Die Büchse der Pandora

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Paulo Coelho
Globo 320
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Die Büchse der Pandora
An ein und demselben Morgen erreichten mich drei
Zeichen aus unterschiedlichen Kontinenten:
Eine E-Mail des Journalisten Lauro Jardim, in der er
mich bittet, für einen Artikel über mich ein paar Daten
zu bestätigen, und in der er die Lage in Rocinha, Rio de
Janeiro, erwähnt.
Ein Anruf meiner Frau, die gerade in Frankreich
angekommen ist: Sie war mit einem befreundeten
französischen Ehepaar in Brasilien umhergereist, um
ihnen unser Land zu zeigen, und berichtete mir, wie
erschrocken und enttäuscht die beiden gewesen seien.
Und dann kam noch ein Journalist vom russischen
Fernsehen und wollte von mir wissen: „Stimmt es, dass
zwischen 1980 und 2000 in Ihrem Land mehr als eine halbe
Million Menschen ermordet wurden?“
„Selbstverständlich nicht“, antwortete ich ihm.
Aber es stimmte leider doch: Der Journalist zeigte mir
Daten eines „brasilianischen Instituts“ (des IBGE, des
Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik).
Ich schwieg. Die Nachrichten über die Gewalt in meinem
Land überqueren die Ozeane, die Berge und landen hier an
diesem Ort in Zentralasien. Was sollte ich dazu sagen?
Dazu kann man nichts sagen, denn Worte, die nicht zu
Taten werden, „bringen die Pest“, wie William Blake
einmal geschrieben hat. Ich habe immer versucht, meinen
Teil beizutragen. Ich habe mein Institut gegründet. Dort
versuchen zwei großartige Menschen, Isabella und Yolanda
Maltarolli, 360 Kindern der Favela Pavão Pavãozinho
Bildung, Zuwendung, Liebe zu geben. Ich weiß, dass in
diesem Augenblick Tausende von Brasilianern weitaus mehr
tun, dass sie ohne staatliche Unterstützung, ohne
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private Hilfe arbeiten, nur um sich nicht von dem
schlimmsten aller Feinde beherrschen zu lassen: der
Verzweiflung.
Früher dachte ich, wenn jeder seinen Beitrag leiste,
würden sich die Dinge ändern. Doch jetzt, während ich
den nächtlichen Himmel und die schneebedeckten Berge an
der Grenze zu China betrachte, kommen mir Zweifel.
Vielleicht stimmt das Sprichwort ja doch, das ich als
Kind gelernt habe: „Gegen Gewalt helfen keine Worte.“
Ich blickte wieder auf die mondbeschienenen Berge.
Stimmte es wirklich, dass man mit Worten gegen Gewalt
nichts ausrichten kann? Wie alle Brasilianer habe ich
versucht, etwas zu ändern, habe gekämpft, mich bemüht zu
glauben, dass sich die Lage in meinem Land eines Tages
zum Besseren wenden würde. Aber mit jedem Jahr, das
verging, kamen mir die Dinge komplizierter vor, und das
hatte nichts mit dem jeweiligen Regierungschef, der
Partei, den Wirtschaftsplänen oder dem Fehlen derselben
zu tun.
Gewalt ist mir überall auf der Welt begegnet. Ich
erinnere mich, wie ich kurz nach dem Ende des
verheerenden Krieges in Libanon mit einer Freundin,
Söula Saad, durch Beirut ging. Sie erzählte mir, ihre
Stadt sei schon sieben Mal zerstört und wieder aufgebaut
worden. Ich fragte scherzend, wieso sie es denn nicht
aufgäben und an einen anderen Ort zögen. „Weil es unsere
Stadt ist“, war ihre Antwort. „Weil der Mensch, der den
Boden, in dem seine Vorfahren begraben sind, nicht ehrt,
für immer verdammt sein wird.“
Der Mensch, der sein Land nicht ehrt, ehrt sich selber
nicht. In einer Sage des klassischen Altertums wird
Pandora vom Göttervater auf die Erde geschickt, um die
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Menschheit für den Feuerdiebstahl des Prometheus zu
bestrafen. Mit sich führt Pandora eine Büchse, die sie
jedoch auf keinen Fall öffnen darf. Doch wie Eva in der
Bibel konnte auch Pandora der Versuchung nicht
widerstehen und gab ihrer Neugier nach. Sowie sie den
Deckel öffnete, kam alles Böse heraus und verteilte sich
auf der ganzen Welt.
Nur eins blieb in der Büchse: die Hoffnung.
Daher darf ich, auch wenn alles dagegen spricht –
trotz meiner Traurigkeit, meines Gefühls der Ohnmacht,
meines nicht geringen Pessimismus – nicht das einzige
aufgeben, was mich am Leben erhält: die Hoffnung. Dieses
Wort, das die Pseudointellektuellen immer wieder
ironisch als Synonym für »Selbstbetrug« verwenden. Und
das die Regierungen missbrauchen, wenn sie versprechen,
was sie nicht halten können. Hoffnung ist ein Wort, das
häufig am Morgen bei uns ist, im Laufe des Tages
verletzt wird und am Abend stirbt, jedoch mit der
Morgenröte wieder aufersteht.
Ja, ein Sprichwort besagt: „Gegen Gewalt helfen keine
Worte.“
Aber es gibt auch das Sprichwort: „Solange es Leben
gibt, gibt es Hoffnung.“ Und ich mache es mir zu eigen,
während ich auf die schneebedeckten Berge an der Grenze
zu China blicke.
Übersetzung: Maralde Meyer-Minnemann
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