Paulo Coelho Globo 562 Seite 1 Das gesprungene Gefäß Eine indische Legende erzählt von einem Mann, der jeden Tag Wasser in zwei großen Krügen in sein Dorf schaffte, die er an den Enden einer Stange befestigt hatte, welche er über der Schulter trug. Einer der Krüge war älter als der andere und war undicht, mit vielen kleinen Rissen. Daher ging unterwegs zurück ins Dorf immer die Hälfte des Wassers daraus verloren. Der jüngere Krug war immer sehr stolz auf sich selbst und überzeugt, die ihm zugewiesene Arbeit ordentlich zu erfüllen, während der ältere Krug sich schämte, weil er seine Aufgabe nur zur Hälfte erfüllte, obwohl er wußte, daß die Risse auf viele Jahre harter Arbeit zurückzuführen waren. Und eines Tages beschloss er, den Mann anzusprechen. „Ich wollte dich bitten, mir zu vergeben, denn da ich nun schon so lange gebraucht werde, kann ich jeweils nur noch die Hälfte meiner Ladung ans Ziel bringen und nur die Hälfte des Durstes der Dorfbewohner stillen.“ Der Mann lächelte und sagte zu ihm: „Achte jetzt mal bitte auf den Weg, den wir entlanggehen.“ Und da sah der ältere Krug, dass auf seiner Seite des Weges viele Blumen und Pflanzen wuchsen. „Siehst du, wie viel schöner die Natur auf deiner Seite ist?“, meinte da der Mann. „Ich weiß schon lange, dass du undicht bist, und genau das habe ich ausgenutzt. Ich habe Pflanzen, Gemüse und Blumen gesät, und du hast sie jeden Tag begossen. Ich konnte viele Rosen pflücken und mein Haus damit schmücken. Ich habe meine Kinder mit Salat, Kohl und Zwiebeln ernähren können. Wärest du nicht, wie du bist, wie hätte ich es dann tun können? Paulo Coelho Globo 562 Seite 2 Uns allen ist bestimmt, alt zu werden und dann andere Eigenschaften zu erwerben. Es ist immer möglich, jede dieser neuen Eigenschaften zu unserem Vorteil zu nutzten.“ Der Preis der Schönheit Ein Mann verkauft Krüge auf einem Markt. Eine Frau, tritt hinzu, schaut sich die Ware an. Einige Krüge haben keinerlei Verzierung, andere aber sind sorgfältig verziert. Die Frau fragt nach den Preisen. Zu ihrer Überraschung kosten sie alle gleich viel. „Wieso kostet ein verzierter Krug genauso viel wie ein einfache“, fragt sie. „Ich bin Künstler“, antwortet der Verkäufer. „Ich kann Geld für den Krug nehmen, den ich gemacht habe, aber die Schönheit kann ich nicht in Rechnung stellen. Die Schönheit ist gratis.“ Übersetzung: Maralde Meyer-Minnemann