Das Üben der Aufmerksamkeit Was verstehen wir unter Aufmerksamkeit? Aufmerksamkeitsübungen sind im Yoga eine alte Tradition und werden dort schon durch Jahrtausende praktiziert. Speziell im Zen erlebten diese Übungen eine Hochblüte in einer Anzahl von Disziplinen wie etwa Bogenschießen und Schwertkampf. Die Aufmerksamkeitsübungen haben sich als eine große Hilfe auf dem spirituellen Weg erwiesen. Nach wie vor werden sie jedoch in ihrer Wirkungsweise nicht erfasst und eher als Gegenmaßnahme zum Tagträumen und Grübeln gesehen. Man glaubt, dass man durch die jeweiligen Übungen eine erhöhte Präsenz im Alltag erlangen solle. Die Zielsetzung der Aufmerksamkeitsübungen ist jedoch eine andere, nämlich das Erreichen einer inneren Klarheit und eines veränderten Bewusstseinszustandes. Wieso Aufmerksamkeitsübungen zu spirituell anstrebenswerten Zuständen führen können, soll durch einige medizinische Hinweise erklärt werden. Die Neurophysiologie des Gehirns kennt zwei Aufmerksamkeitszentren. Beide Aufmerksamkeitszentren bewirken eine Fokusierung und Verstärkung der durch die Aufmerksamkeit miteinander gekoppelten Nervenbahnen und eine Einschränkung sonstiger peripherer Wahrnehmungen (positives feed back mit Rückmeldung und Verstärkung). 1. Aufmerksamkeitszentrum im präfrontalen Cortex (siehe Skizze Nr.1). Dieses Zentrum wird z.B. bei Problemlösungen, Nachdenken und aufmerksamen Zuhören aktiviert. 2. Hinteres Aufmerksamkeitszentrum (im hinteren Scheitellappen, wahrscheinlich hauptsächlich im rechten Scheitellappen, Skizze Nr.2). Dieses Zentrum ist für die örtliche Aufmerksamkeit zuständig (Aufmerksamkeit, mit Seheindrücken, die auf einen Ort ausgerichtet sind). Die zwei Aufmerksamkeitszentren Für den Yoga relevant ist das zweite Aufmerksamkeitszentrum. Eine typische Übung, bei der dieses Zentrum in Aktion gesetzt wird ist das Fixieren eines Objektes bei gleichzeitiger Gedankenstille. Hierzu fällt mir eine Zengeschichte ein: Ein Meister lehrte seinem Schüler das Bogenschießen. Zur anfänglichen Überraschung des Schülers legte der Meister keinen Wert auf ein Schießtraining. Statt dessen musste der Schüler mit Pfeil und Bogen in der Hand sich auf das Zentrum der Zielscheibe konzentrieren. Der Meister ließ sich von Zeit zu Zeit rückmelden was der Schüler sah. Dem Schüler gelang es das Ziel immer genauer zu erfassen und sich immer stärker darauf zu fokusieren. Zuletzt war es eine Fliege, die er anpeilen konnte. Als der Meister eines Tages den Schüler wieder fragte was er sähe, sagte der Schüler: "ich sehe das linke Auge der Fliege". Der Meister war hocherfreut und gratulierte seinem Schüler zu seiner Vollendung. Es gibt auch Geschichten über diverse Tests durch den Meister. Etwa sollte sich ein Schüler auf ein Objekt konzentrieren und der Meister bemühte sich den Schüler durch bedrohliche oder erotische Gegenbenheiten im Umfeld abzulenken. Der Schüler durfte diese, wenn er auf sein Objekt in seiner Aufmerksamkeit ausgerichtet war, nicht wahrnehmen. Was diese Aufmerksamkeitsübungen kennzeichnet ist eine Einengung der Wahrnehmung unter Ausschaltung peripherer "Ablenkungen" bei gleichzeitiger erhöhter Wachheit. Dies erinnert uns an Zustände in der Hypnose oder Autohypnose. In weiterer Perfektion mögen dadurch wohl veränderte Bewusstseinszustände mit einer plötzlichen inneren Weitung und einem Wegfallen von Raum- und Zeitempfindungen auftreten (hyperarousal Zustände). "Tue, was Du tust" Die Bezeichnung dieser Übung klingt für das Erste etwas ungewohnt, hat sich jedoch in dieser Formulierung als traditioneller Begriff im Yoga und im Zen eingebürgert. Sie ist eine der wichtigsten Basisübungen des indischen Yoga. "Wenn ich esse, dann esse ich, wenn ich gehe, dann gehe ich...." Dies ist eine Übung der Aufmerksamkeit