Paulo Coelho Globo 546 Seite 1 Geschichten über Außenseiter Der betrunkene Schüler Ein Zen-Meister hatte Hunderte von Schülern. Alle beteten zu einer bestimmten Zeit – bis auf einen, der ständig betrunken war. Der Meister wurde alt. Einige seiner tugendhaftesten Schüler begannen darüber zu streiten, wer wohl der neue Leiter der Gruppe sein würde, wer die wichtigen Geheimnisse der Tradition empfangen würde. Am Vorabend seines Todes ließ der Meister seinen trunksüchtigen Schüler zu sich kommen und verriet ihm die okkulten Geheimnisse. Da brach unter den anderen eine wahre Revolte aus. „Was für eine Schande!“, riefen sie. „Wir opfern uns für den falschen Meister auf, er weiß unsere guten Seiten nicht zu schätzen.“ Als er den Lärm draußen hörte, meinte der im Sterben liegende Meister: „Ich musste meine Geheimnisse einem Mann weitergeben, den ich gut kenne. Alle meiner Schüler waren sehr tugendhaft und zeigten nur ihre guten Seiten. Das ist gefährlich. Hinter Tugend verbirgt sich oft Eitelkeit, Dünkel und Intoleranz. Daher habe ich den einzigen Schüler ausgewählt, den ich wirklich gut kenne, da ich seinen Fehler sehen konnte: seine Trunksucht.“ Leidet der Meister nicht unter schlechten Schülern? Ein Schüler fragte Firoz: „Allein die Anwesenheit eines Meisters lockt alle möglichen Neugierigen an, die ihn wegen am Möglichen Paulo Coelho Globo 546 Seite 2 aufsuchten und um Rat fragen. Schadet das dem Meister denn nicht?? Bringt es ihn nicht von seinem Weg ab? Hindert das einen Meister denn nicht daran, das zu lehren, was er gern möchte?“ Firoz, der Sufi-Meister, antwortete: „Der Anblick eines Avocadobaums voller Früchte macht allen Vorbeikommenden Appetit. Wenn jemand mehr Avocados isst, als er Hunger hat, wird ihm schlecht. Der Besitzer des Avocadobaums jedoch bekommt davon keine Magenverstimmung. Der Weg muss für alle offen sein. Aber Gott setzt einem jedem seine Grenzen.“ Isaak ist notwendig Ein Rabbi war in seiner Gemeinde allseits sehr beliebt. Alle waren begeistert von dem, was er sagte, nur Isaac nicht, der keine Gelegenheit verstreichen ließ, um den Auslegungen des Rabbi zu widersprechen. Die anderen ärgerten sich über Isaak, konnten ihn aber nicht ändern. Eines Tages starb Isaac. Bei seiner Beerdigung merkten die Gemeindemitgleider, dass der Rabbi sehr traurig war. „Warum sind Sie so traurig?“, fragten sie. „Er hatte doch an allem, was Sie sagten, etwas auszusetzen!“ „Ich bin nicht wegen meines Freundes traurig, der jetzt im Himmel ist, sondern meinetwegen“, antwortete der Rabbi. „Während mich alle verehrten, forderte er mich heraus, und ich war gezwungen, besser zu werden. Nun ist er gegangen, und ich habe Angst, nicht weiter zu wachsen.“ Übersetzung: Maralde Meyer-Minnemann