, der Ingenieur war, nutzte, wenn wir zusammen waren, gern die Gelegenheit, mir die Gesetze der Physik erklären: >Nachdem du den Blitz gesehen hast, zähle die Sekunden und multipliziere sie mit 340 Metern, was der Schallgeschwindigkeit entspricht. So wirst du immer wissen, wie weit das Gewitter entfernt ist.‹ Es ist zwar ein bißchen kompliziert, aber ich habe mich von Kind auf an daran gewöhnt, diese Berechnung anzustellen: In diesem Augenblick ist das Gewitter zwei Kilometer weit entfernt. Es ist noch hell genug, um die Umrisse der Wolken zu sehen, die die Flugzeugpiloten CB - Cumulus Nimbus – Paulo Coelho Globo 380 Seite 3 nennen. Sie haben die Form eines Ambosses, als würde ein Schmied den Himmel hämmern, Schwerter für erzürnte Götter schmieden, die sich in diesem Augenblick über Tarbes befinden müssten. Ich sehe, wie das Gewitter näher kommt. Wie jedes andere Unwetter bringt es Zerstörung – doch es bringt zugleich den Feldern Wasser und die Weisheit des Himmels. Wie jedes andere Unwetter wird es bald vorüber sein. Je heftiger es ist, umso schneller. Gott sei Dank habe ich gelernt, Unwettern zu begegnen. Übersetzung: Maralde Meyer-Minnemann