und des Beobachtens der Vorgänge, wobei ein jegliches Abgleiten des Denkens ausgeschaltet wird. Fortgeschrittene im Maha Yoga koppeln die Aufmerksamkeit im Alltag mit sakralen Assoziationen (Emotionen): Während wir den Dingen unsere Aufmerksamkeit zuwenden, sind wir zugleich mit dem Göttlichen (Shiva, Tara etc.) verbunden und empfinden, wie das Göttliche in allem lebt. Wir begegnen dem Göttlichen in allem. Am Anfang üben wir das am besten beim Spaziergehen, wenn möglich in der Natur. Das Betrachten wird zu einem Gebet, zu einem inneren Dialog mit dem Göttlichen. Briefausschnitt: # Als meditative Arbeit haben wir dann Fenster geputzt. Eine Frau jammerte fast ständig, "ach es zieht so" ...., "oh sind die Fenster schmutzig" ...., "ach geht das schwer...". Als sie endlich mit dem zweiten Fenster fertig war, hatte ich meine Sachen schon weggeräumt und hatte 3 Fenster in der Zeit geputzt, ohne Gejammere ..... Da sehe ich, dass von manchen Leuten zwar schöne Texte rezitiert werden, aber die Handlungen ganz anders aussehen ....... Das Schulen der Aufmerksamkeit in Alltagshandlungen war eine der Lieblingsübungen von Guru Ananda - sie nannte die Übung "tue was du tust". So wie in diesem Retreat, über das Du mir geschrieben hast, haben wir diese Übung ebenfalls als Aufräumeübung im Ashram durchgeführt. Auch da gab es gelegentlich kuriose Situationen. Eine Frau empörte sich zum Beispiel darüber, dass ihr Mann bei Guru Ananda willig aufräume, diese Arbeit aber bei ihr zu Hause konsequent ablehnte. Ich betrachte diese Form der Übung als eine der untere Stufe in der Schulung der Aufmerksamkeit. In Erweiterung verbindet man sich bei der nach wie vor nach außen gerichteten Aufmerksamkeit mit dem göttlichen, allgegenwärtigen Prinzip. Man gerät hierbei in einen freudig-liebevollen ekstatischen Zustand. Bei mir und auch bei einigen Mityogis ereignet es sich gelegentlich, dass innere, meist wortlose Kommentare, die sich als plötzliches Wissen auftun, empfangen werden. Zumeist sind es tiefe, freudig-liebevolle Einblicke in das Leben. Mauna-Spaziergang Die bewußt durchgeführte rhythmische Bewegung während des Spazierganges wirkt beruhigend und fördert das Aufkommen einer inneren Stille. Wenn wegen innerer Unruhe alle anderen Übungen nicht gelingen, dann haben wir bei dieser Übung noch immer höchste Chancen auf Erfolg. Sie ist ein Rettungsanker, wohltuend und schön zugleich. "Mit den Augen eines Kleinkindes schauen" (Variante des Mauna-Spazierganges) Während dem Mauna-Spaziergang (siehe obige Übungsbeschreibung) nehmen wir eine besondere Geisteshaltung an, wie sie mit diesem Titel am besten beschrieben werden kann. Ohne zu klassifizieren, ohne zu analysieren, so als ob wir alles erst zum ersten mal sehen würden, betrachten wir alles - staunend. Wir versuchen eine Einstellung als wären wir erst frisch geboren oder würden wir einen fremden Planeten betreten. Alles ist uns neuartig und ist für uns in keiner Weise klassifiziert. Wir versuchen das assoziative Denken auszuschalten - gemeint ist ein rezeptiver Zustand in der Art eines Kleinkindes, dem alles noch fremd und neu ist und das deshalb nur registriert. Das Besondere an dieser Übung ist, daß wir bisweilen in archäische Wahrnehmungs und Gefühlszustände aus verschollenen Kindheitstagen gleiten. Diese blitzartig auftauchenden Eindrücke aus unserer Kindheit sind ein großes Erlebnis. Wir staunen in welch andersartiger Weise wir so manches früher empfunden haben. Tiefer Friede erfüt uns. "Mit den Augen eines Künstlers schauen" (Variante des Mauna-Spazierganges) Wir versuchen die Welt um uns in ihrer phantastischen Formenvielfalt und Farbenvarianz zu sehen. Alles ist in seiner Gestalt einmalig auf der Welt und bestaunenswert. Die Welt begegnet uns als ein großartiges Kunstwerk. Ein jedes Sandkorn ist in Gottes Schöpfung einmalig! "Schauen mit den Augen eines Touristen" (Variante des Mauna-Spazierganges) Ein Tourist ist eher bereit die Schönheiten der Gebäude, der Dachfassaden etc. aufzunehmen als die "Einheimischen", die täglich an diesen Häusern vorbeigehen und stumpf geworden sind. Wir blicken zu diesen Dingen mit Staunen und Bewunderung und sehen in ihnen das Denken und Fühlen vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte. Diese Übung zeigt uns, daß wir auch in der Stadt uns den Schönheiten öffnen können und es auch hier Möglichkeiten gibt unser Inneres zu schulen. Ich liebe diese Übung und wenn ich im Traum schönen Gebäuden begegne, falle ich automatisch in den Zustand der Gedankenstille und des staunenden Betrachtens. Dies hat zur Folge, daß ich hierdurch augenblicklich luzid (bewußt) im Traum werde. (siehe OBE und Astralwandern). "Erschauen der Einmaligkeit der Schöpfung" (Variante des Mauna-Spazierganges) Wenn wir in den vorherigen Varianten des Mauna-Spazierganges eine gute Praxis erworben haben, dann versuchen wir zusätzlich zu dem Gefühl des Friedens und Staunens ein Gefühl der Gottesliebe oder Alliebe zu entwickeln. Wir fühlen uns mit all den Dingen, die wir sehen verbunden, lieben ihre Einmaligkeit und Schönheit. Wir betrachten die Steine und bedenken wie viele Jahrtausende an ihnen vorübergestrichen sind und verneigen uns innerlich vor ihrem hohen Alter. Wir betrachten eine Erdscholle und danken dafür, daß durch ihresgleichen das Leben der Pflanzen und der Tiere ermöglicht wird. Bilder-Atem Wir setzen uns entspannt hin und achten auf ein gleichmäßiges Ein- und Ausatmen. Einatmen Beim Einatmen lassen wir in uns ein Bild hochsteigen - sollte nur ein Bild sein, aber wenn mehrere Bilder aufsteigen, macht es auch nichts. Diesem Bild schenken wir unsere volle Aufmerksamkeit und lassen es plastisch werden und versuchen gleichzeitig nicht zu denken. Ausatmen Beim Ausatmen entspannen wir uns, lassen gleichsam alles fallen. Unser Bewußtsein sinkt in unsere Körpermitte und wir fühlen uns sehr entspannt (in uns ruhend). Hierbei lassen wir die Bilder fallen und widmen uns ganz unserem Körperbewußtsein (nach Möglichkeit ohne Gedanken). Brot Übung Die Brotübung war bei Guru Ananda sehr beliebt. Eigentlich ist dies keine Übung, sondern ein Gebet. Wir bekamen ein Stück Brot überreicht und dieses aßen wir in kleinen Bissen schweigend. Dabei dankten wir Gott, dass wir in unserem Leben nicht hungern müssen. Wir vertieften uns in das Brot als göttliches Geschenk, das uns als Nahrung das Leben ermöglicht. Brot wurde stellvertretend zu jeder Form der Nahrung. Wir dachten damals bei unseren Übungen auch an die Hungernden und vertieften den Wunsch, dass auch ihnen genügend Nahrung zuteil werden möge. Zu dieser Thematik eine Briefpassage : # Dann tranken wir eine halbe Tasse Tee mit dem Gedanken, dass dies für die Hungergeister sein solle. Da hatte ich etwas Unbehagen, warum sollte "ich" denn das trinken, ich bin doch kein Hungergeist ...? Verstand ich nicht ..... Das sind alles so Rituale, die ich nicht kenne … Das ist ein sehr gutes Ritual. Nach buddhistischer Auffassung gibt es eine Hölle der Hungergeister. Sie haben in bildlicher Darstellung einen ganz dicken Körper und dazu einen ganz dünnen Hals, so dass sie niemals so viel Speise zu sich nehmen können als der Körper bedarf. Es ist mit diesen Darstellungen nicht nur die Gier nach gutem, teuren Essen und teurem Wein gemeint, die durch Hunger bestraft wird. Es gehören viele Formen von Gier dazu, etwa die Gier nach Luxus, Prestige, Statussymbolen und vielem mehr. Wie immer die Reinigungswelten drüben auch aussehen mögen, man kann viele von ihnen als Varianten der Hölle der Hungergeister (Pretas) sehen.